Montag, 21. November 2022

Zeitmesser-Dinge

Als ich sah, dass meine Mutter zwei nicht funktionierende Armbanduhren an ihrem abgemagerten Handgelenk trug, beschloss ich, ihr eine neue zu kaufen. Ich fragte sie, ob sie das wolle. Sie meinte, ja, ich müsse ja nicht viel Geld dafür ausgeben. Die eine der kaputten Uhren hatte ich schon einmal zum Flicken gebracht, zum Uhrmacher, den es in der MANOR noch immer gibt. Er hat sie auseinandergenommen, geputzt, einen Dichtungsring ersetzt und die Batterie ausgewechselt. Zehn Minuten konzentrierter Arbeit mit der Lupenbrille, bei der ich ihm zusehen durfte. Es kostete knapp zwanzig Franken. Ich bedankte mich und sagte ihm, es sei schön, dass es ihn noch gebe. Die Uhr lief aber nicht lange, ging zuerst viel zu schnell, dann gar nicht mehr. Nun habe ich im gleichen Geschäft eine SWATCH gekauft, in Pastellfarben, von denen ich dachte, sie könnten der Mutter gefallen. Die Verkäuferin sagte, ich hätte zwei Jahre Garantie auf die Uhr. Gerade noch konnte ich mich zurückhalten zu sagen, dass meine Mutter vielleicht nicht mehr so lange lebe.
Ich zog ihr die SWATCH an bei unserem letzten sonntäglichen Treffen. Sie hatte wie immer sehr kalte Hände, die gleich gross und lang sind – wir habe wieder einmal verglichen – wie meine und wie die meines Bruders. Sie war zufrieden mit der Uhr, fand sie sogar schön. Wieder einmal einen funktionierenden Sekundenzeiger zu sehen, freute sie. Ihre letzten Uhren hatten keinen gehabt. Ob sie im Pflegeheim viel darauf schauen wird, weiss ich nicht. Ihr Zeitgefühl ist schwankend. Aber das ist ja auch schon meines, seit ich pensioniert bin.
Ich kann mich nicht mehr an alle Armbanduhren erinnern, die ich im Leben hatte. Die erste bekam ich zu dem seltsamen Anlass geschenkt, den die Katholiken «Firmung» nennen, was von den Protestanten dann als Konfirmation übernommen worden war, im Sinne von «stark» (lateinisch «firmus») machen der Schäfchen im Glauben. Wer genau mir die Uhr geschenkt hat, weiss ich nicht mehr. Vielleicht hatte die Mutter den Götti dazu gedrängt, der sich selten genug bei uns zeigte. Ich glaube, es war eine OMEGA, eine ziemlich zierliche, aber mit den damals üblichen, später als gesundheitlich bedenklich eingestuften Leuchtziffern. Die strahlten wirklich überirdisch im Dunkeln.
Erst mit Blick auf ein altes Foto von 1968 – damals war ich fünfzehn – kam mir wieder der Uhrbändel-Hype jener Zeit in den Sinn. Plötzlich waren breite Armbänder Mode, am besten so breit wie die Uhr selbst, die dann mit Schnallen darauf befestigt war. Das schaute man den Stars der Musikbranche ab und fand es poppig. Sie saugten sich im Sommer mit Schweiss voll und rochen bald käsig.
Bevor ich mit neunzehn nach Afrika auf Reise ging, kaufte ich mir mit eigenem Geld und einem Zustupf der Mutter eine «sportliche» Uhr, so ein Outdoor-Ding, von dem ich dachte, dass es zu Freiheit und Abenteuer gut passe. Dazu habe ich auch ein Bild gefunden aus der Zeit nach der Afrikareise. Da trage ich an der gleichen Hand die zwei je achtzig Gramm schweren Silberringe, die ich mir in Nordkamerun hatte machen lassen. Das Foto ist ein Selfie aus einem Automaten-Kabäuschen, entstanden am Tag meiner Hochzeit 1979. Die Hand hält den Kopf meiner Frau, die ich gerade küsse. Aber das ist privat.
Eine richtig teure Uhr – so wie meine Söhne, die aber auch ihre Uhren als «noch nicht so richtig teuer» bezeichnen – hatte ich nie. Einmal leibäugelte ich mit einer Taschenuhr von IWC. Das war in der Zeit, als ich eine Weiterbildung machte im Bereich Kommunikationcoachingmanagment blablabla, wo manche der coolen Dozenten eine Taschenuhr auf dem Tisch liegen hatten und ihre Seminare zur grossen Verwunderung der Teilnehmenden auf die Minute genau zu takten wussten. Das wollte ich auch können, aber zum Kauf der Uhr, die gut siebentausend Franken gekostet hätte, konnte ich mich dann doch nicht entschliessen. Vor allem, weil ich befürchtete, sie bald irgendwo liegen zu lassen und zu verlieren. Aber schön war sie, finde ich heute noch.
Jetzt habe ich seit einigen Jahren eine schwarze SWATCH für fünfzig Franken. Seit man ein Handy hat, braucht man ja eigentlich keine Armbanduhr mehr. Aber bei den Ruderregatten war es nötig, dass einer im Boot eine dabeihatte, denn pünktlich fünf Minuten vor dem Rennen muss man sich im Startraum einfinden, sonst gibt es eine Verwarnung. Und wenn man zu spät kommt, wird nicht gewartet. Jetzt fahre ich keine Rennen mehr, aber ich habe die Uhr noch immer und ich schaue auch recht oft nach der Zeit, die sie angibt. Den ursprünglichen Bändel aus weichem Silikonkautschuk habe ich ersetzen müssen durch ein Band aus Leder. Die Weichmacher im Kunststoff hatten mich zum Verrücktwerden gejuckt.

Montag, 29. August 2022

Beim Beschlagen eines Pferdes (magische Dinge 3)

Es gibt eine kolorierte Tuschezeichnung meines Vaters, welche die Beschlagung eines Pferdes zeigt. Es steht nach links, das mächtige Hinterteil im Zentrum des Bildes. Die Ohren lauschen nach hinten, unter mächtigen Wimpern bleiben die Augen ergeben geschlossen. Ein hemdsämliger Mann mit Hut hält einen Hinterhuf mit beiden Händen in die Höhe. Wie er genau zum Pferdehintern steht, wird nicht klar. Mein Vater musste da improvisieren, weil sich die Gruppe von Körpern immer wieder bewegt hat. Trotz der verwirrenden Überschneidungen wird aber deutlich, dass der Helfer des Hufschmieds seine Sache gut macht, indem er das kräftige Bein des Pferdes blockiert und damit ein ruhiges Arbeiten an dem nach oben gedrehten Huf ermöglicht. Mit welchem Schritt der Beschlagung der Schmied gerade beschäftigt ist, kann man nicht erkennen. Zu skizzenhaft hingeworfen sind seine Arme und Hände, und man kann auch kein Werkzeug wie zum Beispiel einen Hammer oder eine Kneifzange ausmachen. Klar und deutlich ist aber zu sehen, wie er sich für die Arbeit hingekniet hat, und auch seine konzentrierte Aufmerksamkeit kommt überzeugend zum Ausdruck. Höchst konzentriert erscheint auch ein kleiner Junge in kurzen Hosen, der dem Geschehen aus nächster Nähe zuschaut.
Der Bub bin ich. Ich brauche, um mich an die Szene zu erinnern, nicht auf den in schöner Blockschrift hingeschriebenen Untertitel zu schauen:
POSCIAVO . BÄRNI BEIM BESCHLAGEN EINES PFERDES 1961?
Natürlich habe nicht ich das Pferd mit einem neuen Eisen ausgestattet, wie mein Vater suggeriert, aber vielleicht hatte er beim Schreiben wie schon zuvor beim Zeichnen das selbstvergessene Verschmelzen seines Buben mit dem Geschehen im Sinn. Der Kleine steht von uns weggedreht im Vordergrund. Ein Restchen seines Profils lässt erahnen, wie er gebannt auf den Huf schaut. Den rechten Arm hält er auf dem Rücken, die Hand am Hosenboden. Vielleicht knetet er gedankenverloren den Stoff.

Der Hufschmied hat eine tragbare Holzkiste mit Lederriemen und ein paar Schubladen. Aus der untersten nimmt er die Hufeisen heraus, sucht eines aus und hält es auf den Huf. Passt nicht, also nimmt er ein nächstes. Findet schliesslich eines, das ihm richtig erscheint. Aber auch dieses muss noch ein paar Mal in die Kohlen. Er geht dazu ins Dunkel der Werkstatt, deren Tore zum Vorplatz weit offenstehen. Zieht ein- zweimal an der Kette des riesigen Blasbalgs an der Decke. Unten sprühen die Funken im Rhythmus des fauchenden Atems. Als das Eisen rot ist, wird es auf dem unförmigen Ding geschlagen, das mein Vater Amboss nennt. Die Schläge tönen dumpf, trocken und nicht nach Metall. Immer wieder geht der Schmied zum Pferd um zu schauen, ob es passt. Für den Bauer wird es schwer, das Bein solange hochzuheben, weil das Tier langsam die Geduld verliert. Plötzlich hält der Schmied das Eisen nicht mehr über den Huf, sondern drückt es darauf. Es zischt und brutzelt, sofort ist alles in bläulichen Dunst getaucht. Und wie das riecht, ein bisschen wie damals, als ich mir an einer Kerze die Haare verbrannte, aber viel strenger. Etwas zwischen gut und eklig. Dem Pferd tut es nicht weh, es ist nicht zusammengezuckt bei der Berührung, aber der Rauch macht es unruhig. Also muss der Schmied vorwärtsmachen. Er nimmt das Eisen nochmals vom Huf, kühlt es im Wasserkessel und beginnt dann, es anzunageln. Der erste Nagel geht daneben, ich sehe genau, wie er seitlich aus dem Huf herausschiesst. Dann merke ich, dass man es so machen muss. Die Spitze des vorstehenden Nagels wird mit der Zange abgezwackt bis auf einen halben Zentimeter, dann umgeklappt und mit dem Hammer im weichen Horn versenkt. Viele Nägel braucht es, ein paar fallen auf den Boden, als der Schmied im Karton kramt. Ich setze den Fuss auf einen in meiner Nähe, damit ich ihn später heimlich mitnehmen kann. Noch lange bleibt er unter meinen Schätzen. Der Kopf sieht aus wie ein geschliffener Edelstein.

Donnerstag, 25. August 2022

zum Beispiel ein Tisch (kurz)

Dinge, auch unscheinbare, können einen um Generationen überleben. Es gibt in unserem Atelierhaushalt einen kleinen Tisch aus Kirschholz, den wir beim Kauf des Hauses als eines von ganz wenigen Dingen übernommen und behalten haben. Es könnte sein, dass das kleine Möbelstück noch aus der Zeit des Architekten stammt, der das Haus für sich und seine Familie 1907 gebaut hat.
Das Tischchen sah ich zum ersten Mal als Kind, und zwar in der Mansarde des Hauses, das dann nicht mehr der Familie Gfeller gehörte, sondern einer Frau D, die darin als Witwe wohnte, zusammen mit ihrem jüngsten, geistig behinderten Sohn. Frau D war die Grossmutter eines meiner Spielkameraden, dem jüngsten Kind der Familie H, mit der meine Eltern auf eine etwas komplizierte Weise befreundet waren. Ich wurde einmal mitgenommen ins Haus der Grossmutter, und wir durften auf dem Estrich spielen, der sich, aufregend und etwas gruselig dunkel, um die Mansarde zog wie der Gang einer Geisterbahn. In einer Pause unseres Spiels führte mich mein Kamerad zu Werni. Dieser sass im schwachen Schein einer Lampe an einem kleinen Tisch und arbeitete an seinen Musikkatalogen. Aus den Broschüren eines Musikhauses schrieb er Titel um Titel akkurat ab in ein Heft, in Grossbuchstaben, auf jeder Zeile in einer anderen Farbe, und er zeigte uns sein Werk mit würdevollem Stolz. Dass diese Tätigkeit als bizarr angesehen wurde, merkte ich erst am Verhalten und an den Äusserungen der Familienmitglieder, die sich, zwar nicht lieblos, aber doch recht ungeniert, über ihren Webstübeler lustig machten.

Wernis Tischchen aus Kirschenholz ist nun ein Werktisch, an dem ich handwerkliche Arbeiten für meine Kunstprojekte ausführe. Es steht immer noch, oder wieder, auf demselben Estrich, in deren Mansarde Werni seine farbigen Listen malte. In meiner letzten Ausstellung wurde es in eine grosse Installation eingebaut. Ich habe die unaufgeräumte Situation, die ich beim Modellieren darauf angerichtet hatte, fotografiert, und in der Ausstellung mit allen Dingen, mit allen Tonbröseln und mitsamt dem Staub, wieder aufgebaut. Es hat mich erstaunt, wie sehr sich das kleine Möbel durch die Verschiebung des Kontextes in meinen Augen veränderte, und wie vollständig es sich danach wieder in das ganz normale Werktischchen zurück verwandelt hat. Ich habe Drachen darauf gebaut, für ein nächstes Vorhaben und im Moment ist es belegt mit Schachteln voller Bilder und Dokumente, die ich für meinen Roman brauchte. Mir gefällt der Gedanke, dass das Tischchen noch viel länger leben könnte als ich. Auch wenn, oder gerade weil dann niemand mehr wissen wird, wie einst Werni daran gearbeitet hat, und dass ich an einem der gedrechselten Beine ein Astloch sorgfältig mit Kirschholz geflickt habe.

Montag, 22. August 2022

Weisse und schwarze Schwäne

Es waren die von den meisten nicht vorhergesehenen Ereignisse der letzten Jahre, die den Begriff des «schwarzen Schwans» («black swan») erneut zur Diskussion stellten. Der Publizist und ehemalige Optionshändler Nassim Nicholas Taleb hatte 2007 ein Buch mit dem Titel «Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse» publiziert und darin eine Metapher des römischen Satirikers Juvenal aufgegriffen, der – als typischer Macho – die Seltenheit einer treuen Ehefrau mit diesem Tier verglichen hatte, von dem er allerdings annahm, dass es ganz und gar inexistent sei. Erst nach seiner Entdeckung in Westaustralien durch niederländische Eroberer wurde der schwarze Schwan dann zur Metapher für ein sehr unwahrscheinliches, aber eben mögliches Ereignis.
Als im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie der Vergleich vielfach in den Zeitungen auftauchte, habe ich das Buch von Taleb gelesen, das spannend beginnt, dann aber durch zu viele Wiederholungen seinen Schwung verliert. Störend sind auch die dauernden Seitenhiebe gegenüber den früheren Berufskollegen, die er als betriebsblind und der Macht der Gaussschen Kurve erlegen bezeichnet. Nach zwei Beispielen hätte man es als Leser verstanden.
Ich habe dann begonnen, mich mit dem schwarzen Schwan ganz direkt – als Bild oder Objekt – zu beschäftigen. Ich baute zum Beispiel Drachen in dieser Gestalt. Oder ich erstellte von einem kleinen Fundobjekt in der Gestalt eines Schwans eine Gussform, mit der ich dutzendfach weisse und schwarze Schwäne aus Parafin und aus Pech giessen konnte. Ich hatte die Absicht, diese irgendwann einmal im öffentlichen städtischen Raum ‘auszusetzen’.
Nun haben sich die kleinen schwarzen Schwäne ihrem Ruf entsprechend verhalten und ihre Form in nicht vorhersehbarer Weise verändert. Pech ist ein Stoff, der aus organischem Material (z. B. Holz oder Erdöl) mit dem Verfahren der Pyrolyse gewonnen wird. Dazu setzt man das Ausgangsmaterial längere Zeit hohen Temperaturen aus, aber unter Luftabschluss. Dies verhindert die Verbrennung und führt zu einer chemischen Spaltung, deren eines Produkt das Pech ist. Es fällt zunächst als Flüssigkeit aus und kann dann durch Kochen verdickt werden, bis es fest wird. Das Pech, welches ich für meine Güsse verwendet habe, bezog ich von einer Firma, die Bedarf für Silber- und Goldschmiede herstellt. In jenem Zusammenhang wird es zum Beispiel verwendet als zähplastische Unterlage von Blechen, die man durch Schläge oder Druck verformen will.
Nach dem Abkühlen wurden die schwarzen Schwäne hart. Das Material bricht sogar sehr leicht und glasig. Bei längerem Aufbewahren in Zimmertemperatur zeigte sich jedoch, dass das Pech eine Flüssigkeit geblieben ist. Die Schwäne legten alle ihren Kopf zur Seite, dann sogar auf ihren Körper, was recht anmutig aussieht. Auch der Körper fliesst, wenn auch viel unscheinbarer, in die Breite, und man ahnt, dass die Schwäne irgendwann ineinander zerfliessen würden.

Mittwoch, 20. Juli 2022

Rheingeschichten 4

Es ist kein Wunder, dass mir die Geschichte von Gerold Spät hier auf dem Untersee in den Sinn kommt. Die Wirbel, die ich vom hölzernen Heck weg in die öligglatte Fläche schiebe, haben einen schönen Abstand. Mehr als das Boot lang ist. Es läuft. Und ist so unbeirrbar im Gleichgewicht, dass man sich in aller Ruhe die Dinge vornehmen kann, die dieses Dahingleiten befördern. Die Arme zu strecken zum Beispiel, und das Wasser ganz vorne zu packen. Die Schultern dabei locker hängen zu lassen – weg von den Ohren! –, so dass die Blätter mit einem Blop! im See einrasten. Oder man kann sich – warum nicht? – an diese Geschichte erinnern. Spielt auf dem oberen Zürichsee, bei Verhältnissen wie hier. Spiegelglattes Wasser. Kaum zu sehen die sehr flachen, riesig weit ausgedehnten Täler. Und Hügel, auf deren Kuppe das Boot zur einen oder andern Seite abschmiert, dabei seine Richtung verliert und mit einseitigem Zug wieder eingerenkt werden muss. Stehen also bei solchem Wasser ein paar Buben am Ufer. Es ist heiss, der See verglitzert und verschwimmt unter der Sonne. Bildet sich plötzlich ein ungeheurer Buckel ganz weit draussen. Der zieht seitwärts weg, als ob etwas unter der Oberfläche dahinschiessen würde. Etwas unvorstellbar Grosses, Unheimliches. Was? Wohin? Die Buben rufen aus, zeigen auf den See. Werweissen. Da haut ihnen der Fischer Unschlecht die zeigenden Finger herunter. «Nicht hinschauen! Nicht einmal irionieren!» Er sagt irionieren, sie verstehen, was er meint. Dann bricht die Geschichte ab und eine nächste folgt.
Wiffen heissen die Dinger, die sie hier, und nur hier, in den See- und Flussgrund rammen, zwischen Seeausgang und dem grossen Laufen, wie der Rheinfall früher hiess. Pfosten, eigentlich Baumstämme, die im See die Untiefen in Ufernähe anzeigen und im Rhein dann die Fahrrinne für die Schiffe. Die im stehenden Gewässer sind Skulpturen. Tragen noch die Signale aus alten Tagen: grosse, flaschenbauchförmige Körbe, von Sonne und Regen schwarzgrau verfärbt. Ich sollte wieder mal den Kopf drehen, aus dem Augenwinkel nach dem andern Einer schauen, mit dem Matthias den Wiffen entlang in Richtung Seeausgang zieht. Bald werde ich froh sein, dass er die Führung übernimmt, denn als endlich auch das andere Ufer näherkommt, nimmt die Strömung Fahrt auf. Wir sind auf dem Rhein. Hier tragen die Pfosten rhombusförmige Blechtafeln, grün auf der Seite, wo die Kursschiffe fahren. Auf der weissen Seite sollten wir bleiben. Jetzt ist es aus mit dem gemütlichen nach hinten Schauen alle zwanzig Schläge. Ich zähle: eins, zwei, drei, schauen! Eins, zwei, drei, vier, schauen! Es kann sein, dass du an drei, vier Markierungen auf der weissen Seite vorbeigerauscht bist, zwischen dem nahen Ufer und den Pfosten, die vor sich einen imponierenden Wellenwulst aufstauen und hinter sich das Wasser zerquirlen zu einer sich ausbreitenden Bahn von Wirbeln. Dann kommt plötzlich keiner mehr. Aber als du richtig hinter dich schaust, siehst du das Führungsboot mit kräftigen Schlägen hinüberziehen. Weiss hat abrupt die Seite gewechselt, und du musst schauen, dass du hinüberkommst. Dich rechtzeitig vor dem Hindernis parallel zum Fluss stellst, denn was passieren würde, wenn du seitlich erwischt würdest, willst du nicht wissen. Den Film mit dem in der Mitte zerteilten Weidling schaue ich mir erst nach unserer Reise an.
Manche Strecken sind unwirklich schön. Im Wald um die Thurmündung, zwischen schwarzgrünen Wänden aus Bäumen, in deren Schatten sich Fische tummeln, so gross und zahlreich, wie ich es noch nie gesehen habe im Rhein. Wo der Gesang der Amseln widerhallt übers Wasser, laut und klar wie Stimmen in einem Kirchenraum. Da traue ich mir zwischendurch auch zu, vorauszufahren. Matthias schräg hinter mir. Manchmal können wir auch – das ist am schönsten! – nebeneinander rudern, dabei dem doppelten Rhythmus der Boote lauschen. Kulissen wie aus dem Bilderbuch ziehen vorbei: die alte Holzbrücke von Diessenhofen, das Kloster Rheinau. Müssen fotografiert werden. Die Rennstrecke vor Eglisau ist kaum zur Deckung zu bringen mit den Bildern, die ich vom Winter im Kopf habe. Wo mir der Westwind das eisige Wasser an den Rücken klatschte und ich den Riemen kaum mehr halten konnte. Jetzt: Strandbäder mit lachenden und kreischenden Kindern links und rechts.
Der Wind ist vier Tage lang unser Verbündeter! Wenn er bläst, dann vom Heck her. Ich rudere längere Stücke mit aufgestellten Blättern, um den Schub zu nutzen. Käme er von vorne, von Westen, müssten wir unsere Übernachtungen neu organisieren. Auch sonst meint es das Wetter gut mit uns, ausser an einem Nachmittag, an dem wir eine Kaltfront mit dichtem Regen und ruppigen Böen in einer Kneipe vorbeiziehen lassen. Die Boote schlummern derweil unter einer Brücke wie die Landstreicher. Dort, im Trockenen, machen wir auch meinen Einer mit Klebeband wieder halbwegs heil, nachdem ich ihn unterhalb des Koblenzer Laufens auf einen Stein gesetzt habe. Matthias wechselte an einer turbulenten Stelle überraschend die Seite, weil er eine günstigere Fahrrinne entdeckt hatte. Mir reichte es nicht mehr, aus einem weiss rauschenden, sehr niedrigen Wasser herauszufahren, da krachte es unter mir. Ich stand still, sass hinter meinem Rollsitz. Versuchte, mich loszuschaukeln, aber das Boot antwortete mit laut knackenden Geräuschen. Ich dachte: «Mist, so endet das!» Musste hinaus in die knietiefe Strömung, das Boot vom Stein herunterholen und ein paar Meter flussabwärts in tieferes Wasser ziehen. Jetzt aber gurgelte und riss es um mich herum, das Boot stand zu hoch zum Einsteigen, und schräg in der Strömung. Bockig wie ein Esel. Das erzählt sich so leicht, aber ich war nicht ruhig dabei, habe geflucht und nach Matthias gerufen, von dem ich nur noch sah, dass er zu landen versuchte, bevor er hinter der nächsten Biegung verschwand. Ich brauchte alle meine Kräfte, um das Boot gerade zu halten und mich hinaufzuhieven. Es zog Wasser, aber nicht sprudelnd, wie ich befürchtet hatte. Und liess sich eben flicken mit Tape.

Mittwoch, 23. Februar 2022

Mustererkennung (Zolligeschichten 4)

Es ist nicht verwunderlich, dass der Hl. Algorithmus meine Lust auf Tiergeschichten herausgefunden hat. Die Maschine so zu füttern, dass man das bekommt, was man will, ist allerdings anstrengend. Wenn mir danach ist, wische ich mit trotziger Ausdauer Werbung weg. Auf dem Bildchen-Austauschmarkt, der alles auf sein pseudonostalgisches Polaroidformat zurechtstutzt, muss ich auch noch mit einem zweiten Fingertupfer begründen, weshalb ich die Reklame "verbergen" möchte. Da bin ich stur und einfallslos, erkläre jede Werbung mit grimmiger Genugtuung für "irrelevant". Wenn es doch eine Einstellung gäbe, die mich ein für alle Mal befreien würde von diesem Mist! Aber sei's drum. Auf FB muss ich meistens nur noch einmal den Finger bewegen, um die Werbung zum Verschwinden zu bringen.
Um wieder zu den Tiergeschichten zurückzukehren, denn da wird es interessant: Welches Muster erkennt die Maschine wohl in meinen Bewegungen? Was ich nicht sehen will, sind Haustiere, die von ihren Besitzern vorgeführt werden, besonders wenn es sich dabei um durch Züchtung erzielte Missgeburten handelt. Katzen mit eingedrückter Nase und Stummelbeinchen zum Bespiel. Oder um ausgewachsene weisse Tiger in biederen Wohnungen, in Vorgärten und Swimmingpools. Mittlerweile bekomme ich fast nichts mehr dieser Art zu sehen, obwohl ich nicht generell Filme und Bilder wegwische, auf denen die Tiere mit Menschen zusammen oder in von Menschen gemachten Umgebungen zu sehen sind. Das wäre zugegebenermassen ein einfach erkennbares Muster.
Ich betrachte aber gerne Szenen wie diese: Im Gehege eines Zoos ist ein Wärter mit zwei Jungtieren beschäftigt, einem Zebra und einem Nashorn. Der kleine Dickhäuter wird, vermutlich zum Schutz gegen Sonne und Insekten, vielleicht auch rein zu seinem Vergnügen, mit Schlamm aus einem Eimer eingeschmiert. Das Tier hält dabei nicht nur geduldig still, es stupst mit der Nase die schlammige Hand des Betreuers an und verlangt nach mehr. Witzig und rührend ist das Verhalten des Zebras, das offensichtlich eifersüchtig reagiert auf die exklusive Zuwendung. Der Wärter hat Erbarmen, und auch der Hals des gestreiften Pferdchens bekommt eine Ladung ab, obwohl das später zu Mehrarbeit beim Fell Striegeln führen wird. Daran, dass der Algorithmus meine Vorliebe für spielende Tiere und für tierische Begegnungen über die Artgrenze hinweg erkannt hat, zweifle ich nicht. Ab und zu führt das zu Begegnungen mit Bildern und kurzen Videosequenzen, die mich über längere Zeit gedanklich beschäftigen.
Eine junge Katze, die ganz für sich alleine eine Kinderrutschbahn benützt, zum Beispiel. Geduckt, zum Sprung bereit, wartet sie am Fuss der Rutsche, rast plötzlich los, die glitschige Plastikrampe hoch, lässt sich auf zwei Dritteln der Höhe – Platsch! – auf die Seite fallen und rutscht, alle Viere von sich gestreckt, wieder hinunter. Das wiederholt sie noch zweimal. Zwischendurch verliert die Kamera den Fokus und man kann erkennen, dass der oder die Filmende ziemlich weit weg gestanden haben muss, dass es sich also eher nicht um eine Dressurnummer handelt. Und man wäre gerne dabei gewesen, als das Kätzchen zum ersten Mal entdeckt hat, vielleicht noch mehr erschrocken als lustvoll angeregt, was eine Rutsche ist. Eine andere Videosequenz, über deren zeitliche Begrenztheit hinaus ich kürzlich nachdenken musste, ist die von einer Begegnung zwischen einem halbwüchsigen Löwenmännchen und einem Gnukälblein, das völlig naiv und nichtsahnend vor seiner Nase herumtanzt. Verspielte Hornstösse und Angriffskapriolen vollführt, dazwischen an der Schnauze des Raubtiers schnüffelt, das da riesig vor ihm steht. Es verhält sich dabei so weit ausserhalb dessen, was sich der junge Löwe unter einem essbaren Beutetier vorstellen mag, dass dieser völlig konfus wird angesichts dieses quecksilbrigen Lebewesens. Er unternimmt nicht den geringsten Versuch, zuzubeissen. Schaut sich zwischendurch suchend um. Als Mensch an seiner Stelle würde man rufen: Kann mir mal jemand sagen, was das soll? Und was, bitte schön, in dieser Situation von mir erwartet wird?
Mir auszumalen, wie die Situation geendet hat, bereitet mir produktive Mühe.