Donnerstag, 25. Februar 2021

For men may come

Nach einem aussergewöhnlich regenreichen Mai entwickelte sich der Sommer in Sterling schön und trocken, bestimmt durch lange Perioden von Hochdrucklagen. Im August häuften sich Tage mit Wind aus Nordwest, der Nebel und Hochnebelfelder mit sich brachte. Ältere Einwohner der Township versicherten, die Anzahl der Nebeltage in Wayne County habe mit dem Ausbau der Stahlwerke in Cleveland zugenommen.

Jules blieb länger bei den Stöcklis als er ursprünglich vorgehabt hatte. Alice hielt ihr Versprechen, ihm dabei zu helfen, ein Diener zu werden. Sie fing damit an, indem sie ihm alle Aufgaben anvertraute, die mit der Führung eines Haushaltes verbunden waren. Obwohl ihrer klein sei, und sie nur eine Kinderfrau, einen Gärtner und, bei grösseren Einladungen, eine Köchin angestellt habe, seien die grundsätzlichen Notwendigkeiten, Aufgaben und Verrichtungen dieselben wie in einem grossen, reichen Haus mit einem Dutzend Angestellten. Er müsse nur seine Phantasie benützen, um die Verhältnisse im Massstab den Anforderungen künftiger Arbeitsorte anzupassen.

Und so lernte Jules, zu seinem Erstaunen leicht und schnell, wie man wäscht, bleicht und bügelt, wie man einfache und festliche Gerichte zubereitet, wie man den Tisch im Alltag deckt und für Gäste dekoriert. Er wurde ein Meister im Putzen von Silber, liess sich zeigen, wie Kleider ausgelüftet und gebügelt, Schuhe geputzt, Zeitungen und Zigarren zurechtgelegt werden mussten, damit ein Herr mit seinem valet zufrieden sei. Den Einwand, dass er sich ja kaum als Koch werde empfehlen können, oder auch nicht den Wäscherinnen die Arbeit wegnehmen wolle, liess sie nicht gelten.
"Du musst alles kennen, und einen grossen Teil auch selber ausführen können. Nur so verstehst du das grosse Ganze, die Zusammenhänge. Nur so machst du dich unentbehrlich, und darum geht es. Du musst einer werden, auf den man nicht verzichten will. Man kann dich zu jeder Zeit und unter jedem Vorwand feuern, also musst du deiner Abhängigkeit dadurch begegnen, dass du die Herrschaften von dir abhängig machst."
Im Verlaufe des Sommers wurde Jules von Alice zweimal bei Festivitäten in Sterling als Hilfskraft platziert, und er konnte dabei seine neu erworbenen Fertigkeiten erproben, unter Bedingungen des Ernstfalls, wie Alice betonte. Den ersten Auftritt erhielt er, als Kellner, bei einem Abendessen für den Stiftungsrat und die Gönnerinnen der Bibliothek, eine Runde von gegen dreissig Damen und Herren aus Wayne County und Cleveland, darunter der Bürgermeister, ein Senator, eine schwerreiche Witwe, alteingesessene und neureiche Ehepaare aus Sterling, Vertreter der babtistischen Kirche, sowie Direktoren von Schulen. Jules machte seine Sache gut, Alice hatte wenig zu beanstanden. Mit den Damen solle er etwas zurückhaltender umgehen, diese würden seine freundliche Zuwendung zwar schätzen, zumindest zwei der anwesenden Männer hätten jedoch durch Blicke ihre leise Missbilligung ausgedrückt. Einmal habe er von links anstatt von rechts einen leeren Teller abgeräumt, ein bis zweimal zuviel Wein eingeschenkt. Jules war mit der Kritik einverstanden und versprach Nachbesserung.

Bei der zweiten Gelegenheit, einer grossen Sommerparty im Garten des Sommerhauses einer mit den Stöcklis befreundeten Familie, wurde Jules unverhofft zum Grillmeister. Eigentlich hätte er wieder als Kellner servieren sollen, aber der Metzger, der das Fleisch geliefert hatte und es auch braten wollte, rutschte mit dem Messer aus und fügte sich eine tiefe Wunde am linken Daumen bei. Er musste verbunden werden von einem Arzt, der sich zum Glück unter den Gästen befand, konnte allerdings nur mehr eingeschränkt weiter arbeiten. Es entstanden Verschiebungen in Hierachie und Aufgabenbereichen des Personals, und Jules landete zusammen mit einem Gehilfen des Metzgers hinter dem Gartengrill. Er briet den ganzen Abend riesige Steaks, kam selber kaum zum Essen und Trinken, und musste am nächsten Tag seine stinkenden Kleider waschen.
"Hat das gezählt?", fragte er Alice.
"Natürlich, ein Jack of all trades musst du werden, und master of many."

Jules war froh darüber, dass er sich auch sonst in Haus und Garten der Stöcklis nützlich machen und so seinen Aufenthalt zu einem Teil verdienen konnte. Er schnitt den Rasen, mit einem zweirädrigen Gerät, das ihn in seiner Funktionsweise faszinierte. Die Wiese hinter dem Haus sah nach dem Mähen fast so aus, als seien Schafe oder Pferde darauf gewesen, mit sauber abgebissenen Halmen. Fast alle Häuser in Sterling standen auf solchen Weiden, auf denen aber ausser Hunden keine Tiere zu sehen waren. Die Häuser, auch das von Florent und Alice, waren nur darauf ausgelegt, bewohnt zu werden. Es gab kaum Ställe, nur wenige Scheunen, und auch keine Werkstätten im ersten Stock. Wie Florent erzählte, hatten die ersten Autobesitzer ihre Fahrzeuge in den Kutschenhäusern der Fuhrunternehmen eingestellt, gegen Miete, nun wurden Scheunen dafür leer geräumt oder, wer auf sich hielt, baute sich, wie er das getan hatte, eine eigene garage für das Automobil.

Jules bürstete die Nordfassade des Hauses herunter und strich sie wieder, in blendendem Weiss. Er reparierte das Geländer der Vorterrasse, fettete die Scharniere aller Fenster und Türen, kletterte auch mit der Leiter aufs Dach, um die Dachkänel vom Laub zu befreien und, weil er schon einmal oben war, die Kamineinfassung zu putzen und mit Bleimenninge zu streichen. Manchmal arbeitete er mit Henri zusammen, der noch immer zögerte, sich Land zu kaufen. Florent hatte ihm angeboten, seine Obstbäume zu bewirtschaften, die kommende Ernte zu organisieren und durchzuführen. Darüber schien er froh zu sein, er brauchte Zeit.

Florent war im Spätsommer oft nervös wegen seiner Geschäfte an der Börse. Irgendetwas war im Gange, Jules durchschaute nicht alles, worüber man sich als Geldanleger Sorgen machen musste. Soviel er verstand, spielten trust companies eine gefährliche Rolle bei der Entwicklung, weil sie sich, wie Florent beklagte, aufführten wie Banken, aber, weil sie nicht so hiessen, sich nicht an die seit dem letzten Jahr geltenden Gesetze betreffend genügender Geldreserven halten mussten. Bestimmte Namen wurden immer wieder genannt, Augustus und Otto Heinze, zwei Spekulanten, die offenbar versuchten, im Geschäft mit Kupfer die Oberhand zu bekommen, oder Knickerbocker, der merkwürdige Name einer der Gesellschaften.

Jules meinte manchmal Anzeichen dafür zu spüren, es könnte Florent stören, dass sich seine Frau so viel mit ihm und seiner Ausbildung zum Diener beschäftigte. Vielleicht war ihre Kritik an seiner zu geringen Distanz zu den Damen ein feiner Hinweis darauf gewesen, er solle im Umgang mit ihr zurückhaltender sein. Jules kündigte deshalb frühzeitig, bei einem gemeinsamen Nachtessen, seine Rückkehr nach New York an. Im November werde seine Schwester Marie ankommen, zusammen mit einer Gruppe von jungen Auswanderern aus Cornol. Er wolle schon etwas früher wieder in der Stadt sein, um ihr bei der Ankunft behilflich zu sein. Für sich werde er schon etwas finden.

Alice hatte geschwiegen zu seinen Plänen. Beim Kaffee dann holte sie ihr Adressbuch und setzte sich neben Jules.
"Es bleibt noch etwas zu tun. Du brauchst jemanden, der dich für eine gute Stelle empfiehlt, jemand, der sich auskennt und mit entscheidenden Personen vertraut ist. Es gibt zwar viele Agenturen in New York, die Hausangestellte vermitteln, du erkennst sie an den Schildern, auf denen Servants steht, manche Strassenzüge sind voll davon. Aber dort musst du schon bezahlen, damit nur dein Name auf eine endlose Liste gelangt. Ich gebe dir die Adresse von Edmond Jacquelin, einem Franzosen, den wir als Butler bei den Guthries kennengelernt haben. Er hat sich selbstständig gemacht, vermittelt Hausangestellte auf hohem Niveau. Da er von den Herrschaften angefragt wird nach geeigneten Personen, bezahlen sie ihn auch. Dich kostet es nur etwas, wenn du seine Dienste bei der Einführung in deine Aufgaben in Anspruch nimmst. Da kannst du Umfang und Preis mit ihm aushandeln. Ich werde ihm schreiben und ihn bitten, dich unter seine Fittiche zu nehmen."

Jules verliess Sterling anfangs September 1907. Florent brachte ihn mit dem Automobil nach Akron, wo er die neue Bahn der Ohio Electric bestieg und bis Cleveland fuhr. Dort kaufte er sich ein Ticket bis Buffalo, weil er die Niagarafälle anschauen sollte, wie die Stöcklis kategorisch gefunden hatten. Er versprach sich nicht viel davon, dachte aber an Berthe, die es ihm nicht verzeihen würde, sollte er an dieser Attraktion vorbeifahren, ohne ihr eine Karte zu schicken. So wandelte er schliesslich mit vielen andern Besuchern auf den Stegen und Brücken der Goat Island und bewunderte die Horseshoe Falls. Und er musste sich eingestehen, dass er schwer beeindruckt war. Das Rauschen der Wassermassen war überall, es füllte den weiten Raum der Landschaft wie eine Substanz. Wenn Jules sich versuchsweise die Ohren zuhielt, war es immer noch vernehmlich da. Er schaute lange von oberhalb der Fälle zu, wie das Wasser gleichmütig auf die gekrümmte Kante zufloss, beobachtete kleine Enten, die sich gefährlich nahe zum Abgrund hin treiben liessen, um sich erst im letzten Moment, mit wilden Bewegungen von Flügeln und Beinen, zu befreien. Bestieg man eine der Plattformen, die seitlich, auf halber Höhe der Wasserfälle angebracht waren, konnte man sehen, wie sich das Wasser im Sturz zerfledderte, zuerst noch weissen Zöpfen ähnelte, dann in Nebelwolken zerstiebte, welche einmal hierhin, einmal dorthin trieben, alles benetzend. An Kiosken konnte man Ölzeug ausleihen, er hatte das ausgeschlagen und war bald durchnässt. So verzichtete er auf eine Fahrt mit dem kleinen Dampfboot, mit dem klingenden Namen Maid of the Mist, und schaute nur von weitem zu, wie es, wagemutig und vorsichtig zugleich, in die Gischtwolken hineinfuhr, und rückwärts wieder hinaus. Jules kaufte sich ein paar Postkarten mit Briefmarken, setzte sich auf einer Kaffeeterrasse in die Sonne, und schrieb. An seine Schwester Augustine in Basel, an den älteren Bruder im Grenzdienst, ebenfalls in Basel, an Berthe und Clara, Maman und Papa in Cornol. Seine Schrift war ungelenk, er hatte schon länger nicht mehr so viel geschrieben. Die Schwielen an den Händen aber waren fast verschwunden.

Im Oktober 1907 brach die Panik aus. Der Versuch der Heinze-Brüder, die Kontrolle über die United Copper Company zu erlangen, scheiterte. Unzählige Banken, welche das waghalsige Unternehmen finanziert hatten, wurden nun von Kunden bedrängt, die ihre Einlagen zurückforderten. Da aber wiederum fast alle ihre Reserven bei den übermächtigen Banken von John P. Morgan hinterlegt hatten und dieser sich weigerte, die Gelder vor Ende der Turbulenzen herauszugeben, brach ein Chaos aus, das die Kurse an der New Yorker Börse halbierte und die Knickerbocker Trust Company, immerhin die drittgrösste Treuhandgesellschaft der Stadt, in den Abgrund stürzte. Und es kam zu Stürmen auf die Banken. Jules befand sich an einem dieser Tage in der Nähe der Wall Street, als sich die Strassen innert einer Stunde mit tausenden besorgter und wütender Menschen füllte. Man zog vor die Portale der Banken, bei denen man seine Ersparnisse in Sicherheit geglaubt hatte, und wollte sie nun, da alles zusammenzubrechen drohte, zu sich nehmen, irgendwohin bringen, wo kein Durcheinander herrschte. Aber die Banken waren geschlossen, manche der Glasfronten waren mit Brettern zugenagelt worden in Erwartung heftiger Zornesausbrüche der Bevölkerung. Diese verhielt sich aber erstaunlich gefasst, die Polizei konnte im Hintergrund verbleiben, wie Jules feststellte. Man hörte nur die eifrigen, aufgebrachten Stimmen der Menschen, die zwischen den hohen Fassaden widerhallten.

Jules wohnte nun in einem Quartier, in dem es ihm sehr gut gefiel, auch wenn es einen schlechten Ruf hatte: Hell's Kitchen. Er vertiefte seine Fähigkeiten, anderen Menschen zu Diensten zu sein, indem er in einem kleinen Kaffee als Kellner arbeitete. Julien's Crocery and Bakery bot einen kleinen Raum mit fünf sechs Tischen im Hochparterre, das man über eine Eisentreppe erreichte. Dort trafen sich französisch sprechende Auswanderer aus dem Jura und aus Frankreich, und merkwürdigerweise auch Iren, unter denen es sich herumgesprochen hatte, dass man in dem Lokal frisch gebackene Wähen essen könne wie nirgendwo sonst. Jules Gehalt war sehr gering, man ging davon aus, dass er sich um Trinkgeld bemühe und die niedrige Miete für das Zimmerchen unter dem Dach mit in Rechnung stelle. Er war damit zufrieden. Alice hatte ihm geschrieben, dass sich der ehemalige Butler Jacquelin bald bei ihm melden werde, und so sah er seine momentane Tätigkeit als vorübergehend an. Er schrieb Fiona einen für sein Empfinden sehr langen Brief. Und bald sollte Marie ankommen.

Marie hatte ihm geschrieben, dass sie am Martinstag abreisen werde, zusammen mit Cousin Jean Babtiste Crétin, Anaïse Adam und Joseph Grillon, alle aus Cornol. Jules fragte deshalb ein knappe Woche später bei den French Lines nach, wann die Ankunft der Tourraine zu erwarten sei. Im Verlaufe des 18. November, wurde ihm mitgeteilt. Er wollte die kleine Reisegruppe begrüssen, auch wenn zu erwarten war, dass sie gleich nach Ellis Island weiterfahren müssten, weil sie im Zwischendeck reisten. Und so war es dann auch. Seine Schwester sah müde aus, als sie den Gangway herunter schritt. Sie liess sich von ihm umarmen, musste sich an ihm festhalten, weil der Boden unter ihr zu schwanken schien. Drei Tage lang war ihr zum Sterben schlecht gewesen, dann sei es ihr plötzlich wieder gut gegangen. Nun aber, auf dem fest gebauten Pier, erinnerte sich ihr Körper an das Schwanken. Jules war froh, dass sie lachen konnte. Die Passagiere aus dem Zwischendeck wurden von Beamten zur Eile angetrieben, man kontrollierte streng, dass niemand die Schranken durchbrach oder überstieg, welche die Menschen wie eine Schafherde in die Richtung der bereit stehenden Fähren zwang. Man winkte sich zu, Jules rief Marie nochmals den Namen des Kontaktmannes in Erinnerung, bei dem sie sich nach Abschluss des Verfahrens melden sollte. Dann musste sie einsteigen.

Am ersten Sonntag nach der Ankunft der Cornoler kam Jules, zum ersten Mal seit er in Amerika war, wieder zu einem Kirchgang. Wenn das seine Mutter gewusst hätte! Marie fragte zum Glück nicht, sie nahm wohl an, dass er an allen Orten, an denen er sich bisher herumgetrieben hatte, nach einer katholischen Kirche Ausschau gehalten und seine religiösen Pflichten erfüllt habe. Sie hatte als Adresse eine Cousine, Liane Rondez, angegeben, und auch eine Nacht bei ihr in der Kammer verbracht, bei vornehmen Herrschaften, die eine Mansion am Riverside Drive besassen. Nun aber hatte sie eine feste Bleibe im Home Jeanne d'Arc, einer katholischen Einrichtung für alleinstehende Frauen, die am westlichen Teil der vierundzwanzigsten Strasse ein grosses Haus betrieb, in unmittelbarer Nähe zur Kirche St. Vincent de Paul, wo sich die französich sprechenden Katholiken von New York zur Messe, aber auch zu Familienfesten und kulturellen Veranstaltungen trafen. Marie fühlte sich wohl in dieser Umgebung. Auch nach dreieinhalb Jahren sprach sie noch kein Englisch, verstand gerade so viel, wie es an ihrer Arbeitsstelle als Näherin in einer kleinen Manufaktur nötig war. Hier aber, an einem Sonntag in ihrer Kirche, war sie im Element. Als sie sich auf dem Vorplatz der Kirche trafen, und sich wegen dem Läuten der Glocken kaum verständigen konnten, wurde Jules von einem seltsam heimatlichen Gefühl erfasst, das bis ans Ende der Messe anhielt. Das Hochamt, gesungen und gesprochen in vetraut nasalem Lateinisch, die Predigt, in der ein Pfarrer mit rot glänzender Glatze den Gläubigen einschärfte, sich von den Wirrungen des weltlichen Marktes nicht den Kopf verdrehen zu lassen, er erreichte mit rhetorischen Mitteln, dass alle über die Panik nachdachten, ohne dass er sie benennen musste, alles kam ihm kürzer, unterhaltsamer und stimmiger vor, als er es von ähnlichen Veranstaltungen zuhause in Erinnerung gehabt hatte. Von Weihrauch wurde reichlich Gebrauch gemacht, die Choreografie der Messdiener war voraussehbar, aber präzise. Er konnte wieder einmal seine Stimme singen hören, und obwohl er darin nie besonders geschickt gewesen war, tat es ihm gut. Nach der Messe gab es im Saal des Gemeindehauses Tee und Kuchen für die Neuankömmlinge und ihre Angehörigen. Es ging laut zu, fröhlich. Marie war sichtlich glücklich, und stolz, ihren Bruder dabei zu haben.

Im Dezember kam Edmond Jacquelin zum ersten Mal in Julien's Kaffee. Ein etwas korpulenter, grosser und eindrucksvoller Mann in der Mitte der Fünfziger. Tadellos und auf Mass gekeidet, mit goldener Uhrkette, modisch gebundener Kravatte, teuren zweifarbigen Schuhen. Seine gepflegten Hände schienen weich, ebenso das frisch rasierte Doppelkinn. Er war Jules nicht auf Anhieb sympathisch, aber weil er die Begegnung mit dem Vermittler Alice verdankte, die sich davon einiges für ihn versprach, verschob er ein endgültiges Urteil auf später. Was, wie sich herausstellte, die richtige Entscheidung war. Jacquelin wusste und kannte wirklich alles, was dem Zusammenbringen reicher Arbeitgeber mit tüchtigen Hausangestellten förderlich war. Seine Beziehungen zu ersteren reichten bis hoch hinauf in die Etage der ganz Reichen. Und er verstand es, aus ehrgeizigen Zöglingen wahre Meister ihres Fachs zu formen. Mit Jules hatte er spezielle Pläne. Nachdem er ihn über seine Kenntnisse bezüglich der gentlemen's clubs in New York und in den Vereinigten Staaten ausgefragt und festgestellt hatte, dass Jules nichts wusste davon, führte er ihn während mehrerer Treffen in seinem Büro in Midtown an diese seltsame, aber offenbar entscheidend wichtige Struktur der Entfaltung und Erhaltung von Macht heran. Dabei kam er immer wieder auf einen erst vor ein paar Jahren eröffneten Club mit dem Namen The Brook zu sprechen, der aus der Separation von Mitgliedern mehrerer renommierter Clubs entstanden sei. Es gebe eine Anekdote, die aber wahrscheinlich Unsinn sei, dass zwei Mitglieder des Union Clubs einem andern ein rohes Ei auf der Glatze aufgeschlagen hätten und deshalb aus dem Union ausgeschlossen worden seien. Das Spezielle am Brook sei die kleine Anzahl der Mitglieder, nur hundert, sowie die Art der Rekrutierung, ausschliesslich über Einladung aus dem Inneren. Viele wichtige Männer New Yorks würden immer noch heimlich auf eine Einladung warten. Gäste seien nicht zugelassen, dafür erhebe der Club den Anspruch, für die Mitglieder das ganze Jahr hindurch vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet zu bleiben. Dieser Umstand sei es nun, der ihm, Jules, eine Chance eröffne, denn das Angebot erfordere, wie man sich leicht vorstellen könne, die zwei bis dreifache Anzahl an Angestellten, die in Schichten arbeiteten. Die Arbeit während der Nacht sei verständlicherweise nicht beliebt, weshalb es nicht unmöglich sei, Jules dort unterzubringen, vorausgesetzt, dass er einen auf den Kopf gestellten Lebensrhythmus ertrage.

Jules ertrug das, während der kommenden dreieinhalb Jahre, bis zu seiner ersten Rückkehr nach Cornol, und zwar recht gut. Am Anfang konnte er nicht schlafen am Tag, bis ihm ein Kollege eine grosse Augenklappe besorgt hatte und er sich an die Umstellung zu gewöhnen begann. Ihre Kammern lagen unter dem Dach des Clubhauses, sie waren eng, im Sommer unerträglich heiss, im Winter fror das Wasser in den Krügen. Es war eine Herausforderung, in den beengten Verhältnissen des Stockwerks der Hausangestellten, genauso alles Männer wie die Mitglieder, den tadellos faltenfreien Zustand der Kleider und die dosiert parfümierte Sauberkeit des Körpers zu erhalten, die in dem Etablissement ohne Wenn und Aber gefordert wurden. Man erwartete von Jules, dass er so schnell wie möglich alle Mitglieder mit Namen kenne und korrekt begrüssen könne. Der Hausbutler hatte dazu eine Wand eingerichtet mit Namen und, dort wo es möglich war, mit einer Fotografie. Vor dieser Wand standen sie oft wärend der Zimmerstunden, und memorierten die Köpfe und Namen der Kundschaft.

Einige merkte man sich leicht, weil sie im Club zu leben schienen. Es gab solche, die während der Nacht zunehmende Betreuung brauchten, weil sie sich betranken, und dabei trübsinnig oder aggressiv wurden. Und es gab überbordend lebenslustige, deren Erzählungen über Reisen und Abenteuer auch für die im Hintergrund wartenden Angestellten ein Gewinn waren, weil sie ihnen die Zeit vertrieb und für Gesprächsstoff im obersten Stock sorgte. William Kissam Vanderbilt der Zweite war so einer. Unendlich reich, vernarrt ins Segeln, ins Reisen, und in schnelle Autos. Immer wieder erzählte er von seinem erfolgreichen Geschwindigkeitsrekord zu Land, 1904, in einem Mercedes-Rennwagen in Daytona. Wenn Vanderbilt im Hause war, flachsten die Angestellten im Gang:
"Wie schnell war er gewesen?"
"Ninety-two point three miles per hour!"
Vanderbilt war es auch, der am langen Tisch, auf dem durchgehend Kerzen brannten, an dem man zu jeder Tages- und Nachtzeit Gesprächspartner finden sollte, regelmässig den letzten Vers des Gedichts von Tennyson aufsagte, das dem Club den Namen gegeben hatte:

And out again I curve and flow
To join the brimmer river
For men may come and men may go
But I go on for ever

Sonntag, 21. Februar 2021

Sterling, Ohio

Florent Stöckli war einer der ersten Automobilbesitzer von Sterling, Ohio. Wenn er sich hinter das Steuerrad seines Premier 24 setzte, ein Steuerrad, das Jules so gross vorkam wie die Räder der Güllewagen zuhause in Cornol, dann war sein Stolz überaus deutlich zu sehen. Er hatte sich mit seinem ersten grossen Geld, wie er sagte, einen kindlichen Wunsch erfüllt, dabei nicht gezögert, sich statt eines der Modelle aus dem nahen Werk in Cleveland zu kaufen, wie es andere in Sterling machten, einen der teuren, schnellen und technisch ausgefeilten roadster aus Indianapolis anzuschaffen. Henri schüttelte den Kopf über dieses ihm nutzlos erscheinende Gerät, Jules aber war von Florents übermütig lebenslustiger Art angezogen. Da dieser das Automobil erst vor kurzem hatte in Empfang nehmen können, nach einer langen Wartezeit zwischen Bestellung und Auslieferung, benutzte er es nun für jede noch so kurze Strecke. Es blieb Jules nicht verborgen, dass er als bereitwilliger Mitfahrer willkommen war, weil seine Anwesenheit auf dem Beifahrersitz die vielen Fahrten weniger unnütz erscheinen liess. Zudem konnte ihm das kostbare Gefährt während Florents Besorgungen in der Township zur Bewachung überlassen werden, was angesichts der sich jeweils um das Automobil versammelnden Neugierigen durchaus angebracht war.

Abgesehen von den paar wenigen Automobilen waren Sterlings breite Strassen geprägt von einer erstaunlichen Anzahl an Pferdekutschen, die zu mieten waren, mit einem Hauptstandplatz beim grossen Warenhaus. Nach jedem Regenguss bildeten sich überall ausgedehnte Pfützen, ja richtige Teiche, und es war trotz der seitlich der Strassen angelegten, leicht erhöhten Plattenwege für die Fussgänger nicht einfach, die Schuhe vor Durchnässung zu bewahren. So wurden die Kutschen auch für kleine Distanzen gerne genutzt, wozu ausserdem beitrug, dass ihre Dienste wegen der grossen Anzahl an Anbietern sehr billig waren.

Abgesehen vom Schlamm, der nach Regen überall lag, alles vollspritzte und an allem klebenblieb, war Sterling in Jules' Augen äusserst ordentlich, gepflegt und sauber. Auch die Menschen hier schienen sehr auf ihr Äusseres zu achten, sie waren dezent, aber gut gekleidet, schwarz die Männer, die Frauen in Weiss. Sie rochen gut. Wenn Jules an die Tage in der Lower Eastside zurück dachte, an Dreck, Lärm und Gestank der überfüllten Strassen, an die vielen so augenfällig Armen und Elenden, die mit schwarzgrauen Händen Abfallberge und Ascheeimer durchwühlt hatten, stellte er verwundert fest, dass er sich dort leichter dazugehörig gefühlt hatte, obwohl es seine erste Begegnung mit der Riesenstadt New York gewesen war. Den flackernd suchenden, hungrigen Blick armer Leute kannte er aus seiner Kindheit, auch ihren muffigen Geruch. Die Körper der Sackschlepper, Kohleschaufler, Stassenwischer, Bauarbeiter, die er gesehen hatte, waren wie sein eigener. Mager und drahtig muskulös, die Hände voller Schwielen. Hier erst kam er sich aber wie ein Bauer vor, der vergeblich nach seinesgleichen sucht. Florent behauptete, noch vor wenigen Jahren einer gewesen zu sein. Er hatte es zuerst mit Vieh versucht, danach mit Obstbau. Er besass immer noch einige Acres mit Obstbäumen, liess sie aber weitgehend von andern bewirtschaften, von Pächtern und, während der Ernte, von Wanderarbeitern. Henri und Jules staunten, wie gross die Flächen waren, und wie endlos die Reihen mit den zwergenhaft niedrigen Bäumen. Auf die Frage, ob es keine Kleinbauern mehr gebe wie in der Ajoie, mit ein paar Kühen und Schweinen, vielleicht noch mit Hühnern und Kaninchen, mit Weiden, so viele es eben brauche für das Heu, mit Obst und Gemüsegärten, alles in einem Mass, das neben der eigenen Versorgung noch ein bisschen etwas abwerfe durch Verkauf, da lachte er nur:
"Hier geht alles über Grösse und Menge. Und über Spezialisierung, die Konzentration auf ein oder zwei Produkte."

Da war sie wieder, eine spezielle Sprechweise, die in Henris und Jules' Ohren fremd klang. Sie sassen am Stubentisch, bei Kaffee und Kuchen, den Florents Frau Alice gebacken hatte. Zum Trost, wie sie gefunden hatte, weil es seit zwei Tagen regnete und Florent keine Spazierfahrten unternehmen konnte, aus Angst, mit seinem Premier im Morast stecken zu bleiben.
"Nehmen wir an, du könntest nach dem Cornoler Modell einigermassen erfolgreich bauern, so würdest du für den Überschuss an Vieh, Obst, Gemüse, erst recht für Getreide, nichts bekommen. Nichts! Niemals einen angemessenen Preis für die harte Arbeit, die du hineingesteckt hast. Denn du stehst im Wettstreit mit einer Landwirtschaft, die dank riesenhaften Dimensionen, an Land, Geld, Anzahl Arbeiter und Angestellter, Transportmittel, Verpackzungshallen, Lagerhäuser und so weiter, ihre Ware zu einem Preis anbieten kann, mit dem du niemals gleichziehen könntest, ohne zu verhungern."
Hernri war unruhig, er hatte vom ersten Tag an gemerkt, dass seine Vorstellungen von dem, was er in Ohio hatte anfangen wollen, falsch waren.
"Was soll ich tun? Was rätst du mir?"
Florent sah ihn nachdenklich an. Wie Jules spürte er Henris Enttäuschung. Er tat ihnen leid.
"Ich nehme an, du willst in der Landwirtschaft bleiben, und nicht den Weg einschlagen, den ich gewählt habe?"
Henri nickte, obwohl er noch immer nicht verstanden hatte, worin die Entscheidung seines Cousins bestand, worauf sie hinauslief. Auch Jules konnte aus Florents Vorträgen, bei denen er sich während der ersten gemeinsamen Abendessen zunehmend in feurige Begeisterung gesteigert hatte, nur einzelne Elemente begreifen. Florent schien sich zu einem Händler entwickeln zu wollen, der Dinge, Werte, wie er das nannte, kaufte und verkaufte, die er weder brauchte noch herstellte, in den wenigsten Fällen jedenfalls, ja, die manchmal nicht einmal ihm gehörten. Jules hatte von ihm Äusserungen gehört, die seine Eltern, vor allem seine Mutter, entsetzt hätten. Schulden machen, hatte Florent ihnen erklärt, sei dann von Vorteil, ja geradezu geboten, wenn man mit dem geliehenen Geld mehr Gewinn machen könne, als man dem Ausleihenden an Zinsen schulde. Jules' Maman hätte geantwortet, Schulden seien immer Sünde, und dass er sich von einem solchen Verwandten fernhalten solle.

Da Henri durch Kopfnicken seine Absicht bekräftigt hatte, beim Bauern bleiben zu wollen, fuhr Florent fort:
"Ich denke, du solltest ein richtiges, ein grosses Stück Land kaufen. Für einen Acre zahlst du hier im Moment siebzig bis achtzig Dollars. Wie rechnet ihr, in Hektaren? In Tagwerken? Was kostet eines in der Ajoie?"
"Achthundert Franken ein journal", meinte Henri, und Jules ergänzte:
"Es ist knapp das Drittel einer Hektare."
"Du brauchst etwa drei Hektaren, oder neun bis zehn Tagwerke zu Beginn, sonst wird das nichts. Das macht..."
Florent holte sein Notizbuch heraus und kritzelte ein paar Zahlen, blitzschnell war er im Rechnen, die Cornoler konnte nur staunen.
"Du brauchst siebeneinhalb Acres, à fünfundsiebzig Dollars, das heisst, du zahlst etwa fünfhundertsechzig Dollars für das Land. Zuhause müsstest du mehr als das Zehnfache dafür ausgeben!"
Henri musste nachdenken, Jules fragte:
"Am Stück soll er die zehn Tagwerke kaufen? Ist das... Kann man das hier?
Florent lachte.
"Ja, natürlich. Wenn ihr in Cornol einmal ausrechnen wolltet, wieviel Arbeitszeit ihr vergeudet durch die Wege zwischen den Parzellen, die ihr besitzt oder gepachtet habt! Da müsste eine Flurbereinigung nicht mehr so schwer fallen."
Jules konnte sich das nicht vorstellen. Schon nur die Äusserung von Vorschlägen zu einem Abtausch von Land, zum Zweck der Vereinfachung, konnte in Cornol zu wüstem Streit führen. Er hatte sich in Gedanken vom Gespräch entfernt, so dass Florent seine Frage wiederholen musste:
"Und was willst denn du machen, Jules? Du hast es uns noch immer nicht verraten."
"Diener will er werden, bei den ganz Reichen, bei Rockefeller zum Beispiel!", rief Alice aus der Küche. Man hörte ihr glucksendes Lachen. Florent sah Jules mit offenem Mund an.
"Was ist das?"
Jules rutschte unruhig hin und her, grinste verlegen. Er sah, dass Florent mindestens so erstaunt war über den Vorsprung an Wissen, über den seine Frau verfügte, wie über den spasshaft verratenen Plan, der ja vielleicht ernst gemeint war.

Alice Stöckli, geborene O'Donell, hatte irische Vorfahren. Für Jules war sie eine waschechte Amerikanerin, wobei er zugeben musste, in der Beurteilung solcher Qualitäten noch wenig Erfahrung zu haben. Sie gefiel ihm sehr, obwohl sie ihn schon einige Male in Verlegenheit gebracht hatte mit ihrer unverblümten, direkten Art. Wie sie Fragen stellte, Situationen und Äusserungen anderer kommentierte. Sie hatte mit Florent zwei Kinder, die sechsjährige Kathleen und den zweijährigen Douglas. Es war für Jules eine ganz neue Erfahrung, wie diese kleine Familie funktionierte, wie die Eheleute miteinander, wie sie mit den Kindern umgingen. Auch bei kleinen, unwichtigen Dingen, fragte man den andern, was er wolle. Wie er die Dinge sehe. Florent und Alice leisteten sich eine Nanny, weil Alice auch etwas ausserhalb des Hauses machen wollte, wie sie sagte. Sie hatte vor zwei Jahren Sterlings kleine Bibliothek von einer älteren Lady übernommen und führte sie, wie Florent mit sichtbarem Stolz erzählte, wie eine Unternehmerin. Etwas unsicher hatte er hinzugefügt, sie engagiere sich auch bei den Suffragetten. Jules hörte ihr gerne zu, auch wenn sie oft, manchmal in dozierendem Tonfall, über politische und wirtschaftliche Verwicklungen sprach, die er nur halbwegs verstand. Bei einem dieser Gespräche, am Küchentisch, hatte er ihr von seinen noch unausgereiften Plänen erzählt. Dabei hatte er, vielleicht weil sie ihn an die irische lady's maid auf der Provence, an Fiona, erinnerte, den Satz wiederholt: "Ich will Diener werden bei den Schönen und Reichen." Alice hatte ihn von der Seite angesehen, lauernd, und gefragt:
"Bei Rockefeller, zum Beispiel?"
Jules ahnte, dass die Frage eine Falle war, trotzdem versuchte er es:
"Warum nicht?"
"Warum nicht!?"

Sie holte tief Atem, dann erklärte sie ihm während über einer Stunde, was alles an seiner Idee fragwürdig, ja vollkommen verkehrt war. Sie rede vom Alten, von Rockefeller Senior. Beim Junior sei sie sich nicht sicher, wie der noch herauskomme. Wahrscheinlich sei er ein Hosenscheisser, versuche, sich als Philanthrop, wie sie das gerne nannten, der amerikanischen Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Alte aber sei ein Monster, der alles verschlinge, was ihm in den Weg komme. Mit der Stadard Oil habe er ja hier, in Cleveland begonnen. Dann alle anderen im Ölgeschäft entweder gekauft oder kaputt gemacht, mit Absprachen. Mit den Eisenbahngesellschaften, die sein Öl für Gefälligkeiten oder unter Druck so billig transportierten, dass die anderen in den Mond schauten. Es habe eine Frau gebraucht, um seine schmutzigen Geschäfte detailliert aufzudecken und zu beschreiben, Ida Minerva Tarbell. Über Jahre habe sie nachgeforscht, und ihre Geschichte schliesslich als fortlaufende Serie in McClure's Magazine veröffentlicht, später auch als Buch. Und obwohl alles darin Stehende sich als wahr erwies, habe Präsident Roosevelt sich nicht entblödet, die Journalistin als "Mistgabel" zu bezeichnen, in Anspielung auf eine Figur in einem elend schlecht geschriebenen Erbauungsbuch mit dem Titel The Pilgrim's Progress, wobei man gleich auch noch das Niveau der präsidialen Lektüre erfahren habe. Sogar Tarbells Namen habe der Präsident verspottet, sie mehrfach Tarbarrel genannt. Nun aber habe er immerhin dem Druck der unabhängigen Ölproduzenten nachgegeben und es könne sein, es sei hoffentlich so, dass es Standard Oil bald an den Kragen gehe. Ein Verfahren wegen Verstosses gegen den Antitrust Act sei letztes Jahr eröffnet worden, aber bis zu einem Urteil könne es leider noch Jahre dauern.

Als sie einmal kurz innehielt, versuchte Jules, nicht ganz ernsthaft, zu beschwichtigen:
"Also doch lieber nicht bei Rockefellers?"
"Nein! Oder... vielleicht wäre es ja hochinteressant, das von Innen zu sehen. Aber warum willst du eigentlich Diener sein? Dienen? Florent sieht inzwischen auch in solcher Tätigkeit richtige Arbeit, er nennt es das Feld der Dienstleistungen. Aber du? Warst du nicht Bauer in Cornol? Bist du nicht Bauer? Und wie stellst du dir deine Zukunft vor in zehn, fünfzehn Jahren? Als Butler kannst du kaum an eine Familie denken, du musst deinen Herrschaften immer zu Diensten sein, vierundzwanzig Stunden am Tag. Da nützt dir auch der gute Lohn nicht viel, du bist nie zu Hause, wie ein Seemann."
Jules war eingeschüchtert, sie fragte ihn aus wie eine Lehrerin ihren Schüler. Und das Zuhören hatte ihn ermüdet, weil sie so schnell sprach, dass er nicht immer jedes Wort verstand. Er musste nachdenken.
Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.
"Bitte entschuldige! Ich bin leider oft so, ich bedränge andere Menschen. Du musst nicht antworten."
Aber Jules war ganz froh darüber, dass sie ihn zwang, über seine Beweggründe nachzudenken. Und obwohl er seiner Gewohnheit nach erst sprach, wenn er mit einem Gedanken fertig geworden war, begann er zu reden.

Der Entschluss seines älteren Bruders Joseph, des ältesten der Geschwister, zur Grenzwache zu gehen und eine Laufbahn als Beamter zu beginnen, war für ihn ein Schock gewesen, den er sich nie ganz eingestanden hatte. Er war als Bub davon ausgegangen, dass Joseph als erwachsener Mann den kleinen Hof genauso weiterführen würde wie die Werkplätze für die Uhrenfabrikation, als Stellvertreter von Papa und Maman, der er ja in seinen Augen durch die ganze Kindheit hindurch gewesen war. "Das ist deine Pflicht!", hatte es immer und überall geheissen, wenn etwas Anstrengendes zu leisten war. Und: "Da musst du Verantwortung übernehmen!" Joseph hatte solche Forderungen genauso selbstverständlich hervorgebracht wie die Eltern, Widerspruch duldete er nicht, schon weil er die Ansprüche selber überdeutlich erfüllte. Als Jules nun vor ein paar Jahren realisierte, dass sein grosser Bruder im Begriff war, sich davonzumachen, denn als Zollbeamter würde er niemals in der Nähe des Heimatortes eingesetzt werden, und als er die Folgen davon zu erahnen begann, wurde er eine Zeit lang ganz trübsinnig. Er sollte die Stelle des Vaters einmal einnehmen! Er war verdammt dazu, für immer in diesem Nest zu verharren. Natürlich waren da auch noch die Schwestern, die für die Eltern sorgen würden, aber ihnen alles zu überlassen, würde das Ende der Lebensweise, vielleicht gar des Heims, der Eltern bedeuten. Er konnte nicht darüber nachdenken, ohne dass an diesem Punkt immer alles in Nebel versank. Der Entschluss, nach Amerika auszuwandern, war ein Versuch der Befreiung aus dieser Sackgasse. Er wusste noch nicht, ob er den Mut, die Grausamkeit haben würde, in Amerika zu bleiben. Da daraus möglicherweise ein zeitlich beschränktes Abenteuer werden könnte, wollte er sein Leben hier in den grösstmöglichen Gegensatz zu seinem Leben daheim stellen. Ob sie das verstehen könne?

Alice setzte ein zweimal an, holte Luft, sagte dann aber doch lange nichts. Sie stand auf, klapperte und kramte herum, bis sie sich schliesslich umwandte und leise sagte:
"Ich helfe dir. Ich denke mir was aus. Diener sein ist nichts Dummes."

Sonntag, 14. Februar 2021

über den Atlantik 2

Es hiess, sie würden in zwei Tagen, im Verlaufe des Freitags, in Manhattan ankommen. Er konnte an diesem Abend nichts mehr essen und ging möglichst oft nach draussen, so lange, bis er völlig durchfroren und durchnässt war. Inzwischen bewegte sich die "Provence" durch dichten Nebel und liess immer wieder ihr Horn ertönen. Der Regen peitschte ihm waagrecht ins Gesicht, die Seile an den Ladebäumen sangen, pfiffen und heulten im Wind. Das Meer war zerwühlt, Schaumkronen wurden von den Kämmen der Wellen weggerissen, kaum hatten sie sich gebildet. Jules konnte nicht herausfinden, wie weit die Sicht reichte, das Schiff schien auf einem riesigen, kreisrunden Stück flüssiger Borke zu schwimmen, das sich mitbewegte und so den eigentümlichen Eindruck von Stillstand erzeugte. Vielleicht hatte der Kapitän die Geschwindigkeit drosseln lassen, um Hindernisse frühzeitig erkennen zu können. Vielleicht trug auch die von der Gesellschaft angepriesene neue Funktechnik an Bord zur Sicherheit bei, Jules hoffte es. Er versuchte, seine ängstlichen Gedanken zu zerstreuen und beschloss, sich im gemeinschaftlichen Duschraum der zweiten Klasse aufzuwärmen. Als er sich in der Garderobe ausgezogen hatte und die Türe aufzog, schlug im undurchdringlicher, heisser Dampf entgegen. Der Raum war gefüllt mit den Schemen nackter Männer, der Lärm der Stimmen war ohrenbetäubend. Trotzdem blieb er so lange unter dem heissen Wasserstrahl, bis seine Füsse krebsrot waren, und nicht mehr weiss.

Obwohl das Schiff noch den ganzen Donnerstag über rollte und stampfte, war es Jules nach dem Aufstehen nicht mehr schlecht geworden. Beim Frühstück befand sich ausser Silvius und ihm nur ein jüngeres Ehepaar im Essaal. Er hatte die Pampelmusen für sich entdeckt, verkniff es sich aber, eine zweite zu essen. Der Kaffee tat ihm gut, und er war in aufgeräumter Stimmung. Silvius erzählte ihm, dass er einen der Mechaniker getroffen und mit ihm im Kaffee abgemacht habe. Der werde ihn in die Funktionsweise der Dampfmaschinen der "Provence" einweihen, ob er interessiert sei. Eigentlich war Jules nicht interessiert, trotzdem sagte er zu, weil er bisher die Männer der Schiffmannschaft nur von weitem gesehen hatte.

Der Mechaniker war Korse und stellte sich als Alanu Serra vor. Er trug eine einfache, blaue Arbeitsuniform und eine Schirmmütze, die er vor sich auf den Tisch legte. Sein Schnauz war eindrucksvoll, sein Englisch nicht viel besser als das von Jules, und er hatte auch auf Französisch einen starken Akzent. Jules rutschte in die Rolle des Übersetzers, wenn Alanu stecken blieb und die Sprache wechselte.
"Ihr könnt mich auch Alain nennen, Alanu ist Alain."
Silvius hatte seinen Faltprospekt mitgebracht, mit dem Längsschnitt durch das Schiff. Der Mechaniker zog ebenfalls ein paar Blätter aus seiner Tasche, mit Aufrissen und Schnitten der Kessel und Maschinen. Was Alanu nun in einem längeren Vortrag erklärte, immer wieder unterbrochen durch Fragen von Silvius, konnte Jules nur in groben Zügen nachvollziehen. Er verstand aber, dass die "Provence" in scharfer Konkurrenz zu deutschen und englischen Schiffbauern konstruiert worden war. Grösse, Geschwindigkeit und Komfort waren die wesentlichen Faktoren in diesem Wettstreit, dazu kam, wenigstens auf die Dauer, Wirtschaftlichkeit dazu, vor allem bezüglich der Kosten für Kohle. Ein direktes Wettrennen letztes Jahr, ostwärts über den Atlantik, gegen die "Deutschland" von der HAPAG, konnte die "Provence" für sich entscheiden. Sie brauchte dafür nur gerade sechs Tage und drei Stunden, allerdings auch eine ungeheure zusätzliche Menge an Kohle, die alleine für die Erhöhung der Geschwindigkeit um ein paar Knoten notwendig war. Völlig unvernünftig. Jetzt, im Normalbetrieb nehme man es gemütlich, so dass man, anständiges Wetter vorausgesetzt, sieben Tage und etwas brauche für die Überfahrt. Das Schiff habe zwei Kessel, wie man auf dem grossen Bild sehe. Es handle sich um Hochdruckkessel, in denen der Dampf unter Druck auf weit über dem Siedepunkt liegende Temperaturen gebracht werde. Über speziell robuste Rohre werde er dann in die Zylinder geleitet, je vier pro Maschine. Alanu zeigte ihnen auf seinen Zeichnungen, dass sich die Zylinder in ihren Dimensionen unterschieden. Der mit dem kleinsten Querschnitt erhielt als erster den Dampf unter hohem Druck, danach wurde dieser, bereits teilweise entspannt, wie der Mechaniker das nannte, zum nächsten weitergeleitet. Dieser zweite Zylinder hatte einen grösseren Querschnitt, um mit niedrigerem Druck eine ähnlich kräftige Wirkung zu erzielen wie der erste. Und so ging es weiter, über drei Stufen. Zum Schluss werde das Wasser aus dem Dampf kondensiert und in den Kreislauf zurückgeführt. Das sei sparsam und reduziere die Korrosion. Silvius wollte alle Details des Prozesses, die Steuerung der Ventile, die Schmierung, die Abdichtung und so weiter, genau expliziert bekommen. Jules begann sich zu langweilen und übersetzte immer nachlässiger. Schliesslich unterbrach er die Erklärungen mit einer Frage.
"Wie ist das mit dem Kohle Schaufeln? Wer macht das?"
Alanu sah ihn an, sagte nichts. Wiegte dann seinen Kopf hin und her und verzog das Gesicht.
"Das ist die Hölle. Die chauffeurs verdienen zwar recht gut, aber alt werden sie nicht."

Am letzten Abend der Überfahrt war es bei der Transatlantique üblich, für die Passagiere der ersten Klasse im grossen Salon ein Tanzabend zu veranstalten. Es war den Reisenden der zweiten Klasse zwar nicht verboten, an dieser Galaveranstaltung teilzunehmen, aber die Kleiderregeln schrieben für Männer den Smoking vor, so dass Jules höchstens von aussen einen Blick auf das Geschehen werfen konnte. Nach dem Nachtessen traf er sich zuerst mit Henri in der Entrée zur Zweiten, wo sie mit bei einer Flasche Wein auf ihre Ankunft am nächsten Tag anstiessen. Danach wollte sich Henri frühzeitig hinlegen. Jules zog es jedoch auf das hintere obere Deck. Der Himmel hatte aufgerissen, in den Lücken der Wolken waren Sterne zu sehen, und es war wieder etwas wärmer. Als er sich auf der oberen Promenade dem Eingang zum Salon näherte, hörte er, immer wieder an und abschwellend, Musik. Einige Herren in Smoking und zwei drei Damen in Abendkeidern standen vor dem Eingang, um zu rauchen und zu plaudern. Wenn sich die Türe öffnete und wieder jemand heraustrat oder hineinging, wurde die Musik für einen Moment lauter. Jules war unschlüssig, ob er sich vorbeidrücken oder bleiben sollte. Die Neugier siegte schliesslich, und er stellte sich, ein paar Schritte von der Gruppe der vornehmen Raucher entfernt, an die Reling.

"Could you light my cigarette?"
Eine junge Frau, in der weissen Kleidung einer maid, hatte sich neben ihn gestellt, hielt ihre Zigarette lässig zwischen den Fingern der angewinkelten Rechten, und sah ihm herausfordernd in die Augen. Er war überrascht und etwas verlegen, denn er hatte sie in den vergangenen Tagen schon öfter beobachtet, diskret, wie er gemeint hatte. Er musste nach seinem Feuerzeug suchen. Als er es ihr entgegenstreckte, schloss sie ohne zu Zögern ihre Hände um seine, um die Flamme vor dem Wind zu schützen, tat einen tiefen Zug und lachte ihn dann an.
"Sie reisen in der zweiten. Ich bin das Mädchen von Mrs. Blum. Ich heisse Fiona Walsh, aus Irland. Darf ich fragen, wie Sie heissen?"
Jules stellte sich vor.
"Aus der Schweiz? Dann sprechen Sie deutsch?"
Er erklärte ihr, dass er aus dem Jura komme, dass man dort französisch spreche, und eine eigene Sprache, den Patois.
"Wie bei uns das Gälische?"
Jules musste überlegen. Er glaube, der Patois sei nicht ganz so verschieden vom Französischen wie das Gälische vom Englischen. Gewisse Wörter seien ganz anders, man sage, dass es keltische darin habe, aber auch viel deutsche Ausdrücke. Und die Aussprache sei, na ja, die Franzosen rümpften die Nase darüber. Sie lachte. Sah dann, aufgeschreckt, über seine Schulter hinweg und drückte hastig die Zigarette aus.
"Sie ruft mich. Vielleicht komme ich gleich wieder, bleiben Sie noch?"
Sie war schon weg, als er bejahte.

Sie gefällt Jules. In ihrer sprudelnden, selbstsicheren Art erinnert sie ihn an seine Schwester Berthe, aber sie ist hübscher. Grösser, fast grösser als er. Und die rötlichen Haare! Er hat gesehen, dass Fiona mit ihrer Herrin ins Innere gegangen ist und rechnet nicht damit, dass sie nochmals zurückkommt. Trotzdem wartet eine Weile. Als er sich entschliesst zu gehen, steht sie wieder neben ihm.
"Da bin ich wieder. Ich musste den Kellner auf Mrs. Blums leeres Champagnerglas aufmerksam machen, das möchte sie nicht selber tun."
Jules wird von ihrem Lachen angesteckt. Sie will mehr über ihn wissen.
"Fahren Sie zum ersten Mal nach Amerika? Was wollen Sie dort machen?"
Jules will schon zu seiner üblichen, komplizierten Erklärung ansetzen, als es spontan aus ihm herausbricht:
"Ich will Diener werden bei den Reichen und Schönen, wie Sie! – Ja, das ist mein erstes Mal."

Was sagte er da? Das war bisher immer eine von vielen Möglichkeiten gewesen, eine eher unwahrscheinliche obendrein. Sie schien nichts Ungewöhnliches in seiner Äusserung zu sehen, hob gleich zu Ratschlägen an, wie er herangehen sollte bei der kommenden Suche nach Anstellungen.
"Die Iren sind beliebt, wegen der Sprache. Aber auch die Schweizer, wie ich gehört habe, wohl wegen ihrem Ruf der Pünktlichkeit und Sauberkeit. Sind Sie ein pünktlicher und sauberer Mensch, Monsieur Chiquet?"
Wieder dieses Lachen, mit zurückgeworfenem Kopf.
"Vielleicht sehen wir uns dann einmal in New York? Mr. Blum hat oft in einer Kanzlei in Manhattan zu tun, seine Frau begleitet ihn ab und zu, wenn er länger bleibt. Dann haben sie eine Wohnung in der Mansion seines Bruders, und die beiden Kleinen werden bei den Grosselteren untergebracht. Sonst sind wir im Norden von New York zuhause. Die Blums haben ein grosses Haus in Hardsdale. Ich gebe Ihnen die Adresse."
Jules nahm sein Notizbuch hervor und zog den kleinen Stift aus der Lasche, hielt ihr dann beides hin. Er schrieb ihr auch seine Adresse in Ohio auf ein herausgerissenes Blatt, ohne Überzeugung, dass er lange dort bleiben werde.
Sie las seine Anschrift und meinte:
"Ohio. Da ist es schwierig, Reiche zu finden. Und noch schwieriger, Schöne!"

Am Freitag den siebzehnten Mai, gegen Mittag kreuzte die "Provence" mit gedrosselten Maschinen die Freiheitsstatue. Auf den Decks und Gängen herrschte dichtes Gedränge, alle wollten diesen Teil der Ankunft mit eigenen Augen sehen und miterleben. Als sie sich auf der Höhe von Ellis Island befanden, erzählten sich Passagiere, die in Jules und Henris Nähe standen, allerlei schlimme Geschichten. Jules war das unangenehm, aber Henri winkte ab.
"Das wird schon. Ich bin ja kein Anarchist!"
"Und auch kein... wie hiess das?"
"Bigamist!"
Sie lachten und wechselten auf die andere Seite des Schiffs. Es wurde nun von zwei Schleppbooten den Hudson River hinaufgezogen. Man zeigte und erklärte sich gegenseitig die prominenten Gebäude, die aus der Silhouette von Manhattan herausragten, und nachdem sie an den Piers unzähliger Schiffsgesellschaften vorbeigeglitten waren, kam schliesslich ihrer in Sicht. Eine Ankunftshalle aus Stahl und Glas stand darauf, auf der Frontseite in grossen Buchstaben angeschrieben mit FRENCH LINE. Sie waren angekommen.

Freitag, 12. Februar 2021

über den Atlantik 1

In der Erinnerung kam Jules die nächtliche Zugreise von Paris nach Le Havre wie ein mehrfach unterbrochener, immer wieder aufgenommener Traum vor. In Rouen war er aufgewacht, weil der Zug angehalten und noch mehr Reisende aufgenommen hatte. Ab dann war es ihm kaum mehr möglich gewesen zu schlafen, weil seine Banknachbarn zu beiden Seiten ihre Köpfe auf seine Schultern sinken liessen, einer von ihnen dazu vernehmlich schnarchend. Übermüdet und steif waren sie schliesslich ausgestiegen. Erfahrene Amerikareisende hatten Henri und ihm geraten, sich vor der medizinischen Kontrolle und der Befragung durch die Beamten das Gesicht zu waschen, sich zu kämmen und die Kleider in Ordnung zu bringen. Sie hatten daraufhin keinerlei Anstoss erregt. Man leuchtete ihnen in die Augen, Henri musste noch eine Impfung nachholen lassen. Der anschliessende interrogatoire war ihm sehr seltsam vorgekommen und hatte ihn in seinem tranceartigen Erschöpfungszustand zu anhaltendem, mühsam unterdrücktem Kichern gebracht. Wer würde wohl auf die Frage, ob er Anarchist sei, oder Polygamist, mit Ja antworten, fragte er Henri, der darauf auch Mühe hatte, ernst zu bleiben. Dann waren sie auf dem Quai gestanden, in Sichtweite des Schiffs, das ihnen riesig vorkam. Tische waren für sie aufgestellt, und man hat sich aus grossen Suppentöpfen, dazu Bergen von Brotschnitten, bedienen können. Wie er schliesslich in die Kabine gelangt war, die ihm nun schon zu einer Art Zuhause wurde, hatte er schon fast vergessen. Es war nochmals eine mühselige Plackerei mit dem Gepäck gewesen, die Kisten hatten sie gegen eine Quittung in einem Depot abgeben können, dann mussten sie einen Treffpunkt für einen späteren Zeitpunkt abmachen, weil Henri in der dritten Klasse, in Richtung des Bugs, untergebracht war, Jules' Logis der zweiten dagegen fast über dem Heck lag. Die Taschen waren über Treppen und lange, schwach beleuchtete Gänge bis zur Kabine zu tragen. Jules' Zimmergenosse für die beginnende Reise war, wie sich herausstellte, ein Auswanderer aus dem Südtirol, der sich als Silvius Alfreider vorstellte. Er sprach deutsch und italienisch, hatte aber, wie Jules, schon gewisse Fortschritte erzielt in seinen Bemühungen, englisch zu lernen. Sie hatten deshalb gleich abgemacht, zu gegenseitigem Nutzen in dieser Sprache miteinander zu verkehren. Sie waren sich sympathisch gewesen, Jules war darüber erleichtert.

Er verschlief fast den ganzen ersten Tag auf dem Meer, in seiner Kabine, so müde war er gewesen. Mit Henri zusammen hatte er noch vom unteren Rundgang zugeschaut, wie der von Zuschauern und Abschiednehmenden schwarz getupfte Quai langsam seitlich wegzog. Als das dicke Tau auf dem Schleppboot gelöst war und ins Wasser platschte, liess die "Provence" zweimal ein heiseres Hornsignal ertönen, worauf über der Menschenmenge am Ufer die Taschentücher wie übergrosse Schneeflocken hin und herwehten. Die "Provence" hatte sofort Fahrt aufgenommen, Jules musste eines ums andere Mal gähnen, und so verabschiedeten sie sich für den nächsten Tag und gingen, obwohl es noch Morgen war, schlafen.

Die folgenden Tage vergingen in wohligem Trott. Jules fühlte sich zurückversetzt in die Kindheit, in die meist nicht sehr langen, aber doch ein paar Tage andauernden Zwischenräume im Ablauf geregelter oder gefühlter Verpflichtungen, zum Beispiel nach der Ernte, aber noch vor Wiederbeginn der Schule. Oder während ein paar Tagen der Rekonvaleszenz nach einer halb überstandenen Krankheit, wenn man schon wieder fast alles durfte, kaum etwas musste. Das Wort Ferien hatte er damals kaum gekannt, andere Leute als er und seine Familie verfügten darüber. Hier aber, auf dem Schiff, schien es viele solcher Menschen zu geben. Kaum an Bord, schlenderten sie in ihren speziell für den eleganten Müssiggang mitgebrachten Kleidern in den Gängen und Salons umher, in betonter, gemessener Langsamkeit. Wenn sie innehielten und sich irgendwo hinsetzten auf eine der unübersehbar zahlreichen und vielgestaltigen Sitzgelegenheiten, so schien es Jules, als ob sie sich im Atelier eines Malers oder Photographen in Pose bringen wollten. Und es gab tatsächlich einige Photographen an Bord, die er in der Nähe oft derselben wenigen Personen aus der ersten Klasse antraf, wahrscheinlich berühmte und reiche Persönlichkeiten, wie er auch aufgrund der diskreten Anwesenheit von eigens mitreisenden Angestellten vermutete, die sich im Hintergund in Bereitschaft hielten.

Jules musste lernen, seine Bewegungen dem Rhythmus der Umgebung anzupassen. Mit seinem anfänglichen, ungeduldigen Trippeln und Drängen, wenn er hinter Passagieren herging, die in aufreizend langsamem Gang, ohne erkennbares Ziel, die ganze Breite von Treppen und Durchgängen einnahmen, hatte er Missfallen erregt, ausgedrückt durch Kopfschütteln, Augenverdrehen und Zischen. Einmal war er von einem korpulenten Herrn in Smoking sogar eines Ortes verwiesen worden mit der hervorgepressten Bemerkung, er habe dort nichts verloren, obwohl er als Passagier zweiter Klasse dazu durchaus berechtigt gewesen war. Seit Jules gelernt hatte, zu schlendern, seit er auch seine Kleidung mit Bedacht an die Situationen anpasste, in die sich zu begeben er vorhatte, eckte er kaum mehr an. Für Spaziergänge in seinem eigenen Tempo wählte er die ganz frühen Morgenstunden, während derer die Herrschaften noch schliefen, und der Blick auf den Atlantik unwiderstehlich war.

Er konnte sich nicht satt sehen an der Heckwelle des Dampfers. Sie kam ihm majestätisch vor, wie eine Schleppe aus zwei glitzernden Bahnen, gewoben und gezöpfelt von der stählernen Maschine eines Riesen. Das schoss unter dem Heck hervor, schneller als das Auge die Wirbel verfolgen konnte. Erst indem er sich weiter weg bewegte, schien sich der Teppich zu beruhigen, die Strudel breiteten sich aus, verschwammen mit dem Gewebe aus Gischt. Und immer weiter zog das Band von ihm weg, schnürte sich zusammen auf einen schwer bestimmbaren Punkt am Horizont. Erst wenn er seinen Blick wieder zurückkehren liess, sah er eine zweite, viel diskretere Spur, die das Schiff in die glatte Fläche des Meeres zeichnete, aus sanften Reihen von Wellen, die vom Bug und von den Flanken des Rumpfs ausgingen und sich in der Form eines Vogelzuges ausbreiteten. Ihre Farben waren ganz anders. Die Heckwelle erinnerte ihn an den Gletscher, den er einmal in den Walliser Alpen gesehen hatte, sie veränderte sich farblich kaum im Verlaufe des Sonnenaufgangs. Bei den seitlich wegziehenden Bugwellen dagegen musste er lange beobachten, bis er hinter das Geheimnis der verblüffend schnell wechselnden Farbigkeit kam. Von der ihm zugewandten Seite der Wellen wurde kein Licht zurückgeworfen, da versank das Auge im Schwarzblau der tiefen See. Die von ihm weg fliehenden Rückseiten jedoch wirkten wie weiche, bewegte Spiegel, in denen man die Farbe des Himmels darüber wahrnahm. Er verglich die Tönungen der Wellen und des Himmels, bis die Sonne ganz über dem Horizont stand, bis er wusste, dass er recht hatte. Dann ging er ins Innere, weil ihm kalt geworden war. Er wollte nachsehen, ob er schon ein Frühstück bekommen könnte.

Henri hatte nicht zu allen Orten Zutritt, an denen sich Jules aufhalten durfte. Er hatte mehrfach betont, dass ihm diese Einschränkungen nichts ausmachten, und dass die Kabine, die er mit fünf anderen Männern teilen musste, seine Erwartungen bei weitem übertroffen habe. Wenn Jules jedoch von seinen Erlebnissen im luxuriösen Kaffee oder im grossen Salon mit den Oberlichtfernstern erzählte, erkannte er an Henris umherschweifenden Blicken, dass er davon nichts hören wollte. Sie fanden heraus, wo sie sich ohne Schwierigkeiten treffen konnten, auf dem hinteren Deck zum Beispiel, oder auch im Entrée der zweiten Klasse, einem Aufenthaltsraum, der sich im hintersten der Deckaufbauten befand. Der Raum strahlte den Charme einer französischen Gaststube aus, und es war zu bestimmten Zeiten sogar möglich, etwas Kleines zu konsumieren.

Sie liessen sich Wasser, eine kleine Karaffe Wein, Paté und Weissbrot bringen. Die Ankunft in New York musste besprochen werden, ebenso die anschliessende Weiterreise nach Ohio. Henris Entschluss, in der dritten Klasse zu reisen, hatte zur Folge, dass er bei der Ankunft als erstes mit der Fähre nach Ellis Island, ins Dépôt des immigrants, verbracht werden sollte. Da nicht vorauszusehen war, wie lange die medizinischen und administratorischen Abklärungen dort dauern würden, es konnte ein paar Stunden dauern, bei Beanstandungen durch die Behörden auch mehrere Tage, musste für Jules eine Unterkunft gefunden werden, in der er ungeachtet dieser Unsicherheit auf ihn warten konnte. Sie machten aus, dass er in der Wartezeit die Billets für die Bahnreise nach Cleveland besorgen würde. Sie schauten sich die Strecke auf einer kleinen Karte an, die Henri mitgebracht hatte. Von seinem Onkel in Ohio kannte er auch Dauer und die Stationen der Fahrt. Über Albany und Syracuse nach Buffalo dauerte sie etwa zwölf Stunden, dann hatte man, nach dem Umsteigen, nochmals sechs Stunden dem Lac Érié entlang zu fahren bis nach Cleveland.
"Es gäbe auch einen Nachtzug mit Schlafwagen", meinte Henri, etwas zögernd.
"Das wäre wieder etwas Neues! Warum nicht?", fand Jules, und setzte nach:
"Komm, wir machen das. Ich bezahle dir den Aufpreis."
Henri sträubte sich, liess sich aber schliesslich überreden. Die Erinnerung an die nächtliche Fahrt durch Frankreich machte es ihm leichter, sich vom jüngeren Vetter etwas schenken zu lassen.
"Wie wir von Cleveland nach Sterling, zum Hof von Onkel Stoecklin, kommen, weiss ich noch nicht. Es muss sehr ländlich sein dort."
Jules munterte ihn auf.
"Wie zuhause! Wir finden schon etwas."

Vom vierzehnten auf dem fünfzehnten Mai schwächte sich das Hochdruckgebiet über den Azoren markant ab, wodurch sich ein Tief bei Neufundland ausdehnen und langsam in Richtung Südosten in Bewegung setzen konnte. Eine erste Regenfront erreichte die Route der "Provence" gegen Abend des fünfzenten.

Zuerst meinte Jules, er habe es sich nur eingebildet. Als er durch einen der langen Gänge des Schiffs ging, hatte er den Eindruck, als würde sich dieser ganz leicht krümmen, zuerst nach oben, dann, fast unmerklich in einem Bogen nach rechts, wieder in die Ausgangslage zurück. Als ihm eine Gruppe junger Leute entgegenkam, die übertrieben schwankten und sich kichernd an den Handläufen festhielten, stellte er fest, dass das Schwanken auch von anderen bemerkt worden war und also real war. Als er in die Kabine kam, sass Silvius auf seinem Bett und hatte einen farbigen, über einen Meter breiten Faltprospekt vor sich ausgebreitet.
"Look, what I found! The longitudinal section of the "Provence"!"
Jules verstand den Ausdruck nicht, konnte aber, als er sich ans andere Ende des Betts gesetzt und Silvius ihm das Blatt zurecht gerückt hatte, sehen, dass er ein Bild des Schiffs vor sich hatte, auf dem sie sich befanden. Der Rumpf war auf der ganzen Länge seitlich aufgeschnitten und zeigte das ganze Innenleben, alle Räume, die beiden enormen Heizkessel mit den Kaminen, die Kohlebunker und Maschinen, die Unterkünfte aller Passagiere und der Mannschaft, die Küche und so weiter und so fort. Alles war sorgfältig durchnummeriert und mit einer zweisprachigen Legende versehen. Sein Zimmergenosse war begeistert, er hatte ihm erzählt, dass er ein machine builder sei, da war das verständlich. Auf Jules tat die Abbildung eine zwiespältige Wirkung. Der Rumpf kam ihm überlang und zerbrechlich vor, die fehlende Bordwand wie eine riesige Wunde. Es fiel ihm schwer, den Eindruck von vor ein paar Minuten, als er meinte, der Gang habe sich gekrümmt, auf englisch in Worte zu fassen. Aber Silvius schien sofort zu verstehen, und zu Jules Schrecken behauptete er, das sei keine Täuschung gewesen, so ein Rumpf aus Stahl könne sich bei starkem Wellengang um bis zu einem halben Meter oder noch mehr in alle Richtungen verbiegen. Davon gehe aber keinerlei Gefahr für die Sicherheit des Schiffs aus, solange die Konstruktion clever auf die Elastizität des Materials eingehe und sie nicht an ungünstigen Stellen blockiere. Solche Fehler könnten allerdings zu Rissen führen. Jules stand auf, er wollte das nicht weiter anhören. Jetzt spürte er, dass das Schiff sanft, aber vernehmlich schwankte. Es war eine Drehbewegung um alle Achsen, und als er das festgestellt hatte, wurde ihm schlecht.

Samstag, 6. Februar 2021

Reisen Sie mit Zwilchenbart!

Die Aussicht, für mehrere Stunden sitzen bleiben zu können, nachdem man das Gepäck mehrfach aus den Bergen fremder Stücke herausgezerrt, gebuckelt, zwischengelagert auf schmierigem Bahnsteig, bewacht und verteidigt, wiederum geschultert und im engen Zugabteil verstaut hatte, erleichterte die beiden Männer derart, dass sie sich für eine kurze Weile in wohliger Schläfrigkeit zurücklehnten und die zuvor aufs Äusserste angespannte Wachsamkeit ablegten. Zwar war man inzwischen hungrig geworden, und ahnte bereits, wie hart sich die Bänke der Holzklasse in ein paar Stunden anfühlen würden, aber für diesen Moment, in dem der Zug noch im Bahnhof von Delles stand, konnte man sich in das eigene Innere zurückziehen, sich vom Geschnatter, Geschrei, Gelächter ringsum einhüllen lassen im Bewusstsein, dass es einen weder etwas angehe, noch etwas von einem verlangt sei. Sie realisierten die Gleichzeitigkeit ihrer Empfindung, als sie sich ansahen. Theatralisches Luftausstossen von Henri, Jules konnte nicht anders, als es ihm gleichzutun, sie lachten sich zu.

Zwei Männer aus dem gleichen Dorf, die elf Jahre Altersunterschied trennten, oder eine halbe Generation. Die eigentlich Onkel und Neffe waren, sich aber eher als Coucousins sahen. Sie waren sich, vielleicht weil sie entfernt verwandt waren, nie besonders nahe gestanden. Henri, der aus einer Familie von Obstbauern kam, meinte nach Amerika gehen zu müssen, weil er eigentlich keine andere Wahl habe. Der Hof wurde schon jetzt vom ältesten Bruder geführt, ein Auskommen in dessen Abhängigkeit oder auch nur räumlicher Nähe war für ihn nicht mehr denkbar. Mehrere Versuche, in Cornol eine passende Frau zu finden, waren gescheitert, also hielt ihn nichts mehr im heimatlichen Jura. Er wollte in Ohio, wo ein Cousin bereits seit einigen Jahren wirtschaftete, nicht mit übermässigem, aber doch zufriedenstellendem Erfolg, ein Stück Land erwerben und darauf Obst anbauen. Er hatte seine bescheidenen Ersparnisse bereits nach drüben überweisen lassen, und achtete nun auf geringe Reisekosten, indem er in der dritten Klasse reiste. Die beiden wussten noch nicht, ob es auf dem Schiff möglich sein würde, Zeit zusammen zu verbringen, denn Jules fuhr zweiter Klasse. Er hatte sich nicht nur von seinem Freund Pierre die Frage anhören müssen, weshalb er überhaupt nach Amerika auswandere. Zwar waren die letzten Jahre härter geworden für die Heimarbeiter, die Konkurrenz durch den Import billiger Uhren aus den USA zwang zu schnelleren, moderneren Produktionsformen, in Fabriken. Auch war Jules' Vater alt und müde geworden, manchmal befürchteten sie, dass eine schleichende Krankheit ihm die einst mit viel Energie und Freude ausgeübte Arbeit verleide. Und ob es mit der Uhrenfarbrik im Dorf etwas werden könnte, war nun auch ungewiss. Aber die Familie hatte über lange Zeit etwas auf die Seite legen können. Der Älteste war versorgt, machte seine Ausbildung im Grenzwachkorps und sollte bis in ein paar Jahren ein gesichertes Einkommen haben als Zollbeamter. Wenn der Vater also gar nicht mehr mochte, würde der kleine Hof an ihm, an Jules hängenbleiben. Aber noch war es nicht so weit. Nach aussen, auf die Fragen, begründete er seine Auswanderung mit viel abwägendem Dafür und Dawider, innerlich aber war die Antwort fast beschämend einfach: weil ich Lust habe! Und dass sogar seine so korrekte, fromme Schwester Marie den Sprung gewagt hatte, vor vier Jahren zum ersten Mal, zusammen mit fünf anderen jungen Frauen aus dem Dorf, sich in der Zeit drüben als Näherin hatte durchschlagen können, ohne unterzugehen, nun, nach ihrem Besuch in der Heimat, mit Bestimmtheit, und schon bald wieder, zurück wollte über den Atlantik, auch das trieb ihn an, wie er sich eingestehen musste.

Die unzeitgemässe frühsommerliche Wärme saugte über Westeuropa das Wasser aus dem Boden, termische Aufwinde türmten die Kumuluswolken über dem Burgund zu barocken Ungetümen auf. Wenn sie gegen Abend die Form von Ambossen annehmen sollten, waren kräftige Gewitter zu erwarten.

"Da kommt noch etwas!", meinte Henri, als sich nach einer sanften Kurve eine besonders eindrückliche Wolkenformation in die kleinen, hochstehenden Rechtecke der Fenster schob. Es war heiss in dem mit sechs Menschen voll besetzten Abteil. Man war sich beim Essen der mitgebrachten Brote näher gekommen, beim Herumreichen von Taschentüchern, Einmachgläsern und Weinflaschen, einigte sich nun darauf, ein Fenster ganz zu öffnen, um es bald darauf wieder bis auf einen kleinen Spalt zu schliessen, weil sich kleine Russpartikel schmerzhaft hinter Augenlidern und in den Nasenschleimhäuten einnisteten.

Ein Ehepaar, ursprünglich aus Courgenay, beide in den Dreissigern, begleitet durch eine weitere, etwas jüngere Frau, war schon für ein paar Jahre in den Vereinigten Staaten gewesen, wo der Mann als Sekretär in einem Anwaltsbüro, die jüngere Frau als Hausangestellte gearbeitet hatte. Die Ehefrau schien in Erwartung zu sein. Sie wechselte ab und zu ins Amerikanische, für Jules Ohren ohne erkennbaren Akzent. Ein weiterer Mann mittleren Alters, aus dem Elsass, wohlgenährt, mit Bäuchlein, gekleidet wie ein mittelmässig erfolgreicher Geschäftsmann, der gerne mehr sein will, als er ist, reiste nur bis nach Paris, wo er im Immobiliengeschäft tätig sei, wie er behauptete. Der Ehemann, der sich als Laurence Girardin, gerne auch einfach Laurence, vorstellte, brachte, als er erfuhr, dass Jules und Henri aus Cornol kamen, das Gespräch auf die Auseinandersetzung um die geplante und dann doch nicht realisierte Uhrenfabrik, von der er offenbar gelesen hatte. Er zog die beiden auf mit der Messerstecherei, schliesslich gar Schiesserei, vom vergangenen Herbst vor dem Gasthaus Boeuf.
"Ein hitziges Völkchen, die Cornoler!" schloss er seine spöttische Rede. Henri versuchte zu erklären, dass man von diesem Vorfall nicht auf die Art und Weise schliessen solle, wie die Diskussion im Dorf geführt worden sei. Zwar habe sich die Uneinigkeit über das Thema bis in die Familien hinein ausgebreitet, und manche hätten sich dabei in rüde Ablehnung, ja in richtigen Hass auf die gegenteilige Meinung hineingesteigert. Aber als es vor dem Boeuf zu jener zum Glück glimpflich verlaufenen Episode gekommen sei, hätten sich die Gemüter eigentlich schon wieder beruhigt gehabt, manche hätten sich auch versöhnlich, und für die umgebende Öffentlichkeit sichtbar, die Hand gegeben. Die zwei Streithähne seien unglückliche Exemplare einer Ausnahme, Alkohol habe eine entscheidende Rolle gespielt in jener Nacht. Henris Verteidigungsrede geriet zu lang, zu eindringlich auch, Girardin und die andern hörten schon nicht mehr richtig zu.

Jules hatte nicht antworten wollen auf die Provokation des Mitreisenden aus dem Nachbarsdorf. Sticheleien dieser Art, fand er, hatten ihren Ursprung in einer alten, immer gleichen Konkurrenz zwischen den Gemeinden, die sich, vielleicht weil sie sich ähnelten wie Zwillinge, geradezu krampfhaft voneinander zu unterscheiden suchten. Wer kannte die wahren Gründe, warum Courgenay den Bahnanschluss bekommen hatte, und nicht Cornol? Er meinte, reiner Zufall. Politische Willkür. Eine Zeit lang hatte er Hoffnungen gesteckt in das Projekt der Uhrenfabrik, aber als es ins Stocken geriet, hatte er einsehen müssen, dass wiederum nicht überzeugende Gründe ihre Wirkung entfalteten, sondern undurchschaubare Kräfte, ausgelöst und dirigiert durch Geldbewegungen und Absprachen im Hintergund. Zum Davonlaufen!

Er schaute aus dem Fenster, sah, wie der Horizont nun bedrohlich nahe unter einer schwarzen Wand zusammengepresst schien. Die Pappeln einer vorbeiziehenden Allee wurden silbern überschauert, jetzt verbogen sie sich unter den Fallwinden des aufziehenden Gewitters, begannen auch schon, abgerissene Äste von sich zu werfen. Das Bild der vom Sturm zerzausten Landschaft war plötzlich überdeutlich klar, Dampf und Rauch der Lokomotive wurden vom seitlich auf den Zug prallenden Wind auf die gegenüberliegende Seite geblasen. Das Gespräch im Abteil verebbte, man machte sich gegenseitig auf die Naturphänomene aufmerksam, die sich vor den Fenstern abspieleen. Erste grosse Regentropfen zerplatzten an den Scheiben zu schrägen Wasserstrichen, dann setzte mit schnell anschwellendem Rauschen ein gewaltiger Regen ein, die Landschaft verdunkelte sich und verschwand hinter einer bewegten Schraffur, Blitze verkehrten die Helligkeiten und Schatten für Sekunden in ihr Gegenteil, der Donner übertönte in Wellen das Geratter von Rädern und Kupplungen.

Das Gewitter zog schnell weiter, trotzdem fuhr man mit verminderter Geschwindigkeit. Wegen der unvermittelten Dunkelheit wurden in den Abteilen die Gaslaternen angezündet. Dann bremste der Zug brüsk. Gepäckstücke fielen herunter, Passariere wurden aus ihren Sitzen gehoben und auf ihr Gegenüber geworfen, angsterfülltes Geschrei mischte sich in das Kreischen der Räder, dann stand alles still. Sofort wurden überall Abteilungstüren geöffnet, und obwohl zwei Beamte in Uniform durch laute Rufe und eifriges Wedeln mit den Armen versuchten, die Passagiere am Aussteigen zu hindern, wuchs schnell die Menge der gaffenden und laut den Grund des erzwungenen Halts diskutierenden Menschen entlang der Reihe der Waggons. Ein riesiger Ast, am abgebrochenen Ende so dick wie ein Baum, war auf das Geleise gefallen.

Da an der Lokomotive keine geeignete Vorrichtung zur Räumung der Schiene angebracht war, sie verfügte über keinen Cowcatcher, wie das Ehepaar mit Amerikaerfahrung allen erklärte, die sich in ihrer Nähe befanden, musste aus der nächstgelegenen Lokremise eine der Aufgabe gewachsene Maschine angefordert werden, was immerhin dank moderner und mobiler telegrafischer Apparate schnell gelang. Trotzdem ergab sich eine Wartezeit von zwei bis drei Stunden, und man musste einsehen, dass sich die Ankunft in der Gare de l'Est in Paris auch um diese Dauer verzögern würde.

Jules setzte sich von der Gruppe der Mitreisenden aus dem Abteil ab, die begonnen hatten, sich mit Schicksalsgenossen aus anderen Wagen auszutauschen, neue Gruppen und Grüppchen zu bilden und dabei der Trasse entlang auf und ab zu spazieren. Er stolperte über den Schotter hinunter auf einen kleinen Gehweg, musste dabei hohes Gras durchqueren, wobei er auch gleich nasse Füsse bekam. Er beachtete es nicht, fühlte sich auf einmal in einer eigenartigen Hochstimmung. "Unterwegs, ich bin unterwegs", murmelte er vor sich hin. Wenn er sich jetzt aus dem Staub machen würde, er wusste nicht einmal, wo sie sich befanden, irgendwo zwischen dem Jura und Paris, niemand könnte wissen, wo er steckte. Aber er musste gar nicht weglaufen, nur warten. Er würde, verspätet zwar, aber wen kümmerte es, in Paris sein heute Abend noch. Er breitete die Arme aus und drehte sich ein paarmal um sich selbst, sang dazu: "Tourne vire-virevolte", und brach in lautes Lachen aus. Schon zeigten sie vom Damm aus mit Fingern auf ihn, man lachte, jemand nahm sein Singen auf, "tourne vire-virevolte". Wenn ihn jetzt seine Mutter sehen würde, oder Marie, sie würden sich für ihn schämen, wie so oft schon. Er aber freute sich, auf Paris, auf die Fahrt nach Le Havre morgen, und dann.

"Du warst auch noch nie in Paris, oder? Was war die grösste Stadt, die du bisher gesehen hast?
Jules schaute angestrengt zum Fenster hinaus in die Dämmerung.
"Genf. Und du?"
"Basel. Nein, Zürich ist grösser, glaube ich. Da war ich auch einmal. Schau, hier sind schon die Vororte grösser, die Häuser haben mehr Stockwerke."
"Und alles beleuchtet, sind das Gaslampen? Die sind hell!"
Der Schaffner steckte seinen Kopf ins Abteil und wollte die Passagiere daran erinnern, ihr Gepäck zusammenzusuchen, nichts zu vergessen. Sie standen sich aber bereits auf den Füssen herum, zwischen Koffern, knufften einander beim Zusammensuchen der Taschen und Körbe. Der Schaffner sagte nur:
"In fünf Minuten sind wir da, Paris, Gare de l'Est!", und zog weiter.

Die Agentur Zwilchenbart hatte ihren Reisenden bei Abschluss des Vertrags eine Broschure verteilt, worin unter anderem stand, dass man sich in der Gare de l'Est zu versammeln habe bei einem Guide ihrer Gesellschaft, der gut sichtbar ein Schild mit dem Namen derselbigen hochhalten würde. Der Guide stellte sich als eine resolute Frau mittleren Alters heraus, die ihre unbestreitbare Sichtbarkeit durch laute Rufe, "Zwilschenbarte, Zwilschenbarte!", unterstützte. Jules und Henri hatten gemeinsam einen Gepäckträger mit Rollwagen engagiert, der ihre schwereren Stücke zum Versammlungsort brachte. Hier gewannen sie zum ersten mal einen Überblick darüber, wer von den Passagieren des Zuges mit ihnen morgen auf dem Schiff die Überfahrt antreten sollte. Es waren etwa vierzig Personen. Die Frau verschob ihren Standort in eine Ecke der Eingangshalle, wo sie weitere Instruktionen abzugeben gedachte. Man folgte ihr brav. Sobald alle am gewünschten Ort angekommen waren, formierte sie die Passagiere mit resoluten Gesten, lautforschem Anreden, nötigenfalls durch Zupfen und Ziehen an Ärmeln, in einem grossen, kreisförmigen Gebilde. Die beiden zwinkerten sich zu, beide hatten dieselbe Dorfschullehrerin gehabt, die Zwilschenbarte glich ihr auch äusserlich.

Man begebe sich nun zu Fuss zum Hotel, wo es zuerst um den Zimmerbezug gehe. Dieser sei zwar, angesichts der Verspätung, sie betonte das Wort vielsagend, als seien die um sie Versammelten an diesem Ärgernis schuld, angesichts der Verspätung sei es nun ein eher symbolischer Akt, die Zimmer zu beziehen, denn schon um Mitternacht, in wenigen Stunden also, müsse man schon wieder bereit stehen für den Omnibus, der einen zur Gare St. Lazare bringen würde. Immerhin könne man sich aber im Zimmer vor dem Nachtessen, das durch die Gesellschaft organisiert und bezahlt sei, kurz frisch machen. Auch nach dem Essen sei es möglich, sich im Zimmer kurz, sie betonte, kurz, hinlegen, sofern man es nicht vorziehe, eine kleine, quasi kompakte Besichtigung des das Etablissement umgebenden Quartiers vorzunehmen.
"Uh la, reden alle Pariser so geschwollen?", flachste Henri. Gelächter der Umstehenden, strafender Blick der Zwilschenbarte.
"Also, meine Damen und Herren, bitte folgen Sie mir. Ihr Gepäck wird draussen aufgeladen und zum Hotel gefahren, bitte kontrollieren sie die Vollständigkeit, dann gehen wir zusammen. Folgen Sie meinem Schild. Es ist, wie gesagt, ein Weg von fünf Minuten."

Jules blieb stehen.
"Hör mal!" Er legte den Kopf schief und schloss die Augen. Auch Henri stand still und horchte. Im Vordergrund waren laute, oft brüske, anschwellende und verklingende Geräusche zu hören, Pferdegetrappel und, sehr laut, das Gerassel und Geratter von Eisenreifen auf Kopfsteinpflaster. Motoren, mit gemütlichen Tuktuk oder aggressivem Röhren, Peitschengeknalle, Rufe, Poltern von Fässern auf einer Rampe, Glockengebimmel der Omnibusse, Schwatzen und Gelächter vorbeihastender Passanten. Dahinter, darüber und darunter aber, und darauf wollte Jules seinen Begleiter aufmerksam machen, war ein eigentümliches Summen, Rauschen und Tönen auszumachen, das immer da zu sein schien. Das von weit her kam, und gleichzeitig überall gegenwärtig und nah sich im Ohr einnisten wollte.
"Hörst du's? So tönt Paris!"
"Ja. Wie tönt wohl New York?"
Sie mussten sich beeilen, gerade noch konnten sie sehen, dass die Gruppe in eine Seitenstrasse eingebogen war. Als sie sie eingeholt hatten, standen sie vor dem Hotel, La Ville de New York.

Die Qualität des Nachtessens erstaunte die Reisenden sehr. Ihre Müdigkeit war verflogen, oder zumindest überdeckt vom Genuss eines währschaften, dabei zarten und gut abgeschmeckten Pot au Feu, zu welchem frisches Weissbrot serviert wurde. Auch der Rotwein war trinkbar und so anregend, dass der Lärmpegel in dem hohen Esssaal in kurzer Zeit ohrenbetäubend anschwoll. Jules trank seinen Wein nach alter Gewohnheit mit etwas Wasser verdünnt. Im Gewirr der Stimmen, die sich gegeneinander zunehmend durch Rufen und Schreien zu übertönen suchten, beim Geklapper von Besteck und Geschirr, beim Scharren von Stühlen, entwischten ihm die Gedanken, noch bevor er sie richtig fassen konnte. Er versuchte, Henris Aufmerksamkeit durch Gesten auf sich zu lenken. Den Mund übertrieben bewegend und dazu gestikulierend teilte er ihm mit, dass er, Jules, genug gegessen habe und nach draussen gehen wolle für einen Spaziergang durchs Quartier. Henri bedeutete ihm, er solle ruhig gehen. Er wollte noch sein Stück Tarte Tatin fertig essen und einen Kaffee dazu trinken. Jules ging zum Aufzug, es reizte ihn, einmal ganz hinauf und wieder hinunter fahren, denn bei ihrer Ankunft hatte es so einen Ansturm auf den Lift gegeben, dass er ewig hätte warten müssen.

Nun stand er draussen im Schein einer Gaslaterne, einen kleinen Faltplan der Stadt hatte er von einem Stapel in der Reception mitnehmen können. Auf keinen Fall wollte er sich verirren in der kurzen Zeit, die ihm für die Erkundung blieb. Er ging den Weg, auf dem sie gekommen waren, zurück bis zur Kreuzung, um die Strassenschilder lesen zu können, fand seinen Standpunkt auf der Karte, Ecke Rue d' Hauteville, Rue de Paradis, im zehnten Arrondissement. Daran grenzte zu seinem Erstaunen das zweite, bis er merkte, dass die Nummerierung einer nach rechts drehenden Schneckenspirale folgte, deren Zentrum beim Louvre lag. So weit durfte er sich aber nicht vom Hotel entfernen. Er war unversehens vom Trottoir auf die Strasse geraten, was ein sehr lautes Geräusch auslöste, wie von dem röhrenden Hirsch, den er einmal gehört hatte, im Wald über dem Dorf. Ein Automobil war ihm gefährlich nahe gekommen, und nun sah er auch den Beifahrer, der wütend einen dicken Gummiball traktierte und damit, durch einen Messingtrichter, den Hirschschrei erzeugte. Er rettete sich durch einen Sprung zurück, dorthin, wo er als Fussgänger hingehörte. Er nahm sich vor, bei der nächsten Seitenstrasse nach rechts abzubiegen, dann wiederum, noch zweimal, nach rechts. Damit würde ihn sein Weg automatisch wieder in dieselbe Strasse zurück führen, und er müsste nicht mehr andauernd auf den Plan schauen, könnte einfach schauen, hören, riechen. Geniessen. Er versuchte, sich das Gefühl von Freiheit vom Nachmittag wieder in Erinnerung zu rufen. Es gelang ihm, fast.

Als er um halb zwölf wieder beim Hotel eintraf, waren die meisten der Reisenden mit ihrem Gepäck auf dem Vorplatz versammelt. Henri hatte freundlicherweise auch sein Gepäck heruntergebracht. Gemeinsam luden sie es auf den bereitstehenden Lastwagen.
"Kontrollieren Sie ihr Gepäck! Haben Sie alles?"
Es war die Zwilschenbarte, die wieder das Kommando übernommen hatte. Es gab zwei Omnibusse, mit denen sie zur Gare St. Lazare gebracht werden sollten. Einer war zweistöckig, und natürlich wollten die meisten mit diesem fahren, wenn möglich oben. Jules und Henri begnügten sich damit, das technische Wunderwerk von aussen zu besichtigen, dann setzten sie sich in den einstöckigen Wagen, in dem es so viel Platz gab, dass sie sich beide, hintereinander, an ein Fenster setzen konnten. Es roch nach Benzin und Leder, alles vibrierte, weil der Chauffeur den Motor gar nie abgestellt hatte. Die beiden freuten sich wie kleine Buben auf die Fahrt.

Als der Bus in die Rue Lafayette einbog, hielt es sie nicht mehr in den Sitzen. Sie zwangen sich im schmalen Gang zwischen den Bänken nach vorn zum Fahrer, dann, als sie von ihm angeherrscht wurden, sie sollten sich setzen, wieder zurück bis zum Heckfenster. Sie wollten, sie mussten unbedingt die ihnen unfassbar scheinende Dimension dieser Schneise durch die Stadt erfassen, welche, wie sie aus dem fernen Unterricht ihrer Dorfschule wussten, Haussmann durch die alten Quartiere hatte schlagen lassen, zur Förderung von Licht, Mobilität und repräsentativer Prachtentfaltung. Der Verkehr auf Strasse und Gehsteigen war auch nach Mitternacht noch beachtlich, die Gaslaternen warfen gelblichweisse, sich überschneidende Lichtkreise auf die wuchtigen Fassaden der sechs- bis achtstöckigen Stadthäuser, die ihnen wie endlos aneinandergereihte Paläste vorkamen. Sie bogen in spitzem Winkel nach rechts ab in die Rue Châteaudun, welche auf Höhe der Eglise de la Sainte-Trinité, römisch-katholisch, wie Henri von einer zuhause auf der Kommode stehenden Postkarte wusste, mit einem leichten Knick nach links in die Rue St. Lazare überging. Kurz darauf traf der Omnibus auf dem Platz vor dem Bahnhof ein und stellte sich in die Reihe aus einem Dutzend parallel stehender, gleicher oder ähnlicher Fahrzeuge.

Endlich im Zug, sanken die Reisenden erschöpft auf die Bänke nieder. Man nahm kaum mehr wahr, wer sonst noch im Abteil sass, mit wem man die Nacht, gerüttelt und geschüttelt auf harter Sitzunterlage, verbringen würde. Einige, darunter auch Henri, hüllten sich sofort in ihre an Haken aufgehängten Mäntel ein und suchten nach einer halbwegs bequemen Lage für ihren Kopf. Jules schob noch einmal das Fenster nach unten, als der Zug schon zu rollen begann. Die ganze Bahnhofshalle war von Schwaden aus Rauch und Dampf durchzogen, welche die schwarzen, wie riesige Tiere wartenden Lokomotiven ausatmeten. Mit tränenden Augen sah Jules zu, wie sie langsam aus einer riesigen Schachtel aus Stahl und Glas hinausfuhren in die Nacht.

Entreacte 1

Zweifelhaft wird die Geschichte von Longjules, wenn wir sie weiterspinnen, irgendwann zwi-schen dem Jahr 1907 und 1914 werden, sofern wir uns dann auf eine einzige Version festlegen wollen. Denn nach wie vor liegen uns, ausser der mündlichen Überlieferung und den Zeugenaussagen Verwandter über Kleidungsstücke mit einer Ettikette von John D. Rockefeller Junior, keinerlei Belege für eine Tätigkeit von Jules Chiquet als valet oder steward bei diesem Superreichen der damaligen Welt vor. Dagegen gibt es einen, nicht sehr belastbaren, Hinweis auf eine solche Tätigkeit bei einem reichen Treuhänder namens Robert Henry McCurdy, in Form der Adresse von dessen Stadtvilla in Manhattan, die Jules Chiquet bei seiner Einreise 1914 angab.

Nun wäre es schade, und man käme sich als Nacherfinder seiner Geschichte auch ein bisschen schäbig vor, wenn nur entlang von Indizien, die auch vor dem kritischen Urteil einer Historikerin Bestand haben, eine einzige Version konstruiert und gegen die Familiensaga durchgedrückt würde. Wir müssen also einen Weg finden, wie sich zumindest zwei mögliche Verläufe für diesen Lebensabschnitt unseres Gossonkels entwerfen lassen. Um weder uns selbst beim Erfinden und Schreiben zu sehr zu ermüden, noch die Leserinnen und Leser zu langweilen durch Wiederholungen und Überschneidungen, ist es wohl am besten, wenn wir nicht zwei vollständige Geschichten neben- oder hintereinander stellen, sondern eine Form suchen, die Brüche und Sprünge von einer zur anderen nicht nur zulässt, sondern eher fördert.

Die Form des ersten, fiktionalen Kapitels mit dem Titel "Aufbruch" verglich ein Leser mit einem Film. Wenn man den Text mit diesem Fokus nochmals duchliest, wird man vielleicht zustimmen und ergänzen: wie ein Film, wo der Protagonist sehr nahe mit der Handkamera verfolgt wird.

Stellen wir uns vor, man könnte bei der Geschichte, wie der Produzent oder Regisseur bei den Dreharbeiten eines Films, den Set beeinflussen. Ihn besuchen, dorthin anrufen, mit den Schauspielern, hier: mit den Figuren, reden, sie über ihre Erfahrungen ausfragen, ihnen Tipps geben, oder von ihnen Ratschläge entgegennehmen bezüglich des weiteren Verlaufs der Geschichte und ihrer Umsetzung. Nehmen wir weiter an, dass das Drehbuch, dank einer grosszügigen Produktionsfirma sowie eines dem Experimentieren nicht abgeneigten Regisseurs, noch nicht fertig geschrieben ist. Ein Videotelefonat, geführt nach Abschluss des ersten Kapitels, könnte dann etwa so aussehen.

Ich muss auf dem Set anrufen, nachfragen, ob es gut gelaufen ist. Ich ziehe mein speziell für diesen Zweck eingerichtetes, zweites Mobiltelefon heraus und tippe auf Jules Nummer. Das Gesicht einer mir unbekannten jungen Frau erscheint.
"Ah, hallo, ist das nicht Jules Handy, habe ich die falsche...?
"Nein, ist schon seines." Sie lacht. "Er sucht es gerade. – Ich gebe ihn dir."
Sein schmales Gesicht taucht auf. Etwas verwirrt, frage ich:
"Wer war denn das?"
"Die war bei den Leuten auf dem Dorfplatz, beim Abschied. Du hast sie dorthin bestellt."
Ich versuche, mir die Gesichter in Erinnerung zu rufen.
"Ah, gut. Weiss nicht mehr. - Wie ging's?"
"Das mit dem blind Laufen ging fast schief, war schwieriger als ich dachte."
"Aber das hattest du vorgeschlagen!"
"Ja, ich weiss. Es stimmte auch, ich war gleich drin in ihm. In der Figur, meine ich. Die Kühe waren süss, haben noch wie um Erlaubnis gefragt mit ihren Kulleraugen, bevor sie alleine weiterzogen, dort, wo ich anhalten und schwatzen musste."
"Und wie ging das mit diesen Dreien? Mit dem Dialog überhaupt, mit den Gesprächen?"
Jules hält den Kopf schief, schaut herum, dann wieder zu mir.
"Ja, nun, ein Teil ist ja notiert, ein paar Sätze haben wir noch kurz besprochen. Auch, wie rein der Patois sein sollte, die Jungen mischten das ja schon ziemlich mit Französisch, unter sich. Mit den Eltern und Grosseltern gaben sie sich mehr Mühe. Wir haben halt einiges improvisiert."
"Und sonst? Das Werkeln, wie du dem sagst?"
Er lacht.
"Das hatte ich geübt, lief super. Vielleicht werde ich noch Uhrmacher, oder sonst so ein Bastler. Die Paysans-Horlogers waren echte Nerds!"
Er macht eine Pause, will noch etwas sagen. Ich warte.
"Der Abschied, vor allem von Maman, war an der Grenze, finde ich. Ich weiss nicht, ob das nicht als Kitsch rüberkam. Aber auch für uns, ich meine, sie ist Profi, hat das mit dem kurzen Moment der Rührung so hingelegt, dass ich sie einfach auf diese Weise anfassen musste. Ich bin unsicher, ob er das so gemacht hätte. Vielleicht haben sie sich auch schlicht und spontan umarmt, mit Bisoubisou und allem. Waren ja Romands."
Wieder hält er seinen Kopf schief, zieht dann die Schultern hoch und lacht. Zeigt die oberen Zähne beim Lachen, wie Jules auf den Fotos.
"Also dann, sage ich salut. Bald gehts weiter. Bonne continuation!"
"Ja. Ah, Moment! Jetzt kommt ja die Zugreise, der kurze Flash von Paris und das alles. Ich würde da einen leicht anderen Filter nehmen, mit ein bisschen zeitlicher Distanz. – Was meinst du?"
"Ich überleg's mir. Und: Danke!"
"Schon gut. Salut!"
Er hat auf den roten Knopf gedrückt und ist verschwunden.