Samstag, 13. März 2021

dazwischen

Am vierten Dezember 1910, am Sonntag, an dem Jules in Cornol ankam, hatte es schon seit über einer Woche geregnet. Mitten am Tag war es dunkel und kalt, der Himmel grau verhangen. Man wusste nicht, waren es Wolken oder Nebelschwaden, die vom Wind übers Dorf getrieben wurden. Die weisse Nässe staute sich am Taleingang und verhüllte den Blick auf die Höhen der Caquerelle.

Jules stand tropfnass in der engen Küche, die verstellt war mit den schwarzen Silhouetten seiner Lieben, von Papa und Maman, und von allen vier Schwestern. Nur Joseph, der älteste Bruder, fehlte. Jules wurde von allen Seiten umarmt, mit trockenen Tüchern traktiert, befragt und bestürmt. Man zog im die Schuhe aus und stopfte sie mit Zeitungen, wärmte ihm Hände und Füsse in Becken mit heissem Wasser, braute ihm Tee und reichte ihm Schnaps dazu. Man hatte den Ofen schon am Nachmittag eingeheizt, jetzt war es warm, fast heiss, in der Stube, und die Luft war erfüllt vom Duft des Schmorbratens, köchelnder Rotwein, Zwiebeln, Gewürznelken, Lorbeer. Jules bekam Kopfschmerzen. Wo sollte er beginnen mit Erzählen, wem sich zuerst zuwenden? Etwas in ihm machte sich ganz klein, liess sich fallen in die Ursuppe der Familie, ins Gehäuse seiner Kindheit. Ein anderer Teil wollte sich davonmachen in die Höhe, westwärts über das graugrüne Wasser, und landen auf einer Parkbank in der grossen, lauten Stadt.

Er hatte vergessen, was Stille ist. In der Nacht wurde er geweckt vom Glockenschlag. Er stand auf und öffnete das angelehnte Fenster. Der Regen hatte aufgehört, es tropfte und tröpfelte überall, und von überall her. Das Rauschen des Bachs legte einen feinen Teppich darunter. Sonst war nichts zu hören, keine kreischenden Bahnräder, keine Motoren, kein Pferdegeklapper, weder Hupen noch Sirenen noch Fetzen von Musik. Keine Menschenstimmen. Nur die Geräusche des fliessenden und fallenden Wassers. Durchsichtige Klangwelt. Als er seinen Vater im Nebenzimmer husten hörte, fiel ihm ein, weshalb er eigentlich hierhergekommen war, und er nahm sich für den nächsten Tag vor, mit Papa zu reden.

Er stand früh auf, seine Arbeitskleider musste er suchen, fand sie schliesslich, gewaschen, geflickt und ordentlich zusammengefaltet, im Kasten. Er trank seinen Kaffee im Stehen, obwohl ihn Maman drängte, sich zu setzen und richtig zu frühstücken. Aber er wollte in den Stall, mit Papa die Kühe melken, denn er wusste, dass es beiläufig, beim Arbeiten, am wahrscheinlichsten war, dass dieser etwas von sich preisgab. In der Kneipe am Stammtisch, oder auch zuhause, wenn Gäste da waren und er also genügend Publikum hatte, konnte Jules' Vater zum grossen Unterhalter und Erzähler werden, witzig, redegewandt. Von ihm selber, von dem, was in seinem Inneren vor sich ging, erfuhr man jedoch wenig.

Es war dunkel und warm im Stall. Als Jules eintrat, sass Papa mit dem Rücken zu ihm bei einer der Kühe, den mit einer Kappe bedeckten Kopf gegen deren Flanke gedrückt. Er sah klein aus, sein Rücken war gekrümmt, das einzelne Holzbein des Schemels stand gefährlich schräg. Seine Arme bewegten sich nicht, Jules hörte auch kein Geräusch. Offenbar hatte er aufgehört mit dem Melken, oder noch gar nicht begonnen.
"Papa? – Wie geht es dir?"
Der Vater schreckte hoch, streckte den Rücken, und wäre beinahe mit dem Stuhl umgefallen. Jules machte einen Sprung, stützte ihn mit den Knien und half ihm hoch.

Ihre Gesichter sind sich plötzlich ganz nah, Papa versucht ein Lächeln, seine Stirn, die Augenwinkel und Wangen überziehen sich mit tausend Falten und Fältchen. Die Kappe liegt am Boden, der silbergraue Haarschopf steht wie eine Bürste auf dem Scheitel. Jules muss seinen Vater in die Arme zu nehmen und an sich drücken. Als er zu hüsteln beginnt, schiebt er ihn von sich, schaut ihm in die Augen und fragt:
"Was ist mit dem Husten?"
"Er ist nicht schlimm, aber lästig. Ich kann nicht aufhören damit. Die Frauen machen sich Sorgen, dass es die Schwindsucht ist."
"Und was meinst du, was es ist?"
"Ach, ich weiss nicht. Es gab halt wieder Fälle im Dorf. Stouders Albert ist gestorben, und eines der Choulat-Mädchen musste nach Heiligenschwendi in die Kur. Wir haben einen neuen Doktor hier, der redet die ganze Zeit von Tuberkulose, macht den Leuten nur Angst, wenn du mich fragst. Wir sollen unsere Hände waschen, und keine rohe Milch mehr trinken. So in der Art. Die grüne Fee darf man ja schon länger nicht mehr trinken, hast du die Plakate gesehen, gegen das Verbot...?"
Jules unterbricht ihn.
"Muss ich hierbleiben, Papa?"
"Nein! Nein, wo denkst du hin! Ich komme zurecht, bin halt langsam. Aber das kommt schon wieder. Und Marie will ja noch ein wenig bleiben."
Jules ist überrascht.
"Das wusste ich nicht. Was ist ihr Plan?"
"Berthe will ja unbedingt auch nach Amerika, die macht uns schon lange verrückt damit. Aber sie ist erst achtzehn, wir finden, sie soll noch ein wenig warten. Vielleicht in einem Jahr. Dann könnte sie mit Marie zusammen reisen."

Mit Marie und Augustine unternahm Jules einen langen Spaziergang, als es wieder trockener war. Die Schwestern hatten beide viel zu erzählen, und er konnte sie dabei beobachten. Er staunte, wie sehr sie sich verändert hatten. Zwar hatte er Marie in Manhattan einige Male getroffen, dabei war ihm aber nicht aufgefallen, dass sie die weiche Sanftheit, die sie als junges Mädchen wie ein Kleid getragen hatte, fast vollständig abgelegt hatte. Oder verloren. Sie begann, Maman zu ähneln, man ahnte einen strengen Ernst in ihren noch immer jungen Zügen. Und auch in ihre Äusserungen mischte sich manchmal ein Ton, der ihn zu Widerspruch reizte. Sie war nicht besserwisserisch, wie das ältere Schwestern halt so sind. Es war mehr so, dass zwischen und hinter ihren Worten strikte moralische Prinzipien aufblitzten, die nicht zu beachten, oder gar, nicht zu kennen, für sie undenkbar war. Er befürchtete, dass sie seinen Plan, schon sehr bald, vielleicht schon in zwei Wochen, nach Amerika zurückzukehren, ganz und gar missbilligen würde. Das war aber zu seiner Überraschung nicht so. Vielleicht, so dachte er, wollte sie das Opfer und die damit verbundene Anerkennung, dem Vater zuliebe die lange Reise auf sich genommen zu haben, nach Hause gekommen und bereit zu sein, die Mutter zu unterstützen, nicht mit ihm teilen.

Er verscheuchte den Gedanken und hörte wieder zu, wie Marie der Schwester von ihren Erfahrungen im Home Jeanne d'Arc, in der Kirchgemeinde von St. Vincent de Paul und in der Kleidermanufaktur erzählte. Vieles kannte er, aber Augustine hatte eine unerschrockene Art, Fragen zu stellen, und so erfuhr er auch Neues. Zum Beispiel, dass Marie grosse Mühe hatte, Englisch zu lernen. Zwar hatte sie es mit Abendkursen versucht, die sie aber wieder aufgeben musste, weil sie nach zwölf Stunden an der Nähmaschine einfach zu müde war. Auch bewegte sie sich die meiste Zeit unter französisch sprechenden Menschen, sowohl im Heim als auch in der Kirche, und selbst in der Firma waren die frankophonen Arbeiterinnen in der Mehrzahl. So fehlte die Notwendigkeit, die neue Sprache zu lernen, ebenso wie die Gelegenheiten, zu üben.
"Bist du glücklich?", fragte sie Augustine.
Marie schwieg etwas zu lange. Dann sagte sie:
"Die Arbeit gefällt mir sehr. Wir machen Kleider in guter Qualität. Ich verdiene nicht sehr viel, aber genug. Ich kann Maman und Papa etwas abgeben, das macht mich stolz."
"Hast du Freundinnen? Einen Freund?"
Marie überhörte die zweite Frage.
"Ich habe viele Freundinnen, ja. Wir helfen einander, und wir organisieren die Feste und Wohltätigkeitsveranstaltungen der Kirche gemeinsam. Und wir beten zusammen."
Augustine zwinkert Jules zu. Begann dann, ihre Basler Geschichte zu erzählen.
"Ich soll euch grüssen von Joseph, er ist jetzt an der Burgfelder Grenze. Wir sind letzte Woche zusammen spazieren gegangen. Er hatte mir auf einer Karte geschrieben, er werde mich um drei Uhr abholen bei den Van Baerles."
Sie verstellte ihre Stimme.
"Bitte versuche, zu diesem Zeitpunkt bereit zu sein."
Sie lachten alle drei.
"Er ist immer noch der gleiche!", fand Augustine.
Dann berichtete sie von der Familie Van Baerle, bei der sie zu den Kindern schaute und im Haushalt mithalf, dabei Deutsch lernte. Die Herrschaften würden konsequent in dieser Sprache mit ihr verkehren, obwohl sie sehr gut französisch könnten, fast besser als sie. Am Anfang war es hart gewesen, aber sie sei dankbar, und sie lerne schnell auf diese Weise. Die Baerles nähmen sie zu Ausflügen mit, auch in Museen und Konzerte. So lerne sie die Schweiz kennen, und gewöhne sich langsam an das, was die Van Baerles Kultur nannten, finde sogar ab und zu Gefallen daran.
"Hast du einen Freund'", stellte nun Jules die Frage.
Augustine lachte.
"Ich habe nicht viel Zeit und wenig Gelegenheit, junge Männer zu treffen. Aber ich habe schon einen kennengelernt, oder zwei?, die mir gefielen. Beide schweizerdeutsch, denkt nur! Was Papa und Maman dazu sagen würden!" Diesen Gedanken fand auch Marie lustig.

Augustine hatte ihre Erzählung in fast reinem Französisch begonnen, dann meldete sich der Patois über einzelne Wörter und Wendungen zurück, und ihr Ausdruck wurde noch lebhafter. Es schien ihr gut zu gehen. Sie war voller Energie, eine selbstbewusste, humorvolle Frau geworden. Für Jules war es keine Frage, dass sie einen guten Mann finden, sich auch nur mit einem solchen zufrieden geben würde. Sie machten Halt und beschlossen, den gleichen Weg zum Dorf zurück zu nehmen. Erst jetzt, wo sie auch länger schwiegen, sah Jules die Schönheit der heimatlichen Umgebung. Ein Spruch, den er nie verstanden hatte, kam ihm in den Sinn: L’aimoué rend aiveuye èt pe l’bôs r’bèye les euyes, die Liebe macht blind, und dann öffnet der Wald die Augen. Sie kamen durch ein lichtes Waldstück mit vielen Buchen. Ihr Laub hatte sich zu einem dunklen Goldton verfärbt, hing aber noch zum grössten Teil an den Ästen und Zweigen. Als die Sonne eine Lücke fand und die Geschwister jäh geblendet wurden vom Gegenlicht, mussten sie anhalten. Sich vergewissern, dass die andern von demselben Glitzern und Glühen überschwemmt wurden. Als Jules in den Schatten eines dicken Stamms trat, um seinen Augen eine Pause zu gönnen, bemerkte er, dass er in einem grossen Fleck von Totentrompeten stand. Sie knoteten Maries Kopftuch zu einem Beutel und füllten ihn, froh, der Mutter etwas mitbringen und dem Spaziergang einen Anstrich von Nützlichkeit verleihen zu können.

Von Edmond bekam Jules ein Telegramm, das grosse Aufregung im Hause Chiquet verursachte. Ein junger Postpraktikant überbrachte es, gegen Abend, mit dem Velo. Jules musste die Botschaft am Stubentisch vorlesen:
EXPECTING YOU EARLY JANUARY IN 156 HILLCREST ROAD, HO HO KUS STOP TELEGRAPH APPROXIMATE ARRIVAL DATE STOP EDMOND
"Anfangs Januar? Dann muss du ja schon bald wieder abreisen!", rief Berthe aus, mit dramatisch klagender Stimme.
"Wirst du Weihnachten nicht mit uns feiern?", fragte die Mutter leise. Als er nicht gleich Antwort gab, drehte sie sich ab und ging, vor sich hin grummelnd, in die Küche. Er eilte ihr nach, und obwohl er wusste, dass er sie nicht werde beruhigen können, versuchte er ihr seinen baldigen Aufbruch zu erklären.
"Schau, ich wusste es auch nicht. Edmond hatte nur gesagt, ich müsse anfangs Jahr zurückkehren, er hat für mich eine gute Stelle in Aussicht. Jetzt ist es halt schon bald soweit, und ich sollte diese Gelegenheit wirklich packen. Ich werde euch Geld schicken können."
Maman klapperte mit Töpfen herum und drehte ihm den Rücken zu.
"Ich werde euch auch wieder besuchen, versprochen. Und Marie..."
Er gab es auf, bleib noch eine Weile in der Küche stehen. Ging dann wieder in die Stube, zu den andern. Berthe war laut und eifrig daran, ihre eigenen Absichten bezüglich Amerika in Erinnerung zu rufen. Papa hatte offenbar dem damit verbundenen Zeitplan widersprochen.
"Aber in einem Jahr, das hast du einmal gesagt!", insistierte sie.
Papa wurde streng:
"Nicht in diesem Ton, ma baîchatte! Du wirst uns noch früh genug verlassen."
Berthe schnaubte, sprang von ihrem Stuhl hoch und rannte aus der Stube, Clara ging ihr hinterher. Papa war wütend.
"Da seht ihr es! Sie beginnt auch schon Clara den Kopf zu verdrehen. Aber die beiden sollen ruhig noch eine Weile weiterlernen in der Fabrik, und Maman helfen. Man hört schliesslich auch dies und das, was mit jungen Frauen passieren kann in New York."
Marie hatte bisher geschwiegen, musste nun aber auch etwas sagen.
"Das kommt auch darauf an, wie sich die Frauen benehmen, und mit wem sie sich einlassen. Sollte Berthe in ein, zwei Jahren auch nach Amerika kommen, werden wir gut auf sie aufpassen, nicht wahr, Jules?"

Jules ging am nächsten Morgen auf die Post und telefonierte mit der Basler Agentur. Sie meinten, sein Reisewunsch sei etwas kurzfristig, es fahre aber ein Schiff, La Lorraine, das am vierundzwanzigsten Dezember von Le Havre aus losfahre und rund um Neujahr in New York ankomme. Es sei bei vielen Passagieren natürlich nicht so beliebt, über die Festtage zu fahren, für andere aber wiederum ein begehrtes Erlebnis, Weihnachten auf hoher See zu feiern. Und die Transat würde ihren Gäste an Bord auch ein würdevolles Fest bereiten. Er werde sehen. Ob man ihm das Ticket reservieren und schicken solle? Jules überlegte einen Moment und sagte dann:
"Ja, sie können es auf meinen Namen buchen. Ich werde es aber bei Ihnen in Basel abholen und von dort aus reisen."
Es war eine spontane Idee, und er wusste nicht, ob sein Bruder Zeit haben würde, ihn zu treffen.

Mit Berthe und Clara konnte er einmal in Ruhe reden, als er sie nach Pruntrut begleitete. Sie standen sehr früh auf, gingen zu Fuss auf der Landstrasse nach Courgenay und nahmen dort den Zug. Er hatte verschiedenes zu besorgen und versprach, sie am Abend wieder bei der Hutfabrik abzuholen. Er war überrascht, wie intensiv sich nun auch Clara mit dem Gedanken befasste, nach Amerika auszuwandern, und wie viel seine Schwestern über New York und das Land wussten, viel mehr als er, so schien ihm. Clara fragte ihn über die Penn Station aus, über den grösste Bahnhof der Welt, wie sie meinte. Der sei doch mit einem grossen Fest eingeweiht worden, zusammen mit den neuen Tunnels und Brücken, kurz bevor er abgereist sei. Ob er an der Einweihung dabei gewesen sei, am siebenundzwanzigsten November. Jules gab es einen Stich.
"Nein, das habe ich verpasst. Da war ich im Riverside Park."
Die Schwestern musterten ihn argwöhnisch von der Seite.
"Und? Mit wem? Was hast du dort so wichtiges gemacht?", fragte Berthe, die dunklen Brauen erwartungsvoll hochgezogen.
Als er nicht gleich antwortete, begannen sich die beiden anzustubsen.
"Er hat eine Liebste!", kreischte Berthe.
"Schau, wie er rot wird!", rief Clara und kicherte.
"Wie ist sie? Ist sie schön?", wollte beide wissen.
Jules hatte keine Lust, seinen Schwestern von Fiona zu erzählen, aber es half nichts. Und so versuchte er, ihre Neugier so weit zu befriedigen, dass sie wieder Ruhe gaben, und ohne allzu viel von sich preiszugeben. Er merkte auch, dass ihm ihre naive Lust an der sensationellen Neuigkeit gut tat, die freundschaftlichen Sticheleien brachten ihn zum Lachen und hinderten ihn daran, in selbstmitleidiges Grübeln zu versinken. Sehr interessiert waren sie, als er von Alice Stöckli, von Kuiva und Margeret erzählte, und von deren Engagement für die Sache der Frauen.
"Die würden uns umbringen im Dorf, wenn wir einen Marsch für das Frauenstimmrecht organisiernen würden", war Clara fest überzeugt. Berthe war derselben Meinung.
"Auch Maman und Papa kannst du nicht damit kommen. Eine Souffragette!? Pah! Das ist die schlimmste Sorte, fast noch schlimmer als die apostates!
Berthe wurde wieder ernst.
"Was meinst du, wie es Marie geht, drüben? Sie muss hart arbeiten als Näherin, glaube ich. Aber sie kann die Sprache nicht, da ist es schwer, etwas anderes zu finden."
Jules konnte wenig dazu sagen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er sich kaum um Marie gekümmert hatte bisher.
"Sie hat Augustine viel erzählt. Offenbar findet sie Halt in der Kirchgemeinde, dort schaut man zueinander.
Für Jules unerwartet murmelte Berthe vor sich hin:
"Der Liebe Gott soll euch beschützen!"

Es liess sich nicht vermeiden, dass Jules mit seinem Vater zusammen dessen Lieblingskneipe einen Besuch abstattete. Er schob es mit Ausreden so lange hinaus, bis schon fast wieder seine Abreise bevorstand. Als sie eines Abends im Boeuf auftauchten, wurde es genau so, wie er vorausgesehen und befürchtet hatte. Statt mit seinem Namen, wurde er mit 'Amerikaner' angesprochen, man nötigte ihn, englisch zu sprechen. Er musste angeben, wie viel er verdiene. Dass er die Stelle verloren hatte und eine neue suchen musste, verschwieg er. Er trank mehr, als er wollte und ihm guttat, und er war fast froh, als der Vater begann, seine üblichen wilden Geschichten und Spässe zum Besten zu geben, und ihn die andern zu vergessen schienen. Doch dann begann einer, ihn nach seiner Freundin auszufragen. Natürlich hatten Berthe und Clara ihren Mund nicht halten können, aber es kam nicht darauf an, auch über das Ausbleiben einer solchen Nachricht hätten sich die Leute im Dorf das Maul zerrissen. Jetzt hatte er jedoch genug, stand auf, grüsste alle und machte sich, leicht schwankend, auf den Heimweg. Er hatte Kopfschmerzen, und Sehnsucht nach Fiona.

Zum Abschied sollte es Kaninchenbraten geben, das war Mamans Wunsch. Zwei Tage davor schlachtete man das Tier. Jetzt, wo Jules da war, sah niemand einen Grund, weshalb nicht er dies tun sollte, wie er es schon musste, seit er zehn Jahre alt war. Papa tat es nicht gern, und deshalb auch nicht gut. Er zögerte beim Zuschlagen, oder hielt das Kaninchen nicht richtig fest, was zu schlimmen Szenen führen konnte. Jules brauchte Zeit zum Vorbereiten. Beim Zurechtlegen der Geräte und Gefässe bereitete er sich innerlich auf den konzentrierten Zustand vor, der beim Schlachten unabdingbar war. Als erstes stellte er mit Papa zusammen den Tisch auf den Rasen hinter der Küche und sorgte dafür, dass er nicht wackelte. Dann suchte er die drei Messer zusammen, füllte Wasser in die Wanne unter dem Schleifstein und schliff die Klingen grob vor, zog sie dann auf dem feinen Kalkstein ab, bis er sich die Haare auf dem Unterarm damit rasieren konnte. Den Schlagstock holte er aus seinem Versteck, denn der war das Wichtigste. Ein abgesägter Spatenstiel aus Esche, mit einem dicken Ende und einem eiförmigen Abschluss dort, wo er nicht aus der Hand rutschen durfte. Er bat Clara, einen Eimer mit sehr heissem Wasser zu bringen, damit er sich die Hände zwischendurch waschen und auch die Messer abspülen konnte. Ein flaches Becken für das Blut wurde unter den Tisch gestellt. Was brauchte er noch? Den Haken zum Aufhängen und Ausnehmen. Er vergewisserte sich, dass der Nagel an dem herausstehenden Balken noch da war und festsass. Das Kaninchen zappelte zuerst, als er es aus dem Stall nahm, beruhigte sich aber, als er es sich auf den Arm setzte, es an sich drückte und und streichelte. Er stellte es auf den Tisch und strich ihm mit der linken Hand mit viel Druck über Kopf und Rücken, so dass es sich niederkauern musste. Dann fasste er es an den Ohren und drückte seinen Kopf nach unten auf den Tisch. Er redete sanft auf das Tier ein, nahm den Schlagstock, zog ihn hoch. Zielte genau, und schlug zu.

Vor dem Abschiedsessen half er der Mutter beim Schälen der Kartoffeln. Sie sassen auf der Holzbank im Flur, wo es, bei geöffneter Haustür, heller war als in der Küche. Zwischen sich ein grosses Blechbecken für die Schalen, auf dem Schaft darüber stand der Kessel für die geschälten Kartoffeln. Wenn Jules mit einer fertig war, warf er sie dicht an Mamans Kopf vorbei in den Kessel. Beim ersten Mal war sie zusammengezuckt und hatte ihn einen Moment lang böse angeschaut, jetzt schien sie es mit Humor zu nehmen. Sie sprachen wenig, zweidreimal seufzte sie auf, sichtbar übertreibend, wie er feststellte. Er wollte glauben, dass sie sich mit seinem vorzeitigen Aufbruch abgefunden habe. Als sie fertig waren, und er aufstehen wollte, hielt sie ihn an der Schulter fest, zeichnete ihm das Kreuzzeichen auf die Stirn und sprach ihre Formel: "Der gnädige Gott soll dich schützen!"

Am zweiundzwanzigsten Dezember bestieg er in Pruntrut den Zug nach Basel. Er wusste immer noch nicht, ob er seinen älteren Bruder würde treffen können.

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