Samstag, 27. März 2021

bei den McCurdys

Während der Rückreise nach New York hatte es ununterbrochen geschneit, jetzt schien wieder die Sonne und es herrschte Tauwetter in der Stadt. Schmutzige Schneehaufen verstopften die Gullis der Abwasserkanäle, das Schmelzwasser bildete ausgedehnte, knöcheltiefe Seen auf den Strassen. Überall wurde geschaufelt und gewischt. Jules war von Edmond zum Stadthaus der McCurdys bestellt worden. Es war abgemacht, dass er dem Personal vorgestellt und danach in die Obhut der Haushälterin und des Butlers übergeben werde, von Miss Clara Swenson und Mr. Charles Kretschman, welche die weitere Einführung in die Besonderheiten des Haushalts sowie in seine diesbezüglichen Aufgaben übernehmen würden. Die Einzelheiten dessen, was er als Kammerdiener von Mr. McCurdy zu tun haben werde, könne selbstverständlich nur dieser selbst bestimmen. Ein delikater Vorgang gegenseitiger Annäherung und Abstimmung, welcher wohl nach ein paar Tagen beginnen werde, dann, wenn Mr. McCurdy dies für angemessen halte und das Signal dazu gebe.

Jules hatte sein Gepäck noch für zwei weitere Tage im Keller der Pension einstellen können. Er trug nur eine kleine Tasche bei sich, weil er nicht wusste, ob er schon im Haus seiner neuen Herrschaften übernachten würde. Als er vor dem Haus stand, war er überrascht, wie schmal es war. Es hatte über alle vier Stockwerke nur drei Fenster nebeneinander, die nach oben in der Grösse abnahmen. Im Erdgeschoss waren es zwei, hohe, vergitterte und mit Bögen abgeschlossene Öffnungen, rechts davon ein wuchtiges Eingangsportal, wie zu einem Tempel. Die Fassade war auffällig zweifarbig, hell, fast weiss der Kalkstein für das ganze Erdgeschoss und alle Fensterumrahmungen, dunkelrote Ziegelsteine für die Wand vom ersten Stock bis unters Dach. Er ging die drei Stufen zum Eingang hoch und zog an der Klingel. Eine jüngere Hausdienerin öffnete ihm und bat ihn, einzutreten. Hut und Mantel wurden ihm abgenommen, dann führte sie ihn viele Treppen hoch bis in den vierten Stock, wo sich die Räume der Angestellten befanden. Die Türe des Essraums war angelehnt, dahinter hörte man angeregte Stimmen, auch die von Edmond.

"Da ist er, Mr. Chiquet aus der Schweiz!", rief Edmond in die Runde, stand auf und stellte sich neben Jules.
"Nicht aus Schweden, ich bitte Sie, das nicht zu verwechseln!"
Man lachte höflich über den Scherz.
"Miss Swenson, welche hier und in Morris Plains das Szepter schwingt über das weibliche Team, kommt nämlich aus Schweden, und sie kann ein Lied davon singen, wie oft Schweden mit der Schweiz verwechselt wird und umgekehrt. Jules ging auf die Haushälterin zu und streckte ihr die Hand hin. Sie ergriff sie sitzend und musterte ihn mit sehr hellen Augen, denen nichts zu entgehen schien. Jules schätzte ihr Alter auf etwa vierzig Jahre, sie trug ein schwarzes Kleid mit grossem, blendend weissem Spitzenkragen und einer ebenso weissen Schürze. Ihre Haare waren hochgesteckt, gekrönt durch eine weisse Schleife.
"Ihr männliches Gegenstück, wenn ich ihn so nennen darf, ist Mr. Kretschman, hier zu meiner Rechten. Er wird in erster Linie dafür besorgt sein, Sie in ihre Aufgaben einzuführen, Mr. Chiquet."
Der Butler erhob sich, um Jules zu begrüssen. Er war gegen fünfzig Jahre alt, trug einen schwarzen Frack, darunter eine etwas hellere Hose mit feinen schwarzen und grauen Streifen, Kragen und Manschetten so blütenweiss wie die Schürze von Miss Swenson.
"Es ist mir eine Vergnügen, Mr. Chiquet. Und ein noch grösseres wird es sein, Ihnen hier alles zeigen zu dürfen. Willkommen in der Mansion McCurdy, Sir."
Trotz seiner steifen Haltung und der förmlichen Begrüssung war er Jules nicht unsympathisch. Edmond stellte ihm die weiteren drei weiblichen Angestellten vor, die am Tisch sassen. Als erste kam die Ladys maid an die Reihe, die sich zu seiner Begrüssung erhob. Sie hiess Ellen Denbyek, kam wie Miss Swenson aus Schweden und war etwa gleich alt wie er selber. Die zweite, auch sie stand auf, war eine ziemlich korpulente Frau um die Fünfzig, mit rosiger Gesichtsfarbe und kräftigem Händedruck. Sie wurde ihm als Esther Villeni, Köchin des Hauses, vorgestellt. Obwohl sie tadellos sauber gekleidet war, roch sie deutlich nach Bratfett. Als letzter gab er der jungen Frau die Hand, die ihm die Türe geöffnet und ihn hinaufgeführt hatte, Mary Robertson. Ihr Hauptgebiet war die Wäsche. Es gebe, so führte Edmond nach Abschluss der Begrüssungen aus, noch einige weitere Angestellten in Morris Town und Morris Plains, die mehrheitlich beschäftigt seien in den sehr grossen Landhäusern der beiden Herren McCurdy Senior und Junior. Mr. Chiquet werde diese sicher in nicht weit entfernter Zukunft kennenlernen. Dazu komme noch der Chauffeur, Thomas Connors, mit dem er wohl bald gemeinsam Mr. McCurdy an die Orte seiner vielfältigen Tätigkeiten begleiten würde. Nun aber schlage er vor, dass man den von Miss Villeni freundlicherweise vorbereitenen Kuchen, wahlweise mit Kaffee oder Tee, zu sich nehmen sollte, was Gelegenheit böte, sich zwanglos einander anzunähern. Dann müsse er sich leider schon bald verabschieden, da er noch weitere Verpflichtungen, in anderen Häusern, vor sich habe.

Nach Kuchen, Tee und Kaffee wurde Jules von Mr. Kretschman das Haus gezeigt. Aus praktischen Gründen begann man mit dem obersten, fünften Stock, den Jules von der Strasse aus nicht gesehen hatte. In diesem befanden sich ein paar wenige Kammern sowie der Estrich, der in erster Linie dem Trocknen der Wäsche diente.
"Sie können sich sogar die Kammer aussuchen, weil im Moment nicht alle belegt sind. Ich würde Ihnen empfehlen, diejenige nach hinten, auf die Höfe, zu wählen. Der Verkehr in der einundfünfzigsten Strasse hat doch sehr zugenommen in den letzten Jahren, und die Madison Avenue ist auch nicht fern. Zudem wird es im Sommer in der nördlichen Kammer nicht ganz so heiss."
Der Butler führte ihn auf die Dachterrasse, und erst jetzt sah Jules, dass die Tiefe des Gebäudes etwa dreimal seiner Breite entsprach. Die Terrasse erstreckte sich über die vordere Hälfte des Grundrisses, über dem hinteren Teil erhob sich der fünfte Stock mit den Kammern.
Auf dem Weg nach unten nahm Mr. Kretschman Bezug auf die spezielle Form des Hauses.
"Sie werden sehen, dass die Anordnung der Räume im Haus eine Herausforderung darstellt. Wir haben leider etwas wenig Tageslicht, weil das Gebäude lang ist, und schmal. Das Tageslicht kommt hauptsächlich von den Fenstern in der vorderen und hinteren Fassade, nur im nordöstlichen Teil gibt es pro Stock noch ein seitliches Fenster. Sie können sich denken, dass den Leuchten im Haus unter diesen Umständen grosse Bedeutung zukommt, überall elektrisches Licht, wie Sie sicher bemerkt haben. Darf ich Sie bitten, den Drehschalter zu betätigen, bevor wir weitergehen?"
Jules versuchte, sich die Anordnung der Räume zu merken, aber es fiel ihm schwer, weil er durch lange Gänge mit vielen gleich aussehenden Türen geführt wurde. Sie erinnerten ihn an das Hotel in Paris, in dem er auf der ersten Reise gewesen war.

Im Salon des ersten Stocks begegneten sie Mrs. McCurdy, die damit beschäftigt war, mit Miss Swenson zusammen den Blumenschmuck zu erneuern.
"Ach, Mr. Chiquet, da sind Sie ja. Ich bin gerade sehr beschäftigt, aber Mr. Kretschman wird Ihnen sicher alles Nötige zeigen. Haben Sie Ihr Gepäck schon hierher gebracht? Ich nehme an, dass Sie ab heute hier im Haus übernachten werden?"
Da Jules nicht recht wusste, was er dazu sagen sollte, antwortete der Butler an seiner Stelle.
"Ich werde dies veranlassen, Madam, sobald der Chauffeur mit Mr. McCurdy zurückgekehrt ist.
"Ja, machen Sie das, Kretschman." Sie wendete sich wieder den Blumen zu. Nachdem Jules den riesigen Empfangssaal im Erdgeschoss bewundert hatte, führte man ihn ins Untergeschoss, wo sich die Küche, Miss Villenis Reich, befand. Diese erklärte ihm die Funktion des Aufzugs, der alle Stöcke bis zum dritten verband, und so gross war, dass eine kauernde Person darin Platz gefunden hätte. In der Mitte der Küche stand ein grosser Tisch.
"Hier halten wir manchmal wichtige Besprechungen unter der Leitung von Mrs. Swenson und Mr. Kretschman ab. Oder wir feiern hier, wenn jemand vom Personal Geburtstag hat. Normalerweise wird aber oben gegessen, im Essraum im Vierten, den Sie gesehen haben."
Der Butler wollte Jules noch die Haustechnik zeigen, wie er es nannte, die Zentralheizung, die Dampfküche sowie die zentralen Schaltungen für den elektrischen Strom.
"Hier kommt zweimal pro Tag William Ryan vorbei, der auch für die Heizung im Nachbarhaus zuständig ist. Ich weiss nicht, ob Sie ihn einmal kennenlernen werden. Er geht Menschen aus dem Weg und spricht nicht sehr viel. Aber für die technischen Belange ist er unverzichtbar."

Gegen Abend kam es zu einer kurzen Begegnung mit dem neuen Dienstherrn. Dieser war kurz angebunden, fast mürrisch, und überliess Jules rasch dem Chauffeur, der mit ihm das Gepäck holen sollte. Jules befürchtete, Mr. McCurdy könnte seinen Entscheid bereits bereuen. Etwas niedergeschlagen bestieg er das prächtige Automobil, das vor dem Haus stand. Thomas, wie der Chauffeur angesprochen werden wollte, war ein munterer Bursche, der seine Zweifel lachend wegwischte.
"Mach dir keinen Kopf daraus, der alte Herr kommt oft in diesem Zustand von der Wallstreet zurück. Wahrscheinlich sind die Aktienkurse gesunken, oder jemand will ihn vor Gericht ziehen wegen irgendetwas. Bei ihm geht das schnell vorbei. Wenn ihm die Villeni etwas Gutes aufgetischt und Mrs. McCurdy ihm die Wangen gestreichelt hat, ist alles wieder gut, du wirst sehen."
Jules hütete sich, auf diese Einschätzung der Launen seines neuen Dienstherren zu antworten, die ihm doch ziemlich respektlos vorkam. Man wusste nicht, ob man auf die Probe gestellt wurde.
Thomas betätigte die Hupe und rief: "Jetzt schau mal, was der Simplex kann!"
Sie fuhren, im Zickzack-Kurs zwischen Pferdefuhrwerken, Omnibussen, anderen Automobilen und Fussgängern, die kreuz und quer über die Strassen liefen, auf der zweiundfünfzigsten Strasse nach Westen. Viel zu schnell, fand Jules.

Jules kam zu zwei neuen Anzügen. Mr McCurdy liess ihn langsam in seine Nähe kommen, und ein Schritt dazu war die Betrauung mit Aufgaben, welche die herrschaftliche Kleidung und das Schuhwerk betrafen. Er suchte, nach den unterschiedlich präzisen Wünschen des Dienstherrn, die Kleidungsstücke heraus, lüftete und bürstete Jacken, Westen und Hosen. Hemden, Vorhemden, Kragen und Manschetten wurden da und dort nachbehandelt, gestärkt und mit einem kleinen elektrischen Eisen aufgebügelt. Mary, die Wäscherin hatte ihm alle Kniffe gezeigt, die sie kannte. Nun wurde von Mr. McCurdy der Kontakt hergestellt zu seinem Masschneider, Mr. Solomon Abramov, dessen Atelier sich an der westlichen dreiunddreissigsten Strasse, mitten im Quartier der Schneider und Hutmacher, befand. Anlässlich der zweiten Anprobe für eine Reihe von Anzügen McCurdys konnte sich Jules zum ersten Mal ein genaueres Bild machen von der aufwendigen Herstellung auf Mass gefertigter Kleidungsstücke. Dabei bestellte sein Dienstherr zu seinem grossen Erstaunen auch zwei Anzüge für ihn, und teilte ihm gleichzeitig in sachlichem Ton mit, dass diese aus nahe liegenden Gründen in einem kleinen Zweigunternehmen der Familie Abramov hergestellt werden sollten, mit nur zwei Anproben. Er habe es sich zur Regel gemacht, die Kosten einer solchen textilen Starthilfe für seine Angestellten vollumfänglich zu übernehmen, wenn diese die Probezeit mit Erfolg hinter sich gebracht hätten. Im anderen Fall, der hoffentlich nicht eintreten werde, habe Jules für die Hälfte der Summe aufzukommen. Dasselbe gelte auch für ein Paar Schuhe, wobei er ihn bitte, sich ein zweites aus eigenen Mitteln anzuschaffen. Jules war es recht. Sein Gehalt war gut, besser noch, als er gehofft hatte.

Es blieb schwierig, sich mit Fiona zu treffen. Die einfachste Möglichkeit war, mit ihr die sonntägliche Messe in der St. Patrick's Cathedral zu besuchen. Er bekam dafür immer frei, wohl auch, weil sich die Kirche in unmittelbarer Nachbarschaft seines Wohn- und Arbeitsortes befand. Fiona hatten einen deutlich längeren Anreiseweg, und so konnte sie nur ein zweimal im Monat kommen. Es war für Jules jedes Mal ein Fest, sie zu sehen. Anders als in der Kirche des Heligen Vinzenz in Cornol, wo Frauen und Männer, Mädchen und Buben strikt getrennte Bänke hatten, links und rechts des Mittelgangs, war es in der grossen New Yorker Kathedrale üblich, dass man fast überall sitzen, stehen oder knien konnte. Ausgenommen waren nur ein paar wenige Reihen im vorderen Viertel, die den vornehmsten und reichsten Gläubigen vorbehalten waren. So genoss er wärend der ganzen Liturgie Fionas Nähe. Er roch ihr Parfüm, spürte die Wärme ihres Körpers, wenn sich ihre Schultern beim Sitzen berührten. Manchmal traute er sich auch, sie von der Seite anzusehen. Sie merkte es immer, lächelte dann, den Blick weiterhin nach vorne auf das Geschehen am Altar gerichtet. Oder sie drehte leicht den Kopf und sah ihn gespielt streng an, wenn er zu lange schaute. Am liebsten waren ihm die Lieder, wenn er ihre klare Stimme hörte, oder der Gang zur Kommunion und wieder zurück, wenn er ihr den Vortritt lassen und sie betrachten konnte, wie sie vor ihm ging. Er wusste, dass es nicht recht war, sich auf diese Weise vom heiligen Geschehen ablenken zu lassen, zählte aber auf das Verständnis des Lieben Gottes, mit dem er manchmal innerliche Gespräche führte.
"Siehst du nicht, wie schön sie ist?"

In New Jersey besass die Familie der McCurdy zwei sehr grosse Anwesen. Das eine, in Morristown, gehörte Robert Henry McCurdys Vater, Richard Aldrich McCurdy, der das riesige, einem Schloss ähnliche Haus zusammen mit seiner Frau, Sahra Little McCurdy, sowie unzähligen Hausangestellten bewohnte. Das andere hatte Jules' Dienstherr, Robert Henry McCurdy, im benachbarten Morris Plains für sich und seine Frau bauen lassen. Es trug den Namen Mayfair, und war nur unerheblich kleiner als das seines Vaters. Mr. Kretschmar, der Butler, machte es sich zur Aufgabe, Jules in die Bedeutung dieser Häuser einzuführen. Gleichzeitig machte er ihn vertraut mit den Tätigkeiten und Funktionen der beiden Herren McCurdy, Senior und Junior, sowie mit dem weit verzweigten Netz ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Beziehungen, wenigstens so weit, wie er dies für die Tätigkeit eines Kammerdieners für angemessen hielt.
"Die Landhäuser in Morristown und Morris Plains kann man als die eigentlichen Schaltzentralen des Imperiums der McCurdy ansehen. Obwohl gebaut und eingerichtet für das angenehme Leben bedeutender und sehr wohlhabender Leute neben ihrem beruflichen Alltag, werden dort immer wieder Veranstaltungen durchgeführt, bei denen wichtige Entscheidungen getroffen werden. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass diese für die Wirtschaft des Landes zuweilen von grosser Bedeutung sind."
Jules sollte auf ein für den Frühling angekündigtes Ereignis dieser Art vorbereitet werden. Mr. Kretschmar legte Wert darauf, dass er den Zusammenhang, aus dem die zu erwartenden Gäste kommen würden, in groben Zügen verstand.
"Mr. Richard Aldrich McCurdy", fuhr er fort, "war bis vor fünf Jahren Präsident der Mutual Life Versicherungsgesellschaft, die er zu dem gemacht hat, was sie heute ist. Sie haben sicher das grosse Bürogebäude gesehen, das nun auch schon wieder zu klein geworden ist. Sein Rückzug aus dem Geschäft, und nach Morristown, verlief nicht ganz ohne Bitternis. Das ist ein sehr heikles Thema in der Familie, zu dem man sich als Angestellter am besten gar nie äussert. Nur soviel deshalb: Es gab Vorwürfe einer Untersuchungskommission unter William Armstrong, die auf Korruption und Vetternwirtschaft lauteten. Auch unser Dienstherr war davon betroffen, weil er bis 1905 als Geschäftsführer von seinem Vater mit der internationalen Ausrichtung der Gesellschaft bauftragt worden war. Es gab keine konkreten Belege für die Anklagepunkte, aber die ganze Versicherungsbranche wurde in der Folge von den Gesetzgebern stärker kontrolliert, und beide McCurdys zogen sich daraus zurück. Mr. McCurdy Junior ist nun hauptsächlich als Banker beschäftigt, als Gründer und Direktor der Bank McCurdy, Henderson & Co.. Darüber hinaus ist er Direktor der Bank von Morristown sowie der Telefongesellschaft International Bell, zu der es über eine Tante auch familiäre Beziehungen gibt. Von seinen diversen Mitgliedschaften in Clubs haben Sie sicher schon gehört. Kennenlernen werden Sie sicher den Golfclub von Morris County, wo sich auch der alte Herr noch gerne sportlich zeigt."
Bei der kommenden Veranstaltung, im Landhaus von Mr. McCurdy Junior in Morris Plains, sollte es um die Verbindung von Vergnügen und Arbeit auf höchstem Niveau gehen. Gepflegte Gastfreundschaft in einer malerischen Umgebung auf der einen Seite, Sitzungen mit dem Zweck geschäftlicher Absprachen unter Geschäftspartnern auf der anderen. Eingeladen würden Träger entscheidender Funktionen in Banken und im Patentwesen, sowie aus den Sektoren des Transports und der Telefonie. Nach Mr. Kretschmars Erfahrung könne dies für die Angestellten alles Mögliche bedeuten, von dahinplätschernder Routine bis zu grösster Hektik. Ob und in welchen Momenten Jules als Kammerdiener gebraucht werde, entscheide einzig und allein Mr. McCurdy. Er werde also für die drei bis maximal fünf Tage rund um die Uhr zur Verfügung stehen, aber auch damit rechnen müssen, wenig oder gar nicht gebraucht zu werden. Gerade darin sei seine eigentliche Aufgabe zu sehen, dieser Unwägbarkeit mit grösstmöglicher Bereitschaft zu begegnen. Jules meinte, solche Zustände aus seiner Zeit im Club zu kennen, fand es aber besser, dem Butler gegenüber nichts davon zu erwähnen.

Wenn er Fiona von seiner neuen Stellung erzählte, zog sie ihn manchmal auf mit seinen eigenen Worten des Zweifels, ob er als Bauernsohn in einem solchen Haus am richtigen Platz sei. Eigentlich aber wollte sie ihn bestärken, riet ihm in ihrer sehr direkten Art, sich nicht beeindrucken zu lassen, schon gar nicht, sich zu verbiegen.
"Riechst du nach Stall? Nein, genauso wenig, wie ich nach Kohle und Torf. Und wenn die Herrschaften Wasserspülung schon in ihrer Kindheit kannten, scheissen müssen sie doch!"
Jules kam seinem Dienstherrn nun schon sehr nahe, besonders am Morgen, wenn er ihm die erste Tasse Kaffee servierte und ihm beim Anziehen behilflich war, ihn manchmal auch rasierte, wenn er sich dazu ausserstande fühlte.
"Ach, machen Sie das, Chiquet, sonst passiert noch ein Unglück."
So etwas hörte Jules eines Morgens zum ersten Mal, als Mr. McCurdy am Abend zuvor, bei einer Runde mit Geschäftsfreunden, zuviel geraucht und Brandy getrunken hatte. Er war zwar um eine Handbreite grösser als sein Kammerdiener, aber wie er da vor ihm stand in Unterhosen, mit hängenden Schultern über einem Bauch, der einen beim Richten der Krawatte dazu zwang, sich leicht seitlich aufzustellen, bot er doch das Bild eines grossen Kindes. Dieser Eindruck verschwand augenblicklich, wenn andere Menschen dazukamen, zuallererst seine Ehefrau, die darauf bestand, immer und in jedem Fall seine Kleidung nachzukontrollieren. Sie hatte zu diesem Zweck eine kleine Bürste mit Elfenbeingriff, mit dem sie ihm den Kragen bürstete, dabei in gurrendem Ton auf ihn einredend. Wegzubürsten gab es nicht eine einzige Hautschuppe, dafür sorgte Jules mit trotziger Sorgfalt. Mr. McCurdy aber war zu diesem Zeitpunkt bereits wieder im Dienst, in eins mit dem Gehabe eines Mannes von Bedeutung. Ihn auch in den Momenten seiner grössten Verletzlichkeit zu erleben, gab dem Kammerdiener Macht, trotz seiner sonstigen Abhängigkeit, das spürte Jules. Ob dieses diffizile Gefüge in ihrem Fall schon durch ein gewisses Mass an gegenseitigem Vertrauen in der Waage gehalten wurde, konnte er noch nicht sagen.

Die Angestellten des Stadthauses wurden zur Vorbereitung des grossen Ereignisses schon an zwei vorausgehenden Tagen am Morgen nach Morris Plains gefahren und am Abend wieder nach New York zurückgeholt. Ziel dieser Massnahme war es, sich mit dem Personal des Landhauses zu einem grossen, gut eingespielten Team zu vereinigen. Dazu zählte die Einführung in einen detailliert ausgearbeiteten Personalplan genauso wie das Putzen und Herrichten aller Räume, und zwar unter der strengen Anleitung von Miss Swenson und Mr. Kretschman. Und man musste zugeben, dass der Butler und die Haushälterin auf eine beeindruckende Erfahrung zurückgreifen konnten. Zwar wurde man während der zwei Tage ziemlich herumgescheucht, aber Jules stellte zum Schluss fest, dass er dabei kaum je einen Gang zuviel oder eine Aufgabe vergebens gemacht hatte. Ein ziemlicher Unterschied zu den oft chaotischen Abläufen im Club, fand er, wo er oft den Eindruck gehabt hatte, ein guter Teil der hektischen Beschäftigung von Angestellten sei vergeblich gewesen, oder habe gar zu noch mehr Arbeit geführt. Thomas Connors, der Chauffeur, genoss es, am Morgen und Abend das Automobil mit viel zu vielen Personen vollzustopfen, mit allen Hausangestellten, denen gegenüber er sich ziemlich formlos verhalten konnte. Nur die Anwesenheit von Miss Swenson und Mr. Kretschman hinderte ihn daran, während der ganzen Fahrt schottisch-irische Lieder zu singen oder Witze zu reissen. Immer wieder musste er von der Haushälterin zur Ordnung gerufen werden.
"Bitte achten Sie auf den Verkehr, Mr. Connors! Wir können uns keinen Unfall erlauben, schliesslich sind wir in diesem Fahrzeug Versammelten für den reibungslosen Ablauf der Tagung in Morris Plains verantwortlich."
Trotzdem wurde viel gelacht auf diesen Fahrten, und zuweilen konnte sogar Miss Swenson nicht anders, als sich von der fröhlichen Stimmung anstecken zu lassen. Für die zweite Fahrt wurde ihnen Rocky, der schwarze Zwergpudel von Mrs. Curdy mitgegeben. Sie war der Ansicht, dass er auf diese Weise einen zusätzlichen Tag mit viel Bewegung erhielte. Zudem brauche er immer eine gewisse Zeit, um sich wieder an die Verhältnisse in Mayfair zu gewöhnen. Thomas Connors war nicht erfreut darüber, den Hund mitnehmen zu müssen.
"Der kotzt mir den ganzen Wagen voll, und ich kann ihn dann putzen!"
Und so war es auch. Jules musste sich, als sie ankamen, eine saubere Hose vom Chauffeur ausleihen. Weil er den Hund beruhigen konnte, nachdem sich dieser erleichtert hatte, sollte er sich den Tag über um ihn kümmern. So kam er zu einer Aufgabe, die ihm in der kommenden Zeit oft Gelegenheit geben sollte, seine Dienstzeit mit Spaziergängen aufzulockern, ein Umstand, der ihm da und dort den Neid seiner Arbeitskollegen eintrug.

Mr. Kretschman hatte Jules eingeschärft, er müsse seinen Dienstherrn während des Anlasses von Anfang an eng, aber unaufdringlich begleiten. Ihn dabei genau beobachten, damit er den wahren Bedarf an Unterstützung bald erkenne und seine Einsätze punktgenau auf dessen Bedürfnisse ausrichten könne. Er beherzigte den Rat und stellte fest, dass Mr. McCurdy sich in den Pausen zwischen den Sitzungen im Plenum so sehr auf die Gespräche mit den zahlreichen Gästen konzentrierte, dass er die Übersicht über seine persönlichen Dinge verlor. Er liess da seine Brille auf einem Beistelltisch liegen, legte dort sein Notizbuch mitten zwischen Sektgläsern ab, stellte seine Mappe an irgendein Tischbein, und vergass sie sogleich. Sogar einen Schlüsselbund, mit dem man sich den Zugang zu seinem Büro und zu den Aktenschränken hätte verschaffen können, musste Jules von der Kaminablage fischen und ihn, als der Dienstherr mit gefurchter Stirn seine Jackentaschen zu durchwühlen begann, so überreichen, als sei er zum Behändigen des Gegenstandes bauftragt worden. Mr. McCurdy legte bei solchen Rückgaben zusehends die Verlegenheit ab und schien sich ganz auf Jules zu verlassen.
"Sie machen das gut, Chiquet", stellte er einmal in einem ruhigeren Moment fest.
"Danke, Sir. Darf ich Ihnen noch etwas bringen?" Jules genoss seine Aufgabe. Sie erinnerte ihn merkwürdigerweise an den Umgang mit den Tieren zu Hause in Cornol, wenn er versucht hatte, am Gang, an der Krümmung des Rückens oder am Rhythmus des Atmens seiner Kühe herauszufinden, was ihnen fehlte.

Mrs Swenson und Mr. Kretschman hatten die Gewohnheit, nach einem Ereignis dieser Grössenordnung alle beteiligten Hausangestellten zusammenzurufen für eine auswertende Besprechung. Sie beurteilten das gerade hinter sich gebrachte im Grossen und Ganzen als Erfolg. Der Butler stellte den Zusammenhang her zwischen ihrem bescheidenen Beitrag zum Gelingen des Anlasses und der Bedeutung der in diesen Tagen verhandelten Sache.
"Es waren hier in Morris Planes die wichtigsten Vertreter der Telefonbranche sowie einige der bedeutendsten Banker und Anwälte des Landes versammelt. Wie Mr. McCurdy in seiner abschliessenden Rede betonte, wurden dabei entscheidende Weichenstellungen getroffen für die Zukunft, für die Verständigung unter den amerikanischen Bürgern. Er stellte sogar eine Ausdehnung der Tätigkeiten seiner Unternehmungen nach Europa in Aussicht, was dem Symposium eine internationale Dimension hinzufügen würde. Wir, und ich meine damit Sie alle, haben dazu beigetragen, dass die Herren in gepflegter Umgebung arbeiten und sich zwischendurch erfrischen und entspannen konnten. Es gab ein paar kleine Pannen, die Mrs. Swenson jetzt gleich mit Ihnen durchgehen wird."
Jules war jetzt doch müde und schweifte ab mit seinen Gedanken. Das meiste, was noch besprochen wurde, ging ihn nichts mehr an, woran er seine Sonderstellung erkannte. Er durchschaute diese noch nicht ganz, begann aber zu begreifen, dass er als Kammerdiener nicht der vollen Rigidität der Personalpläne unterworfen war. Und Mr. McCurdy war ihm etwas vertrauter geworden, doch er blieb auf der Hut.

Freitag, 19. März 2021

zur Probe

In Basel stellte Jules im Depot des Bahnhofs sein Gepäck ein und ging dann am Platz ins Geschäftshaus der Agentur Zwilchenbart, um sein Billet abzuholen und zu bezahlen. Weil das Dokument noch nicht fertiggestellt war, wollte er versuchen, Joseph telefonisch zu erreichen. Es dauerte eine Weile, bis man auf der Post eine Verbindung zum Grenzposten herstellen konnte. Dann hatte er einen Zollbeamten am Apparat, den er, zuerst auf Französisch, dann radebrechend auf Deutsch, bat, seinen Bruder ans Telefon zu holen. Er verstand die wortreiche Antwort nur zum Teil, wohl aber, dass man Grenzbeamte nicht einfach im Dienst anrufen könne zu privaten Zwecken. So versuchte er ausrichten zu lassen, dass er vorbeikomme, etwa in zwei Stunden. Er wollte ruhig bleiben und unterdrückte den Impuls, den Besuch abzublasen.

Nachdem er mit der Trambahn Nummer drei durch die ganze Stadt gefahren war, stieg er an der Burgfeldenstrasse aus und ging zu Fuss, den Rest des Wegs bis zur Grenze. Er wunderte sich darüber, dass er während der Fahrt etwas wie Heimweh nach New York verspürt hatte, er freute sich auf kommende Fahrten mit der Hochbahn, bei denen man die Bewegung durch Strassenschluchten aus erhobener Position geniessen konnte. Sein Bruder war immerhin informiert worden über den Besuch, und man hatte ihm erlaubt, sich während einer halben Stunde mit ihm abzugeben.
"Ich durfte meine Mittagspause vorverschieben. Wir können uns ins Wachlokal setzen."
Dann sassen sie sich an einem langen Tisch gegenüber, der Raum war überheizt, die Luft roch nach abgestandenem Rauch von Zigarren. Jules musste sich eingestehen, dass er vom Auftreten seines älteren Bruders beeindruckt war. Er trug einen schmalen Schnurrbart, sonst war er tadellos rasiert, trug die Haare sehr kurz geschoren. Die Uniform schien frisch gebügelt und gebürstet, mit polierten Messingknöpfen, und mit Schulterpatten, noch ohne Abzeichen. Den Hut, mit dem silbernen Stern über dem Schirm, darin das Schweizerkreuz, hatte er sorgfältig umgedreht und neben sich auf dem Tisch platziert, die Handschuhe abgestreift und darübergelegt.
"Wie geht es Papa?", wollte er als erstes wissen. "Meinst du, man kann ihn alleine lassen?"
Jules entgegnete, dass er ja nicht allein sei, Marie bleibe noch eine Weile, und auch die Mutter sei noch sehr rüstig. Papas Husten sei lästig, wie er sage, aber nicht allzu schlimm. Den Schwächeanfall im Stall erwähnte er nicht. Als er von seinen Aussichten auf eine neue Stelle berichten wollte, und von seinen bisherigen Erfahrungen im New Yorker Club, merkte er, wie Josephs Aufmerksamkeit schnell nachliess. Bald drehte das Gespräch, und der Bruder erzählte nur noch von sich, vom Dienst an der Grenze. Von den Herausforderungen, welche ein Geflecht von Gesetzen und Vorschriften, aber auch subtilen diplomatischen Beziehungen des kleinen Vaterlandes mit dem deutschen Kaiserreich, mit sich bringe. Wie eisern Hierarchie und Disziplin der Zollbehörden funktionierten und, ja, funktionieren müssten. Jules glaubte nicht, dass er selber in der Lage wäre, an Josephs Stelle zu bestehen, wie schon so oft. Während sein Bruder die Uniform trug wie eine zweite Haut, war ihm immer unwohl gewesen bei dem Gedanken, je eine tragen zu müssen. Unvermittelt zog Joseph seine Uhr aus der Tasche und sagte:
"So, wir müssen Schluss machen. Jetzt habe ich vor lauter Schwatzen vergessen, dir etwas anzubieten."
Er holte seine Tasche, zog ein eingepacktes Brot heraus und teilte es mit seinem Taschenmesser. Jules sah gerührt zu.
"Du kannst es hier essen, wenn du willst, ich muss wieder hinaus."
"Nein, ich will auch weiter." Jules musste an die frische Luft. Er begleitete seinen Grenzwächterbruder bis zum Schlagbaum, dort umarmten sie sich kurz und steif. Dann machte er sich auf den Weg, zurück zur Tramstation.

Am Morgen vor dem heiligen Abend kam er in Le Havre an. Es wurde ihm bald klar, dass das Schiff nicht voll würde. Die Zahl der Passagiere an der Station war überschaubar, und alles lief ruhig und gelassen ab. Da sie noch etwas Zeit hatten vor dem boarding, konnte Jules am Pier auf und ab gehen und das Schiff von aussen in Augenschein nehmen. Es war etwas kleiner als die 'Provence', aber in Form und Proportionen sehr ähnlich, auch mit zwei rotschwarz gestrichenen Kaminen ausgestattet. Die Masten dienten als Lastkräne. Ein Bereich am Ufer war abgesperrt mit Schranken, weil von dort noch Fässer und Kisten verladen wurden. Jules wollte zusehen, wie die Hafenarbeiter ein grosses, schweres Automobil mit einem Netz und vielen Gurten für den Kran vorbereiteten, musste nun aber sein Gepäck holen und sich in die Reihe stellen. Als er über den Steg zum Schiffsrumpf hochstieg, sah er das Auto am Himmel schweben, wie ein Scherenschnitt.

Nachdem der Heilige Abend auf der 'Tourrène' nur dezent angedeutet worden war, mit Kerzenlichtern auf den Tischen aller Klassen sowie je einem mit roten Kugeln und Bandschlaufen dekorierten Weihnachtsbaum, wobei der im Esssaal der Ersten selbstverständlich der grösste war, wurde für die Festlichkeit am Fünfundzwanzigsten kein Aufwand gescheut. Das Essen umfasste sogar in der dritten Klasse mehrere Gänge, in Jules' zweiter spielte ein kleines Orchester und es wurde um Erscheinen in festlicher Kleidung gebeten. Die Tische waren zu grossen Tafeln zusammengrückt, man hatte von den Passagierlisten die Namen herausgelesen und auf Tischkarten übertragen. Als Jules, gekleidet in seinem besten Anzug, mit einem weissen noeud pappillon unter dem Kinn, in den Saal trat, musste er wie alle andern seinen Platz suchen. Er fand ihn schliesslich zwischen zwei Damen in Abendkleidern, und gegenüber von einem Herrn im Smoking. Die Frau zu Jules' Linken war in den Fünfzigern, eine eindrucksvolle, etwas korpulennte und in der Körpermitte stark eingeschnürte Erscheinung in weinrotem Taft. Sie musterte ihn ohne eine Spur von Hemmung, mit dem Monokel, von Kopf bis Fuss, und stellte sich dann vor, auf Französisch mit italienischem Akzent, als Madame Angela Cattelli, die Gemahlin des ihm gegenüber sitzenden Herrn, Monsieur Giuseppe Cattelli. Beide lebten schon seit über fünfzehn Jahren in Kanada, hatten die Heimat in Italien besucht und waren auf der Rückreise nach Montreal, wo Herr Cattelli ein Geschäft mit forstwirtschaftlichem Gerät betrieb. Die Frau zu Jules' Rechten war etwa gleich alt wie er. Sie hiess Lillian Dyke, war aus New York, und unterwegs zusammen mit ihren zwei kleinen Kindern und ihrem Ehemann Otto, der schräg gegenüber sass. Die beiden schienen sehr unruhig, verliessen abwechslungsweise immer wieder den Tisch, weil sie nach ihren Kindern sehen wollten, die in einem speziellen Essraum assen, einen Stock tiefer, zusammen mit vielen anderen Kindern und betreut von einem Dutzend Kinderfrauen, welche die Schiffahrtsgesellschaft stellte. Es herrsche ein höllischer Lärm und grosses Durcheinander im Saal der Kinder, die nurses seien ihrer Aufgabe nicht gewachsen, sagte die junge Mutter entschuldigend, als sie sich wieder an den Tisch setzte. Sie könne wohl nicht bis zum Dessert bleiben.

Auch hier war es mit zunehmendem Konsum des recht guten Weins lauter geworden, was die Cattellis und ihre Nachbarn aber nicht davon abhielt, über Politik zu diskutieren. Obwohl sie sehr laut sprechen und ihre Sätze des öftern wiederholen mussten, kam es Jules so vor, als wollten sie das bald zu Ende gehende Jahr Ereignis für Ereignis durchgehen. Er konnte nicht viel dazu beitragen, denn vieles erfuhr er zum ersten Mal. Er kam sich vor, wie ein dummer Bub vom Land. Immerhin wurde sein Interesse wieder geweckt, als man auf den Schwarzen Freitag von London zu sprechen kam. Fiona, Kuiwa und Margaret hatten sich an jenem Abend von Thanksgiving sehr ereifert über die Gewalttätigkeit der Polizei und der männlichen Gaffer, und eine hitzige Diskussion war ausgebrochen darüber, ob solche Übergriffe Gegengewalt rechtfertigten. Hier, an Bord des Weihnachtsschiffs, nahm das Gespräch eine Richtung, welche die drei Frauen erst recht in Rage gebracht hätte. Madame Catellis Gesicht, als sie lautstark verkündete, was man ihrer Meinung nach mit den Suffrageten machen müsste, wurde Jules plötzlich so widerwärtig, dass er am liebsten aufgestanden und weggegangen wäre. Da aber in dem Moment die Kellner das Geschirr des Hauptgangs abzuräumen begannen, wurde die Debatte jäh beendet, und er blieb doch sitzen.

Nach einem Tusch des Orchesters trat der Kapitän der 'Tourrène' auf für eine kurze Rede, die von Jules' Tischumgebung als ganz nett beurteilt wurde, obwohl sie hier, wie wohl auch davor in der ersten Klasse, vom Blatt abgelesen war. Darauf intonierte das Orchester in forschem Tempo ein Weihnachtslied, Il est né le divin enfant, die Hälfte der Passagiere sang mit, mit einem halben Takt Verzögerung und ziemlich unrein. Als das Lied ausgeklungen war, nahm man sich das Dessert vor, dazu wurde die vor kurzem ausgebrochene Revolution in Mexiko besprochen. Jules hatte genug, er liess sich entschuldigen, wünschte allerseits eine gute Nacht und verliess den Saal. Beim Ausgang traf er Otto Dyke, der zurückkehrte von seinen väterlichen Pflichten.
"Sie sind im Bett, Gott sei Dank! Gibt es noch Dessert?"

Am Nachmittag des dritten Januar kam Jules mit der Eirie Railroad bei der Station in Ho-Ho-Kus an. Es war schneidend kalt, die dünne Schneeschicht wurde vom Nordwind verblasen. Er stand mit seinem Gepäck neben dem Bahnhofsgebäude, einem kleinen, rechteckigen Bau mit aus mächtigen Flusskieseln gebauten Wänden, die sich gegen den Boden hin verbreiterten. Das gab ihm etwas militärisch Trotziges. Das nach allen vier Seiten weit auskragende Dach wirkte wie ein Helm, hier weiss man sich zu verteidigen, dachte Jules. Er stellte seine Sachen an eine Wand und ging um das Gebäude. An einer der Schmalseiten standen zwei Handkarren, wie gebaut für das Gepäck eines Riesen, daneben regungslos eine schwarze Gestalt unter einem dicken Cape aus Filz, mit einem Hut, wie sie die Schafhirten im Jura trugen. Es war ein älterer Mann mit Vollbart. Jules zeigte ihm seinen Zettel mit der Adresse und fragte ihn, ob er ihm mit Koffer und Taschen behilflich sein könne. Der Mann spuckte einen braunen Tabakstrahl in den Schnee und sagte:
"Yes, Sir. Dafür bin ich ja da! Ist nicht weit, Sir. Fünf Minuten."
Dann, nach einem Blick auf Jules' Schuhe:
"Zehn Minuten."

Er war froh, als er in der warmen Stube stand. Edmond stellte ihn den Gastgebern vor, Irène Dubois Carter und William S. Carter, ein älteres Ehepaar im Ruhestand. Mit Edmond hatte Irène lange Zeit, ein halbes Leben, wie sie ausrief, bei sehr reichen Herrschaften gedient, William war Lateinlehrer gewesen am College of the City in New York. Er wirkte gebrechlich, Jules gab sich Mühe, seine knochendünne Hand nicht zu fest zu drücken, während seine Frau drallfröhlich und sehr gesund wirkte. Ihre Stimme war laut wie eine Posaune, und sie wechselte mitten im Satz von Englisch zu Französisch, oder umgekehrt. Wenn der neue Gast sich eine wenig frisch gemacht habe, könne man essen, ordnete sie an. Jules bekam ein kleines Zimmerchen unter den Dach, in dem alles, bis auf den kleinsten Gegenstand, entweder in Weiss oder in Hellblau gehalten war. Er setzte sich aufs Bett, auf dem Kopfkissen neben ihm sass ein kleiner Bär in Menschenkleidern, weiss, hellblau. Es wurde ihm zu warm, darum stand er auf, öffnete das Fenster und sog die kalte Luft ein. Es hatte wieder zu schneien begonnen.

Beim Nachtessen wollte Edmond gleich über seine Vorhaben berichten, und über die Pläne zu Jules Zukunft, aber Irène bestand darauf, dass dieser zuerst von seinem Besuch in der Heimat erzählen solle. Er habe schliesslich eine lange, anstrengende Reise hinter sich, und es interessiere sie auch persönlich, woher er komme, denn ihre Vorfahren stammten ebenfalls aus dem Jura, wenn auch aus dem französischen Teil. Jules wusste nicht, wo er beginnen sollte, aber Irène half ihm, indem sie nachfragte, aufmerksam zuhörte und nur selten unterbrach. So erzählte er von seinen Eltern, von den Schwestern, vom älteren Bruder, von den Menschen im Dorf. Er staunte selber über seine Offenheit, und als er einmal auf Englisch die Worte nicht fand, sagte er es auf Patois. Irène war hell entzückt, sie wiederholte seinen Satz in ihrem eigenen Dialekt, und man stellte fest, dass es sehr ähnlich klang. Als sich nun auch William zu Wort meldete, zu einem Vortrag über die Verwandtschaft galloromanischer Sprachen ausholen wollte, fuhr Edmond dazwischen. Er war verärgert.
"Nun müssen wir aber wirklich über die Gegenwart und unsere unmittelbare Zukunft sprechen, meine Herren, und meine Dame, bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe."
Jules sah auf seinen Teller, aber Irène zeigte sich wenig betroffen.
"Ja, machen Sie nur, lieber Edmond. Ich muss mich meinerseits entschuldigen, aber es war doch wirklich sehr interessant, was uns Jules da berichtet hat. Wie eine Reise in eine andere Welt, nicht wahr?"

"Es geht darum, dass ich unseren Jules bei den McCurdys als Kammerdiener unterbringen möchte."
So begann Edmond eine lange Erklärung der Umstände, weshalb er Jules hatte nach Ho-Ho-Kus kommen lassen und was er mit ihm vorhatte. Der Ort wirke ja wohl auf Neuankömmlinge nicht besonders einladend, vor allem jetzt, bei diesem Winterwetter. Ursprünglich den Delaware-Indianern abgetrotztes Territorium, im Revolutionskrieg Durchzugsland, sowohl für die Hessians und die Briten als auch für die Truppen Washingtons. In jener Zeit sei hier ein Haus gebaut worden, das sich zwar heute in veränderter Form präsentiere, aber noch immer als herausragend geschichtsträchtiger Ort gelten könne. Die Hermitage, wie Grundstück und Gebäude genannt würden, ziehe seit langem Besucher aus dem ganzen Land an, die mit eigenen Augen sehen wollten, wo einst Washington, Monroe, Paterson, Lafayette, Stirling und Burr als Gäste ein und aus gegangen seien. Dies gelte auch für den äusserst wohlhabenden und erfolgreichen Bankier Robert Henry McCurdy Junior, für den er, Edmond Jacquelin, schon mehrfach Hausangestellte mit ausgezeichneten Qualifikationen gesucht und gefunden habe, alle weiblich bisher. Deshalb habe er auch erfahren, dass Mr. McCurdy einen Kammerdiener suche, und dass er ausserdem im Januar mit seiner Frau der Hermitage einen Besuch abstatten wolle. Dies habe er als eine hervorrragende Gelegenheit betrachtet, den Herrschaften Jules sowohl vorzustellen als auch als Diener vorzuschlagen. Seine Erfahrung habe ihn gelehrt, dass es für das Gelingen solch delikater Gespräche und Abwägungen unabdingbar sei, sich den Dienstherren zu einem Zeitpunkt anzunähern, wo diese nicht unter dem Druck ihrer beruflichen Verhältnisse stünden, am besten an einem neutralen und gleichzeitig angenehmen Ort, wo sie die Musse fänden, sich in die Niederungen der Haushaltsführung zu begeben, sich mit erhofften als auch tatsächlichen Eigenschaften einer Person abzugeben, deren Nähe sie, nach positivem Vertragsabschluss, täglich ausgesetzt sein würden. Er habe deshalb mit Bess Rosencrantz und deren Nichte Mary Elizabeth ausgemacht, dass man den MacCurdys nach der Besichtigung der Hermitage ein Nachtessen in den geschichtsträchtigen Räumen ausrichten werde, selbstverständlich auf seine, Edmonds, Rechnung und mit Hilfe von zwei Angestellten, die er aus New York kommen lasse. Es sei vorgesehen, dass auch Jules an diesem Abend als Steward die Gäste bediene und sich so, quasi in Aktion, vorstelle.

Jules war erschlagen, und um irgendetwas zu sagen fragte er:
"Wer sind die beiden Damen Rosencrantz?
Irène war schneller als Edmond.
"Die kennt hier jeder, und auch weit herum. Bess hat die Hermitage und einen Teil der Mühle von ihrem Onkel geerbt. Sie kam ins Haus, um ihren Bruder und dessen zweite Frau beim Grossziehen der Kinder zu unterstützen, Dayton, und eben Mary Elizabeth, beide aus erster Ehe. Seine erste Frau, Mary Warner, ist früh verstorben. Mit der Nichte und deren Stiefmutter, die verwirrenderweise Bessy heisst, nicht Bess, und schon ziemlich gebrechlich ist, bewirtschaftet sie das Haus. Wenn sie nicht gerade auf Reisen ist, sie hat schon die halbe Welt gesehen. Bess ist jetzt fünfundfünfzig Jahre alt, Mary Elizibeth hat ungefähr Ihr Alter, Jules, schätze ich. Der Bruder und Onkel, Will heisst er, möchte, dass Bess die Hermitage verkauft, denn seine Geschäfte gehen nicht gut. Gingen nie gut, soviel ich weiss. Auch Dyton möchte das, weil er Geld für seine Ausbildung braucht. Aber Bess und Mary Elizabeth hängen an dem Ort. Sie leben schon lange mit seiner Geschichte, und können sie auch hervorragend zum Besten geben, Sie werden sehen. Am liebsten würde Bess wohl ein Museum daraus machen, mit einem Lokal, in dem man Tee trinken und Konzerte anhören kann, so etwas in der Art. Sie liebt es, Besucher zu empfangen und sie in die Geheimnisse der Hermitage einzuführen."
William ergänzte:
"Eine erstaunliche, sehr gescheite und gebildete Frau. Man kann wunderbare Gespräche mit ihr führen."
Jules wusste nicht, was er von all dem halten sollte. Er fühlte sich eingeschüchtert, nicht am richtigen Ort. Wie sollte er bestehen unter diesen Menschen, die so fliessend und gescheit reden konnten, deren Hände immer weich waren, und sauber? Aber er zog es vor, seine Zweifel für sich zu behalten.

Zur Vorbereitung des Dinners mit den McCurdys gehörte ein erstes Treffen zum Nachmittagstee bei den Damen Rosencrantz in der Hermitage. Es war immer noch sehr kalt, als Edmond und Jules auf das Haus zugingen. Der Schnee auf dem Parkweg knirschte unter ihren Füssen. Das Hauptgebäude war nicht sehr gross, aber es erschien Jules wie ein kleines Schlösschen, oder wie ein Kapelle, gebaut aus rotem Sandstein über einem T-förmigen Grundriss. Die Dachflächen waren mit Holzschindeln gedeckt, die Giebel der Gebäudeflügel und der vielen Lukarnen waren verziert mit aus Brettern gesägten schlangenförmigen Ornamenten, die in ihrem Scheitelpunkt kleine Masten in den Himmel streckten, alles weiss gestrichen. Die Fenster waren mit senkrecht stehenden, weissen und gelben Rhomben verglast. Als sie den Hausflur betraten, bewunderten sie die Lichteffekte, welche die Wintersonne durch die Scheiben in die Räume zauberten. Bess Rosencrantz empfing sie und führte sie in die Stube, wo Marie Elizabeth noch mit dem Decken des Tischs beschäftigt war, und sie nun auch begrüsste.

Das Gespräch dauerte mehr als zwei Stunden, während denen vor allem Bess und Edmond alle Einzelheiten des geplanten Nachtessens besprachen. Das Essen sollte in geeigneten Behältern geliefert werden vom lokalen Metzger sowie vom Gasthof Ho-Ho-Kus Inn, von wo auch die Getränke, das Geschirr und Besteck bestellt worden waren. Edmond war erleichtert, dass er nur eine zusätzliche Hilfskraft würde kommen lassen müssen, da Mary Elizabeth darauf bestand, beim Bedienen der Gäste zu helfen, und auch die Metzgerei einen Mann mitschicken wollten, die sich mit dem Warmhalten der Speisen auskannte. Bess sollte an dem Abend möglichst davon befreit sein, oder davon abgehalten werden, wie Mary Elizabeth präzisierte, selber anzupacken, damit sie sich ganz dem Gespräch mit den McCurdys widmen und ihnen die sicher gewünschten historischen Hintergründe des Ortes schildern könne. Jules hatte sich gleich zu Beginn der Besprechung in einen Zustand konzentrierter Aufmerksamkeit versetzt, eine Fähigkeit, die er sich im Club angeeignet hatte, zu Beginn mit viel Mühe. Nun stellte er fest, dass es ihm nicht schwerfiel, die wichtigen, ihn unmittelbar betreffenden Aufgaben zu erkennen und sich zu merken. Trotzdem notierte er sich ein paar wesentliche Punkte in einem kleinen Notizbuch, das er seit dem Verlassen des Brook nicht mehr benutzt hatte. Er nahm sich vor, Edmond später noch zu den Tätigkeiten und Verdiensten von Mr. McCurdy zu befragen. Bess Rosencrantz beeindruckte ihn sehr. Als sie ihnen die Türe geöffnet hatte, war er bestürzt gewesen über sein erstes, unüberlegtes Urteil, dass eine typische Jüdin vor ihm stehe. Gleichzeitig hatte er den unangenehmen Eindruck, sie habe seine Reaktion durchschaut. Im Laufe des Nachmittags lernte er sie als eine nachdenkliche Frau kennen, die genau zu wissen schien, was sie wollte. Wenn Edmond etwas vorschlug, was ihr nicht passte, sah man ihre Ablehnung daran, dass sie den Blick abwandte und, sichtbar nachdenkend, ins Leere richtete. Sie liess ihr Gegenüber zuerst weiter reden. Wenn er dann aber das Thema wechseln wollte, kam sie auf den betreffenden Punkt zurück und legte ihren gegenteiligen Standpunkt so ruhig, klar und unmissverständlich dar, dass Widerspruch zwecklos schien. Edmond probierte es auch gar nicht.

Jules hatte wenig Erfahrung mit jüdischen Menschen. In New York war er vielen begegnet, die durch ihre Kleidung und Haartracht auffielen, und er hatte sich die Unterschiede zwischen Orthodoxen und Sekulären erklären lassen. Er hatte mitbekommen, dass in den letzten Jahren immer mehr Juden aus dem Osten vor Verfolgungen fliehen mussten, nach Europa, sogar in die heimatliche Schweiz, aber auch nach Amerika. Er hatte sie gesehen auf seinen Schifffahrten, arme Menschen, die verzweifelt versuchten, nicht arm zu erscheinen. Und in Cornol waren die Juden immer wieder Gegenstand von hitzigen Debatten gewesen, man machte sie verantwortlich für alle möglichen schlechten Entwicklungen, vor allem, wenn es um die Wirtschaft, um Geld ging. Vielleicht stimmte es ja, und Papa und Maman sahen das auf jeden Fall so. Warum genügten die auffällig markante Nase und der spezielle Name einer Frau, ihn ihr gegenüber so befangen zu machen? Dabei konnte er sich jetzt, nach ein paar Stunden, in der er sie erlebt hatte, sogar vorstellen, dass man mit ihr darüber sprechen könnte.

Robert Henry McCurdy Junior war ein grosser Mann mit beeindruckend dickem Bauch. Ein dichter Schnurrbart und der oft aufgesetzte strenge Blick konnten die weichen Gesichtszüge nicht gänzlich verdecken, und auch aus seiner Stimme war ein Widerstreit von Impulsivität und Zurücknahme zu hören, was sich in einem etwas gepressten Tonfall äusserte. Lady Suckley McCurdy war eine vornehm wirkende, würdevolle Dame, deren üppige Rundungen in ein dunkelblaues, raschelndes Seidenkleid gehüllt waren. Sie wich nicht von der Seite ihres Mannes und hatte die Angewohnheit, seine Worte in etwas anderer Formulierung zu wiederholen. Beide schätzte Jules auf etwa fünfzig.

Das Abendessen war in vollem Gang. Jules war, zusammen mit Mary Elizabeth, beschäftigt mit Auf- und Abtragen von Tellern und Schüsseln, mit Nachschenken von Wein und Wasser, währenddem John, der von der Metzgerei geschickt worden war, und Louise, die Edmond mitgebracht hatte, im Hintergrund blieben und die Verbindung zur Küche aufrecht erhielten. Jules las fallengelassene Servietten vom Boden auf und ersetzte sie durch frische, behob ein Unglück mit einem umgestürzten Weinglas, indem er den Schaden so rasch und rücksichtsvoll wie möglich mit einem schmalen Tischtuchstreifen abdeckte. Er beobachtete die Gäste genau, um dem richtigen Zeitpunkt für das Nachschenken oder das Wegräumen von Tellern weder vorzugreifen, noch ihn zu verpassen. Es entging ihm nicht, wie er dabei sowohl von Mr. McCurdy als auch von dessen Frau beobachtet wurde. Man würde sich nach dem Essen in der kleinen Bibliothek treffen, um seine Arbeit zu besprechen und, je nach Urteil, die weiteren Schritte festzulegen, hatte ihm Edmond beschieden. Davor aber entwickelten sich die Ausführungen von Bess über die Geschichte der Hermitage zu einem eigentlichen Vortrag. Sie erzählte von der Zeit vor dem Revolutionskrieg, als im Jahre 1767 Ann Bartow DeVisme das Haus gekauft habe, das noch sehr anders ausgesehen habe als heute. Wie deren Tochter Theodosia Bartow, die den Offizier James Marcus Prevost heiratete, während dem Krieg von ihrem Mann alleine gelassen worden sei, mitsamt den gemeinsamen Kindern. Sie habe damals nicht in der Hermitage gewohnt, sondern in einem Haus in der Nähe, bei den Mühlen. Prevost, ihr Mann, habe auf Seiten der Briten gekämpft, und trotzdem habe sie, als sie erfuhr, dass George Washington auf einem seiner Rückzüge bei Ho-Ho-Kus vorbeikomme, die Gelegenheit ergriffen und den Oberbefehlshaber der Kontinentalarmee in die Hermitage eingeladen. Washington sei der Einladung gefolgt, genauso wie weitere Gründungsväter der USA nach ihm, so zum Beispiel der spätere fünfte Präsident, James Monroe.
"Und was wurde aus Theodosia?", wollte Mrs. McCurdy wissen.
"Ihr Mann fiel auf dem Schlachtfeld, für die falsche Sache, würde man heute sagen. Einer der prominenten Besucher des Hauses aber, Aaron Barr, der Anwalt und Politiker war, und mit Präsident Jefferson der dritte Vizepräsident, verliebte sich in Theodosia und besuchte sie heimlich in der Nacht, über längere Zeit. Schliesslich heirateten sie, 1882."
Mr. McCurdy merkte auf, als er Barrs Name hörte.
"Aaron Barr, war das nicht der Barr, der Alexander Hamilton in einem Duell tötete?"
Bess antwortete:
"Ja, genau. Es war eine sehr turbulente Zeit, Burr wurde als Vizepräsident mit einer Hetzkampagne unter Druck gesetzt und das ganze entlud sich in dem Duell. Seine politische Karriere war damit beendet, aber er wurde nie zur Rechenschaft gezogen für den Mord."
"Unglaublich!", fand McCurdy.

In der Bibliothek trafen sich nach dem Essen das Ehepaar McCurdy, Edmond, Jules und auch Bess Rosencrantz, die Mr. McCurdy überrumpelt hatte mit der nicht als Frage gemeinten Bemerkung: "Wenn Sie nichts dagegen haben."
Jules war stehen geblieben, die andern setzten sich und sahen ihn an. Niemand bot ihm einen Stuhl an, er hatte einen trockenen Hals.
Edmond wollte beginnen mit ein paar einleitenden Sätzen, wurde aber gleich unterbrochen von Mr. McCurdy, der, wie Jules wusste, ziemlich viel getrunken hatte und zur Sache kommen wollte.
"Ich möchte nicht lange herumreden Mr. Chiquet. Edmond Jacquelin hat Sie mir ja schon in New York empfohlen, und sie sollen im Brook, von dessen Mitgliedern sich bis heute keiner aufraffen konnte, mich einzuladen, einen hervorragenden Job gemacht haben. Was ich heute von Ihnen gesehen habe, gefiel mir sehr, muss ich sagen. Wir hatten ja bislang nur weibliches Personal, mit einer kurzen Ausnahme..."
Er sah kurz zu seiner Frau, die nickte und dazu die dramatisch die Augen verdrehte.
"Ich hatte kurze Zeit einen Kammerdiener, mit dem ich aber gar nicht zufrieden war. Zu aufdringlich, kein Gefühl für die angemessene Distanz. Das scheint bei Ihnen vorhanden zu sein, sie haben das gewisse Etwas. Sie sind schnell und geschickt, wenn es nötig ist, und man sieht sie nicht, wenn es nicht nötig ist. Vous êtes employé à titre probatoire!"

Samstag, 13. März 2021

dazwischen

Am vierten Dezember 1910, am Sonntag, an dem Jules in Cornol ankam, hatte es schon seit über einer Woche geregnet. Mitten am Tag war es dunkel und kalt, der Himmel grau verhangen. Man wusste nicht, waren es Wolken oder Nebelschwaden, die vom Wind übers Dorf getrieben wurden. Die weisse Nässe staute sich am Taleingang und verhüllte den Blick auf die Höhen der Caquerelle.

Jules stand tropfnass in der engen Küche, die verstellt war mit den schwarzen Silhouetten seiner Lieben, von Papa und Maman, und von allen vier Schwestern. Nur Joseph, der älteste Bruder, fehlte. Jules wurde von allen Seiten umarmt, mit trockenen Tüchern traktiert, befragt und bestürmt. Man zog im die Schuhe aus und stopfte sie mit Zeitungen, wärmte ihm Hände und Füsse in Becken mit heissem Wasser, braute ihm Tee und reichte ihm Schnaps dazu. Man hatte den Ofen schon am Nachmittag eingeheizt, jetzt war es warm, fast heiss, in der Stube, und die Luft war erfüllt vom Duft des Schmorbratens, köchelnder Rotwein, Zwiebeln, Gewürznelken, Lorbeer. Jules bekam Kopfschmerzen. Wo sollte er beginnen mit Erzählen, wem sich zuerst zuwenden? Etwas in ihm machte sich ganz klein, liess sich fallen in die Ursuppe der Familie, ins Gehäuse seiner Kindheit. Ein anderer Teil wollte sich davonmachen in die Höhe, westwärts über das graugrüne Wasser, und landen auf einer Parkbank in der grossen, lauten Stadt.

Er hatte vergessen, was Stille ist. In der Nacht wurde er geweckt vom Glockenschlag. Er stand auf und öffnete das angelehnte Fenster. Der Regen hatte aufgehört, es tropfte und tröpfelte überall, und von überall her. Das Rauschen des Bachs legte einen feinen Teppich darunter. Sonst war nichts zu hören, keine kreischenden Bahnräder, keine Motoren, kein Pferdegeklapper, weder Hupen noch Sirenen noch Fetzen von Musik. Keine Menschenstimmen. Nur die Geräusche des fliessenden und fallenden Wassers. Durchsichtige Klangwelt. Als er seinen Vater im Nebenzimmer husten hörte, fiel ihm ein, weshalb er eigentlich hierhergekommen war, und er nahm sich für den nächsten Tag vor, mit Papa zu reden.

Er stand früh auf, seine Arbeitskleider musste er suchen, fand sie schliesslich, gewaschen, geflickt und ordentlich zusammengefaltet, im Kasten. Er trank seinen Kaffee im Stehen, obwohl ihn Maman drängte, sich zu setzen und richtig zu frühstücken. Aber er wollte in den Stall, mit Papa die Kühe melken, denn er wusste, dass es beiläufig, beim Arbeiten, am wahrscheinlichsten war, dass dieser etwas von sich preisgab. In der Kneipe am Stammtisch, oder auch zuhause, wenn Gäste da waren und er also genügend Publikum hatte, konnte Jules' Vater zum grossen Unterhalter und Erzähler werden, witzig, redegewandt. Von ihm selber, von dem, was in seinem Inneren vor sich ging, erfuhr man jedoch wenig.

Es war dunkel und warm im Stall. Als Jules eintrat, sass Papa mit dem Rücken zu ihm bei einer der Kühe, den mit einer Kappe bedeckten Kopf gegen deren Flanke gedrückt. Er sah klein aus, sein Rücken war gekrümmt, das einzelne Holzbein des Schemels stand gefährlich schräg. Seine Arme bewegten sich nicht, Jules hörte auch kein Geräusch. Offenbar hatte er aufgehört mit dem Melken, oder noch gar nicht begonnen.
"Papa? – Wie geht es dir?"
Der Vater schreckte hoch, streckte den Rücken, und wäre beinahe mit dem Stuhl umgefallen. Jules machte einen Sprung, stützte ihn mit den Knien und half ihm hoch.

Ihre Gesichter sind sich plötzlich ganz nah, Papa versucht ein Lächeln, seine Stirn, die Augenwinkel und Wangen überziehen sich mit tausend Falten und Fältchen. Die Kappe liegt am Boden, der silbergraue Haarschopf steht wie eine Bürste auf dem Scheitel. Jules muss seinen Vater in die Arme zu nehmen und an sich drücken. Als er zu hüsteln beginnt, schiebt er ihn von sich, schaut ihm in die Augen und fragt:
"Was ist mit dem Husten?"
"Er ist nicht schlimm, aber lästig. Ich kann nicht aufhören damit. Die Frauen machen sich Sorgen, dass es die Schwindsucht ist."
"Und was meinst du, was es ist?"
"Ach, ich weiss nicht. Es gab halt wieder Fälle im Dorf. Stouders Albert ist gestorben, und eines der Choulat-Mädchen musste nach Heiligenschwendi in die Kur. Wir haben einen neuen Doktor hier, der redet die ganze Zeit von Tuberkulose, macht den Leuten nur Angst, wenn du mich fragst. Wir sollen unsere Hände waschen, und keine rohe Milch mehr trinken. So in der Art. Die grüne Fee darf man ja schon länger nicht mehr trinken, hast du die Plakate gesehen, gegen das Verbot...?"
Jules unterbricht ihn.
"Muss ich hierbleiben, Papa?"
"Nein! Nein, wo denkst du hin! Ich komme zurecht, bin halt langsam. Aber das kommt schon wieder. Und Marie will ja noch ein wenig bleiben."
Jules ist überrascht.
"Das wusste ich nicht. Was ist ihr Plan?"
"Berthe will ja unbedingt auch nach Amerika, die macht uns schon lange verrückt damit. Aber sie ist erst achtzehn, wir finden, sie soll noch ein wenig warten. Vielleicht in einem Jahr. Dann könnte sie mit Marie zusammen reisen."

Mit Marie und Augustine unternahm Jules einen langen Spaziergang, als es wieder trockener war. Die Schwestern hatten beide viel zu erzählen, und er konnte sie dabei beobachten. Er staunte, wie sehr sie sich verändert hatten. Zwar hatte er Marie in Manhattan einige Male getroffen, dabei war ihm aber nicht aufgefallen, dass sie die weiche Sanftheit, die sie als junges Mädchen wie ein Kleid getragen hatte, fast vollständig abgelegt hatte. Oder verloren. Sie begann, Maman zu ähneln, man ahnte einen strengen Ernst in ihren noch immer jungen Zügen. Und auch in ihre Äusserungen mischte sich manchmal ein Ton, der ihn zu Widerspruch reizte. Sie war nicht besserwisserisch, wie das ältere Schwestern halt so sind. Es war mehr so, dass zwischen und hinter ihren Worten strikte moralische Prinzipien aufblitzten, die nicht zu beachten, oder gar, nicht zu kennen, für sie undenkbar war. Er befürchtete, dass sie seinen Plan, schon sehr bald, vielleicht schon in zwei Wochen, nach Amerika zurückzukehren, ganz und gar missbilligen würde. Das war aber zu seiner Überraschung nicht so. Vielleicht, so dachte er, wollte sie das Opfer und die damit verbundene Anerkennung, dem Vater zuliebe die lange Reise auf sich genommen zu haben, nach Hause gekommen und bereit zu sein, die Mutter zu unterstützen, nicht mit ihm teilen.

Er verscheuchte den Gedanken und hörte wieder zu, wie Marie der Schwester von ihren Erfahrungen im Home Jeanne d'Arc, in der Kirchgemeinde von St. Vincent de Paul und in der Kleidermanufaktur erzählte. Vieles kannte er, aber Augustine hatte eine unerschrockene Art, Fragen zu stellen, und so erfuhr er auch Neues. Zum Beispiel, dass Marie grosse Mühe hatte, Englisch zu lernen. Zwar hatte sie es mit Abendkursen versucht, die sie aber wieder aufgeben musste, weil sie nach zwölf Stunden an der Nähmaschine einfach zu müde war. Auch bewegte sie sich die meiste Zeit unter französisch sprechenden Menschen, sowohl im Heim als auch in der Kirche, und selbst in der Firma waren die frankophonen Arbeiterinnen in der Mehrzahl. So fehlte die Notwendigkeit, die neue Sprache zu lernen, ebenso wie die Gelegenheiten, zu üben.
"Bist du glücklich?", fragte sie Augustine.
Marie schwieg etwas zu lange. Dann sagte sie:
"Die Arbeit gefällt mir sehr. Wir machen Kleider in guter Qualität. Ich verdiene nicht sehr viel, aber genug. Ich kann Maman und Papa etwas abgeben, das macht mich stolz."
"Hast du Freundinnen? Einen Freund?"
Marie überhörte die zweite Frage.
"Ich habe viele Freundinnen, ja. Wir helfen einander, und wir organisieren die Feste und Wohltätigkeitsveranstaltungen der Kirche gemeinsam. Und wir beten zusammen."
Augustine zwinkert Jules zu. Begann dann, ihre Basler Geschichte zu erzählen.
"Ich soll euch grüssen von Joseph, er ist jetzt an der Burgfelder Grenze. Wir sind letzte Woche zusammen spazieren gegangen. Er hatte mir auf einer Karte geschrieben, er werde mich um drei Uhr abholen bei den Van Baerles."
Sie verstellte ihre Stimme.
"Bitte versuche, zu diesem Zeitpunkt bereit zu sein."
Sie lachten alle drei.
"Er ist immer noch der gleiche!", fand Augustine.
Dann berichtete sie von der Familie Van Baerle, bei der sie zu den Kindern schaute und im Haushalt mithalf, dabei Deutsch lernte. Die Herrschaften würden konsequent in dieser Sprache mit ihr verkehren, obwohl sie sehr gut französisch könnten, fast besser als sie. Am Anfang war es hart gewesen, aber sie sei dankbar, und sie lerne schnell auf diese Weise. Die Baerles nähmen sie zu Ausflügen mit, auch in Museen und Konzerte. So lerne sie die Schweiz kennen, und gewöhne sich langsam an das, was die Van Baerles Kultur nannten, finde sogar ab und zu Gefallen daran.
"Hast du einen Freund'", stellte nun Jules die Frage.
Augustine lachte.
"Ich habe nicht viel Zeit und wenig Gelegenheit, junge Männer zu treffen. Aber ich habe schon einen kennengelernt, oder zwei?, die mir gefielen. Beide schweizerdeutsch, denkt nur! Was Papa und Maman dazu sagen würden!" Diesen Gedanken fand auch Marie lustig.

Augustine hatte ihre Erzählung in fast reinem Französisch begonnen, dann meldete sich der Patois über einzelne Wörter und Wendungen zurück, und ihr Ausdruck wurde noch lebhafter. Es schien ihr gut zu gehen. Sie war voller Energie, eine selbstbewusste, humorvolle Frau geworden. Für Jules war es keine Frage, dass sie einen guten Mann finden, sich auch nur mit einem solchen zufrieden geben würde. Sie machten Halt und beschlossen, den gleichen Weg zum Dorf zurück zu nehmen. Erst jetzt, wo sie auch länger schwiegen, sah Jules die Schönheit der heimatlichen Umgebung. Ein Spruch, den er nie verstanden hatte, kam ihm in den Sinn: L’aimoué rend aiveuye èt pe l’bôs r’bèye les euyes, die Liebe macht blind, und dann öffnet der Wald die Augen. Sie kamen durch ein lichtes Waldstück mit vielen Buchen. Ihr Laub hatte sich zu einem dunklen Goldton verfärbt, hing aber noch zum grössten Teil an den Ästen und Zweigen. Als die Sonne eine Lücke fand und die Geschwister jäh geblendet wurden vom Gegenlicht, mussten sie anhalten. Sich vergewissern, dass die andern von demselben Glitzern und Glühen überschwemmt wurden. Als Jules in den Schatten eines dicken Stamms trat, um seinen Augen eine Pause zu gönnen, bemerkte er, dass er in einem grossen Fleck von Totentrompeten stand. Sie knoteten Maries Kopftuch zu einem Beutel und füllten ihn, froh, der Mutter etwas mitbringen und dem Spaziergang einen Anstrich von Nützlichkeit verleihen zu können.

Von Edmond bekam Jules ein Telegramm, das grosse Aufregung im Hause Chiquet verursachte. Ein junger Postpraktikant überbrachte es, gegen Abend, mit dem Velo. Jules musste die Botschaft am Stubentisch vorlesen:
EXPECTING YOU EARLY JANUARY IN 156 HILLCREST ROAD, HO HO KUS STOP TELEGRAPH APPROXIMATE ARRIVAL DATE STOP EDMOND
"Anfangs Januar? Dann muss du ja schon bald wieder abreisen!", rief Berthe aus, mit dramatisch klagender Stimme.
"Wirst du Weihnachten nicht mit uns feiern?", fragte die Mutter leise. Als er nicht gleich Antwort gab, drehte sie sich ab und ging, vor sich hin grummelnd, in die Küche. Er eilte ihr nach, und obwohl er wusste, dass er sie nicht werde beruhigen können, versuchte er ihr seinen baldigen Aufbruch zu erklären.
"Schau, ich wusste es auch nicht. Edmond hatte nur gesagt, ich müsse anfangs Jahr zurückkehren, er hat für mich eine gute Stelle in Aussicht. Jetzt ist es halt schon bald soweit, und ich sollte diese Gelegenheit wirklich packen. Ich werde euch Geld schicken können."
Maman klapperte mit Töpfen herum und drehte ihm den Rücken zu.
"Ich werde euch auch wieder besuchen, versprochen. Und Marie..."
Er gab es auf, bleib noch eine Weile in der Küche stehen. Ging dann wieder in die Stube, zu den andern. Berthe war laut und eifrig daran, ihre eigenen Absichten bezüglich Amerika in Erinnerung zu rufen. Papa hatte offenbar dem damit verbundenen Zeitplan widersprochen.
"Aber in einem Jahr, das hast du einmal gesagt!", insistierte sie.
Papa wurde streng:
"Nicht in diesem Ton, ma baîchatte! Du wirst uns noch früh genug verlassen."
Berthe schnaubte, sprang von ihrem Stuhl hoch und rannte aus der Stube, Clara ging ihr hinterher. Papa war wütend.
"Da seht ihr es! Sie beginnt auch schon Clara den Kopf zu verdrehen. Aber die beiden sollen ruhig noch eine Weile weiterlernen in der Fabrik, und Maman helfen. Man hört schliesslich auch dies und das, was mit jungen Frauen passieren kann in New York."
Marie hatte bisher geschwiegen, musste nun aber auch etwas sagen.
"Das kommt auch darauf an, wie sich die Frauen benehmen, und mit wem sie sich einlassen. Sollte Berthe in ein, zwei Jahren auch nach Amerika kommen, werden wir gut auf sie aufpassen, nicht wahr, Jules?"

Jules ging am nächsten Morgen auf die Post und telefonierte mit der Basler Agentur. Sie meinten, sein Reisewunsch sei etwas kurzfristig, es fahre aber ein Schiff, La Lorraine, das am vierundzwanzigsten Dezember von Le Havre aus losfahre und rund um Neujahr in New York ankomme. Es sei bei vielen Passagieren natürlich nicht so beliebt, über die Festtage zu fahren, für andere aber wiederum ein begehrtes Erlebnis, Weihnachten auf hoher See zu feiern. Und die Transat würde ihren Gäste an Bord auch ein würdevolles Fest bereiten. Er werde sehen. Ob man ihm das Ticket reservieren und schicken solle? Jules überlegte einen Moment und sagte dann:
"Ja, sie können es auf meinen Namen buchen. Ich werde es aber bei Ihnen in Basel abholen und von dort aus reisen."
Es war eine spontane Idee, und er wusste nicht, ob sein Bruder Zeit haben würde, ihn zu treffen.

Mit Berthe und Clara konnte er einmal in Ruhe reden, als er sie nach Pruntrut begleitete. Sie standen sehr früh auf, gingen zu Fuss auf der Landstrasse nach Courgenay und nahmen dort den Zug. Er hatte verschiedenes zu besorgen und versprach, sie am Abend wieder bei der Hutfabrik abzuholen. Er war überrascht, wie intensiv sich nun auch Clara mit dem Gedanken befasste, nach Amerika auszuwandern, und wie viel seine Schwestern über New York und das Land wussten, viel mehr als er, so schien ihm. Clara fragte ihn über die Penn Station aus, über den grösste Bahnhof der Welt, wie sie meinte. Der sei doch mit einem grossen Fest eingeweiht worden, zusammen mit den neuen Tunnels und Brücken, kurz bevor er abgereist sei. Ob er an der Einweihung dabei gewesen sei, am siebenundzwanzigsten November. Jules gab es einen Stich.
"Nein, das habe ich verpasst. Da war ich im Riverside Park."
Die Schwestern musterten ihn argwöhnisch von der Seite.
"Und? Mit wem? Was hast du dort so wichtiges gemacht?", fragte Berthe, die dunklen Brauen erwartungsvoll hochgezogen.
Als er nicht gleich antwortete, begannen sich die beiden anzustubsen.
"Er hat eine Liebste!", kreischte Berthe.
"Schau, wie er rot wird!", rief Clara und kicherte.
"Wie ist sie? Ist sie schön?", wollte beide wissen.
Jules hatte keine Lust, seinen Schwestern von Fiona zu erzählen, aber es half nichts. Und so versuchte er, ihre Neugier so weit zu befriedigen, dass sie wieder Ruhe gaben, und ohne allzu viel von sich preiszugeben. Er merkte auch, dass ihm ihre naive Lust an der sensationellen Neuigkeit gut tat, die freundschaftlichen Sticheleien brachten ihn zum Lachen und hinderten ihn daran, in selbstmitleidiges Grübeln zu versinken. Sehr interessiert waren sie, als er von Alice Stöckli, von Kuiva und Margeret erzählte, und von deren Engagement für die Sache der Frauen.
"Die würden uns umbringen im Dorf, wenn wir einen Marsch für das Frauenstimmrecht organisiernen würden", war Clara fest überzeugt. Berthe war derselben Meinung.
"Auch Maman und Papa kannst du nicht damit kommen. Eine Souffragette!? Pah! Das ist die schlimmste Sorte, fast noch schlimmer als die apostates!
Berthe wurde wieder ernst.
"Was meinst du, wie es Marie geht, drüben? Sie muss hart arbeiten als Näherin, glaube ich. Aber sie kann die Sprache nicht, da ist es schwer, etwas anderes zu finden."
Jules konnte wenig dazu sagen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er sich kaum um Marie gekümmert hatte bisher.
"Sie hat Augustine viel erzählt. Offenbar findet sie Halt in der Kirchgemeinde, dort schaut man zueinander.
Für Jules unerwartet murmelte Berthe vor sich hin:
"Der Liebe Gott soll euch beschützen!"

Es liess sich nicht vermeiden, dass Jules mit seinem Vater zusammen dessen Lieblingskneipe einen Besuch abstattete. Er schob es mit Ausreden so lange hinaus, bis schon fast wieder seine Abreise bevorstand. Als sie eines Abends im Boeuf auftauchten, wurde es genau so, wie er vorausgesehen und befürchtet hatte. Statt mit seinem Namen, wurde er mit 'Amerikaner' angesprochen, man nötigte ihn, englisch zu sprechen. Er musste angeben, wie viel er verdiene. Dass er die Stelle verloren hatte und eine neue suchen musste, verschwieg er. Er trank mehr, als er wollte und ihm guttat, und er war fast froh, als der Vater begann, seine üblichen wilden Geschichten und Spässe zum Besten zu geben, und ihn die andern zu vergessen schienen. Doch dann begann einer, ihn nach seiner Freundin auszufragen. Natürlich hatten Berthe und Clara ihren Mund nicht halten können, aber es kam nicht darauf an, auch über das Ausbleiben einer solchen Nachricht hätten sich die Leute im Dorf das Maul zerrissen. Jetzt hatte er jedoch genug, stand auf, grüsste alle und machte sich, leicht schwankend, auf den Heimweg. Er hatte Kopfschmerzen, und Sehnsucht nach Fiona.

Zum Abschied sollte es Kaninchenbraten geben, das war Mamans Wunsch. Zwei Tage davor schlachtete man das Tier. Jetzt, wo Jules da war, sah niemand einen Grund, weshalb nicht er dies tun sollte, wie er es schon musste, seit er zehn Jahre alt war. Papa tat es nicht gern, und deshalb auch nicht gut. Er zögerte beim Zuschlagen, oder hielt das Kaninchen nicht richtig fest, was zu schlimmen Szenen führen konnte. Jules brauchte Zeit zum Vorbereiten. Beim Zurechtlegen der Geräte und Gefässe bereitete er sich innerlich auf den konzentrierten Zustand vor, der beim Schlachten unabdingbar war. Als erstes stellte er mit Papa zusammen den Tisch auf den Rasen hinter der Küche und sorgte dafür, dass er nicht wackelte. Dann suchte er die drei Messer zusammen, füllte Wasser in die Wanne unter dem Schleifstein und schliff die Klingen grob vor, zog sie dann auf dem feinen Kalkstein ab, bis er sich die Haare auf dem Unterarm damit rasieren konnte. Den Schlagstock holte er aus seinem Versteck, denn der war das Wichtigste. Ein abgesägter Spatenstiel aus Esche, mit einem dicken Ende und einem eiförmigen Abschluss dort, wo er nicht aus der Hand rutschen durfte. Er bat Clara, einen Eimer mit sehr heissem Wasser zu bringen, damit er sich die Hände zwischendurch waschen und auch die Messer abspülen konnte. Ein flaches Becken für das Blut wurde unter den Tisch gestellt. Was brauchte er noch? Den Haken zum Aufhängen und Ausnehmen. Er vergewisserte sich, dass der Nagel an dem herausstehenden Balken noch da war und festsass. Das Kaninchen zappelte zuerst, als er es aus dem Stall nahm, beruhigte sich aber, als er es sich auf den Arm setzte, es an sich drückte und und streichelte. Er stellte es auf den Tisch und strich ihm mit der linken Hand mit viel Druck über Kopf und Rücken, so dass es sich niederkauern musste. Dann fasste er es an den Ohren und drückte seinen Kopf nach unten auf den Tisch. Er redete sanft auf das Tier ein, nahm den Schlagstock, zog ihn hoch. Zielte genau, und schlug zu.

Vor dem Abschiedsessen half er der Mutter beim Schälen der Kartoffeln. Sie sassen auf der Holzbank im Flur, wo es, bei geöffneter Haustür, heller war als in der Küche. Zwischen sich ein grosses Blechbecken für die Schalen, auf dem Schaft darüber stand der Kessel für die geschälten Kartoffeln. Wenn Jules mit einer fertig war, warf er sie dicht an Mamans Kopf vorbei in den Kessel. Beim ersten Mal war sie zusammengezuckt und hatte ihn einen Moment lang böse angeschaut, jetzt schien sie es mit Humor zu nehmen. Sie sprachen wenig, zweidreimal seufzte sie auf, sichtbar übertreibend, wie er feststellte. Er wollte glauben, dass sie sich mit seinem vorzeitigen Aufbruch abgefunden habe. Als sie fertig waren, und er aufstehen wollte, hielt sie ihn an der Schulter fest, zeichnete ihm das Kreuzzeichen auf die Stirn und sprach ihre Formel: "Der gnädige Gott soll dich schützen!"

Am zweiundzwanzigsten Dezember bestieg er in Pruntrut den Zug nach Basel. Er wusste immer noch nicht, ob er seinen älteren Bruder würde treffen können.

Sonntag, 7. März 2021

Wirst du auf mich warten?

An einem Nachmittag, anfangs September 1910 wurde Jules von Marie unverhofft aufgesucht. Da sie als Frau keinen Zugang zum Club hatte, liess sie ihn herausrufen. Man musste ihn wecken, Marie wartete geduldig auf der Strasse. Er sah gleich, dass sie besorgt war. Maman hatte ihr geschrieben, dem Vater gehe es nicht gut, sein Husten werde nicht besser, und sie bekomme ihn am Morgen nicht aus dem Bett. Marie war entschlossen, so schnell als möglich nach Cornol zurückzukehren, und sie schien davon auszugehen, dass er sie begleite. Jules versuchte ihr zu erklären, was das für ihn bedeute. Er verliere seine Stellung, denn Heimaturlaub sei für die Angestellten des Brook nicht vorgesehen. Also wolle er das zuerst mit Edmond Jacquelin besprechen und ihn fragen, ob er ihm für die Zeit nach seiner Rückkehr eine neue Arbeitsstelle vermitteln könne. Er werde aber sicher die Eltern auch besuchen und nach Papa schauen, sobald er könne, vielleicht halt erst im November. Marie wollte nicht so lange warten, also machten sie aus, dass sie ein Billet für das nächstbeste Schiff nach La Havre besorgen sollte.

Wie erwartet, war Edmond nicht glücklich über Jules Entscheidung. Er hatte gerade in letzter Zeit Hinweise bemerkt, und sie an Jules weiter gegeben, die auf eine mögliche bevorstehende Beförderung in eine höhere Funktion, auf eine höhere Stufe der Hierarchie, hindeuteten. Aber nun sei es eben so. Wenn es ihm, Edmond, gelinge, ihn dauerhaft bei wohlhabenden oder, noch besser, reichen Herrschaften unterzubringen, könne es in Zukunft auch sein, dass ihm nach einem Besuch der Eltern die Stelle offen gehalten, ja sogar, im glücklichsten Fall, die Reise bezahlt werde. Er werde schauen, was sich machen liesse. Wenn Jules anfangs Jahr zurückkomme, was er doch sehr hoffe, könne es allerdings sein, dass er sich in New Jersey aufhalte, in Ho Ho Kus. Dort entwickle sich etwas, ein projet, wie er es bezeichnete, das interessant, ja vielversprechend sei. Vielleicht ergebe sich da etwas für Jules. Er werde sich melden, per Telegramm.

Jules kam der Abbruch im Brook recht. Alles, was er dort zu tun hatte, war zur Routine geworden, und auch wenn seine daraus folgende Geschmeidigkeit nun zu einem Aufstieg geführt hätte, musste er sich eingestehen, dass er sich schon länger langweilte. Die Aussicht, bald nach Cornol zu reisen, ohne zu wissen, wann er wieder zurückkehren werde, verstärkte in ihm den Wunsch, Fiona zu sehen. Er war überrascht über die Deutlichkeit dieses Gefühls. Seit er sie auf dem Schiff kennengelernt hatte, war es ihnen nur ein paar wenige Male möglich gewesen, sich zu treffen. Fiona arbeitete die meiste Zeit im Haus der Blums, und wenn sie ihre Herrschaften nach Manhattan begleiten musste, geschah dies ohne Vorankündigung, so dass es Jules unmöglich war, mit seinen Vorgesetzten einen freien Tag auszuhandeln. Am einfachsten war es an allgemeinen Festtagen gewesen, an St. Patricks Day oder über Weihnachten, wobei Fiona an diesen Tagen auch vielen Verpflichtungen gegenüber Freundinnen und Verwandten nachgehen musste. Die Begegnungen hatten Jules immer in Zwiespalt gebracht. Nachdem die grosse Vorfreude, sein Begehren, ein erstes, dann noch ein zweites Mal ins Leere gelaufen waren, weil sie kaum eine ruhige Minute für sich gehabt hatten und Fiona sich in leutseliger Fröhlichkeit mehr ihren Freunden und Bekannten zuwandte als ihm, jedenfalls meinte er das, war er vorsichtig geworden und verbot sich allzu hohe Erwartungen. Dabei war er nicht immer enttäuscht worden, denn Fiona konnte sich auch plötzlich, völlig unvorhersehbar, ihm herzlich, ja sogar zärtlich zuwenden. Wenn er sich an solche Momente erinnerte, wurde Jules von Unruhe ergriffen. Er hatte oft Magenschmerzen, was er bisher nie gekannt hatte. Die körperliche Reaktion verwirrte ihn, weil er den Grund dafür nicht einsah, sein Bauch aber deutlich einen quälenden Schwebezustand missbilligte.

Erst jetzt, wo sich seine Zeit als Diener und Kellner im Club ihrem Ende näherte, gestand er sich ein, dass ihn die Arbeit nicht nur zu langweilen begonnen hatte, sondern ihm auf die Dauer auch nicht gut tat. Er hatte kaum Freunde oder Bekannte, weil er nachts arbeiten und am Tag schlafen musste. Der Umgang mit seinen Arbeitskollegen war im Dienst durch strenge Verhaltensregeln fast gänzlich unterbunden, und sogar bei den Mahlzeiten im Esszimmer der Angestellten ging es, unter den strengen Augen des Hausbutlers, fast so zu wie im Refektorium eines Klosters. Mit einem einzigen Kollegen, mit Estève Sabatier, einem Südfranzosen, der etwa zwei Jahre jünger war, verband Jules eine Beziehung, die er auch Freundschaft genannt hätte. Seit einem halben Jahr, seit dem Weggang seines ersten Zimmergenossen, den er nicht hatte ausstehen können, teilte er mit Estève die Kammer. Dieser hatte die Initiative ergriffen und bei den Vorgesetzten erreicht, dass sie gleichzeitig Dienst tun konnten. Seither redeten sie nach ihrer Schicht oft noch stundenlang, bis einer von ihnen verstummte und einschlief.

Estèves liebstes Thema waren die Frauen, er schien sie sehr gut zu kennen, wobei ihm Jules nicht alle seine Geschichten glaubte. Manches war sicher Prahlerei, aber die Art und Weise, wie er über unscheinbar feine und feinste Verhaltensweisen und Äusserungen seiner weiblichen Bekanntschaften nachdachte, welche Folgerungen er für sein eigenes Verhalten daraus ableitete, wie er dessen Wirkung, die dadurch angeschubste Entwicklung von Liebesbeziehungen beschrieb, übte auf Jules eine starke Anziehung aus, obwohl es ihn gleichzeitig befremdete. Wenn er Estève von sich und Fiona erzählte, hörte dieser aufmerksam zu, stellte ab und zu eine Frage, hörte wieder zu. Nie äusserte er die Art von Sprüchen und Witzen, die Jules von den Männern im Dorf zu hören bekam, wenn es um solche Themen ging. Als er ihm von seinen Bauchschmerzen erzählte, und davon, dass er sich nicht entscheiden könne, fragte Estève:
"Was meinst du damit? Wozu entscheiden? Dass du sie liebst, zumindest in sie verliebt bist, ist ja deutlich sichtbar. Dann sag es ihr halt! Was sie darauf antworten und tun wird, musst du erst mal ihr überlassen. Das ist ungewiss, ja. Aber aus Angst, sie könnte dich zurückweisen, gar nichts zu sagen, macht es nicht einfacher. Dagegen macht dein Bauch mit Recht Aufstand!"

Als Jules dem Sekretär des Brook seinen Plan bekannt gab, Ende November die Eltern im Jura besuchen zu wollen, wurde er sofort ausbezahlt und musste sein Zimmer innerhalb von zwei Tagen räumen. Edmond half ihm, eine günstige Unterkunft zu finden, wieder in Hell's Kitchen, und so hatte Jules plötzlich ein paar ruhige Wochen vor sich, mit viel freier Zeit. Er brauchte einige Tage, um seinen Rhythmus zwischen Schlafen und Wachsein wieder an denjenigen normaler Menschen anzupassen. Er hoffte, dass Fiona vor seiner Abreise noch einmal nach Manhattan käme, und dann auch Zeit für ihn fände. Thanksgiving, so dachte er, könnte so eine Gelegenheit werden, also kaufte er sich bei der Schiffahrtsgesellschaft ein Billett für die Überfahrt gleich danach.

Er hatte Glück. Mr. und Mrs. Blum gewährten Fiona über die Festtage drei volle freie Tage. Dazu erlaubten sie ihr, erst am Sonntag Abend nach Hartsdale zurückzukehren. Dann könnten sie noch zusammen die Messe in der St. Patricks Cathedral besuchen, schrieb sie. Ihre Adresse fand er erst, nachdem er ihre Karte nochmals genau angesehen hatte. Sie stand, in winzigen Buchstaben und um neunzig Grad gedreht, in der Mitte: Mr. and Mrs. O'Fallan, 115 W, 33th Str.. Das war die Adresse von Liam, dem jüngsten Bruders von Fionas Mutter. Jules war schon einmal kurz dort gewesen. Er merkte, wie die Vorfreude in ihm hochstieg. Die O'Fallens waren ausserordentlich freundliche Leute. Liams Frau war nicht viel älter als Fiona. An ihren Namen konnte er sich nicht mehr genau erinnern, so etwas wie Kiwa, oder Kuiwa (Caoimhe). Er wusste aber noch, dass der Name ganz anders geschrieben wurde als man ihn aussprach. Sie arbeiteten beide für ein grosses Schneideratelier im Viertel, er als Buchhalter und sie als Näherin. Ihre Wohnung war nicht gross, aber günstig gelegen und bezahlbar. Und da sie kinderlos waren, blieb sogar ein Zimmer frei. Sie waren beide glücklich, wenn sie Besuch hatten, wie Fiona im erzählte, das tröste sie ein wenig darüber hinweg, dass sie keinen Nachwuchs bekommen konnten.

Jules nahm an, dass für Donnertag Abend ein traditionelles Truthahnessen vorgesehen war. Sonntags wollte Fiona mit ihm zur Messe gehen, am Samstag ziemlich sicher in ein Tanzlokal. Also blieb ihm nur der Freitag, um sie mit einem eigenen Vorschlag zu überraschen. Er ging, um Rat bei Estève zu holen, an einem frühen Abend im Club vorbei, in der Hoffnung, seinen Freund zwischen Aufstehen und Arbeitsbeginn zu erwischen. Als er fast vor dem Eingang stand, kam ihm in den Sinn, es wäre besser, nicht selber nach Estève zu fragen. So schnappte er sich einen kleinen Jungen, der gerade einen der Schuhputzer ablösen wollte, die in der Nähe des Clubs auf Kundschaft warteten. Er gab ihm eine Münze, nannte ihm Estèves Namen. Er solle ausrichten, dass jemand auf der Stasse auf ihn warte. Als Jules sah, dass der Bub barfuss war, fragte er den Schuhputzer, ob er dem Kollegen schnell seine Schuhe ausleihen könne. Nachdem auch dieser seinen Teil bekommen hatte, flitzte der Junge, ohne Socken und in viel zu grossen Schuhen, die Eingangstreppe zum Club hoch. Als er vom hinter der Türe wartenden Portier hereingelassen wurde, war Jules sicher, dass seine Botschaft ankommen würde. Er musste eine Weile warten, dann kam zuerst der Junge wieder, ihm zunickend, dann erschien Estève. Er wirkte verschlafen, schien sich aber zu freuen, als er Jules sah, umarmte ihn sogar kurz.
"Du siehst gut aus! The Brook scheint dir nicht zu fehlen."
Jules schüttelte den Kopf und lachte.
"Nein, wirklich nicht. Ich habe ihn schon fast vergessen. Aber dich brauche ich, für einen Rat. Fiona kommt über Thanksgiving."
"Oh, gratuliere! Und was kann ich...?"
Jules sah sofort an Estèves gerunzelter Stirn und fragendem Blick, dass dieser sich falsche Vorstellungen darüber machte, wozu seine Kenntnisse gefragt waren. Er bereute es schon, hierher gekommen zu sein. Und obwohl er vorhatte, seine Frage nach einer passenden Abendunterhaltung kühl vorzubringen, spürte er, wie ihm die Röte in die Wangen stieg.
"Wohin würdest du eine Frau ausführen, am Freitag Abend nach Thanksgiving?"
Estève war verdutzt. Dann musste er selber lachen über sein Missverständnis.
"Ach so! Ehm..."
Wieder lachte er laut heraus. Dann sagte er, betont sachlich:
"Ich würde ins Theater gehen mit ihr. Davor, und vielleicht auch nochmals danach, etwas Kleines essen gehen. Trinken erst nachher, sonst schlaft ihr ein, wenn das Stück schlecht ist. Es wird da eine operetta gezeigt, 'The Chocolate Soldier', im Casino Theater, die wollen alle sehen. Und..., gerade fällt mir ein, darin kommt ein Schweizer vor, der den Damen den Kopf verdreht. Das würde doch passen? Die Handlung muss ziemlich wirr und kompliziert sein, aber die Musik sei gut."
Jules hat Zweifel, ob dies das Richtige sei, trotzdem fragt er nach:
"Bekommt man da noch Tickets? Wo kauft man die?"
"Ja, das ist ja erst in zwei Wochen, da sollten noch Plätze frei sein. Es läuft schon eine ganze Weile. Die Tickets kannst du direkt beim Theater kaufen, ich glaube, ab dem frühen Nachmittag ist der Kiosk geöffnet. Da bekommst du auch ein Programmheft."

Am Morgen vor Thanksgiving wachte Jules sehr früh auf. Er meinte, gar nie richtig geschlafen zu haben in dieser Nacht, auch sein Magen begann wieder zu drücken. Obwohl es noch dunkel war, stand er auf und füllte sich im Bad den grossen Krug mit frischem Wasser. Dann zog er sich nackt aus und wusch sich sorgfältig mit der Seife, die er am Vortag gekauft hatte. Er war froh, die Verkäuferin darauf hingewiesen zu haben, dass die Seife für ihn selber sei, und dass sie ihm eine ausgesucht hatte, die für einen Mann wie ihn passe, wie sie versicherte. Nun kam ihm der Duft ziemlich blumig vor, und er musste den Gedanken beisseite schieben, was man in Cornol sagen würde, wenn er so unter die Leute ginge. Er betrachtete im Spiegel seinen Körper, der ihm mager vorkam, und fragte sich, ob er schon ein bisschen älter, männlicher aussah als früher, als zuhause. Als er sah, wie sich Brust und Arme mit Hühnerhaut überzogen, wandte er sich ab und begann sich anzuziehen. Er hatte sich ein paar Hemden waschen und bügeln lassen, Jacke und Hose seines Anzugs ausgelüftet und gebürstet. Er probierte mehrmals, die Krawatte so zu binden, wie es momentan Mode war, mit einem kleinen Knoten, der zwischen den Kragenspitzen fast verschwinden sollte, darunter die Krawatte wie zufällig verdreht. Nach dem dritten missglückten Versuch band er sie so, wie er es gewohnt war. Er faltete ein Taschentuch wie Marie es ihm gezeigt hatte, und steckte es sorgfältig in die Brusttasche, so tief, bis nur ein schmaler Streifen sichtbar blieb. Als ihm einfiel, dass er die Schuhe nochmals hatte putzen wollen, zog er die Hose wieder aus, setzte sich, auf dem Schoss eine ausgebreitete Zeitung, auf den Stuhl, salbte seine Schuhe dick mit Crème ein und polierte sie anschliessend mit Bürste und Lappen, bis sich das kleine Zimmer in den Kappen spiegelte.

Er war viel zu früh an der Grand Central Station und überlegte, ob er noch einen Kaffee trinken sollte, entschied sich aber dagegen. Als ihm ein kleines Mädchen einen Blumenstrauss verkaufen wollte, zögerte er einen Moment, bevor er ablehnte, und wurde sie erst wieder los, als er anhielt, ihr direkt in die Augen sah und streng wiederholte, no thank you!

Als Fionas Zug einfuhr, wurde die Halle erfüllt von dicken Schwaden aus Rauch und Dampf, die aussteigenden Passagiere beeilten sich mit zusammengekniffenen Augen, zum Ausgangsgitter zu gelangen. Als Fiona plötzlich vor ihm stand, wurde ihm bewusst, dass er sie ganz anders in Erinnerung gehabt hatte. Eine Dame, dachte er. Aber sie liess ihm keine Zeit, streckte ihre Arme zur Seite und liess theatralisch die Taschen auf den Bahnsteig fallen. Den riesigen Hut, der auf den hochgesteckten Haaren ruhte, holte sie mit einer lässigen Bewegung herunter, dann, als sie sein sprachloses Staunen bemerkte, hielt sie den Kopf schräg, lachte ihn an und sagte, überraschend leise:
"Hello? – Jules?"
Jules erwachte aus seiner Erstarrung. Er trat auf sie zu, nahm sie in die Arme und drückte sie vorsichtig an sich. Sie hob ihr Kinn und schaute ihm erwartungsvoll in die Augen. Als er ihr zaghaft ein Küsschen auf jede Wange drücken wollte, nahm sie seinen Kopf zwischen die Hände, zog ihn zu sich heran und drückte ihre Lippen fest auf seine.
"Mhm, du riechst gut!", stellte sie anerkennend fest.
Du auch, wollte er sagen.
"Bist du gut gereist?", fragte er stattdessen.

Als Jules eine knappe Woche später mit dem Dampfschiff nach Europa fuhr, befand er sich noch immer in einem Zustand glückseliger Benommenheit. Während der drei Tage mit Fiona hatte er sein Zeitgefühl verloren, und er war sicher, dass er die ganze Dauer der Reise brauchen würde, um über die Fülle der Eindrücke nachzudenken. Er wollte auf dem Schiff möglichst mit niemandem reden, sich wieder einrenken und zur Ruhe kommen. Denn in dieser Verfassung, in der er sich fühlte, konnte er nicht im Dorf erscheinen, das war ihm klar. Man würde ihn für verrückt halten, durch den Aufenthalt in Amerika verdorben und verloren, oder, noch schlimmer, ihm von weitem ansehen, wie verliebt er war.

In seine Erinnerungen an das, was er mit Fiona erlebt hat, mischten sich immer wieder absurde Handlungsfetzen der Operette, die er mit ihr im Casino Theater gesehen hatte. Fiona sah unglaublich schön aus an dem Abend, in einem ausgeliehenen Abendkleid, er war so stolz gewesen und gleichzeitig befangen, weil er sich neben ihr wie ein Bauer vorkam, der er ja auch war. Sie hatten zwei Akte lang versucht, nicht zu laut zu lachen, über die vollkommen unwahrscheinliche Geschichte, den Namen des Schweizer Schokoladesoldaten, Bumerli, der Pralinen statt Patronen in seinem Gurt hatte, sie grosszügig an die Damen verteilte, denen dies wiederum Grund genug zu sein schien, sich in ihn zu verlieben. Die Musik war zwar ganz schön gewesen, aber weder ihm noch Fiona war die Künstlichkeit von Operettensängern vertraut, so dass sie auch während tragisch gemeinten Arien einander nicht ansehen konnten, ohne zu prusten. Die Leute um sie herum begannen sich zu ärgern, zischten und warfen ihnen böse Blicke zu. Als er gegen Ende des zweiten Aktes besonders heftig lachen musste, wollte sie ihn auf den Mund küssen. Sie stiessen mit den Zähnen zusammen und lachten nun beide. Da war es klar, dass sie gehen mussten. Diesen Moment wollte er für immer festhalten in seiner Erinnerung.

Und es gab noch andere, er ahnte eine Verbindung zwischen den Erlebnissen mit Fiona, die sich besonders tief in sein Inneres hineingewühlt hatten. Es waren Augenblicke, die ihm eigentlich hätten peinlich sein müssen, an deren Anfang die Scham bereits darauf lauerte, von ihm Besitz zu ergreifen. Wo er die Kontrolle verloren hatte und keine Möglichkeit sah, sie zurückzugewinnen. Wie jetzt auch, wo sich ihm ein geradezu lächerliches Bild aufdrängte. Er stösst eine Karrette vor sich hin, wie zuhause für den Mist, darin sitzt er selber, so, wie ihn die andern sehen, oder sehen sollten. Ein ruhiger, junger Mann, der seine Pflichten und seine Verantwortung kennt. Der vielleicht nicht sehr viel kann und weiss, aber das richtig. Und da kommt das Gefährt in Schieflage, kippt von der Planke, und alles taumelt und stürzt. Und hat nichts mehr vor sich, was ihn schützt, was die Blicke der andern von ihm ablenken könnte, der nun wie nackt dasteht.

Wie konnte es sein, dass Fiona ihn daraus rettete, wie wenn es nichts bedeuten würde, wie wenn sie die Peinlichkeit nicht sähe, oder nicht sehen wollte. Ja, sich gerade in solchen Momenten ihm zuwandte mit besonderer Zärtlichkeit, manchmal ernst, zuweilen aber auch offen belustigt. Warum wurde er durch ihr Lachen nicht zutiefst verletzt, wie erreichte sie es, ihn sogar anzustecken. Ihn einzuladen, sich mit ihr darüber zu freuen, dass man, schutzlos, nicht vernichtet, sondern geliebt wurde.

Am Abend von Thanksgiving waren sie in der engen, aber behaglichen Wohnung der O'Fallans angekommen, wo es schon wunderbar nach dem Truthahn roch, der im Ofen schmorte. Kuiwa kündigte an, dass sie noch Margaret eingeladen habe für das Essen.
"Ah, wunderbar!", hatte Fiona gesagt. "Wie geht es ihr?"
"Gut", antwortete Kuiwa, "sie wohnt noch immer ganz in der Nähe, in Timberloin, unterrichtet in der Schule an der Mulberry Street, in Soho. Es muss hart sein, aber es gefällt ihr dort."

Als Margaret vor ihm stand, wusste Jules nicht, wo er hinschauen sollte. Und als sie ihm die Hand gab und sich vorstellte, brachte er keinen Ton heraus. Warum hatte ihm niemand gesagt, dass sie schwarz war? Die ganze Zeit, seit er in Amerika war, hatte er kaum ein Wort gewechselt mit schwarzen Menschen. Er hatte gehört, dass sie in gewissen Quartieren der Stadt in der Mehrzahl waren, aber dort, wo er sich bewegt hatte, sah er sie meist einzeln oder in kleinen Gruppen. Und er hatte nichts mit ihnen zu tun gehabt. In Ohio hatten sie Laub gewischt auf Strassen und in Vorgärten. Oder sie wurden in Lastwagen auf die Felder gekarrt. Auch hier in der Stadt sah sie Jules meist in untergeordneten Tätigkeiten, als Bauarbeiter, Strassenfeger, Dienstmädchen. Im Club waren Schwarze gänzlich unsichtbar gewesen. Vielleicht hatte es welche gegeben in den Kellergeschossen, als Wäscherinnen oder Heizer, aber er hatte sie nie gesehen. Wie sich gewisse Clubmitglieder über scharze Menschen ausliessen, hatte ihn an die schlimmsten Tiraden in den heimatlichen Kneipen erinnert, gegen Zigeuner, über Fremde, woher auch immer. Und natürlich war auch immer wieder über den Aufstand von 1900 gesprochen worden wie über eine Gefahr, die immer noch da war, wobei die Clubmitglieder die Schuld an dem Konflikt ausschliesslich den negros zuschoben. Estève hatte ihm einmal eine halbe Nacht lang dargelegt, wie es wirklich gewesen sei.

Margaret stand noch immer vor ihm und wartete darauf, dass er seinen Namen sage. Fiona hatte seine Verlegenheit bemerkt, stellte sich an seine Seite und hängte sich bei ihm ein.
"Das ist unser Jules, liebe Margaret. Aus der Schweiz."
Erst jetzt konnte Jules grüssen, und Margarets fröhliche Offenheit machte es ihm leicht, sich langsam zu entspannen. Im Laufe des Abends kamen die Frauen zu Jules' Schrecken auf diesen Moment zurück und sprachen darüber, als würden sie ein vor langer Zeit begonnenes Gespräch fortführen. Margaret fand, weisse Menschen würden nach solchen Vorfällen leider zu selten Scham verspüren, dabei könne diese, wie jetzt bei Jules, dabei helfen, die Wirklichkeit so zu sehen wie sie leider sei, und wie sie verändert werden müsse. Es war schmerzhaft für Jules, auf diese Weise zum Gegenstand des Gesprächs zu werden, aber auch neu und aufregend, über das eigene Verhalten auf eine Weise reden zu hören, die nicht nur einen, sondern viele Wege aufzeigte, es anders, besser zu machen. Wenn beichten so ginge, dachte er.
"Hat eigentlich jemand ein lobendes Wort für den Truthahn übrig?", hatte Liam gefragt, und man beschloss, jetzt erst einmal anzustossen und das Essen zu geniessen. Jules spürte, wie Fiona ihn ansah. Als er ihren Blick erwiderte, hatte sie das Glas noch einmal gehoben und leise gesagt: "Auf dich!"

Liam und er hatte nicht sehr viel beitragen können zu den oft hitzigen Gesprächen der Frauen an jenem Abend. Kuiwa war eine überzeugte Suffragete, aktiver in der Bewegung noch als Florent Stöcklis Frau Alice, wie es schien. Als sie auf die Suffrage Parade vom Februar vor zwei Jahren zu sprechen kam, auf Maud Malones Ansatz des frechfröhlichen öffentlichen Protests, wusste Jules wenigstens, wovon sie redete. Er hatte diesen Marsch für das Frauenstimmrecht gesehen, war sogar ein Stück weit mitgegangen, denn die grosse Mehrheit der Menschen in dem Umzug waren Männer gewesen. Am Anfang hatte er gar nicht begriffen, worum es ging, bis er kleine Grüppchen von Frauen entdeckte, die mittendrin marschierten, ab und zu Forderungen nach dem Stimm- und Wahlrecht skandierten, die meisten wirkten fröhlich, als hätten sie den Kampf schon gewonnen. Längst nicht alle der mitlaufenden Männer gingen mit den Frauen einig, das war deutlich zu sehen, viele machten sich lustig, oder sahen in dem Ganzen einfach einen Anlass, etwas Aufregendes zu erleben. Ohne es zu wollen, und wohl auch ohne es zu verstehen, verliehen sie dem Marsch der Suffrageten aber eine beeindruckende Wucht, dass musste Jules zugeben. Und die Wirkung konnte man am nächsten Tag an den Bildern und Schlagzeilen ermessen. Viele Kommentare lobten die Schlauheit der Frauen, die durch eine aussergewöhnliche und dabei friedliche Form, ihre Forderungen zu äussern, die Öffentlichkeit für sich gewonnen hätten. Margaret stand den Bemühungen weisser Suffrageten, die in letzer Zeit vermehrt versuchten, Gruppierungen schwarzer Frauen in ihre Bewegung zu integrieren, sehr skeptisch gegenüber. Sie fand, der Kampf um Gleichbereichtigung der schwarzen Bevölkerung, schwarzer Männer, Frauen und Kinder, habe Vorrang vor demjenigen für das Frauenstimmrecht, während Fiona und Kuiwa der Meinung waren, die Einführung des Frauenstimmrechts könne auch die Sache der farbigen Menschen voranbringen. Sie waren sich nicht einig geworden an dem Abend.

Und da ist der Samstag Abend, an dem sie tanzen gehen wollten. Steht er vor der Wohnung der O'Fallans, diesmal mit Blumenstrauss. Fiona öffnet die Tür, steht vor ihm in Unterwäsche, sommersprossige Haut, weisse Spitzen, dunkle Strümpfe. Sie zieht ihn lachend hinein und schliesst die Tür. Dreht sich um und lehnt sich dagegen.
"Na? – Wir sind allein, keine Angst."
"Ja, das sieht man."
Er versucht, einen klaren Kopf zu bewahren. Was geschieht jetzt? Ein grosses Durcheinander, ein Doppelleib, verwickelt in sich selber, in Bändel, Häkchen, Stoffröhren, Haare, Kissen. Das schnauft und zittert, schaukelt und fällt, lacht und weint. Pendelt aus, und rollt auseinander. Und dann? Sagt sie, in fröhlichem Ton:
"Ist nichts passiert! Wir haben gut aufgepasst."
Wie soll er das jemals vergessen? Aus dem Tanzabend war nichts geworden. Sie halfen einander beim Anziehen wie zwei Kinder. Jules schnürte zum ersten Mal in seinem Leben ein Korsett, "nicht so fest!", und dann waren sie, eng aneinander geschmiegt, durch die nächtliche Midtown spaziert, fanden irgendwo ein Lokal, in dem sie sitzen konnten, und trinken. Und reden.

Am Sonntag Nachmittag, als sich der Abschied näherte, hatte sich Jules' Magen wieder gemeldet. Sie waren spazieren gegangen im Riverside Park, Fiona sollte am Abend wieder nordwärts nach Hartsdale fahren, Jules würde schon am Dienstag das Schiff besteigen. Noch konnten sie sich gemeinsam an die vergangenen Tage erinnern. Fiona spürte Jules drohende Niedergeschlagenheit und versuchte, ihn durch kleine Spässe aufzuheitern. Als ihnen zwei Damen in sehr engen hobble skirts entgegentrippelten, verlangte Fiona Jules' Krawatte, band sie sich unterhalb der Knie um die Beine und imitierte den durch die Mode behinderten Gang der Frauen auf so witzige Weise, dass Jules seinen Kummer für den Moment vergass. Es war ungewöhnlich warm, sie setzten sich in der Sonne auf eine Bank, sie hatte seinen Arm genommen und ihn sich um die Schulter gelegt. Sie waren davor am Grab des amiable child vorbeigekommen, ein Parkbesucher erzählte ihnen ungefragt die Geschichte dazu. Von einem Jungen, der mit fünf Jahren zu Tode gestürzt war, und dem sein Vater in der Nähe des Unfallortes, damals, im achtzehnten Jahrhundert, noch auf dem Familiengrundstück, eine kleine Gedenkstätte errichtet hatte. Fiona war von Mitgefühl mit den doch so lange verstorbenen Eltern des Kindes überwältigt worden und hatte tatsächlich ein paar Tränen verdrückt, was wiederum für Jules eine Gelegenheit gewesen war, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten. Als nun eine Pause entstand, begann Jules zu erzählen, dass ein Jahr vor seiner Geburt ein kleiner Bruder gestorben sei, mit nur drei Monaten, an Keuchhusten. Dieser habe auch Jules geheissen. Fiona blieb still. Jules sah sie von der Seite her an. Ihre Stirn war gerunzelt und sie sah ins Leere. Er liess sie nachdenken. Schliesslich begann sie, mehr zu sich selbst:
"Dann warst du ein Ersatzkind. Ich kannte mindestens zwei solche bei uns im Dorf."
Dann, nach einer weiteren Pause:
"Dass Eltern nach dem Verlust eines Kindes bald wieder eines haben möchten, die Lücke schliessen wollen, kann ich verstehen. Aber warum ihm denselben Namen geben? Man kann ein Kind nicht durch ein anderes ersetzen, oder? Was fühlt ein Kind, wenn es merkt, dass es ein Ersatz sein soll, nur ein Ersatz. Hast du das gemerkt?"
Darüber hatte Jules schon oft nachgedacht.
"Ich glaube, ich habe manchmal gemerkt, wenn Maman von mir sprach, also, ich meinte, sie spreche von mir, weil sie sagte, Jules hat dies gemacht oder jenes, dass es nicht um mich ging. Vielleicht, weil sie mich dazu nicht anschaute."
"Machte es dich traurig?"
"Ich verstand es nicht. Vielleicht wurde ich traurig, weil sie traurig schien, ja."
Und da hatte er es aussprechen können.
"Jetzt bin ich traurig. Ich vermisse dich schon. Wirst du auf mich warten?"

Jules sah aufs vorbeiziehend Meer hinaus und versuchte, an Cornol, an die kommenden Tage mit den Eltern und mit seinen Schwestern zu denken. Aber Fiona schob sich wieder zwischen seine Gedanken, die Pause, die nach seiner Frage entstanden war, dann die Antwort. "Werden wir in Amerika bleiben? Oder werden wir zu unseren Eltern zurückkehren, wenn sie uns brauchen? Ich weiss nicht, was aus uns werden wird, Jules. – Aber im Januar werde ich noch da sein!"