Mittwoch, 1. April 2020

musikalisch


Es gab eine Parallelwelt zur klassischen Musikerziehung in unserem Haus. In unserer Schallplattensammlung fanden sich mehrere Alben von Georges Brassens, den mein Vater sehr gerne mochte. Oft sang er die Lieder mit. Une jolie fleur dans une peau d'vache, une jolie vache déguisée en fleur. Ich liebte das, denn es war ein Zeichen seiner ausgezeichneter Laune. Dann gab es auch Platten mit Gospelliedern, von Mahalia Jackson und dem Golden Gate Quartet. Etwas Jazz von Louis Armstrong.

Ich war vielleicht zehn und mein Bruder zwölf, als in der Nachbarschaft ein neues Spiel auftauchte. Ein paar Buben, darunter auch mein Bruder, bastelten sich aus Kosmos-Baukästen einfache Radios. Mit Kabeln, die zwischen Nachbarshäusern von Fenster zu Fenster aufgespannt wurden, konnte so ein kleines Netzwerk aufgebaut werden, in dem bald Schlagermusik und ein bisschen Rock'n Roll gemeinsam gehört wurde. Rote Lippen soll man küssen, Surfin' USA. Das war natürlich aufregend, besonders wenn man spürte, dass die Eltern diese Musik nicht gut fanden. In dieser Zeit schenkte mir meine Ersatzgotte meine erste Beatlesplatte. Wir nannten sie so, weil die richtige Gotte in den USA war. Die kinderlose Fotografin mochte mich gut, auf eine für mich ungewohnte Weise, die ich nicht recht einordnen konnte. Mir so eine Yeahyeah-Platte zu schenken war jedenfalls typisch für sie. Es war die EP mit Twist and Shout und drei weiteren Titeln. Das Titelbild, auf dem die vier von der Etage eines Treppenhauses heruntergrinsen, habe ich immer wieder ansehen müssen, dazu die Songs abgespielt, am liebsten, wenn sonst niemand zu Hause war. Die Eltern hörten sich das Geschrei nur einmal an, aus Höflichkeit, weil es ja schliesslich das Geschenk einer Freundin an ihren Sohn war. Ebenso halb heimlich begann ich die damals einzige zugängliche Popsendung Salut les copins zu hören, auf Europe 1. Ich war von meinem Tischnachbar in der ersten Klasse des Gymnasiums darauf aufmerksam gemacht worden, der sich sogar das Magazin kaufen durfte und sehr gut Bescheid wusste über die französischen Stars, und über Rock n' Roll. Ich liebte die Wochentage, an denen um fünf Uhr meine Eltern noch nicht zu Hause waren. Dann setzte ich mich vor das Familienradio. SLC - Salut les Copains!, ein akkustisches Logo hatten die, wie ein Vogelruf. Und dann die Beatles, unter den ersten zu sein, die einen neuen Song von ihnen hörten. No reply. Eine tragische Liebesgeschichte, mit Harmoniewechseln, die mich verfolgten.

Nach Beendigung des Cellospiels habe ich mich noch an der Klarinette versucht. Dieses Instrument versprach eine grössere Vielfalt an Musikstilen, was sicher zu seiner Wahl beitrug. Der Lehrer war allerdings ein Vollblutmusiker aus dem klassischen Bereich, der sich auf Neue Musik zu spezialisieren begann. Er hatte einen wunderbar samtigen Ton dank seiner durchtrainierten Wangen- und Zungenmuskulatur, mit der er knochenharte Plättchen spielen konnte. Mir kamen meine Bambusdinger schon sehr widerständig vor, so dass ich zu Beginn furchtbaren Muskelkater bekam und nicht lange am Stück üben konnte. Überhaubt die Überei. Der Lehrer bestand auf dem flüssigen Spiel chromatischer Leitern in allen Tonarten, und ich kann mich nicht an eine Melodie erinnern, die ich während der paar Monate in seinen Stunden gespielt hätte. Zudem fiel das ganze Experiment mit meiner unseligen Rückengeschichte zusammen, und irgendwann hatte ich die Nase voll, brach wieder ab.

Ich stelle mir vor, der Klarinettenschüler kommt, gedemütigt, traurig. Dann zornig, den säuerlichen Mief der Musikschule hinter sich bringend, abschüttelnd die verächtliche Strenge des Bläserlehrers. Das muss alles ein Ende nehmen, alles. Kommt ans Ende der Strasse, die in den ehemaligen Stadtgraben mündet, auch eine Strasse jetzt zwischen hohen Mauern, jäh abfallend zum Barfüsserplatz. Und zwischen dem aufragenden Lohnhofgefängnis und dem efeubewachsenen Kohleberg hört er auf einmal Trost, ein wummerndes Intro. Was ist es? Bombomm, bababaaa bababaaa, bababa bommbomm. Jumpin' Jack Flash. Es knetet ihn, hebt ihn hoch, leicht wird sein Schritt. Das gibt es ja, die andere Musik, von der die Erwachsenen ihre Finger noch so gerne lassen. Er geht, jetzt ist alles offen, zum Platz und weiter zur Bühne, vor der sich die Menschen zu sammeln beginnen, junge Menschen wie er, und schon tanzend und ihre Köpfe werfend. Dabei ist, was sie hören, eine Kopie, aber das stört sie nicht. Rollende Steine sind rollende Steine, in unserer Stadt. Und er weiss nun, dass er zum letzten Mal in der Musikschule gewesen ist. Wenige Tage später ruft er den Lehrer an und teilt es ihm mit. Die Mutter stellt er vor vollendete Tatsachen, und kommt sich erwachsen vor. Sie nimmt es gelassen.

In der Oberstufe kam ein Neuer in die Klasse, ein grosser, phlegmatischer Kerl, sehr freundlich, mit langen, gewellten Haaren und einer grossen, markanten Nase. Er war etwas älter, rauchte Françaises mit Maispapier, und hatte eine enorme Plattensammlung. Bei ihm machte ich Entdeckungen, Hendrix, Cream. Zappa war mir zu schräg, und ich verstand seine Texte nicht, die offensichtlich wichtig waren. Ich durfte sogar Platten ausleihen, ein Privileg, und so konnte ich mich an Sperriges herantasten. An die Falsettstimmen von Jack Bruce und Eric Clapton, die mir zuerst affektiert, weibisch vorkamen. An die Länge der Stücke musste ich mich auch gewöhnen, an die zuweilen chaotischen Improvisationen zwischen den Teilen mit dem eigentlichen musikalischen Thema, dem Song. Bald begann ich selber nach Musik zu suchen, fand Musiker und Stile, die auch den andern neu waren. Otis Redding. Vanilla Fudge, Colosseum. Oder die Savage Rose aus Dänemark. Als mein Bruder in Zürich zu studieren begann, und ich das Zimmer für mich alleine hatte, stellte ich einen kleinen Plattenspieler neben das Bett. Es gibt Stücke, die ich so oft beim Einschlafen gehört habe, dass sie sich mit jedem Ton, jedem Geräusch und jeder Pause in mein Gehirn eingeschrieben haben. Rainy Day von Jimmi Hendrix, zum Beispiel, auf der zweiten Platte des Doppelalbums Electric Ladyland, das erste Stück. Beginnt mit einer winzigen Spielerei seiner Gitarre, die er ein paar Töne von sich geben lässt, wie eine quitschende Türe. Hustet dann zweimal, zieht die Nase hoch. Dann das jazzige Intro des Saxophonisten, für den ich mich nie interessierte. Er hiess Freddy Smith, und war mit seiner Soulband zufällig im gleichen Studio am Aufnehmen wie Hendrix, und man half sich gegenseitig aus. Dann ein einfacher Rhythmus von Schlagzeug und Congas, darüber ein spielerischer Dialog der Hammondorgel mit dem Saxophon, zuletzt mit der Gitarre. Dazu, mal dahinter, mal im Vordergrund, Jimmis Sprechgesang, cool, schwarz.
Hey man, take a look out the window 'n' see what's happenin'
Hey man, it's rainin'
It's rainin' outside man
Sie werfen sich Töne und kurze Tonfolgen zu, hin und her, dann Break. Leichtfüssige Überleitung zum Song, den er in typischer Weise halb spricht, halb singt.
Rainy day, dream away
Ah let the sun take a holiday
Flowers bathe an' ah see the children play
Lay back and groove on a rainy day
Nochmals ein Rhythmuswechsel, dann, wenn ich hier am Einnicken war, werde ich wieder wach. Die Wah-wah-Gitarre ruft. Wioau. WaeWoau. Ghiuhuageddiwua, und noch ein kurzes Solo, nochmals seine Stimme, langsam ausgeblendet. Von Jimmis Texten habe ich fast nichts mitbekommen, Englischunterricht war freiwillig im altsprachigen Gymnasium, und es ging mir vor allem um die Musik. Vielleicht bin ich auch der Düsternis aus dem Weg gegangen, bei den Doors bin ich mir sogar sicher. Mit dem Freund, der so viele Platten besass, hätte ich Erfahrungen mit LSD machen können, wenn ich es gewollt und ihm gesagt hätte. Davor hatte ich aber zu viel Respekt. Und es gab ja solche, die den Rückweg aus ihren Trips nie mehr fanden, einer in meiner Klasse, der sich später aus dem Fenster einer Anstalt geworfen hat. 1970 und 1971 waren traurige Jahre, unsere musikalischen Idole starben wie die Fliegen.

Ein paar Popkonzerte habe ich besucht, die besten gab es im alten Stadttheater. Tolle Akkustik. Rockendes, tanzendes Publikum auf den Plüschlogen, die vollgestopft waren bis in die obersten Ränge, viele junge Männer bald mit nacktem Oberkörper, weil es so heiss wurde. Colosseum. Emerson, Lake & Palmer. Rory Gallagher mit Taste, John Mayall. Im grossen Saal der Mustermesse war der Sound dagegen miserabel. Deep Purple habe ich dort gehört. Sie spielten alle Stücke ihres Albums Deep Purple in Rock, die ich in und auswendig kannte. Trotzdem erfasste ich die meisten Stücke erst nach einigen Takten, weil es so breiig laut war und einem fast die Ohren abriss. Ich hatte danach eine Woche lang Tinnitus, und war noch stolz darauf. Auch Jack Bruce und Lifetime hörte ich in der grossen Halle. Von der Musik hat man zu wenig mitbekommen, es war einfach laut, aber man war dabei gewesen.

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