Donnerstag, 28. Mai 2020

fliegende Dinge


An einem Herbstnachmittag blies die Bise heftig, und ich sah am Himmel über unserem Quartier einen Drachen. Er erschien mir rund, hatte einen sehr langen Schwanz mit kleinen Papierschlipsen dran, die er mit seinem leichten Hin- und Herschwanken in eine wunderschöne Schlangenbewegung versetzte. Ich wollte unbedingt wissen, von woher der Drache aufgestiegen war, und wer dieses Meisterwerk in Flugkünsten vollbrachte, und machte mich auf den Weg, kreuz und quer durch die Strassen der Nachbarschaft. Es war nicht einfach, den Standort des Drachenfliegers zu ermitteln, denn die Schnur war kaum zu sehen, und ich hatte sie zuerst auf einer direkten, schrägen Verbindung zum Boden gesucht, sah aber dann, dass sie vom Drachen fast senkrecht nach unten und, in einem immer flacher werdenden Bogen, zur Erde führte. Schliesslich fand ich eine Gruppe von Kindern, die auf einer Nebenstrasse im Kreis standen und nach oben schauten, mitten drin ein älterer Bub mit einer dicken Schnurrolle. Ich stellte mich zwischen die kleinen Zuschauer und hörte ihren Fragen zu, die der junge Fachmann mit betonter Geduld beantwortete, den Blick immer himmelwärts gerichtet, ab und zu etwas Schnur gebend oder einholend. Der Drache war selbst gebaut, mit ein wenig Hilfe des älteren Bruders. Er war achteckig, nicht rund, was ich erst jetzt sehen konnte, obwohl er inzwischen noch weiter gestiegen war. Die Schnur sei ein Kilometer lang, behauptete der Drachenlenker, aber niemand schien ihm recht zu glauben. Das Schwierigste sei das Starten gewesen, in der Enge der Strasse, und mit den Bäumen am Trottoirrand und in den Gärten. Ich hatte noch nie einen Drachen gebaut, also hatte ich auch keine Erfahrung mit den Schwierigkeiten beim Steigenlassen, aber Drachenleichen hatte ich schon viele gesehen in den Bäumen. Manche blieben jahrelang hängen, bleichten aus und zerfledderten immer mehr, bis nur noch die Stäbe und ein paar Schnüre übrig waren. Nun fragte ein Kind, ob es die Rolle auch ein Mal halten dürfe, und sofort wollten alle, so dass eine Warteschlange entstand. Ich stellte mich an, und als ich dran war und die Rolle übernahm, klopfte mir das Herz bis zum Hals vor Aufregung. Keine Schnur mehr geben, befahl der Besitzer des Drachens, du musst die Rolle blockieren. Was für ein Gefühl, als man den Zug des Drachens spürte und es einem die Arme nach vorne und aufwärts hob. Mit dem Blick der riesigen Kurve der Schnur entlang nach oben folgen. Zu spüren, dass man für den Moment Ankerpunkt und Gebieter dieses fliegenden Tiers war. Als der Drache plötzlich stärker schwankte und begann, eine liegende Acht in den Himmel zu schreiben, nahm man mir die Rolle aus der Hand. Melken muss man, dann kommt er wieder. Und mit grossen Pandelbewegungen zog der Dachenflieger an der Leine, liess locker, zog wieder an. Der Drache stellte seine Seitwärtsbewegungen ein, stieg bei jedem Straffen der Leine senkrecht auf und schien wieder eine stabile Luftschicht zu erreichen. Hing eine kurze Zeit sogar völlig still am Himmel.

Ich weiss nicht mehr, ob es dieses Erlebnis war, das mich bewog, meinen Vater zu bearbeiten, er solle mit uns Drachen steigen lassen. Jedenfalls machte er sich eines Tages dahinter, mit meinem Bruder und mir einen riesigen Vogel zu bauen. Wenn schon, dann schon. Und, wie es typisch war für ihn, begann er das Unterfangen mit grossem Selbstbewusstsein und ohne jede Anleitung. Wie ich erst viel später beurteilen konnte, auch ohne jede Ahnung von der Kunst des Drachenbaus und -fliegens. Als Bespannung verwendeten wir ein weisses Papier ab der Rolle, das wir auf ein Kreuz aus zwei hölzernen Halbrundprofilen spannten und es dann bemalten. Es wurde ein Adler mit sicher zweieinhalb Metern Spannweite, sehr schwer und, vor allem für uns Buben, unhandlich. Durchaus schön und dekorativ anzuschauen. Aber das reicht nicht als Qualitätsmerkmal für einen Drachen, wir wollte ihn fliegen sehen. So zogen wir los und versuchten ihn auf einem Feld zu starten. Einer stellte sich hinter das Ungetüm und hielt es, aufgestellt auf den Boden, in der Senkrechten. Der andere gab einige Meter Schnur, und auf sein Kommando, bei dem der andere loslassen sollte, rannte er los. Der Vogel erhob sich kaum, der Zug auf die Schnur war ungeheuer stark und wir waren nach kurzer Zeit so ausgepumt, dass wir auf die Idee kamen, es mit dem Velo zu versuchen, diesmal auf der Strasse, die dem Feld entlang führte. Bei diesen Starts zog der Drachen stark auf eine Seite, und da er nie weit vom Boden wegkam, überschlug er sich einige Male und bekam erste Risse. Wir flickten sie tapfer mit Klebstreifen, und holten schliesslich den Vater, der uns mit dem Töff helfen sollte, das Ding hochzuziehen. Mein Bruder wusste, dass auch Segelflugzeuge mit Autos oder motorisierten Seilwinden gestartet werden, und so kam uns diese Möglichkeit naheliegend vor. Als wir die Schnur am Gepäckträger der Hummel befestigt hatten, stellten wir uns in einiger Entfernung beide hinter den Drachen, gaben das Startzeichen, und mein Vater fuhr los. Der Drachen zog hoch, dann in einer schwerfälligen Kurve wieder nach unten, und zerschellte auf dem Trottoir. Da mein Vater nicht nach hinten schauen konnte, schleifte er den Kadaver noch eine Weile hinter sich drein, bis es so aussah, als würde er ein zerissenes Leintuch hinter sich herziehen. Danach baute ich keine Drachen mehr. Ich glaubte nicht daran, dass es mir je gelingen könnte.

Ende der 70er-, anfangs der 80er-Jahre gab es erste Drachenbücher zu kaufen, und der alte Traum wurde wieder wach. Bevor der Hype einsetzte, mit Drachenläden, Drachenkursen und Drachentagen in der Region, war es nicht einfach, die geeigneten Materialien zu bekommen. Zum Beispiel Drachenschnur. Ich kam auf die Idee, in dem kleinen Fischerei-Laden nachzufragen, den es damals noch gab, am Barfüsserplatz. Es war Frühling, und ich arbeitete mich beharrlich durchs Sortiment, interessierte mich für die Zugfestigkeit und das Gewicht der Schnüre. Die Ladeninhaberin fragte mich schliesslich, etwas ungeduldig, wozu ich denn die Schnur brauche. Als ich sagte, um Drachen steigen zu lassen, wollte sie mir die Rolle nicht verkaufen. Sie regte sich darüber auf, dass man diese traditionelle Herbstangelegenheit jetzt auch vorverlege, wie die Schokoladenhasen und die Fastenwähen, die schon bald nach Weihnachten angeboten würden. Alles werde verschoben und verdreht, fand sie. Es kostete mich viel Geduld und freundliches Beharren, bis sie mir die Schnur schliesslich doch überliess.

In einem Klassenlager im Brugnasco anfangs der 1980er-Jahre baute ich mit Schülerinnen und Schülern der DMS Drachen. Es war knifflig, in der steilen Hanglage unseres Aufenthaltsortes Drachen steigen zu lassen, ohne sie alle in den Wald zu setzen. Wenn die Schnur schon sehr weit ausgerollt und der Drache hoch aufgestiegen war, befand er sich doch immer noch sehr nahe über den Baumwipfeln, und da der Wind jeder topografischen Form des Untergrundes folgte, über den er in die Höhe strich, sog er die Drachen bei Senken oder Waldlichtungen gefährlich nach unten. Einmal baute ein Schüler einen grossen Vogel, nach einem brasilianischen Modell aus einem meiner Bücher. Wir bespannten ihn mit zusammengeklebten schwarzen Plastikfolien grosser Abfallsäcke. Als er fertig war, hatte er eine Spannweite von etwa zwei Metern, und obwohl er mich an den Riesenvogel meines Vaters erinnerte, versprachen seine Form und sein geringes Gewicht mehr Erfolg. Der Drache stieg von Anfang an völlig ruhig und steil senkrecht nach oben. Wenn er den Jungen unten an der Rolle fast überflogen hatte, zog er einen Kreis und setzte, wenn er wieder flacher stand, seinen Ansteig fort. Schon bald hatte er optisch die Grösse eines Adlers oder Milans, und seine Silhouette erinnerte trotz der Abstraktion stark an einen echten Vogel. Und so erstaunte es uns kaum, als ein Milan vom Wald herflog, neugierig ein zweimal um unseren Drachen kreiste, und dann wieder abzog. Dieser war in der Zwischenzeit sehr hoch aufgestiegen und geriet in eine starke Windströmung. Bald wurde uns klar, dass er sich kaum mehr einholen liess, weil die Nylonschnur, die wir aus Kostengründen verwendeten, reissen würde. Da sich das Schullager seinem Ende näherte, schlugen die Schüler vor, wir sollten dem Drachen alle Schur geben, die wir noch hatten. Und so liessen wir den Drachen bis über die Wolken steigen. Dann riss die Schur, irgendwo in der Mitte, so dass das Gewicht des an dem Drachen verbleibenden Restes ihn immer noch im richtigen Winkel hielt. Aber nach oben gabs kein Halten mehr. Es war nur noch ein Pünktchen zu sehen, man verlor ihn aus den Augen, andere hatten ihn noch im Blick und zeigten auf Wolkenlücken, in denen sie ihn angeblich noch sahen. Er war in den schnellen Windstrom aufgestiegen, der in diesen Tagen von Süden nach Norden über den Gotthard zog.