Sonntag, 21. November 2021

Nachruf auf meine Katzen (Zolligeschichten 3)

Nun ist sie auch tot, die Nina. Schwer zu akzeptieren. Wir hatten schon vorher beschlossen, dass dies meine letzte Katze sein sollte. Unsere letzte. Wobei der Wunsch – oder sollte ich sagen, die Selbstverständlichkeit –, eine Katze zu haben mein ganzes Leben lang, immer von mir aus ging. Meine Frau hat das akzeptiert und eigentlich immer mehr getan für das Haustier als ich. Futter eingekauft. Die Nachbarn oder Bekannte organisiert für die Fütterung, wenn wir weg waren. Ich war dafür zuständig, wenn eine krank oder verletzt war, oder zum Impfen gebracht werden musste.
Vom Kater, eines der Jungtiere, die unser Primarlehrer loswerden wollte und dazu uns Kindern vorführte in der Schule, habe ich schon erzählt. Er wurde so alt, dass er mich bis in die Zeit des Übergangs zum Erwachsenwerden begleitete. Als unser erster Bub noch ganz klein war und wir in Riehen wohnten, mit Garten, bekamen wir eine kleine schwarze Katze, die einer Tante zugelaufen war. C begann gerade zu reden, und statt Katze oder Kätzli sagte er Takis zu unserem Haustier, was zwar eine griechischer Männername ist und daher eigentlich nicht passend für ein Weibchen. Aber der Name blieb, weil er uns gefiel. Takis blieb nicht lange bei uns, bevor sie wieder weiterzog, darum haben wir nicht viele Erinnerungen an sie. Einmal hörte ich in der Küche, wie unser Bub jauchzte und die Katze jämmerlich schrie. Als ich ins Wohnzimmer kam, hielt er mir das Tier strahlend entgegen, kopfunter am Schwanz! Und einmal waren wir über Weihnachten zwei Tage weg. Takis blieb zuhause und bekam genügend Futterreserven. Als wir heimkamen, hatte sie am Weihnachtsbaum alle Äste in ihrer Reichweite leergeräumt und einen Korb voller Nüsse ausgeleert. Am Streuradius konnte man sehen, dass sie intensiv mit den Weihnachtskugeln und den Nüssen gespielt haben muss.

Eine ausgesprochen traurige Geschichte haben wir erlebt mit unserer ersten Nina. Das war die Katze unseres Freundes H, der im April 1982 die steile Treppe in seinem Haus hinuntergestürzt war – oder sich hinuntergestürzt hatte –, und die ich dann zu uns nach Hause mitnahm. Meine Frau war schwanger und die Aufregung und Trauer um H's Tod trug dazu bei, dass sie wieder liegen musste. Da kam es gar nicht gelegen, dass die Nina Flöhe ins Haus brachte, die bald die Artgrenze übersprangen und sich auf meine Frau stürzten. Nina wurde schliesslich entfloht und entwurmt, und sie gewöhnte sich an uns und wir uns an sie. Leider war sie aber nie richtig gesund. Sie hatte schlechte Zähne und kotzte oft. Meistens über die Heizungsradiatoren, auf denen sie schlief. Mühsame Putzarbeiten zog das nach sich. Ich baute ihr dann eine Kiste und hängte sie innen an eines unserer Kellerfester. Durch ein Loch konnte sie dort ein und aus gehen, und in der Kiste schlafen. Wir schämten uns später dafür, dass wir sie auf diese Weise aus der Wohnung verbannten, aber es war eine sehr angespannte und anstrengende Phase unseres Lebens und wir schafften es einfach nicht, auch noch dauernd hinter der Katze her zu putzen. Sie hat das sicher gespürt, und in der Kiste war es im Winter auch zugig und kalt. Also hat sie sich eines Tages davongemacht. Hoffentlich fand sie noch jemanden, der mehr Geduld mit ihr hatte.

Einige Jahre später wollte ich wieder eine Katze haben. Von einem Arbeitskollegen, einem durchgeknallten Mathelehrer, den ich nicht mochte und er mich nicht, erfuhr ich, dass seine Kinder eine kleine Katze bekämen. Sie gingen oft auf einen Bauernhof in Baselland und dürften sich dort eine aussuchen. Es seien mehr als genug. Ich fuhr also eines Tages mit der Familie des Kollegen auf den Hof. Die kleinen Kätzchen sausten überall umher, und zuerst hiess es, ich dürfe mir einfach eine aussuchen. Ich zeigte auf einen süssen grauen Tiger, aber da protestierte eines der Kinder des Kollegen und behauptete, genau dieses wollten sie für sich haben. Also musste ich mich anders entscheiden. Eine magere weisse, mit dunkel getigertem Schwanz, lag abseits von den anderen auf dem Dach eines niedrigen Schopfs und sonnte sich. Ihre Eigenständigkeit gefiel mir, und so nahm ich sie und steckte sie in den mitgebrachten Deckelkorb. Eigentlich wollte ich so schnell als möglich wieder zuhause abgesetzt werden, damit das Tier nicht zu lange eingesperrt bleiben musste, aber der Kollege und seine Frau bestanden darauf, dass ich noch mit ihnen zu Mittag essen musste. Ich sass dort wie auf Nadeln, denn das Wehgeschrei der Katze im Korb war deutlich zu hören. Aber der Mathematiker und seine Frau stellten sich taub. Als ich den Deckel schliesslich zu Hause öffnen konnte, sass die kleine Katze völlig verängstigt, und vollgeschissen von oben bis unten, im Korb und starrte mich aus grossen Augen an. Sie stank so, dass ich sie im Spülbecken der Küche mit lauwarmem Wasser duschen und mit Shampoo waschen musste. Erst als ich das Tierchen in ein grosses Frotteetuch wickelte und sorgfältig rubbelte, begann es sich langsam zu entspannen und versuchte sogar ein leises Schnurren. Wir stellten ihm im Wintergarten ein Körbchen in die Sonne und legten es hinein. Das kannte die kleine Katze, und es gefiel ihr. Wir nannten sie Pitschi, wie die Katze im Kinderbuch. Ich wusste nicht mehr, dass diese fast ganz schwarz gewesen war.
Pitschi hielt uns auf Trab. Wir wohnten damals schon an dieser verfluchten Strasse, die eigentlich eine Quartiersstrasse wäre, aber zur Durchfahrtpiste erklärt wurde von den Politikern, die von Auto fahrenden Bürgern wiedergewählt werden wollen. Unsere Katze war knapp ein halbes Jahr alt, als sie überfahren wurde. Ich sah sie nach dem Unfall im Garten eines Nachbars, und mir fiel auf, dass sie sich komisch bewegte. Ich kletterte ihr nach, und als ich sie aufheben wollte, versuchte sie vor mir zu fliehen. Ich schaffte es schliesslich, sie einzufangen, aber die langgezogen kehligen Laute, die sie von sich gab, zeugten von starken Schmerzen. Der Tierarzt stellte mit einem Röntgenbild fest, dass ihr Becken an zwei Stellen gebrochen war. Eine Bruchlinie ging genau durch die Pfanne des Hüftgelenks. Er verwies uns an eine Tierklinik in Oberwil, wo sie 'so etwas' operieren könnten. Wir überlegten hin und her, ob wir dem Tier und uns das antun sollten, entschieden uns aber schliesslich dazu, es zu versuchen. Der Chirurg der Klinik erklärte uns, dass man den Bruch durchs Gelenk nicht flicken könne, weil dies zwingend und schnell zu starker Arthrose führen würde. Er könne aber den Gelenkkopf des Oberschenkelknochens abknipsen und herausnehmen. Der Tierkörper bilde dann eine Art Ersatzgelenk aus neu wachsenden Knochenstrukturen, und das werde dann gestützt durch Bänder und Muskeln. Wir glaubten nicht recht daran, willigten aber ein.
Ein zusätzliches Problem war nach der Operation, dass die Katze für ein paar Wochen in einem Käfig gehalten werden musste, damit sie sich möglichst wenig bewegen konnte. Und wir hatten Ferien in Kreta geplant und uns sehr darauf gefreut! Frau K., eine freundliche Nachbarin, die von Pitschi regelmässig besucht worden war, erklärte sich einverstanden, sie im Käfig zu hüten während unserer Abwesenheit. Sie schien sich zu freuen, für eine gewisse Zeit ein Haustier zu haben, dazu erst noch in einem Käfig, wo sie es immer um sich hatte. Wie wir hinterher erfuhren, nahm sie die Katze regelmässig aus dem Käfig und liess sie auf ihrem Schoss schlafen, wenn sie las oder Fernsehen schaute. Als wir Pitschi wieder in Empfang nahmen, hatte sie enorm starke Muskeln an den Vorderläufen und Schultern und konnte sich nur mithilfe der Vorderpfoten am Gitter hochhangeln. Langsam aber lernte sie auch wieder normal zu laufen, und bald merkte man vom Unfall und ihrer Verletzung gar nichts mehr. Wie gut das neue Pseudogelenk funktionierte, konnte man sehen, wenn sie durch den Garten raste und bis zuoberst auf die Bäume kletterte.
Ich wollte unbedingt einmal erleben, wie eine Katze Junge bekommt, also liessen wir Pitschi nicht kastrieren. Im Frühling, knapp bevor sie ein Jahr alt wurde, ging es los mit ihren Hormonen. Sie maunzte die ganze Zeit und rieb ihre Schultern dem Boden entlang, als wolle sie in die Erde eintauchen. Bald erschien auch ein Kater, nicht besonders hübsch, mit einem geknickten Schwanz, aber sehr interessiert. Sicher an zwei, drei Tagen trieben sie ihr Liebesspiel in unserem Garten, x-mal hintereinander dasselbe. Zuerst langes Herummachen von ihrer Seite, immer wieder davonwischen, bis sie endlich stillhielt und er aufsitzen konnte. Kurzes heftiges Rammeln, das sie erduldete, manchmal auch zu geniessen schien, dann nach seinem Höhepunkt ein heftiges Gefauche und Hiebe mit ausgefahrenen Krallen beidseits. Und dann schon bald wieder ihre nächste Bodenturn-Nummer.
Nach gut zwei Monaten hatte Pitschi einen prall runden Bauch und ihre Zitzen waren deutlich sichtbar. Der Tierarzt sagte, wir sollten uns auf einen eher grossen Wurf von fünf oder sechs Kätzchen gefasst machen. Ich war abwesend, an einer Weiterbildungsveranstaltung im Baselbiet, als es soweit war. Vorsorglich hatte ich mir ein Auto ausgeliehen, damit ich im schlimmsten Fall heimkommen konnte. Meine Frau hatte sich dies ausbedungen, es sei schliesslich meine Katze, und auch meine Idee gewesen, dass sie Junge bekommen sollte. Und tatsächlich trat ein, was selten passiert: eine schwere Katzengeburt. Als ich zuhause ankam, hatte Pitschi schon mehrere Junge an verschiedenen Orten im Estrich verstreut geboren. Die Kleinen hingen noch an ihren wie Leberplätzchen aussehenden Mutterkuchen, die Mutter war mit sich selber beschäftigt. Ich ging die piepsenden Neugeborenen einsammeln und durchtrennte mit einer Schere ihre Nabelschnüre. Vier waren es schliesslich, die ich in einen Korb legte, aber Pitschi hatte offensichtlich immer noch starke Wehen. Als sie wieder ein Junges zur Hälfte herausgedrückt hatte, blieb dieses stecken. Sie hatte keine Kraft mehr. Ihre Augen irrten umher, sie hechelte und gab das tiefe Knurren von sich, das ich kannte. Ich musste sie daran hindern, sich durch die Katzentüre davonzumachen. Ich hielt sie fest und zog vorsichtig an dem Jungen, wenn sich ihr Bauch zusammenzog. Das Kätzchen war grösser als die andern, es dauerte viel zu lange, bis wir es draussen hatten. Ein prächtiger kleiner Kater, aber tot. Pitschi war halb tot vor Erschöpfung, erholte sich aber erstaunlich rasch so weit, dass sie die Kleinen säugen und ihnen den Bauch durch Schlecken massieren konnte.
Erst hinterher bemerkten wir, dass sich Pitschi während ihrer Geburtswehen zwischen einen Stapel mit Bildern gezwängt hatte, der auf dem Estrich stand. Eines davon war eine Picasso-Lithografie, die meine Frau von ihrem Vater geerbt hatte. Sie gefiel uns beiden nicht. Ein eher süssliches Porträt seiner Geliebten Françoise, von 1948, in einer kleinen Auflage gedruckt und daher ziemlich wertvoll. Aber wir hatten sie nie aufgehängt, und nun war Blut und Fruchtwasser in den Wechselrahmen eingedrungen. Man hätte das Ganze nur in eine Badewanne mit kaltem Wasser legen müssen, dann wären wohl kaum Spuren geblieben von dem Unfall. Aber wir waren mit anderem beschäftigt, und als ich schliesslich den Rahmen öffnete, klebte alles zusammen und der Schaden wurde durch das Öffnen noch grösser. Als wir die Lithografie ein paar Jahre später verkaufen wollten, musste sie zuerst aufwändig restauriert werden. Aber der Verkauf lohnte sich noch immer halbwegs.
Wir verbrachten in den nächsten Tagen und Wochen viele Stunden bei der Kiste, die wir mit einem Frotteetuch ausgepolstert hatten. Es war besser als Fernsehen schauen. Nur eines der vier Jungen hatte einen geraden Schwanz. Bei einem Kater, einem süssen, grauen Kerlchen, das wir Max tauften, stand hinten eine kleine Kurbel heraus, wie bei einem Aufziehtier. Farblich zeigten die vier Kleinen eine grosse Vielfalt. Ein Tigerchen, einmal das Ebenbild der Mutter, ein fast ganz Schwarzes und dann noch der Graue, den wir schliesslich behielten. Drei konnten wir bei Bekannten und Freunden unterbringen, aber sie lebte alle nicht lange. Liessen ihr Leben unter Autos. Auch der kleine Max wurde nach einem halben Jahr so unglücklich angefahren, dass seine Vorderbeine gelähmt blieben und wir ihn einschläfern lassen mussten. Traurig!
Pitschi wurde alt bei uns, bis ihre Nieren schliesslich nicht mehr mitmachten. In ihren letzten Tagen war sie sehr wärmebedürftig. Legte sich gerne in eines unserer Betten, mit dem Körper unter der Decke und dem mageren Köpfchen auf dem Kissen, wie ein kleines Menschlein. Doch dann wurde sie zunehmend apathisch, konnte weder essen noch trinken. Ich brachte sie zum Tierarzt, der ihr die Spritze gab. Ich habe sie noch lange gestreichelt, als sie schon nicht mehr atmete. Wir haben sie dann im Garten begraben.
Viele Jahre später habe ich ihr Skelett ausgegraben, weil es in einem unserer Kunstprojekte um 'die Bleibe der Dinge' geht. Der erste Knochen, den ich von Pitschi in der Hand hielt, war der Oberschenkel mit dem Pseudogelenk. Es hatte sich am abgesägten Ende des Knochens eine Platte gebildet, die durch den Kontakt zum entsprechenden Teil des Beckens und durch die Bewegung glänzend poliert war. Das hat mich sehr beeindruckt. Ich konnte fast das ganze Katzenskelett rekonstruieren und in der Haltung zurechtlegen, wie Pitschi gestorben war. Ich habe das fotografiert und auf Drachenpapier ausgedruckt. Es tat mir gut, das feine Knochengerüst, das von dem Tier übriggeblieben war, am Himmel fliegen zu sehen, auch wenn es eine gar einfache Metapher sein mag.

Nina die Zweite schliesslich, die nun an exakt demselben Ort begraben liegt, an dem vor ihr Pitschi über ein Jahrzehnt lang ruhte, suchte ich mir bei einer Familie in Riehen aus, die uns der Tierarzt angegeben hatte. Wir konnten die Jungtiere in der Wohnung beim Spielen beobachten, und ich schaute darauf, welche am aktivsten war, weil ich das als ein Zeichen für Gesundheit und einen lebhaften Charakter ansah. Wir tauften sie wieder Nina, erstens weil sie ein Tigerchen war wie die erste mit diesem Namen, und weil wir zweitens das Gefühl hatten, etwas wieder gut machen zu müssen. Der Tierarzt hatte uns geraten, die Katze möglichst lange im Haus zu behalten, bevor wir sie ins Freie liessen. So sei die Gefahr des Weglaufens kleiner, und vor allem könne ich sie, wenn sie genug gross sei, im Garten an einer Leine herumführen und ihr beizubringen versuchen, dass sie nicht nach vorne hinaus auf die Strasse gehen solle. Also versuchten wir das. Am Anfang ging es gut, wobei sich schon bald zeigte, dass diese Katze ausserordentlich lebhaft war. Wenn sie im Spiel-und Kampf-Modus war, konnte sie einen von weitem anspringen mit ausgefahrenen Krallen. Am liebsten kletterte sie einem an den Beinen hoch, was ziemlich schmerzhaft war. Mit der Zeit realisierte sie, dass es ausserhalb des Hauses eine Welt gab, die wir ihr vorenthielten. Das machte sie rasend. Sie versuchte mit allen Tricks, hinauszuwischen. Wenn ihr dies ein weiteres Mal nicht gelang, sauste sie im Haus umher, kletterte an Bücherschäften hoch, und riss in ihrer Frustration unsere Sachen hinunter. Es war klar, dass etwas gehen musste. Als ich ihr zum ersten Mal das Halfter überzog, wälzte und rollte sie sich über den Boden wie ein kleiner Teufel. Schliesslich gelang es mir dann, sie daran zu gewöhnen, noch im Haus drin allerdings. Als wir das erste Mal hinausgingen in den Garten, raste sie einfach los und wurde hochgeschleudert, als die Leine gespannt war. Nach ein paar weiteren Versuchen akzeptierte sie schliesslich, dass sie nicht einfach losrennen konnte. Ich zeigte ihr den Garten, dessen Grenzen. Schliesslich ging ich mit ihr nach vorne zur Strassenseite. Wenn ein Auto vorbeifuhr, tat ich jedes Mal so, als würde ich erschrecken und zog ruckartig an der Leine. Es gelang mir auf diese Weise, ihr eine Scheu vor Autos einzubläuen, die sie zwölf Jahre lang davor bewahrt hat, hirnlos über die Strasse zu rennen. Warum sie es vor Kurzem plötzlich vergessen hat, mit tödlichen Folgen, weiss der Himmel.

Uns fehlt ihr Rufen, mit dem sie jedes Mal nachfragte, ob wir da seien, wenn sie ins Haus zurückkam von ihren Spaziergängen. Wenn das Maunzen besonders langgezogen war, wussten wir, dass sie eine Maus gebracht hatte. Ja, sie war eine Jägerin, wir geben es zu. Hat manchmal halt auch Vögel gebracht. Um die grössten war es nicht schade, weil es von denen zu viele gibt bei uns. Eichelhäher und Elstern. Manche Hundebesitzer haben wegen ihr die Strassenseite gewechselt, wenn sie an unserem Haus vorbeikamen, weil Nina vor Hunden keine Angst hatte und ihnen offen drohte mit Seitwärtstrippeln und dick gesträubtem Schwanz. Aber sie konnte auch sehr lieb sein. Kam gerne noch vor unserem Schlafengehen zu mir, legte sich auf meine Brust. Liess sich schnurrend von meinem Atem wiegen. Und verliess das Schlafzimmer meistens ohne zu murren, wenn wir Ruhe wollten. Nur ganz selten kehrte sie zu alten Flausen zurück und versteckte sich unter dem Bett. Dann half nur noch der Staubsauger, fast das Einzige, vor dem sie sich wirklich fürchtete.

Dienstag, 19. Oktober 2021

becoming Mrs. Jean Dirand

Es dauerte eine Weile, bis an der Park Avenue die gewohnte Ordnung des Alltags wieder eingerichtet war. Mit eine paar Tagen Verspätung kam eine riesige Transportkiste an, die eigentlich mit ihnen zusammen auf der France befördert, dann aber von den Zollbehörden zurückbehalten und sichtbar gründlich untersucht worden war. Mrs. Bailey hatte darin von einer französischen Firma Geschirr, zwei Schmuckkästchen, einen bemalten Wandschirm – in seine Einzelteile zerlegt – sowie drei Lampen sorgfältig einpacken und die Hohlräume mit Stroh ausstopfen lassen. Nun sah sie zu ihrem Ärger, dass die Kiste geöffnet, alles durchwühlt und mehr schlecht als recht wieder eingepackt worden war. Dabei war ein Teller zu Bruch gegangen und eine Lampe hatte einen Kratzer abbekommen. Sie diskutierte mit ihrem Mann darüber, ob es sich lohne für diese Schäden die vorher abgeschlossene Versicherung in Anspruch zu nehmen. Julia hörte zum ersten Mal von der Möglichkeit, für Gegenstände, die auf der Reise beschädigt oder gestohlen wurden, eine Entschädigung zu verlangen.
„Versichern lassen kann man alles“, erklärte Mr. Bailey auf ihre verwunderte Nachfrage. „Man zahlt einfach dafür. Je höher das Risiko eines Schadenfalles, wozu die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadensereignisses ebenso gezählt wird wie die Höhe der Kosten, die zur Behebung des Schadens benötigt werden, desto höher die Prämie, die im Voraus bezahlt werden muss. Die Bauern in Ihrem Land kennen sicher eine Versicherung gegen Unwetter, gegen Hagelschlag zum Beispiel, nicht wahr?“
Julia wusste, dass viele Bauern in Cornol nichts hielten von der Hagelversicherung, die es in der Ajoie schon seit Generationen gab. Zu oft hatte diese in der Vergangenheit Schwierigkeiten gemacht bei der Auszahlung von Entschädigungen. Alle wussten, dass die einbezahlten Prämien nicht ausreichten, wenn es in zwei aufeinander folgenden Jahren zu starken Unwettern kam. Der Bund hatte immer wieder Streit mit dem Kanton darüber gehabt, ob und, wenn ja, wie viel und von wem zusätzliche Gelder bereitzustellen seien für den Fall solch katastrophaler Ereignisse.
„Das ist hier ähnlich“, meinte der Dienstherr. „Viele Bauern nehmen das Risiko in Kauf, indem sie keine Prämien an eine Gesellschaft zahlen. Es gibt aber auch solche, die selber Geld auf die Seite legen für den Fall. Manche tun sich als Kooperative zusammen. Wenn es einzelne trifft, wird dann aus der gemeinsamen Kasse solidarisch geholfen.“
Soweit sie wusste, hielt es auch ihr Bruder Alcide so.
Mr. Bailey hatte sich in Abwesenheit seiner Frau ein grösseres Büro im oberen Stock eingerichtet. Da er damit die Absicht verband, vermehrt zu Hause zu arbeiten, hatte diese den Plan sehr begrüsst. Zwischen dem bisherigen Büro und einem Nebenraum, der als Teil der Bibliothek wenig genutzt worden war, hatte ihr Mann die Wand entfernen lassen, wodurch ein grosszügiger Arbeits- und Besprechungsraum entstanden war. Durch eine neu geschaffene Tür zu Treppenhaus und Aufzug konnten Klienten und Geschäftspartner von Mr. Bailey empfangen werden, ohne dass sie die familiäre Sphäre betreten mussten. Diese Regelung funktionierte nicht von Anfang an, so dass Julia und Mathilde immer wieder unbekannten Personen gegenüberstanden, die an der Wohnungstüre geklingelt hatten.
Einer dieser Besucher ging Julia nicht mehr aus dem Sinn. Er hatte seinen Hut gezogen und ihn vor der Brust gehalten, sie mit seinen hellen, grüngrauen Augen unverwandt angesehen, den Kopf leicht schräg gehalten wie zu einer Frage. Er war nicht gross, etwa gleich wie sie. Er sah sie weiterhin stumm an.
"Sie wollen zu Mr. Bailey, nehme ich an?", fragte sie schliesslich.
"Ähm, ja. Entschuldigen Sie! Mein Name ist Dirand, Jean Dirand. Mechaninal Engeneer. Ich sollte eigentlich angemeldet sein. Sind Sie seine Sekretärin?"
Sie musste lachen.
"Nein, nein! Ich bin nur das Kindermädchen der Familie. Ich bringe Sie in Mr. Baileys Büro, wenn Sie mich..."
Sie wollte mit dem Arm die Richtung zur Aussentüre des Büros draussen im Flur anzeigen und berührte ihn dabei an der Schulter. Er versuchte ihr Platz machen, wich dabei aber auf die Seite aus, auf der sie an ihm hatte vorbeigehen wollen, und es kam zu einem dieser merkwürdigen Tänzchen, hin und her, unter zunehmend verlegenem Lachen, bis sie sich schliesslich einigen konnten und er hinter ihr zur anderen Türe schritt.
"Kindermädchen haben eine ehrenwerte und sehr sinnvolle Aufgabe", sagte er förmlich, als sie für ihn angeklopft hatte. "Wie ist ihr Name?"
"Julia. Julia Chiquet. Aus der Schweiz, Sir."
"Alors, vous parlez français?", fragte er noch, dann wurde die Türe geöffnet, Mr. Bailey liess den Besuch eintreten und schloss gleich wieder. Julia stand noch einen Moment verwirrt da. Sie verstand nicht, warum ihr Herz klopfte. Mr. Dirand war deutlich älter als sie. Sie schätzte ihn auf etwa fünfzig, sein Haaransatz war schon weit nach oben gerutscht. Er war sorgfältig gekleidet gewesen, mit einem fein gestreiften Anzug aus Kammgarn, mit Weste, schneeweissem gestärktem Kragen und einer schönen Seidenkrawatte. Ganz leise der Geruch seines Rasierwassers, als sie ihm unversehens nahe gekommen war. Alles an ihm war sehr korrekt gewesen, aber ein Beau war er nicht. Ein rundliches Gesicht mit etwas schmalen Lippen, die Hände von einem Handwerker oder Bauer. Es war die Art und Weise, wie er sie angesehen hatte, und seine sanfte Stimme vielleicht, die sie für ihn einnahmen. Sie schüttelte ihren Kopf, einmal, zweimal, atmete dann tief durch. Ging wieder an ihre Arbeit.

Das nächste Mal traf sie ihn zufällig, und wieder völlig unverhofft, als sie Elsie an einem Nachmittag von der Schule abgeholt hatte und mit ihr der Sechsundsiebzigsten entlang in Richtung der grossen Avenue ging. Das Mädchen hatte die Gewohnheit, bei jedem Hund, dem sie begegneten, stehen zu bleiben und, wenn es die Besitzer und auch das Tier zuliessen, ihn zu streicheln. So war es auch bei diesem schwarzen Mischling, den Julia zuerst argwöhnisch musterte, bevor sie mit dem Blick der Leine folgte und sah, dass diese von Mr. Dirand gehalten wurde. Elsie bettelte:
"Darf man ihn streicheln? Oh bitte...!" Sie hatte sich, noch bevor der Mann richtig antworten konnte, niedergekniet und den Hund mit beiden Händen am Hals zu kraulen begonnen. Dieser liess ein wohliges Brummen ertönen und wedelte begeistert, so dass sein ganzes Hinterteil hin und her wackelte.
"Oh, Hallo!", sagten Julia und Mr. Dirand fast gleichzeitig, worauf sie, ebenso spiegelbildlich, in Lachen ausbrachen.
"Sind sie unterwegs zu Mr. Bailey?", fragte Julia dann, und merkte im gleichen Augenblick, wie dumm die Frage war, denn Mr. Dirand würde ja wohl kaum mit dem Hund zu einer geschäftlichen Besprechung gehen. Ausserdem war er ihnen entgegengekommen.
"Nein, ich wohne hier. Das heisst, gleich um die Ecke."
"Oh!", mehr brachte Julia nicht heraus. Zum Glück fragte Elsie nach dem Namen des Hundes. Mr. Dirand gab ihr freundlich Auskunft.
"Es ist eine Sie. Bessie heisst sie. Und wie heisst du?"
"Ich heiss Elsie. – Sie ist so süss!" Sie streichelte weiterhin das Tier, das versuchte, ihre Hand zu lecken.
"Ich begleite euch noch ein Stückchen", schlug Mr. Dirand vor. "Komm, Bessie!"
Er nahm den Hund dicht an seine Seite und schlug entschlossen den Weg in Richtung Park Avenue ein. Julia wollte so vieles fragen, wusste aber nicht, wo sie anfangen sollte. Schliesslich brachte sie heraus:
"Sind Sie auch Anwalt wie Mr. Bailey?"
Er lachte.
"Nein, das wäre nichts für mich! Ich bin Maschineningenieur, im Bau von Automobilen. Ich entwickle Antriebssysteme, und da gibt es Projekte, die reif wären für die Anmeldung zu einem Patent. Da ich in einer Firma arbeite, bei Durant Motors, wollen die natürlich die Rechte für sich. Ich muss da schauen, dass ich nicht übers Ohr gehauen werde. Dazu brauche in Mr. Baileys Rat."
"Dann sind Sie ein Erfinder?", fragte Julia bewundernd.
"Ja – auch. Vieles, was wir Ingenieure machen, sind Weiterentwicklungen, kleine oder grössere Verbesserungen an Dingen, die bereits funktionieren. Damit eine als Erfindung gilt, muss etwas wirklich Neues dazu kommen. Die Grenzen sind fliessend, was den Schutz von Erfindungen schwierig macht, aber auch spannend."
Es wurde fast unmöglich, sich zu verständigen, weil sie bei der Avenue angekommen waren, auf der die stehenden Autokolonnen einen ohrenbetäubenden Lärm veranstalteten. Julia musste mit Elsie nach einer Möglichkeit suchen, hinüber zu kommen.
"Soll ich sie noch auf die andere Seite begleiten?", fragte Mr. Dirand laut.
"Nein, nein, wo denken Sie hin! Zweimal durch dieses Durcheinander, noch dazu mit dem Hund, das wäre Blödsinn!"
Er nickte, griff in die Westentasche und gab ihr seine Visitenkarte.
"Ich lasse Sie, sie müssen sich konzentrieren!", rief er dann und machte lächelnd eine kleine Bewegung mit dem Kinn in Elsies Richtung. Dann drehte er sich um, mit dem Hund an kurzer Leine.
"Goodbye Bessie!", schrie Elsie den beiden nach.
Als sie zu Hause angekommen waren, merkte Julia, dass sich die Karte in ihrer geballten Hand in ein angefeuchtetes Röllchen verwandelt hatte. In ihrem Zimmer strich sie sie glatt und las:

Jean L. Dirand
Mechanical Engeneer
309 E 75th St. New York City


Der Herbst war schon fast vorbei, und mit ersten Frostnächten kündigte sich der Winter an, von dem alle hofften, er möge für einmal mild ausfallen. Am Morgen stieg eine dicke Nebelwand aus dem East River empor und wurde vom kalten Ostwind in die Strassenschluchten von Manhattan gedrückt. Wenn man Glück hatte, lichteten sich die weissen Schwaden nach dem Mittag und die Sonne begann ihr Zauberspiel. Beleuchtete einzelne Gebäude wie mit gigantischen Bühnenscheinwerfern, liess den Asphalt der schnurgeraden Strassenzüge aufleuchten als glitzernde Spiegelbahnen. Formte die aus den Gullys aufsteigenden Dampfwolken zu Jazz tanzenden Geistern.
Julia lag bei geöffnetem Fenster auf Jeans breitem Bett. Es wurde langsam kalt im Zimmer, aber sie war zu faul, aufzustehen und es zu schliessen. Als sie beim Ausatmen kleine Wolken auszustossen begann, wälzte sie sich stöhnend auf den Bauch, schob ihre Beine über den Bettrand und stemmt sich hoch. Langsam ging sie zum Fenster und schaute einen Moment auf die Fünfundsiebzigste. Menschen auf dem Heimweg warfen lange Schatten, ein Fuhrwerk mit zwei Pferden klapperte vorbei, ein Auto musste ausweichen und hupte. Ein Junge prellte seinen Ball in schnellem Rhythmus aufs Pflaster des Trottoirs. Sie schloss das Fenster.
Wenn sie darüber nachdachte, konnte sie gar nicht glauben, dass Jean und sie sich erst seit drei Wochen kannten. Sie hatte in dieser Zeit so konzentriert und beharrlich gearbeitet wie noch nie, selbst Mrs. Bailey war dies aufgefallen. Als die Dienstherrin, halb im Spass, nach dem Grund für ihren Eifer gefragt hatte, entschied sich Julia spontan dafür, ihr geradeheraus zu sagen, was los war.
"Ich habe einen Mann kennengelernt, Mrs. Bailey. Ich glaube, es ist was Ernstes."
"Aha! – Oh! Ich freue mich für Sie, Julia!"
Julia bemerkte die Schwankungen in ihrer Stimme trotz der wenigen Worte und erschrak. Schlagartig wurde ihr klar, dass Mrs. Bailey die möglichen Konsequenzen dieser als ernst bezeichneten Beziehung zu einem Mann fürchtete: dass ihre Zofe sie verlassen könnte. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht!
"Ich habe nicht vor... ich meine... wenn Sie weiterhin mit mir zufrieden sind...", stotterte sie. Sie verhedderte sich in ihren durcheinander wirbelnden Gedanken und verstummte. Tränen schossen ihr in die Augen.
"Na, na, Julia! Kommen Sie!", hatte Mrs. Bailey gemurmelt, sie mit beiden Händen bei den Schultern gefasst und sie dann für einen kurzen Moment an sich gezogen.
In der darauf folgenden Unterredung war die Dienstherrin mit ihr zusammen verschiedene mögliche Wege in ihre Zukunft durchgegangen, in aller Ruhe und mit einer Direktheit, die Julia erst bewusst machte, worüber sie noch alles nachzudenken hatte. Sie war noch gar nicht so weit gewesen, eine Heirat mit Jean in Erwägung zu ziehen, und obwohl er ein-, zweimal etwas in diese Richtung angedeutet hatte, war das Thema zwischen ihnen noch nie offen besprochen worden. Mrs. Bailey aber hatte darüber geredet, als sei es das Normalste der Welt, einen Mann zu heiraten, mit dem man es "ernst" meinte. Julia hatte es ihr auch nicht übel genommen, dass sie ihr – Julias und Jeans – Alter in die Überlegungen einbezogen und gefunden hatte, so viele weitere Gelegenheiten, eine Familie zu gründen, fänden wohl beide nicht mehr. Mr. Dirand sei ein seriöser Mann mit solidem Einkommen, wohne dazu an einer sehr guten Adresse. Auch ihr Mann sei von seinen angenehmen Umgangsformen und vor allem von seinen Fähigkeiten beeindruckt.
Das alles musste Julia natürlich sofort mit Mathilde besprechen. Diese hatte Jean nur einmal gesehen, fand aber nach diesem ersten Eindruck und nach dem, was die Baileys von ihm hielten, er sei "ein guter Mann". Zum Heiraten könne sie nichts sagen, da sie die Ehe für sich selber mittlerweile entschieden als Möglichkeit ausschliesse, wie Julia ja wisse. Aber mit Jean solle sie so bald als möglich offen reden.
"Wills du denn Kinder haben mit ihm?", hatte sie plötzlich gefragt, und Julia hatte in der Frage, unausgesprochen aber deutlich, gehört: jetzt noch, in euerm Alter?

Sie ging in Jeans Küche, um etwas Kleines für sie beide zu kochen. Sie hatte ein Stück Suppenfleisch mit Knochen, Gemüse und frisches Brot eingekauft, dazu aus dem Hinterzimmer des Ladens eine Flasche Rotwein besorgt, eingepackt in eine braune Papiertüte. Jean würde bald von seinem Büro am Broadway nach Hause kommen und den Hund mitbringen, den er während der Arbeit beim Hauswart und dessen Kindern lassen durfte. Er ging immer zu Fuss, eine halbe Stunde Weg, der grösste Teil davon quer durch den grossen Park. Er sitze und stehe genug herum bei der Arbeit, und beim Spazieren könne er am besten denken. Sie hörte seine Worte in ihrem Kopf, nicht nur diese. Dass er sie liebe, sagte er nicht oft, aber wenn, dann auf französisch. Sie rieb sich das Ohr, als habe er es gerade hinein geflüstert. Packte die Flasche aus und öffnete sie, damit der Wein Luft bekam.
Das Fleisch war verkocht und liess sich fast nicht mehr schneiden, als sie endlich am Tisch sassen.
"Du hast rote Backen, schön siehst du aus!", sagte er mit breitem Lächeln, als sie ihm einschenkte.
Sie gab ihm mit der flachen Hand einen Klaps auf die Stirn und setzte sich.
"Daran bist du schuld, wilder Kerl!"
Er wackelte in gespieltem Ernst mit dem Kopf.
"Ich weiss nicht. Wenn ich so darüber nachdenke, wer hier wirklich wild ist...?"
Sie sah ihn an. Am liebsten hätte sie ihn vom Tisch weg und hinüber gezogen ins Schlafzimmer, wäre gleich noch einmal über ihn hergefallen. Er schien es in ihrem Blick zu sehen.
"Oh, oh! Jetzt wird erst mal gegessen!" Er schaute sie nicht mehr an und schöpfte mit betonter Sachlichkeit Suppe und Gemüse aus dem Topf, schnitt Brot und machte sich an den Knochen zu schaffen. Der Moment war vorbei, aber es war gut, denn sie hatte ja auch Hunger.

Wie man mit Jean reden konnte, musste sie herausfinden. Er konnte sehr gesprächig sein, wenn es um seinen Beruf ging, um technische Dinge, die ihn interessierten. Damit er über sich erzählte, woher er kam, wie er dachte, wie er zu seiner Familie und zu anderen Menschen stand, musste man ihn schon beharrlich befragen. Darin war Julia gut.
Jean war als Zweitältester von vier Kindern in Vesoul, in der Franche-Compté aufgewachsen. Sein Vater hatte in der Verwaltung einer Mine gearbeitet, wo Jean nach der Beendigung der Schule Arbeit fand in der mechanischen Werkstatt. Er besuchte Abendkurse für Maschinenbauer und Ingenieure und absolvierte die Abschlussprüfungen mit Bravour. Als sein Versuch scheiterte, in die polytechnische Schule in Paris aufgenommen zu werden, entschied er sich kurzerhand, seiner Schwester nach Amerika zu folgen. Das war 1894, Julia war damals gerade zwei Jahre alt, Jean aber ein einundzwanzigjähriger, ehrgeiziger junger Mann. Sein Schwager, der als Mechaniker in einer grosse Werkstatt für Fuhrwerke in Connecticut arbeitete, riet ihm, sich in Flint bei der Durant-Dort Carriage Company zu bewerben. Er vermutete damals, dass dieser grosse Hersteller von Pferdefuhrwerken früher oder später auf motorgetriebene Fahrzeuge setzen würde. Dafür brauche man tüchtige Ingenieure. Es kam dann nicht ganz so, wie sich Jean das vorgestellt hatte. Durant war das Unternehmen mit Dort nicht gross und dynamisch genug. Er gründete eine riesige Firma, General Motors, mit dem Plan, möglichst viele Automarken entweder unter diesem Dach zu versammeln oder aus dem Markt zu drängen. Während dem grossen Krieg stieg Durant aus der Company mit Dort aus. Er hatte sich mit seinem Partner verkracht, der sehr patriotisch war und sich der Kriegsproduktion zur Verfügung stellte, während Durant den Krieg verabscheute und nicht bereit war, seine Fähigkeiten und sein Geld diesem Unternehmen zur Verfügung zu stellen, das in seinen Augen Wahnsinn war. Jean blieb noch eine Weile bei der Dort Motor Car Company, weil ihn die neue Entwicklung von Automobilen brennend interessierte und man ihm genügend Freiräume gewährte, um eigene Entwicklungen zu lancieren. Durant stieg erst viel später ins Geschäft mit den Automobilen ein, eigentlich erst vor fünf Jahren. Jean beobachtete ein Jahr lang, was Durant vorhatte, und folgte ihm dann zur neu gegründeten Durant Motors Inc., wo er jetzt arbeitete.
Julia konnte sich diese Verwicklungen nicht alle merken. Sie wollte aber noch mehr wissen, anderes.
"Warum wolltest du Amerikaner werden?"
Jean überlegte. Begann dann zögerlich:
"Ich war fünfundzwanzig. Mir gefiel das Land, das von Menschen aus so vielen Gegenden der Welt gegründet wurde und von ihnen am Leben erhalten wird. Und es gefällt mir noch immer. Die Freiheit, die man hier hat, etwas aus seinem Leben zu machen. In Frankreich läuft immer alles über Paris. Du kannst nicht in der Provinz Ingenieur werden, du musst es an eine der Eliteschulen im Zentrum schaffen, sonst hast du keine Chance. Hier sind die besten Schulen auf viele Orte verteilt, und sie stehen in Konkurrenz zueinander. Das spornt sie an!"
"Wärst du auch für Amerika in den Krieg gezogen?", wollte Julia wissen.
"Ich glaube schon. Aber ich war froh, dass ich schon zu alt war, als Amerika in den Krieg eintrat. Und dass er ein Jahr darauf beendet war. Vielleicht hätte ich sonst auch noch gehen müssen."
Julia sah ihn nachdenklich an. Strich ihm dann mit dem Handrücken über die Wange.
"Und wie sind deine Verwandten hier? Siehst du sie oft? Und stellst du sie mir dann vor?"
Er schwieg eine Weile. Sie wusste schon, dass er es nicht gerne hatte, wenn sie ihm mehrere Fragen aufs Mal stellte, aber daran würde er sich gewöhnen müssen.
"Meine Nichte Martha wirst du sicher gut mögen. Sie ist nur ein paar Jahre jünger als du. Meine Schwester und ihr Mann, Diane und Alfred, sind auch in Ordnung."
Und nach einer weiteren Pause:
"Ich finde, wir sollten in Connecticut heiraten..."
Julia stand abrupt auf und stellte sich vor ihn hin.
"Machst du mir gerade einen Antrag, Monsieur Dirand? Fragst du mich, ob ich dich heiraten möchte?"
Er schaute sie von unten an und nickte fast unmerklich.
"Dann frage mich richtig! Bitte!", befahl sie. Es kam etwa strenger heraus als sie beabsichtigt hatte.
Er stand auf und nahm ihre Hände in seine, drückte sie bei jedem Wort.
"Liebe Julia, willst du meine Frau werden?"
"Aber ja, lieber Jean!"

Sowohl Mathilde als auch Mrs. Bailey, und noch entschiedener ihre Mutter, Mrs. Lemen, sie alle fanden, Julia solle unbedingt weiter als Kindermädchen und Kammerzofe arbeiten, auch wenn sie verheiratet war. Julia musste davon nicht überzeugt werden. Sie wusste längst, was sie dieser Tätigkeit im Umfeld einer wohlhabenden, gebildeten Familie verdankte. Sie war stolz auf ihren Beruf, auf die Anerkennung, die sie dabei erfuhr, auf den guten Lohn nicht zuletzt. Mathilde riet ihr, das Thema Jean gegenüber behutsam anzugehen.
"In dieser Hinsicht kennst du ihn ja noch nicht. Viele Männer berufen sich auf die Tradition, wenn es um diese Frage geht. Aber im Grunde geht es ihnen um die Ehre. Darum, ob sie in der Lage sind, den Lebensunterhalt für zwei, und schliesslich für eine ganze Familie, alleine zu bestreiten. Und einige wollen ihre Frau zu kontrollieren, indem sie sie ans Haus fesseln. Sie wollen sie für sich alleine haben, als gehöre sie ihnen. Aber mach langsam, jage ihn nicht in die Trotzecke!"
Jean merkte aber sofort, worum es ging, als Julia herumdruckste.
"Du willst weiter bei den Baileys arbeiten, sehe ich das richtig?", fragte er sie. Und als sie schon befürchtete, sie habe es verdorben, fuhr er weiter:
"Für mich ist das OK. Ich war lange Junggeselle, du bist so viel jünger als ich. Und ich liebe meinen Beruf. Wie sollte ich da auf die Idee kommen, dir deinen zu verbieten, dir den Kontakt zu anderen Menschen zu erschweren? Dazu ist meine Stellung auch nicht so sicher wie es vielleicht scheint. Die Automobilbranche entwickelt sich rasend schnell, Firmen können plötzlich verkauft werden oder bankrott gehen. Und Durand ist ein Spieler, ein Börsenspekulant. Wer weiss, vielleicht bin ich dann einmal froh, wenn du auch etwas verdienst."
Julia fiel ein Stein vom Herzen, und sie liebte die nüchterne Art, mit der Jean ihr Raum neben sich liess. So konnte man sich rasch einig werden über die praktischen Folgen, welche die Heirat mit sich bringen würde. Jean wollte seine langjährige Haushälterin, die ihm dreimal pro Woche den Haushalt gemacht hatte, nicht ganz entlassen. Sie sollte weiterhin dienstags für die Wäsche und zum Putzen kommen. Mit Mrs. Bailey vereinbarte Julia, dass sie jeweils am Wochenende, von Samstag bis Montag Mittag, frei hatte und auch zu Hause übernachten durfte. An den anderen Tagen sollte sie weiter an der Park Avenue arbeiten wie bisher. Für Anlässe wie Einladungen, Ausflüge und Ferienreisen der Familie Bailey würde man sich jeweils absprechen und eine spezielle Abmachung treffen.
Jean bestand darauf, dass Julia von ihren Herrschaften eine Absicherung für den Krankheitsfall und fürs Alter bekam. Er brachte dieses Anliegen bei den Baileys vor, als er sich dort offiziell als Julias zukünftiger Ehemann vorstellte. Julia war erschrocken darüber, dass er diese Forderung gerade bei dieser Gelegenheit äussern musste. Aber sie merkte an Mr. Baileys Reaktion, dass er es nicht als Dreistigkeit ansah und verübelte, sondern ihren Mann als ebenbürtiges Gegenüber behandelte. Als sie ihren neuen Vertrag in der Hand hielt, kam sie sich sehr amerikanisch und modern vor. Und sie freute sich darüber, dass Mathilde, die immer von einem solchen Arbeitsverhältnis geredet, es aber nie geschafft hatte, die Absicht in Tat umzusetzen, nun dank Jeans Initiative auch ihre Versicherung erhielt.
Die zivile Trauung fand am elften August 1926 im Büro eines Friedensrichters von Greenwich in Connecticut statt. Trauzeugen waren Mathilde und Jeans Schwester Diane. Wegen der Frage, ob sie auch in der Kirche heiraten sollten, kam es beinahe zum Streit zwischen Jean und Julia. Er war zwar katholisch aufgewachsen, verhielt sich aber in Glaubensfragen sehr skeptisch, was sie seinem scharfen, auf Technik und Wissenschaft ausgerichteten Verstand zuschrieb. Für sie aber war es so völlig klar, dass nur die kirchliche Zeremonie einer Heirat Gültigkeit verschaffte – die Ehe war schliesslich ein Sakrament! – , dass sie schon der Gedanke entsetzte, es bei dem trockenen Akt im Richterbüro zu belassen. Ganz abgesehen davon wusste sie, dass sie ihrer Mutter nach so einem Frevel nicht mehr hätte unter die Augen treten können. Es reichte schon, dass sie von der Hochzeit einer ihrer Töchter per Brief aus Amerika erfahren sollte.
Jean willigte nur ein, damit sie sich wieder beruhigte, das wurde ihr auf etwas bittere Weise klar.
Aber der Anlass geriet schliesslich doch zu einem Fest, in bescheidenem Rahmen zwar, aber so, dass Julia später gerne daran zurückdachte. Da in den Kirchen von Unionville, wo Jeans Verwandte wohnten, kein passender Termin frei war, fand die Trauung schliesslich in der kleinen, modernen Kirche Saint Roch in Geenwich statt, in dem kleinen Ort, wo schon zivil geheiratet worden war.
Julia war zu Tränen gerührt über den Umstand, dass Mr. und Mrs. Bailey mit dem Automobil von New York hergefahren waren, zusammen mit Mrs. Lemen und Elsie. Mathilde, die schon vorher angereist war, um bei den Vorbereitungen für das Festessen in einem der Gasthöfe von Greenwich zu helfen, hatte kein Wort davon gesagt.
"Ein bisschen sind wir doch auch Familie, nicht wahr?", sagte Mrs. Lemen, als sich Julia nach der Trauung bei ihr bedankte. "Ich wünsche Ihnen und Ihrem Mann alles Gute, Julia! Und ich bin froh, dass Sie uns erhalten bleiben." Julia brachte kein Wort heraus, also breitete Mrs. Lemen die Arme aus und drückte sie kurz an sich.
Auch ihre ältere Schwester Joséphine wünschte ihr Gottes Segen, und die Art und Weise, wie sie dies auf Patois tat, war für Julia tröstlich. Sie konnte sich einbilden, durch Joséphines Stimme auch den Segen der fernen Mutter erhalten zu haben.

An die Zeremonie erinnerte sie sich hinterher nicht mehr genau. Zu viele Gedanken waren in ihrem Kopf durcheinander gegangen. Der Priester war ihr unsympathisch gewesen, der Ring musste enger gemacht werden. Der Organist hatte einen Patzer an den andern gereiht. Aber Jeans ruhige Nähe hatte ihr Sicherheit gegeben. Die Angst, einen Fehler zu begehen, die in den letzten Tagen zugenommen hatte, fiel von ihr ab. Sie heirateten am Gedenktag des Heiligen Rochus in einer ihm geweihten Kirche, wenn das kein gutes Omen war! Dazu kam die Anwesenheit ihrer Schwester und der ganzen Familie Bailey, die alle keine Mienen machten, als täte sie etwas Falsches. Und sie durfte sich nun Mrs. Jean Dirand nennen, oder Mrs. Chiquet Dirand, – Ha!

Mittwoch, 13. Oktober 2021

Scharfe Gegensätze

In ihrer Vorfreude hatte sich Julia den Sommer in Cornol in den hellsten Farben ausgemalt. Nun wurde aber der August im Jahr 1925 völlig verregnet. Den Bauern war das Heu auf den Feldern verfault, auch ihrem Bruder Alcide. Der Boden konnte das viele Wasser nicht mehr aufnehmen, so dass sich in allen Senken grosse Pfützen und gar Teiche bildeten. Man konnte froh sein um das bisschen Gefälle der Felder rund ums Dorf, die nun, da der Regen aufgehört hatte, über unzählige gurgelnde und glucksende Rinnsale in Richtung der Flüsschen Erveratte und Allaine allmählich entwässert wurden.
Mathilde und sie waren erst seit ein paar Tagen zu Hause, für kurze Zeit entlassen aus den Diensten von Mrs. Bailey und ihrer Mutter, die sie zusammen mit der elfjährigen Elsie gegen das Ende der folgenden Woche in Paris wieder erwarteten. Julia kam alles unwirklich vor, nicht nur die luxuriösen Umstände der Reise bis zu diesem kurzen Besuch in Cornol. Auch hier fühlte sie sich manchmal wie durch einen Schleier getrennt vom Geschehen, von ihrer Umgebung und von den Menschen. Als sie Mathilde von dieser seltsamen Empfindung erzählte, erfuhr sie, dass es ihrer Schwester ganz ähnlich erging.
«Nun sind eben wir die américaines», meinte Mathilde. «Wir kleiden uns anders, haben diese Kurzhaarfrisuren, über die man hier die Nasen rümpft. Wahrscheinlich bewegen wir uns sogar anders. Wir haben früher gespottet über solche Rückkehrerinnen, wie sie mit ihrem Arsch wackelten auf der Dorfstrasse, und ihre Nasen hoch trugen. Vielleicht machen wir das jetzt auch und merken es nicht einmal. Ab und zu fällt uns ein Wort zuerst auf amerikanisch ein, und schon ist es draussen! Der Gegensatz war auch noch nie so gross zwischen den Orten, an denen wir gerade noch waren und dem hier, oder?»
Der Unterschied zwischen ihren Verwandten, den Nachbarn und überhaupt allen Menschen im Dorf, und den Wohlhabenden bis Schwerreichen, die sie auf dem Schiff und im Hotel in Paris angetroffen hatten, fand Julia besonders verstörend. Zwar waren Mathilde und sie auch schon auf der France gereist, aber damals in der zweiten Klasse. Nun hatten sie Teil gehabt, und waren Teil gewesen, dieser ungeheuer verschwenderischen Pracht, die dem Dampfer den Beinamen «Versailles der Meere» eingebracht hatte. Ihnen waren Männer und Frauen begegnet, die sich schrecklich langweilten und über alles und jeden in ihrer Reichweite herzogen, weil es nichts auf der Welt gab, was sie nicht schon – besser, teurer, aufregender! – gesehen zu haben glaubten. Aus der Erfahrung, alles kaufen zu können, leiteten sie das Recht ab, die andern beurteilen und über sie bestimmen zu dürfen nach ihrem Belieben. Julia hatte eine Lady gesehen, die ihrer Kammerzofe ein teures Abendkleid, das diese ihrer Dienstherrin aufs obere Deck nachgetragen hatte zur Prüfung, aus den Händen riss und es kurzerhand über Bord werfen wollte. Es wurde vom Wind hochgehoben und verfing sich in den Seilen eines Mastes, wo es bis zur Landung im Havre flatterte wie eine Fahne. Am Nebentisch im Esssalon trank ein älterer Herr jeden Abend eine Flasche Wein, für deren Preis man auf dem Viehmarkt in Pruntrut eine schöne Kuh hätte kaufen können. Alcide hatte nur gelacht, als sie ihm diese Geschichte erzählten. Er war ein richtiger Bauer geworden, ein paiyisain mit harten, schwieligen Händen, sonnenverbranntem Gesicht und einem etwas schweren Gang. Seine streng nach Stall riechenden Arbeitskleider tauschte er nur an Sonntagen für den Gang zur Kirche, zu seiner Freundin oder zum Viehmarkt gegen einen der schönen Anzüge aus Amerika. Dann aber wusch und rasierte er sich sorgfältig und verwandelte sich auf wundersame Weise in einen môssieu, nach dem sich die Frauen im Dorf umdrehten.
Es hatte Julia und Mathilde gefreut, dass er und Célestine sich gefunden hatten, wieder gefunden, musste man sagen, denn die zwei waren als Jugendliche ein heimliches Liebespaar gewesen, was seine jüngeren Schwestern damals aufgeregt verfolgt hatten. Célestines Mann hatte sich nach dem grossen Krieg mit der Spanischen Grippe angesteckt und war an der folgenden Lungenentzündung gestorben, seine Frau als Witwe mit einer kleinen Tochter zurücklassend. Alcide schaute zu den beiden, ohne daraus eine grosse Sache zu machen. Und fast schien es so, als ob er bei Célestine den Kummer über den Verlust seiner grossen Liebe zu Fiona vergessen könnte. Sein Gehör war nochmals schlechter geworden. Wenn man zu ihm sprach, musste man darauf achten, ihm das Gesicht zuzuwenden, damit er von den Lippen ablesen konnte. Ihn schien das weniger zu stören als seine Umgebung. Maman konnte darüber schimpfen:
«Er hört nur noch, was ihm passt. Wenn irgendwo Land günstig zu haben ist, oder wenn jemand einen Blick auf seine schönste Kuh geworfen hat, dann kriegt er immer alles mit. Aber wenn er mir eine klemmende Schublade flicken sollte, ist er taub wie ein Stein!»
Alcide lachte übers ganze Gesicht, sich lautlos schüttelnd. Meinte schliesslich:
«Ich komme zurecht. Und es hat auch Vorteile: die Leute reden sowieso meist zuviel und wenn, dann lauter Unsinn. Bald werde ich mich aus der Armee ausmustern lassen, dann muss ich nicht mehr bezahlen jedes Jahr.»
Julia hatte sich bei ihm erkundigt, wie es der Mutter gehe. Sie sei noch immer rüstig, allerdings klage sie in letzter Zeit über Schmerzen in den Hüftgelenken. Sie könne nicht mehr lange stehen oder grössere Strecken zu Fuss zurücklegen. Einen Stock wolle sie nicht. Aber sie habe noch immer genug Kraft, nach anderen zu schauen auch ausserhalb der Familie, zum Beispiel zu çte paûre Juliette, einer alleinstehenden Nachbarin, für die sie zweimal in der Woche mit koche und ihr die Medikamente besorge.
Ihre Nichte und die Neffen hatten sie kurz nach ihrer Ankunft erlebt. Célinas Tochter Marianne war nun neun Jahre alt, die vier Buben von Jean Baptiste zwischen drei und neun.
«Wenn die so weiter machen, wird die Wohnung in Riehen bald zu klein, dann müssen sie etwas Rechtes finden, ein Haus», fand Alcide.
Es war eine fröhliche Begegnung geworden mit den Kindern, obwohl das Wetter nicht mitspielte. Als sie ihre Tanten bestürmten, sie sollten einmal richtig amerikanisch reden, begannen diese, Schlager zu singen. Zuerst Julia alleine, dann mit Mathilde zusammen. Bald steigerten sie sich unter dem Beifall der Kinder richtig hinein und sangen aus vollem Hals:
Somebody loves me
I wonder who
Maybe it’s you

Und:
Chicago, Chicago
You todell’ing town
Chicago, Chicago
I’ll show you around.

Damit alle den foxtrott oder charleston dazu tanzen konnten, wurde der Stubentisch auf die Seite geschoben und der Teppich eingerollt, fast wie bei den Baileys. Maman stand in der Türe und schaute kopfschüttelnd zu, aber da sie nicht wegging, konnte man ahnen, dass sie sich über die Lebendigkeit der Jugend freute.
Über Célina hatte sich Julia sehr gefreut, sie strahlte eine ruhige Zufriedenheit aus und schien mit ihrem Mann und ihrer Tochter glücklich zu sein. Offenbar gefiel es ihr auch am Zürichsee, wohin die junge Familie gezogen war. Sie kamen oft und regelmässig nach Cornol. Mit Marianne sprach sie konsequent Französisch, was dazu beitrug, dass sich ihre Tochter gut verständigen konnte mit den Verwandten. Sie liebte alle Tiere. Von Alcide hatte sie das Melken gelernt, und wie man die Kühe mit dem Stecken und lauten Zurufen dorthin lenkte, wo man sie haben wollte. Die Hühner füttern, Eier einsammeln, aber auch den Stall ausmisten waren Betätigungen, die sie mit Freude und staunenswerter Ernsthaftigkeit ausführte. Célina erzählte, sie habe noch vor zwei Jahren jedesmal ein grosses Drama vollführt, wenn sie wieder von Cornol wegmusste. Julia musste ihrer Schwester recht geben: sie war wirklich vernarrt in Marianne. Sie war anders als Elsie vor zwei Jahren, ungezwungener und natürlicher. Natürlich musste sie ihr alles erzählen über dieses geheimnisvolle Mädchen, das in New York in einer palastähnlichen Wohnung lebte und von Julia bedient und betreut wurde, die doch eigentlich ihre Lieblingstante war.
Bei Jean Baptistes Buben war man sich nicht so sicher, ob sie gerne herkamen. Sie verstanden wenig von dem, was man zu ihnen sagte und sprachen kaum von sich aus Französisch. Der Patois war für sie ein lustiger Kauderwelsch, eine Art Geheimsprache, die sie manchmal im Spiel nachäfften, aber kaum Interesse daran zeigten, sie zu lernen. Die mittleren zwei, Pierre und Alcide Junior, waren das letzte Mal abgehauen, als sie alleine nach Cornol in die Ferien gehen mussten, so hatten sie unter dem Heimweh gelitten. Man musste sie stundenlang suchen und fand sie schliesslich, beide weinend, auf einem Feldweg am Waldrand. Sie hatten vorgehabt, nach Hause, nach Riehen zu laufen. Aber sie waren auch lustig. Nachdem Mathilde und Julia ihre Gesangsnummer fertig hatten, wollte die Kleinen ebenfalls etwas zum Besten geben. Sie stimmten das Lied von den Petignat an:
Que le matan thuai les Pe, Pe, Pe,
Que le matan thuai les Petignats,
Vivent les Ai, z'Ai, z'Ai
Vivent les Aidjolats.

Anstelle des ihnen unverständlichen Fluchs, der Teufel solle die Petignats holen!, sangen sie einfach täratätä les Pe, Pe, Pe, tärätätä les Petignats, zum grossen Vergnügen der Erwachsenen.

Erst ganz zum Schluss ihres Aufenthalts übergaben die beiden Schwestern Alcide einen dicken Umschlag voller Dollarnoten, Geld, das sie für ihn und die Mutter gespart hatten. Alcide machte grosse Augen, als er das dicke Bündel sah, und noch mehr erstaunte ihn, als er erfuhr, was die beiden bei den Baileys verdienten.
«Donnerwetter, das ist einiges mehr als das, was mir Rockefeller bezahlt hat! Den Amerikanern muss es wirklich ausgezeichnet gehen seit dem Krieg. Wenn man denkt, wie dreckig es die Deutschen noch bis vor Kurzem hatten, weil sie den Siegern viel mehr zahlen mussten zur Wiedergutmachung, als sie eigentlich konnten. Da haben die Leute das Geld mit dem Leiterwagen angekarrt, wenn sie ein Möbelstück kaufen wollten. Ich habe es zwar nie recht glauben wollen, aber ein Kilo Kartoffeln soll im November Dreiundzwanzig neun Milliarden Mark gekostet haben, das kann man sich gar nicht vorstellen. Jetzt soll es wieder aufwärts gehen, seit sie die neue Mark haben, die Rentenmark und die Reichsmark. Ich glaube sie haben zwei aufs Mal.»
«Und wie ist es hier?», wollte Mathilde wissen. Alcide wiegte den Kopf hin und her.
«Es geht. 1921 und 1922 war es schlimm mit dem fièvre aphteuse, da musste ich auch alle meine Tiere töten lassen und habe kaum eine Entschädigung bekommen. Aber jetzt geht es langsam aufwärts. Land ist günstig zu haben, und die Hilfskräfte für die Ernte können nicht viel verlangen. Arme Kerle! Aber für uns Bauern ist das natürlich gut. Maman kann nicht mehr so viel machen, aber Célina kommt oft vorbei um zu helfen.»
Als er begriff, dass er den Schwestern mit seinen Worten ein schlechtes Gewissen machen könnte, fügte er schnell hinzu:
«Ihr macht das gut dort drüben. Geniesst es, solange es so gut läuft. Wir kommen schon zurecht hier!

Zuweilen half nur der Gang aufs Klo um wieder zu sich zu kommen. Sie drehte den Schlüssel um, dann den Lichtschalter, und blickte um sich. Die vernickelten Kreuze der Drehgriffe funkelten sie an wie bösartige Augen. Sie wusste, wie schwer es war, alle Kalkflecken von diesen Vorrichtungen zu entfernen. Hier sah sie keinen einzigen. Statt eines gelben Seifenblocks, wie einer zuhause in der Küche im schief hängenden Drahtgestell über dem Schüttstein lag, waren die Seifen hier zart lila, grünlich und bläulich gefärbte Kissen, jeden zweiten Tag ersetzt durch nagelneue mit scharfen Gussnähten und verschnörkelten Stempeln mit dem Namen des Hotels. Sie klappte den glänzend lackierten Deckel aus dunklem Holz hoch, schürzte den Rock, schob die Unterhosen zu den Waden hinunter und setzte sich. Ihre Füsse ruhten auf einem kleinen Teppich mit weichem, violettem Flor, der sich mit einem halbrunden Ausschnitt nahtlos um den Fuss der Klosettschüssel schmiegte. Sie roch an ihren Unterarmen um zu prüfen, ob noch Reste des heimatlichen Stallgeruchs wahrnehmbar seien. Elsie hatte bei ihrer Ankunft das vornehme Näschen gerümpft und festgestellt:
«Ihr riecht komisch.»
Und Mrs. Bailey hatte ihren Ausführungen über die geplanten und unmittelbar bevorstehenden Unternehmungen mit deutlich hörbarer Betonung beigefügt:
«..., wenn Sie sich dann frisch gemacht haben.»
Als sie zur Papierrolle griff, um sich abzuwischen, bemerkte sie das in trostloser Perfektion zu einer Spitze gefaltete Ende. Es hatte eine leicht andere Form als die, welche sie vor ein paar Jahren vom Butler der Leslies gelernt hatte und seither anwandte. Sie dachte an die auf einen Nagel gespiessten Zeitungsblätter im Häuschen in Cornol und seufzte tief.
Ihre Rückkehr nach Paris, ins Luxushotel Majestic an der Avenue Kléber, zu Mrs. Bailey mit Mutter und Tochter, war nicht so harmonisch verlaufen, wie sie sich das vorgestellt hatte. Fast schien es so, als würde es die Dienstherrin bereuen, ihre Kammerzofe und das Kindermädchen so grosszügig beurlaubt zu haben. Elsie war deutlich anzumerken, dass sie sich tödlich gelangweilt hatte.
«Jeden Tag in diese blöde Ausstellung!», klagte sie. «Da gibt es gar nichts für Kinder, und Mom interessiert sich nur für Möbel und solche Sachen.»
«Nicht in diesem Ton, junge Dame!», schalt sie die Mutter. «Nun ist ja Julia wieder hier. Ihr könnt zusammen in den Zoo gehen, und ins Puppentheater. Ausserdem gibt es in der Ausstellung eine Ecke mit Spielsachen, die du noch gar nicht gesehen hast. Und vielleicht gehen wir noch alle zusammen in dieses spanische Ballett, das soll ganz fantastisch sein.»
Elsie verzog weiterhin schmollend ihren Mund. Auch Mrs. Lemen schien froh zu sein, nun dank der Verfügbarkeit von Julia und Mathilde wieder etwas für sich unternehmen zu können, unabhängig von ihrer Tochter, für die der Hauptzweck der Europareise tatsächlich im Besuch der Exposition des Arts Décoratifs bestand. Dafür war sie nach Paris gekommen, und das wollte sie nun auch voll und ganz auskosten, wie sie sagte. Julia konnte sich vorstellen, dass ihr Mann seine geschäftlichen Verpflichtungen auch deshalb nicht verschoben hatte, weil er den Hang zur Besessenheit seiner Frau kannte, wenn es um schöne Dinge ging. Allerdings hatte er durch sein Zuhausebleiben auch die Kontrolle über die Ausgaben seiner Ehefrau aus der Hand gegeben, die schon einige Bestellungen exquisit moderner Möbelstücke und Textilien, inklusive shipping nach Amerika, getätigt hatte. Es waren also weitere Auseinandersetzungen zum Thema der Wohnungseinrichtung an der Park Avenue zu erwarten.
Jetzt, wo ihr Aufenthalt in Paris nur noch wenige Tage dauern würde, verlieh das Bewusstsein der beschränkten Zeit allen Erlebnissen einen besonderen Glanz. Damit die Damen und die elfjährige Miss alle ihre noch verbleibenden Gelüste befriedigen konnten, wurde sorgfältig geplant. Elsies Zoobesuch, Mrs. Lemens Rundgänge im Louvre und im Grand Palais sowie Mrs. Baileys Erkundungen in den unzähligen Pavillons der Exposition mussten so arrangiert werden, dass die gemeinsamen Morgen- und Nachtessen im Speisesaal des Majestic nicht tangiert wurden. Nicht vergessen durfte man die ärgerliche, aber weit verbreitete Gewohnheit der Franzosen, ihre Museen und öffentlichen Einrichtungen am Dienstag geschlossen zu halten. Dazu kamen zwei Veranstaltungen, für die man Tickets gekauft hatte: eine Vorführung am späten Nachmittag im Théatre Guignol du Champ de Mars, zu der Mrs. Bailey nicht mitkommen würde, sowie das Ballett L’Amour Sorcier von de Falla im Theater Trianon, das sie alle zusammen ansehen wollten.
Es war nicht vorauszusehen gewesen, dass Elsie schliesslich den lebensgrossen Plüschbären im village des jouets den Vorzug gab gegenüber den richtigen Braun- und Eisbären im Pariser Zoo. Julia hatte mit ihr in New York verschiedene Tierparks besucht in den vergangenen Jahren, und das Mädchen war immer vorbehaltlos begeistert gewesen. Nun war Elsie in ein Alter gekommen, in dem sie Vergleiche zu ziehen und sich in das Schicksal eingesperrter Tiere einzufühlen vermochte. Was sie früher belustigt hatte, zum Beispiel die ewig gleichen Gänge eines Eisbären hin und her entlang dem Wassergraben, und wie er in einer Achterschlaufe den Kopf pendeln lässt an den Wendepunkten, veranlasste sie sie nun zu einer beharrlichen Fragerei. Und als sie nach Julias unzureichenden Erklärungen von einem amerikanischen Touristen die Auskunft bekam, dies sei so genanntes stereotypic behaviour, eine leider bei Zootieren häufig auftretende Form des Irreseins, war sie so entsetzt, dass sie den Park sofort verlassen wollte.
Nun standen sie zwischen unzähligen Kindern, Kindermädchen und Eltern vor einem überdimensionierten Puppenhaus, das ebenfalls als einer der Anziehungspunkte im Spielzeugdorf der grossen Ausstellung eingerichtet worden war. Und obwohl Elsie längst aus dem Alter herausgewachsen war, in dem sie noch mit ihrem Puppenhaus gespielt hatte, fand sie es lustig, mit Julia zusammen, sich gegenseitig auf immer neue Details aufmerksam machend, diese mit grosser Kunstfertigkeit nachgeahmte Welt häuslicher Menschen zu betrachten.
Über Mittag trafen sie sich mit Mrs. Lemen und Mathilde in einem der Restaurants an der Champs Elisée. Da die Septembersonne noch angenehm warm schien, konnten sie sich draussen an einen Tisch setzen, etwas Kleines essen und trinken und sich gegenseitig erzählen, was sie erlebt hatten. Mrs. Lemen war noch immer sehr aufgeregt und begeistert von ihrem Besuch in einer Galerie an der Rue Bonaparte, wo sie sich mit Mathilde zusammen eine Ausstellung «surrealistischer» Maler angesehen hatte. Sie habe schon einiges gelesen über diese Richtung der modernen Kunst, die sich von den dunklen Seiten der menschlichen Seele inspirieren liesse, habe aber bisher noch kaum Bilder oder Skulpturen gesehen. Die Ausstellung sei erstaunlich vielfältig und, für sie gänzlich unerwartet, voller Humor gewesen. Mit einem Seitenblick auf Mathilde sagte sie:
«Es gab witzige Bilder, die auch Ihnen gefallen haben, nicht wahr, Mathilda? Zum Beispiel diese fast leere Leinwand eines Malers namens Mirò, ich meine, er ist Katalane. Ein bisschen sah es aus wie eine vergrösserte Postkarte. Oben links stand, in verschnörkelter Schrift: Photo. Rechts unten sah man einen blauen Farbfleck, die Ölfarbe sah aus, als sei sie mit dem Finger aufgetragen und verschmiert worden. Darunter stand, in der verbundenen Schrift einer Feder und auf feinen Bleistiftlinien: Ceci est la couleur de mes rêves
Sie hatte den französischen Satz offenbar auf dem Weg hierher geübt, denn sie brachte ihn fast mühelos und mit einigermassen korrektem Akzent über die Lippen.
«Ich überlege mir nun ständig, welche Farbe meine Träume haben, fantastisch!», fügte sie hinzu.
Mathilde hatte zu den enthusiastischen Ausführungen nur still gelächelt, immerhin ein- zweimal genickt, als Mrs. Lemen das Bild beschrieben hatte. Als diese sich nun der Enkelin zuwandte und sie nach deren Erlebnissen des Morgens befragte, zwinkerte Mathilde ihrer Schwester zu und sagte halblaut:
«Çât des dôbats!» – «Die sind verrückt!»
Das Werk eines anderen Verrückten sahen sie sich am Nachmittag an. Mrs. Bailey zuliebe traf man sich nochmals in der Ausstellung, und zwar bei einem Pavillon mit der Bezeichnung de l’Esprit Nouveau, der, wie sie sagte, von der Ausstellungsleitung beinahe geschlossen worden war wegen seiner «radikalen Modernität». Ein Landsmann von Julia und Mathilde, sie meine sogar, aus derselben Gegend der Schweiz wie sie, habe das Haus geschaffen, ein berühmt-berüchtigter Architekt, der sich Le Corbusier nenne, eigentlich aber Jeanneret heisse wie sein Cousin, mit dem er in diesem Fall zusammengearbeitet habe.
Der Pavillon war wirklich modern. Er sah aus wie eine Schachtel aus Beton, die auf kurzen Stelzen über dem Boden schwebte. Eine Seite war fensterlos und durch schmale Stege in zehn grosse, quadratische Flächen eingeteilt. In den vier linken waren, Orange auf Ochsenblutrot, zwei riesige Buchstaben, ein E und ein N, aufgemalt. Das Kreuz aus den darüber liegenden, nackten Betonstegen liess die Schrift wie hinter einem Fenster aussehen. In der Mitte erklärte ein schwarzweisses, aufgemaltes Schild den Sinn der Abkürzung: l’Esprit Nouveau. Diese Seite, sowie der durch ein Loch in der Decke eines kleinen Innenhofs wachsende Baum gefielen Elsie und auch Julia am besten. Im Innern war das Haus zwar faszinierend einfach eingerichtet. Julia fröstelte es aber bei der Vorstellung, in solchen Räumen leben zu müssen. Ihr Blick prallte von leeren Flächen zurück, die Stimmen und auch ihre Tritte hallten. Nichts stand einfach so herum, wie die Dinge in normalen Häusern, die von lebenden Menschen herumgeschoben werden und schliesslich dort ihren Platz finden, wo sie am wenigsten im Wege stehen. Alles zeugte von einer durchdringenden Kraft, einem unbeirrbaren Willen, die Räume genau so einzurichten, wie sie ausgedacht waren. Mathilde schien es ähnlich zu gehen wie ihr.
«Hierher kannst du keine eigenen Möbel mitbringen.» Und lachend fügte sie hinzu:
«Stell dir mal unser Sofa und den Stubentisch vor hier drin!»
«Oder die Kommode mit den Lourdes-Madonnen!», schlug Julia kichernd vor.

Ohne Vorbehalte beeindruckt waren alle vom spanischen Tanz der beiden Stars im Ballett von Manuel de Falla. Schon das Theater mit seinen zwei senkrecht übereinander hängenden Balkonen und den roten Plüschsesseln war eindrucksvoll. Als es sich gefüllt hatte mit hunderten festlich gekleideter Zuschauer, war die Stimmung freudig gespannt. Von Antonia Mercé, genannt la Argentina, und Vicente Escudero, den beiden Protagonisten des Stücks, hatte man schon viel gehört und gelesen, und manche im Publikum kamen schon zum dritten oder vierten Mal in die Aufführung, um ihren Tanz, vor allem aber ihr äusserst kunstvolles Geklapper mit Schuhsohlen und Kastagnetten zu erleben. Der Vorhang hob sich und gab den Blick frei auf ein glühend rot leuchtendes Bühnenbild, eine gefährlich schöne, symmetrisch zur Mittelachse aufgebaute Hölle aus Tüchern, mit Leinwänden bespannten Holzrahmen, Treppenstufen und Podesten. Elsie suchte Julias Hand, hielt und drückte sie fest bis zu Pause. Was sie sahen, war wirklich atemberaubend. Die Tanzenden, vor allem aber die beiden Hauptfiguren, wirbelten manchmal so schnell und scheinbar schwerelos auf der Bühne umher, dass man ihnen kaum folgen konnte. Dann wieder standen sie fast still, mit aufs Äusserste angespannten Körpern, stampften und traten den Boden in so rasend schnellen Rhythmen, dass es unmöglich war zu erkennen, wie sie es genau machten. Ähnlich war es mit dem Spiel der spanischen Klappern, auf denen die Finger ihre Wirbel vollführten. Julia bemerkte, und machte Elsie flüsternd darauf aufmerksam, dass die Kastagnetten der Argentina etwas heller tönten als diejenigen ihres Partners. Durch diese Unterscheidung konnten sie in der Folge eine Art furioses Zwiegespräch der beiden ausmachen, das die Tanzbewegungen ergänzte.
Sie kehrten nach der Aufführung ganz benommen ins Hotel zurück und Elsie konnte lange nicht einschlafen.
«Kann man tanzen lernen?», wollte sie von Julia mitten in der Nacht wissen.
«Das kann man sicher. Du musst das in Ruhe mit deinen Eltern besprechen. Jetzt aber solltest du schlafen. Bald werden wir auf dem Schiff sein. Dann spielen wir wieder shuffleboard mit deiner Grandma, und mit Mathilde.»
Elsie hatte endlich die Augen geschlossen. Sie murmelte:
«Und ich werde wieder gewinnen.»

Man hielt es meist nicht lange aus an Deck, auf dieser Überfahrt. Das Meer war ein bewegter Teppich aus dunkel blaugrün schimmernden Wellen mit darauf reitenden Kronen aus weissem Schaum, die immer wieder von starken Böen abgerissen und zerfleddert wurden. Elsie war erstaunt, dass es auf dem Ozean auch regnen kann. Sie musste laut rufen, damit Julia sie verstand.
«Spüren es die Fische, wenn es so stürmt?»
Julia konnte es nicht genau sagen.
«Ich glaube, das Wasser bewegt sich nicht bis in die Tiefe, die Wellen sind nur oben drauf. Und nass sind sie ja schon.»
Über die Tiefe des Atlantiks wusste Elsie etwas aus der Schule. Eigentlich hätte sie jetzt schon wieder im Unterricht sein müssen, aber unter der Voraussetzung, dass sie nach ihrer Reise über ihre Erlebnisse berichten würde, hatte ihre Mutter die Verlängerung der Sommerferien erwirken können. Die Lehrerin hatte auf Elsies Reise Bezug genommen und der Klasse etwas über die Schiffahrt auf dem Atlantik erzählt.
«Das Meer ist mehr als siebentausend Fuss tief, da wo wir jetzt fahren», brüllte sie.
Julia schauderte.
«Komm, wir gehen wieder hinein, bevor wir ganz nass sind!»
Der Wind orgelte in den Ohren und peitschte einem nasse Schwaden ins Gesicht. Als sie die Türe öffnen wollten, reichte ihre vereinte Kraft nicht aus, bis Julia sich darauf besann, wie man einen störrischen Ochsen aus dem Stall zieht. Sie hob ihr Bein, setzte den Fuss auf den Türrahmen und stiess sich davon ab. Drinnen war es warm und still. Elsie drückte sich an Julia.
«Du bist stark!»
In den Salons der ersten Klasse herrschte ein Wettstreit unter den wohlhabenden und reichen bis schwer reichen Fahrgästen. Viele hatte sich in Europa mit teuren Kleidern nach der neusten Mode ausgestattet, die sie nun unbedingt vorführen mussten. Manche Frauen wechselten ihre Garderobe bis zu viermal am Tag, um ihren Konkurrentinnen zu zeigen, wie exquisit ihr Geschmack sei und was sie sich alles leisten konnten. Sogar Mrs. Bailey, die sich zuerst darüber gefreut hatte, – «wir bekommen hier eine Gratis-Modeschau zu sehen!» – wurde es nach wenigen Tagen zu viel. Und als von der Schiffsleitung eine soirée dansante angekündigt wurde, beschloss sie kurzerhand, diejenige der zweiten Klasse mit ihrer Anwesenheit zu beehren. Julia und Mathilde war es recht, denn der Name der Musikkapelle, die dort aufspielen sollte, The Creole Birds, war vielversprechend. Ausserdem würden sie so an dem Abend auch Bekannte aus Cornol treffen. Den neunzehnjährigen Jean Baptiste aus der rotte der Grillon zum Beispiel, «ein süsser Bub», wie Mathilde gefunden hatte, als sie ihn beim Einsteigen gesehen hatten. Und der konnte wirklich tanzen wie der Teufel, weiss der Himmel, wo der das gelernt hatte. Bei den modernen Tänzen, foxtrott, charleston, shimmy und wie sie alle hiessen, war es auch an so einem Anlass völlig normal, dass alle, die Lust hatten zu tanzen, einfach auf die Fläche stürmten und loslegten, ohne sich um die mühsame und oft demütigende Paarbildung zu kümmern. Als Elsies Mutter und Grossmutter sahen, wie auch andere Kinder und Jugendliche tanzten, durfte sie zeigen, was sie von Daddy und Mary McD gelernt hatte. Und so bildeten sie ein wildes Quartett, der junge Grillon, Mathilde, Julia und Elsie. Es gab Momente, wo sich um sie ein Kreis von Zuschauern bildete, die sie anfeuerten.
Weil sie danach nicht schlafen konnten, verliessen die beiden Schwestern in den frühen Morgenstunden ihre Kajüte, und betraten das obere Deck mit wahllos übereinander angezogenen Kleiderschichten. Der Sturm hatte nachgelassen, aber es war Nebel aufgezogen, der sich, von mehreren starken Scheinwerfern beleuchtet, wie eine undurchdringliche, leuchtende Glocke über das Schiff gestülpt hatte und mit ihm mitfuhr. Als ein Horn plötzlich ein tiefes Röhren von sich gab, zuckten sie zusammen.
«Hoffentlich wissen die, wo sie hinfahren!», meinte Mathilde.
Julia hatte auf dem untersten Deck eine kleine Gruppe von Männern entdeckt, die sich gegenseitig Zigaretten anboten und sie anzuzünden versuchten. Sie trugen Latzhosen, manche direkt über dem nackten Oberkörper. Als sie von einem entdeckt wurde, winkte er und machte die andern auf die zwei Frauen aufmerksam. Erst jetzt erkannte Julia, dass es nicht Schwarze waren, wie sie zuerst gedacht hatte, sondern Maschinisten, deren Gesichter und Arme vom Öl schwarz gefärbt waren. Sie winkte zurück, ein paar der Männer schwenkten ihre Kappen und riefen etwas, was nicht zu verstehen war. Da tauchte aus einer eisernen Tür ein weiterer Mann auf, der mit den Armen fuchtelte und dazu brüllte. Die Arbeiter warfen ihre Kippen über die Reling und verschwanden schnell in der dunklen Öffnung, der letzte zog die Türe hinter sich zu.
Sie schwiegen beide. Unter ihren Füssen spürten sie das leise Zittern der Motoren, die tief unter ihnen von den Männern am Laufen gehalten wurden.

Montag, 27. September 2021

Im Jazz Age

Sie erinnerte sich nicht oft an Träume, aber dieser verfolgte sie eine Weile.
Sie liest Kartoffeln auf mit ein paar anderen Mädchen aus dem Dorf. Ihr Rücken schmerzt, also richtet sie sich auf, fasst sich ins Kreuz und blickt in den Himmel. Es ziehen Wolken auf, sie müssen sich beeilen. Als sie ihren Blick wieder nach unten richtet, sieht sie am Horizont, winzig klein auf einer ansteigenden Hügelflanke, eine Prozession. Ein paar Priester und Ministranten in ihren weissen Spitzenhemden, darüber schwankende Banner und Kreuze. Ihnen folgen lauter dunkel gekleidete Menschlein. Von ganz weit her hört sie ihren dünnen Gesang. Als der Umzug auf der Hügelkuppe angekommen ist, sieht sie ihn auf einmal von ganz nahe. Viele tragen Masken, wie an der Fasnacht oder an einem Ball. Eine Musikkapelle ist aufgetaucht. Sie spielt Katzenmusik, die sich findet in einer schnellen Jazzmelodie. Die Frauen und Mädchen im Umzug beginnen wild zu tanzen, alle tragen knielange, glitzernde Röcke und Kurzhaarfrisuren, die Männer stellen sich im Kreis um sie auf. Statt der Masken tragen sie nun hohe, spitze weisse Hüte. Der Kreis schliesst sich immer enger um die Tanzenden, bis man sie nicht mehr sieht. Sie bekommt Angst und möchte sehen, was passiert. Drängt sich zwischen den weissen Hutträgern hindurch in die Mitte. Dort steht ein schwarzes Kälblein – und sie erwacht mit heftigem Herzklopfen.
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sie begriff, wo sie war. Draussen begann es zu dämmern. Nach dem Brummen des Verkehrs auf der breiten Avenue schätzte sie die Zeit auf halb sieben Uhr, da läutete ihr Wecker.
Elsie war eine Grosse jetzt. Da der Weg zur Lennox-Mädchenschule viel kürzer war als der frühere zum Kindergarten, und sie zudem meist abgeholt wurde von einer Kameradin, konnte sie jetzt gut alleine gehen. Julia weckte sie, überwachte das Anziehen und kontrollierte mit ihr zusammen nochmals den Schulranzen. Das Frühstück wurde ihr von Mathilde oder von der Köchin, Mary Sullivan, zubereitet, wobei das Mädchen meist kaum etwas hinunterbrachte. Also wurden ihr noch Pausenbrote gestrichen und mitgegeben, auch wenn unsicher war, was mit diesen jeweils geschah. Das Mittagessen bekam sie in der Schule, und das sei ganz ordentlich, wie sie sagte. An Nachmittag holte sie Julia oft noch ab, weil die Mutter und auch sie der Meinung waren, Elsie sei dann sehr müde und vielleicht nicht aufmerksam genug, um die grosse Kreuzung sicher zu überqueren. Wenn sie auf dem Heimweg von anderen Mädchen begleitet wurde, hielt sich Julia im Hintergrund und ging ein paar Schritte hinter der Gruppe.
Elsie hatte mit Klavierunterricht begonnen, bei einer Lehrerin, die einmal pro Woche ins Haus kam. Beim Üben konnten ihr weder Julia noch die Mutter helfen. Solche Unterstützung wurde nur gerade vom Vater akzeptiert, aber der hatte nur selten Zeit dafür. Elsie war ungeduldig beim Lernen, und die Liedchen und Etüden der Lehrerin fand sie blöd. Lieber wollte sie schon die schwierigen klassischen Sachen probieren, die ihr Daddy spielte, oder noch lieber, die Jazzmelodien. Er war begeistert von ihrem Interesse und suchte geduldig nach Stücken oder wenigstens kleinen Passagen, die er mit ihr zusammen spielen konnte, mit zwei, drei oder vier Händen. Eines davon blieb allen im Haushalt noch lange in Erinnerung, weil die beiden es an Sonntagnachmittagen immer und immer wieder probierten, solange, bis sie es einigermassen flüssig spielen und sogar Besuchern vorführen konnten. Mr. Bailey hatte Elsies Part stark vereinfacht und auf ein Notenblatt aufgeschrieben, mit der schön verschnörkelten Überschrift I Ain't got Nobody – by Spencer Williams. Das war für sie zu meistern, wenn auch ein wenig hölzern. Je sicherer sie wurde, desto mehr konnte ihr Vater die typischen Verzierungen und Verzögerungen des Jazz einbauen und am Schluss sogar dazu singen, ohne dass er Elsie damit drausbrachte. Man war allgemein sehr beeindruckt von dem Duo.
Jazzmusik war oft zu hören im Hause Bailey, für den Geschmack der Dienstherrin etwas zu oft und vor allem zu laut. Eine neue Errungenschaft war der von Mr. Bailey angeschaffte Radioapparat. Begründet hatte er seinen Kauf damit, dass er so die Übertragung von Sportereignissen, Nachrichten und politischen Ansprachen anhören könne. Bald aber entdeckten auch andere im Haushalt den Unterhaltungswert des Geräts. Mary McD hielt sich nicht an das Gebot, dass die Angestellten weder Grammophon noch Radioapparat ohne die Gegenwart und ausdrückliche Erlaubnis der Herrschaften bedienen durften. Ihre Lieblingssendung wurde die Fortsetzungsgeschichte über drei Freunde namens Amos, Andy und Kingfish. Julia hörte nur einmal mit. Die Männer sprachen mit stark näselndem Mittelwest-Akzent, die Geschichte war wirr und bestand eigentlich nur aus einer Aneinanderreihung von Sprüchen und Witzen, von denen sie die Hälfte nicht verstand.
Elsie durfte nur Radio hören, wenn ihr Daddy dabei war. Sie interessierten sich beide für die Musik schwarzer Musiker und Sängerinnen, die sie sich, andächtig nebeneinander auf dem Sofa sitzend, anhörten. Julia vernahm einmal, als sie gerade mit einem Stapel frisch gewaschener Wäsche unterwegs war zu Elsies Zimmer, aus dem Salon die langsamen, melancholischen Klänge eines Liedes. Sie blieb vor der Türe stehen und lauschte. Eine seltsam von Pausen durchlöcherte Melodie auf dem Klavier, oft nur zwei Akkorde, dann wieder eine Pause, in der die Frau alleine weitersang, sich vom Rhythmus fast widerwillig mitziehen liess. Sie verstand nur eine paar Worte des Refrains: ...if I do, dooo, dooo, if I do. Sie fand es schmerzhaft schön.
Später begriff sie, dass solche Musiksendungen auch dazu da waren, für den Kauf der abgespielten Musikstücke auf Schallplatten zu werben, denn bald hörte sie den Song öfters, weil Mr. Bailey ihn in seiner Sammlung stehen hatte. Er war festgehalten auf einer dieser zerbrechlichen schwarzen Scheiben mit runder, blauer Ettikette in der Mitte. Ein zweites Stück, auch einen Blues, wie er es nannte, hatte er gleich dazugekauft, weil er so begeistert war von der Sängerin Bessie Smith und ihrem Pianisten Clarence Williams, von dem er auch alle Noten anschaffte, die er auftreiben konnte.
Man hörte ihn oft reden vom erstaunlichen und erfreulichen Erfolg schwarzer Musiker, Sängerinnen und Tänzerinnen in jüngster Zeit, und es war ihm dabei anzusehen, dass er sich darüber freute. Er war aber der Meinung, dass man solchen Zuspruch nicht gleichsetzen könne mit einer allgemeinen Verbesserung der gesellschaftlichen Lage der Schwarzen im Lande, oder ihn schon gar nicht als ein Anzeichen beginnender Gleichstellung ansehen dürfe. Er machte sich grosse Sorgen über den wachsenden Einfluss des Ku Klux Klans überall im Land, vor allem aber in seiner Heimatstadt Denver, wo ein Klansman gerade daran war, seinen Vater aus dem Bürgermeisteramt zu drängen.
"Die scheuen sich nicht mehr davor, ihre Kreuze mitten in der Stadt anzuzünden, am liebsten vor den Portalen katholischer Kirchen. An ihren Umzügen machen hunderte mit, in diesen weissen Anzügen mit Kapuzen, die so überaus lächerlich wären, würden sie nicht alle in Angst und Schrecken versetzen, gegen die der Klan Hass und Gewalt schürt: unsere schwarzen Mitbürger, die irischen und alle sonstigen Katholiken. Die Indianer sowieso."
"Und Alkoholtrinker wie du und dein Vater!", warf Mrs. Lemen mit bitterem Spott ein. Sie war vor dem Klan in Denver zu ihnen nach New York geflohen, auf unbestimmte Zeit, wie sie sagte. Sie habe einsehen müssen, dass der Erfolg der Hassprediger wohl nicht von kurzer Dauer sei. Am Schlimmsten hatte sie getroffen, wie nun immer mehr Frauen den Klan unterstützten, ja sogar schon eigene Abteilungen gründeten, mit Kapuzenuniform.
"Was dieser Griffith während dem Krieg angerichtet hat mit seinem Film, ist einfach unerträglich. Birth of a Nation, pah! Birth of a Nightmare hätte er heissen müssen! Und angeführt wird der ganze Zirkus von diesem schmierigen Zahnarzt aus Dallas, den sie den "Grossen Zauberer" nennen. Es ist zum Verrücktwerden!"
Mrs. Bailey machte ihrer Mutter Zeichen, sie solle sich zurückhalten, denn mittlerweile war Elsie dazugestossen und spitzte ihre Ohren. Julia hatte miterlebt, wie das Mädchen auf Zeitungsbilder von Umzügen und Versammlungen des Klans mit einer Mischung aus Faszination und Angst reagierte. Es war ihr schwer gefallen, Erklärungen zu finden, welche die Fragen eines Kindes hätten beantworten können, wo sie es doch selber auch nicht verstand und nur wirres Zeug dazu träumen konnte.
Der längerfristige Zuzug von Mrs. Lemen machte verschiedene Umstellungen in den zwei Stockwerken der Wohnung nötig. Sie bekam im oberen zwei grosse Zimmer, die schon möbliert waren, dazu ein Bad. Da man aber aus ihrem Haus in Denver ein paar ihrer Lieblingsmöbel kommen liess – ihr Bett, einen grossen Lehnstuhl, eine Kommode und einen Kasten – , musste für die verdrängten Stücke Platz gefunden werden. Mrs. Bailey nahm diesen Umstand zur Gelegenheit, fast alles im Haus umzustellen, trotz tiefer Seufzer und Augenverdrehens ihres Mannes. Sie gab einige Möbelstücke an wohltätige Vereine weiter und kaufte Neues, Moderneres. Am meisten Kummer bereitete ihr die Schwierigkeit, pro Raum eine ästhetisch ansprechende, in sich stimmige Ordnung herzustellen, so ihre Worte. Julia konnte nur staunen, wie viel Planung, wochenlanges Überlegen, Beratungen mit Fachleuten, und schliesslich welche Geldmengen in einen Bereich des Lebens gesteckt wurde, der hier "wohnen" genannt wurde, oder auch "residieren". Sie hätte gerne mit Mathilde eine Beurteilung der Erneuerungen ausgetauscht, aber diese wollte sich nicht festlegen.
"Wenn es ihnen gefällt...", war ihre Antwort.
Am meisten beeindruckte Julia das neu eingerichtete Schlafzimmer. Wenn man in den hohen Raum eintrat, kam man sich ein wenig vor wie in einer Kirche, denn gegenüber der zweiflügligen Türe war das Ehebett vor einer golden glänzenden Wandinstallation aufgebaut wie ein Altar. Eine hochstehende, mit grossen Quadraten aus Blattgold belegte Tafel, mit einem feinen schwarzen Rahmen und einer schmalen, torartigen schwarzen Fläche in der Mitte, bildete die Mittelachse. Weitere Tafeln in abnehmender Höhe und Breite fügten sich links und rechts daran. Das ganze erinnerte Julia an die Silhouette von Manhattan, was vielleicht beabsichtigt war. Das Bett darunter und davor war riesig, und so lang wie breit, so dass man nur dank der Anordnung von Decken und Kissen wissen konnte, wie man sich hineinzulegen hatte. Julia wollte sich nicht zu sehr mit der Vorstellung beschäftigen, wie die Herrschaften damit umgingen. Das Bett herzurichten war eine Arbeit, die nur zu zweit zufriedenstellend bewältigt werden konnte. Ausserdem gab es in dem Raum einen Schminktisch mit einem grossen runden Spiegel, den man drehen und schwenken konnte. Daneben waren unzählige Flakons und Tiegel aufgestellt, die mit ihren grotesken Formen, Farben und Materialien um Aufmerksamkeit stritten. Zwei hohe, zierliche Nachttischchen aus dunkel gebeiztem Holz, darauf je eine elektrische, sehr modern aussehende Lampe aus Messing, standen links und rechts neben dem Bett. Schwieriger war es, die zwei Sessel mit den runden Lehnen und den mit farbigen Rhomben verzierten Seidenbezügen so hinzustelllen, dass es der Vorstellung der Dienstherrin entsprach. Sie mussten irgendwie schräg, aber eben richtig stehen, nachdem man sie für die Reinigung mit dem vacuum cleaner verschoben hatte. Mrs. Bailey hatte gleich zwei dieser als Servant to the Home angepriesenen Heuler anschaffen lassen, erstens, weil die Apparate doch ziemlich schwer waren und sie deshalb auf jedem Stock einen haben wollte. Zweitens war sie durch Hinweise in den Broschüren des Herstellers, welche die Gesundheit von Kindern auf staubigen Kinderzimmerteppichen betraf, dazu bewogen worden, bei der Reinigung ihrer Böden keine Kosten zu scheuen. Julia kam mit der Maschine bald gut zurecht. Sie gab eine Mischung aus Tönen von sich, zu der man ungeniert singen konnte, das hatte sie von Mary McD abgeschaut. Allerdings durfte die Aufmerksamkeit nie nachlassen beim Staubsaugen. Im Kinderzimmer, aber auch rund um den Schminktisch der Lady konnten sich kleine Dinge auf dem Boden befinden, die kostbar waren und keinesfalls eingesogen werden durften. Wenn es im Rohr klingelte, war es schon zu spät und der ganze Inhalt des Sacks musste in der Besenkammer auf ausgebreiteten Zeitungen durchsucht werden. Ebenso war Vorsicht geboten in der Nähe der bis auf den Boden reichenden Vorhänge, damit der Stoff nicht in den Schlund des Hoover geriet. Strikte verboten war es, den Saugrüssel aus Bequemlichkeit zum Abstauben von Kaminsimsen, Zeitungstischchen und Ablagen auf Kommoden zu benutzen. Zu gross war dann die Gefahr, dass Stifte eingesogen, Brillengestelle verbogen oder Bücherumschläge zerrissen wurden. Letzteres war zu Mr. Baileys grossem Ärger passiert mit einem Buch, dessen Umschlag durch Julias Unerfahrenheit und Unkenntnis gleich nach der Anschaffung des Vakuumreinigers beschädigt wurde. Zum Glück war es unter der Aufsicht von Mrs. Bailey geschehen, welche die Kraft des Luftstroms ebenso unterschätzt hatte wie sie. Das Buch mit dem Titel Tales of the Jazz Age lag noch einige Zeit danach auf den Beistelltischchen herum. Der Riss war trotz der liebevollen Flickarbeit des Dienstherrn noch immer gut zu sehen, was auf Julia wie ein Vorwurf wirkte, denn auch Elsie war traurig gewesen über das Unglück, weil sie die Zeichnungen mit den tanzenden und musizierenden Figuren auf dem Umschlag so liebte. Sie hatte, als ihr Vater das Buch gekauft hatte, gleich bemerkt, dass da ein Zusammenhang bestehen müsse zu dem Titelblatt der Moderzeitschrift ihrer Mutter, das sie in ihrem Zimmer an die Wand geheftet hatte und zu dessen Figuren sie mit Julia zusammen wilde Geschichten erfand. Nun wusste sie auch, wie der Zeichner hiess und entdeckte es immer als erste, wenn in einer Zeitung ein cartoon von ihm zu finden war.

Im Frühsommer kündigten die Baileys an, sie wollten für eine Woche nach Denver fahren. Mr. Baileys Vater war wie befürchtet als Bürgermeister abgewählt worden. Zwar überspielte er die Niederlage in der für ihn typischen Weise, und sein Sohn war während der vergangenen vier Jahre meist überhaupt nicht einverstanden gewesen mit seiner Politik, aber nun schien es dem Junior doch ein Anliegen zu sein, nach seinem Erzeuger zu schauen und ihn bei seinen Überlegungen zu einem Neuanfang zu unterstützen. Mrs. Bailey und Mrs. Lemen wollten mitfahren um abzuklären, ob sie das Haus an der Race Street vielleicht vermieten könnten.
Es war Mary McD, welche den Vorschlag machte, in jener Woche die Geburtstage von Julia und Mathilde nachzufeiern. Julia war im März des letzten Jahres dreissig Jahre alt geworden, Mathilde dieses Jahr im gleichen Monat, und beide hatten gemäss der Gewohnheit in ihrer Familie, aber zum grossen Erstaunen ihrer Kollegin, kaum Notiz genommen von dem Ereignis. Immerhin hatte Julia ihrer Schwester zum Dreissigsten einen Kuchen gebacken, was diese sehr gefreut und auch ein bisschen gerührt hatte. Nun aber drängte Mary die beiden Schwestern, es einmal richtig krachen zu lassen, und zwar so, wie man es hier und heute eben mache: mit einer Party in einem Club, wo man tanzen und auch Alkohol trinken könne. Sie kenne einen in Harlem, der vor zwei Jahren erst von einer Kreolin namens Gabrielle Ellois eröffnet worden sei. Dort gebe es richtigen Schnaps und gutes Bier, weder gepanschtes Zeug noch giftigen Fusel. Die Musiker seien immer schwarz, meist noch unbekannte Künstler, die sich die Patronne leisten könne und die ein tanzendes Publikum nicht nur tolerierten, sondern es sogar kräftig anheizten. Darunter seien aber richtig gute Talente, die auch schon von grösseren Clubs abgeworben worden seien. Und wie es denn stehe mit der Polizei, wollte Mathilde wissen. Sie habe keine Lust, in eine Razzia zu geraten und auf der Wache zu übernachten, oder gar die Stelle aufs Spiel zu setzen wegen einer Geburtstagsparty. Mary McD meinte, sie habe dort schon mehrmals gefeiert. Es werde nicht übermässig viel getrunken, das Publikum sei schwarz und weiss gemischt, was allein schon ein Grund sei für besondere Vorsicht. Die Razzien würden mit grosser Zuverlässigkeit vorher angekündigt dank Madame Gabrielles guten Beziehungen zur Polizei, und für private Feste könne man das Lokal auch mieten bis elf Uhr abends, danach sei es wieder für alle Gäste geöffnet. Das sei aber kein Nachteil, den dann werde es meistens erst richtig lustig.
Mathilde wollte sich nicht auf Mary McD's Einschätzung verlassen und schlug Julia deshalb vor, sie könnten noch Margaret fragen, die scharze Freundin der O'Fallans, die ja in Harlem wohnte und einen Club mit dem Namen Gabrielle's Rear Room vielleicht kannte.
Es war etwas kompliziert, bis sie mit Margaret telefonieren konnten, weil sie sich weder ihren Nachnamen noch die Adresse gemerkt hatten. Von Caoimhe bekamen sie aber die Nummer, und es stellte sich heraus, dass auch die O'Fallans bereits einmal in dem Lokal gewesen waren.
"Ich könnte mir das auch vorstellen, dort meinen Geburtstag zu feiern. Es ist sauber, hat gerade die richtige Grösse für etwa vierzig bis fünfzig Gäste. Wobei man sagen muss, dass sich nach elf dann wohl doppelt so viele hineinquetschten, aber die Musik und die Stimmung waren grossartig. Und die Chefin spielt auch selber sehr gut Piano. Sie ist sehr speziell, ihr werdet sehen. Aber fragt auf jeden Fall noch Margaret. Sie sollte die Bedingungen und den Preis kennen, wenn man das Lokal für ein paar Stunden für sich haben will."
Und lachend fügte sie hinzu:
"Und natürlich kommen wir gerne auch, wenn ihr uns einladet!"

Die Schwestern schluckte etwas, als sie den Mietpreis erfuhren, aber Margaret konnte sie davon überzeugen, dass er in einem vernünftigen Verhältnis stehe zu dem, was man in dem Lokal bekomme. Eine erste Runde Getränke und Geknabber, saubere Gläser, saubere Tische, Böden und Toiletten. Eine bewachte Garderobe. Und sogar die Musiker seien eigentlich schon bezahlt, wobei sie sich natürlich über eine zusätzliche freiwillige Hutsammlung freuten. Richtig essen könne man in dem Lokal aber nicht, da gebe es nur Gebäck, Oliven, eingelegte Gurken, manchmal Erdnüsse oder Pistazien, was eben zu den Drinks und zum Bier passe. Sie schlug darum vor in einem kleinen, nahe gelegenen italienischen Restaurant am späten Nachmittag einen Raum zu reservieren, dort zu essen und dann auf den Abend in den Club zu wechseln. Und so wurde es dann gemacht.
Julia staunte, wie sehr sie die Vorbereitungen des Festes in Anspruch nahmen. Mathilde fand es ratsam, den Herrschaften von dem Plan zu erzählen, denn es war offensichtlich, dass sie sich mit etwas beschäftigten, was nicht mit ihrer Aufgabe zu tun hatte. Vor allem Mary McD, die ja eigentlich die Idee zu der Feier gehabt hatte und deshalb bei allem dabei sein musste, war schon lange vor dem Eeignis völlig aus dem Häuschen. Aber Mrs. Bailey fand es richtig, dass man seinen dreissigsten Geburtstag mit einem richtigen Fest begehe. Sie mahnte dennoch zu Vorsicht und Zurückhaltung, vor allem, was den Alkohol betreffe. Mr. Bailey hatte noch nie von dem Club gehört und versuchte herauszufinden, welche Musiker dort spielten oder gespielt hatten. Als ihm dies nicht gelang, bat er Julia und Mathilde, ihm dann ausführlich zu berichten.
Die Herrschaften, Mrs. Lemen und Elsie waren bereits in Denver, als der grosse Tag gekommen war. Mary McD hatte von ihren Freundinnen einen ganzen Koffer voll mit Kleidern, Schuhen, Hüten, Schmuck und Schminksachen erbettelt, die nun im Salon auf Stuhllehnen, Tischen und am Boden ausgebreitet lagen, bereit zum Anprobieren. Sie ging als Beispiel voran, um die eher zurückhaltenden Schweizer Frauen anzuregen und zu ermutigen, sich dem Anlass angemessen in Szene zu setzen. Was sie selber betraf, war sie wild entschlossen, ihre Kostümierung risque zu gestalten, worunter sie zum Beispiel verstand, viel von ihren Beinen zu zeigen. Die Röcke, die sie einen nach dem andern an- und wieder auszog, waren alle ziemlich kurz, wenigstens einseitig, und zeigten bei der leisesten Bewegung ihre Knie. Die Strümpfe waren weiss oder schwarz. Sie rollte sie herunter, bis sie unterhalb des Knies einen runden Wulst bildeten, als Blickfänger, wie sie sagte, oder sie versah sie mit einem Strumpfband, über dem sie gleich noch ein zweites anbrachte, kein Mensch wusste, warum. Statt einen der Topfhüte aufzusetzen band sie sich ein Kopftuch um, schräg verwegen wie eine Piratin. Dies wollte sie auch an Mathilde ausprobieren, aber obwohl Julia fand, es stehe ihr sehr gut, fand es ihre Schwester kindisch und nahm sich statt dessen einen kleinen, runden Hut, dessen Krempe vorne senkrecht nach oben gefaltet und mit einer Pfauenfeder verziert war. Die Röcke wollten beide nicht zu riskiert kurz haben, aber auch bei ihnen wurden die Knie sichtbar, wenn sie ein paar Tanzschritte ausprobierten.
"Wenn das Maman sähe!", rutschte es Julia heraus, was Mathilde dazu bewog, einen noch kürzeren Rock anzuziehen, den sie vorher auf die Seite gelegt hatte. Schliesslich zeigte ihnen Mary McD, wie man sich flappy schminkt. Die Schwestern hatten so etwas ein- oder zweimal in Cornol gemacht als sie dreizehn und vierzehn waren, bei einer befreundeten Wirtstochter, welche sich hinter die Sachen der Serviererinnen gemacht hatte. Sie bemalten sich und kicherten dazu wie damals.
Es war eine gute Idee gewesen, vor dem Besuch des Tanzlokals beim Italiener zu essen. An diesem Teil des Festes nahm auch ihre ältere Schwester Joséphine teil, die unter keinen Umständen zum Tanzen in ein Etablissement mitkommen wollte, in welchem in gesetzeswidriger Weise Alkohol ausgeschenkt wurde. Wein hätte man auch zum Nachtessen bestellen können, aber Julia und Mathilde verzichteten darauf, damit auch andere Gäste, die vielleicht Joséphines Abneigung gegenüber einer Übertretung teilten, sich nicht ausgeschlossen fühlten und mit ihnen feiern konnten. Und es wurde auch so ein sehr fröhliches frühes Nachtessen, mit vielen Bekannten, Freunden und Verwandten aus dem Jura, welche die Mehrheit der Gäste bildeten und auch die Sprache bestimmten. Mary McD versammelte kurz entschlossen die "echten New Yorker" am unteren Teil des langen Tisches, so dass alle auf ihre Rechnung kamen. Die Nachmittagssonne schien schräg durch die Glasfront des Restaurant-Anbaus, als die Pasta serviert wurde. Der Wirt hatte seine drei jugendlichen Kinder als Hilfen engagiert, so dass die dampfenden Teller fast gleichzeitig vor alle Gäste hingestellt wurden. Für eine kurze Zeit wurde es still am Tisch und der Raum füllte sich mit den Düften von gekochten frischen Tomaten, Basilikum, Knoblauch und Parmesankäse. Für Julia hätten die Nudeln etwas weicher gekocht sein dürfen, aber sie kannte inzwischen die Gewohnheit der Italiener, und der Geschmack der Sauce war traumhaft. Sie schenkte sich und ihren Tischnachbarn Wasser ein aus einer bauchigen Flasche und liess den Blick umherschweifen. Wer würde wohl alles zum Tanzen mitkommen nach dem Essen? Schräg gegenüber neben Mathilde sass Nora Roche, mit der sie damals die Party auf dem Dach gefeiert hatten. Die würde sicher mitkommen. Sie war mindestens so verwegen aufgemacht wie Mary McD. Auf ihrem Bubikopf tronte eine Art Turban, und der Ausschnitt war so tief und sass so locker, dass Julia ihre Brüste sehen konnte, wenn sie sich vorbeugte. Schnell kontrollierte sie mit einem Blick nach unten, ob das bei ihr nicht auch der Fall war. Auf der andern Seite ihrer Schwester sass der japanische Koch, mit der diese bei den Geschwister Bayne zusammen gearbeitet hatte. Er trug einen fein gestreiften Sommeranzug und plauderte angeregt mit Geneviève Girard, eine der Freundinnen Joséphines aus Cornol. Bei diesen zwei war Julia nicht sicher, ob sie sich auf das Abenteuer im Jazzclub einlassen würden, anders als bei ihrer älteren Schwester, die sich demonstrativ dunkel gekleidet hatte und sich mit einer der Cousinen aus der Crétin-Familie unterhielt, die zu ihrer Rechten sass. Man würde ja bald sehen, wer sonst noch von diesem oberen Teil des Tischs mitkommen würde. Am unteren Ende ging es schon wieder sehr laut zu. Dort sassen Mary McD, sowie die O'Fallans und Margaret, welche einige Freunde mitgebracht hatten, die Julia nicht kannte. Vier davon waren so schwarz, dass sie im Gegenlicht der Abendsonne nicht einmal erkennen konnte, wer Mann und wer Frau war. Aber diese Gäste würde sie ja bald in Aktion erleben, denn Margaret hatte angekündigt, sie werde ein paar sehr talentierte Tänzerinnen und Tänzer einladen, die Schwung in die Bude bringen sollten. Sie merkte, wie sich die Vorfreude und eine leise Aufregung in ihrem Bauch bemerkbar machte, und nahm sich vor, nicht zu viel zu essen bei der zweiten Runde, zu der Braten angekündigt war.

Wie gut diese Entscheidung gewesen war, sich den Bauch nicht zu sehr zu füllen, merkte sie später am Abend, als sie sich im Gabrielle's Rear Room auf einen der Stühle der seitlich stehenden Clubtische fallen liess. Die Waden brannten, sie atmete schwer und ihr Blick war vernebelt von mehreren Drinks mit exotischen Namen, die der schwarze Barkeeper für sie gemischt und geschüttelt hatte. Sobald sie sass, wurde ihr schlecht und sie musste sich am Tisch hochziehen, um an der Tanzfläche und dem Podium der Musiker vorbei die Toilette zu erreichen. Bei den ersten Schritten schwankte sie deutlich, dann riss sie sich zusammen und erreichte die Türe im Hintergrund des Lokals ohne Zwischenfall. Mary McD stand vor dem Spiegel und schminkte sich neu. Als Julia neben sie trat, lachte sie laut auf und sagte:
"Wie siehst denn du aus, du bist ja ganz bleich um die Nasenspitze!? Und der Lippenstift ist verschmiert. Komm, ich zieh dir nach!"
Aber Julia wollte sich zuerst einmal das Gesicht mit kaltem Wasser waschen. Als sie damit fertig war und auch ein paar Schlucke getrunken hatte, ging es ihr besser. Mary McD hatte sich eine Zigarette angezündet und bot ihr auch eine an. Julia wehrte Rauch und Angebot mit einem heftigen Wedeln der Hände ab.
"Ja, du hast recht", sagte Mary, und drückte die angerauchte Zigarette in der Waschschüssel aus. "Wir wollen ja noch weiter tanzen. Die Musik ist fantastisch, oder? Und auch die Chefin singt und spielt toll, findest du nicht? Hast du übrigens gesehen, wie die auf deine Schwester steht? Sie flirtet immer mit Frauen aus dem Publikum, aber so scharf habe ich sie noch nie erlebt!"
Julia erschrak. Natürlich hatte sie bemerkt, wie Madame Gabrielle, die in weissem Frack und Zylinder auftrat und mit einer tiefen, männlich klingenden Stimme sang, ihrer Schwester immer wieder über die Schulter zugezwinkert und ihr sogar eindeutig schmachtende Blicke zugeworfen hatte. Mathilde war, mit einem leisen Lächeln auf den Lippen, einfach dagesessen und hatte ihre Augen unverwandt auf die Sängerin gerichtet. Julia versuchte, nicht über die Szene und schon gar nicht über daraus abzuleitende Folgerungen nachzudenken, und hatte sich nach dem Auftritt der Hausherrin heftig in den Charleston gestürzt, zu dem die fünfköpfige Band aus lauter schwarzen Musikern aufspielte. Es war ihr gelungen, den Vorfall zu vergessen, bis ihn nun Mary McD zurückgeholt und ihm durch ihre Beobachtung eine nicht zu leugnende Existenz verliehen hatte. Sie konnte kein Wort herausbringen. Mary sah sie von der Seite an und stellte ihren Kopf schräg.
"Oh, entschuldige! Ich wollte dich nicht erschrecken, und es hat auch gar keine Bedeutung. Die Ellois macht keinen Unterschied zwischen den Frauen. Dass sie Mathilde angemacht hat, sagt nichts über deine Schwester, glaub mir!"
Und, als Julia noch immer nichts sagte:
"Und wenn schon, so etwas gibt es eben! Komm, wir gehen wieder zu den andern. Ich sage den Musikern, sie sollen was spielen, wozu man shimmy tanzen kann. Und ich zeige dir und Mathilde, wie es geht. Dann könnt ihr mal sehen, wie man beim Jazz ins Fliegen gerät!"