Mittwoch, 28. April 2021

Die Belagerung

Es folgten ruhige drei Wochen, die Jules später wie die Ruhe vor dem Sturm vorkamen. Nach dem ungewöhnlich langen und harten Winter folgte ohne Übergang ein prachtvoller Frühling. Die Stadt befreite sich vom Grau, Blütenwolken in weiss, gelb und rosa betupften Gärten und Parks, Strassen und Alleen. Unberührt vom Lärm der Fahrzeuge sangen die Vögel ihre Lieder. Am Tag wurde es angenehm warm, die Kleider der Leute in den Strassen hellten sich auf. Jules überlegte, ob er sich auch einen der flachen Hüte kaufen sollte, den jetzt fast ausnahmslos alle Männer trugen. Aus hellem Stroh, mit breitem dunklem Band.

Er hatte damit begonnen, seinem Dienstherrn die Kleider herauszulegen, die Schuhe zu polieren und bereit zu stellen. Mr. Dowers war ein geduldiger und sehr gewissenhafter Tutor, der Mr. Rockefeller gut zu kennen schien. Dieser benötigte zum Beispiel wenig Schlaf und stand oft schon um fünf Uhr morgens auf. Der Butler riet dringend davon ab, den Dienstherrn um diese Zeit bereits aktiv und sichtbar umsorgen zu wollen, da er dann noch nicht bereit sei, mit anderen Menschen zu sprechen. Es müsse jedoch alles zu seiner Zufriedenheit bereit liegen, das Rasierzeug, die Kleidungsstücke. Dann das Frühstück im Raum neben seinem Büro im Erdgeschoss. Die Zeitungen, soweit schon verfügbar, die Bibel. Mr. Rockefeller Junior rasiere sich übrigens immer selber, meist mehrmals am Tag, mittels eines patentierten Rasierers mit Klingen. Jules wurde gezeigt, wie man den Apparat gründlich putzt und die Klingen ersetzt. Er solle sich notieren, wie oft diese schon benutzt worden seien, damit er sie rechtzeitig austauschen könne. Jules war neugierig und kaufte sich bald den gleichen Rasierer. Für die Kleider hatte Mr. Rockefeller drei oder vier Schneider, zwei in New York, einen in Cleveland und einen, für Sommer- und Sportkleider, in Maine. Die Werkstatt des Schuhmachers befand sich in Manhattan. Jules wurde bald dorthin geschickt, um identische Paare desselben Typs abzuholen. Er liebte den Laden, auch wenn er sich dort niemals hätte Schuhe für sich selber kaufen können. Beim Eintreten ertönte ein Glockenspiel, und es roch intensiv nach Leder und Pflegemittel. Wenn sich ein bestelltes Paar nach ein paar Wochen bewährt hatte, liess Sir John gleich zwei drei weitere davon anfertigen. Für seinen Kammerdiener war das praktisch, denn so konnte er sich beim Putzen, Einkremen und Polieren in der Regel Zeit lassen. Wenn Mr. Rockefeller jedoch ein Paar für den Tag oder einen speziellen Anlass ausgesucht hatte, musste immer ein zweites, tadellos geputzt, bereit sein. Das war eine seiner Macken. Es war, als ob sein Selbstvertrauen von sauberen Schuhen abhinge. Der Ersatz wurde auch im Automobil mitgeführt, wenn er zum Büro im Standard Oil Building fuhr, oder zu einem der Landhäuser in Pocantico Hills. Die Schuhe wurden sofort gewechselt, wenn sie nur leicht beschmutzt wurden, und Jules lernte, Schuhe im Auto oder in kleinen Abstellkammern des Bürogebäudes wieder in Hochglanz zu versetzen.

Mr. Rockefeller verhielt sich ihm gegenüber freundlich, aber förmlich distanziert. Jules lernte, seine allgemeine Verfassung ebenso wie die momentanen Stimmungen aus feinen Nuancen in Haltung und Bewegung herauszulesen, denn in Sir John's Gesicht, das einem manchmal wie eine freundliche Maske erschien, spiegelte sich nichts davon. Mit der Zeit erkannte er, dass sich dies nur änderte, wenn der Mann mit seiner Frau und seinen Kindern zusammen war, und es ihm gelang, die fast immer und überall anwesenden Bediensteten zu vergessen. In keinem Moment sah er Mr. Rockefeller die Fassung verlieren wie es manchmal Mr. McCurdy zugestossen war, vor allem, wenn dieser zu sehr dem Alkohol zugesprochen hatte. Im Hause Rockefeller herrschte absolute Abstinenz, was jedermann wusste. Rockefeller Junior war ein teetotaler. Jules hatte damit keine Schwierigkeiten.

Es stellte sich eine Routine ein, die ihm entgegen kam. Es fiel ihm leicht, sehr früh aufzustehen, auch wenn er noch nicht gebraucht wurde. Er liebte die Stille im Haus, sein allmähliches Erwachen. Er half der Köchin und dem Butler beim Zubereiten des Frühstücks, zuerst für den Dienstherrn, dann für die Familie. Als Mr. Rockefeller dies bemerkte und ihn fragte, warum er schon auf den Beinen sei, kam es zum ersten etwas persönlicheren Gespräch zwischen ihnen. Jules erzählte, er sei seit seiner Kindheit früh aufgestanden. Zuerst habe er im Stall helfen müssen beim Melken, dann an jedem zweiten Tag in der Frühmesse als Ministrant dem Pfarrer zudienen, erst danach sei er in die Schule gegangen. Sir John schien interessiert.
"Verstehen Sie auch etwas von Pferden? Züchtet man Pferde in Ihrer Heimat?", wollte er wissen.
Er könne einen Wagen anspannen und lenken, auch ein wenig reiten. Sie hätten aber nur noch Kühe zuhause. Pferde würden etwas weiter südlich gezüchtet, in den Hügeln des Jura.
"Man nennt sie Freiberger. Ein Pferd für alle Zwecke."
Mr. Rockefeller zog eine Augenbraue hoch und lächelte.
"So? Gibt es das?"

Die Rockefellers hielten ein Dutzend Pferde, in den Ställen der Landhäuser von Vater und Sohn in Pocantico Hills, die nördlich von New York, etwa eine Autostunde entfernt, in den Hügeln über Tarrytown standen. Zwei Angestellte waren dafür zuständig. Auch einen Golfplatz gab es dort, mit neun Löchern, wie man Jules erklärte. Er wusste nicht, wieviele Löcher andere Plätze hatten. Mit Mr. McCurdy und dessen Freunden hatte er manchmal halbe Tage auf dem Golfplatz verbringen müssen. Er fand das Spiel langweilig. Die Pferde, vor allem aber die schnellen Wagen, welche die Rockefellers fuhren, Vater und Sohn, interessierten ihn hingegen sehr. Sie hatten in der Umgebung ihrer Häuser zahllose Wege anlegen lassen, mit einem Belag aus gestampftem Mergel. Dort fuhren sie ihre Runden, manchmal halsbrecherisch schnell. In der Nähe des Hauses, das die jungen Familie bewohnte, Abeyton Lodge, stand auch das Landhaus des Seniors, Kykuit. Es kam Jules vor wie eine düstere Festung, mit hohen Mauern aus grob behauenen Steinen, und bewachsen von dicken Strängen aus Glyzinien. Das Haus von Rockefeller Junior gefiel ihm besser. Es war ein Ensemble aus Fachwerkbauten, die ihn an Gasthäuser im Elsass erinnerten. Allerdings waren die Räume hier hoch, und mit viel Luxus ausgestattet. Eines der Gebäude beherbergte ein grosses Hallenbad.

Obwohl sich der Reichtum, der ihn da umgab, überaus greifbar vor seinen Augen ausbreitete und er ja auch hantierend mit den Dingen umging, die ihn ausmachten, fühlte er sich oft wie durch eine Glasscheibe getrennt davon. Er hatte niemanden, dem er von seinen Eindrücken erzählen konnte, und es fiel ihm schwer, sie einzuordnen. Mit den freien Sonntagen war es fürs erste vorbei. Er wusste nicht, wie lange es gehen würde, bis er Fiona und andere seiner Freunde und Bekannten wieder würde sehen können. Und ein fleissiger Briefeschreiber war er auch nicht. Die anderen Hausangestellten behandelten ihn freundlich, aber mit spürbarer Zurückhaltung, die sie sich auch untereinander auferlegten. Noch nie hatte er einen unter ihnen in der Weise von den Herrschaften sprechen hören, wie er es im Club und auch bei den McCurdys immer wieder erlebt hatte, direkt und distanzlos. Auch er hielt sich schon zu Beginn an dieses ungeschriebene Gesetz.

Dann begannen sich die Dinge zuzuspitzen. Jules merkte, wenn er seinem Dienstherrn die Zeitung brachte, wie dieser nervös die Schlagzeilen absuchte. Ob sich die Lage zwischen den Streikenden und ihren Gegnern, der Unternehmensführung, den Streikbrechern und den Milizen, weiter verschärft habe. Ob der Tonfall in der Kritik an ihnen, den Rockefellern, nochmals eine Stufe rauher geworden sei. Dann, anfangs April, entschloss sich der Dienstherr, nach Washington zu fahren. Soviel Jules davon mitbekam und verstand, sollte er dort vor einem Komitee des Kongresses Rede und Antwort stehen, weil man eine zu hohe Unfallquote in den Minen von Colorado festgestellt hatte.
"Ich werde keine Diener dorthin mitnehmen, Chiquet. Das würde man nicht verstehen. Aber Sie können mir dabei helfen, die passende Kleidung auszusuchen. Ich sollte wie ein gewöhnlicher Geschäftsmann aussehen. Was meinen Sie?"
Sie entschieden sich für einen eher eng sitzenden, braun gestreiften Anzug aus Kammgarn.

Jules gelang es, von einem Postamt aus Fiona anzurufen. Da sein Dienstherr abwesend war, hoffte er auf ein paar freie Stunden, in denen er sie treffen könnte. Er wusste nicht, ob es an der für beide ungewohnten Form des Gesprächs lag, jedenfalls wirkte Fiona ausweichend, fast abweisend. Sie sagte, ihre Herrschaften gäben sie nicht frei im Moment. Er zweifelte daran und fragte nach.
"Willst du nicht wegen Rockefeller, wegen dieser Streikgeschichte in Colorado? Weil wir dann wieder streiten würden?"
Sie antwortete, sprach dabei ernst und so leise, dass er immer wieder nachfragen musste, weil er sie nicht verstand.
"Das ist nicht mehr einfach eine Geschichte, Jules. Dort herrscht Kriegszustand. Beide Seiten sind jetzt bis an die Zähne bewaffnet. Die Streikenden haben in ihren Zelten den Winter knapp überlebt, mit Frauen und Kindern. Jetzt graben sie die Löcher darunter noch tiefer, aus Angst vor Scharfschützen der Milizen, welche das Unternehmen aufgeboten hat. Und das Unternehmen, das sind die beiden Rockefeller."
"Was müsste er denn tun? Er ist jetzt nach Washington gefahren und wird von diesem Untersuchungsausschuss befragt."
Fiona schweigt eine Weile.
"Fiona?"
"Ja, immerhin tut er das. Aber manche befürchten, dass der Alte die Nationalgarde rufen lässt. Und wenn die kommen, dann gibt es ein Gemetzel. Die haben Maschinengewehre, Jules."
Er hatte den Gedanken, sie treffen zu können, bereits aufgegeben.
"Die werden doch nicht auf Frauen und Kinder schiessen! Woher weisst du das überhaupt alles?"
"Es gibt Zeitungen, die nicht den Reichen gehören, weisst du."
Trotz der schlechten Verbindung hörte er ihren belehrenden Ton. Er verabschiedete sich und hängte den Hörer an den Haken. Noch glaubte er daran, dass sich die Ereignisse bald beruhigen würden.

Es musste etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein. Als Jules an jenem Nachmittag mit seinem Dienstherrn vom Büro zurückkam, waren die beiden Detektive im Haus, die Familie, mit Unterstützung der Bediensteten, am Packen. Mrs. Rockefeller und die Kinder sollten noch am selben Abend nach Pocantico fahren, wo sie, wie es hiess, in Sicherheit seien. Mr. Rockefeller wollte in der Stadt bleiben, wenigstens vorläufig. Das Personal wurde, nach einem Plan von Miss Davis und Mr. Dowers, auf die beiden Häuser aufgeteilt. Für den Umzug standen zusätzliche Chauffeure und Fahrzeuge bereit, Abfahrt war um sechs. Jules sollte in New York bleiben.

Es war eigenartig. Niemand sprach über den Grund dieser einschneidenden und aufwendigen Massnahmen. Das Verhalten der Menschen im Haus erinnerte ihn an die Bauern in seinem Heimatdorf, wenn ein Sturm angekündigt worden war. Alle arbeiteten konzentriert und schnell, fast stumm und mit ernsten Mienen. Er half, die Sachen der Kinder zusammenzusuchen, einzupacken und hinunter zu bringen. Nelson war bockig, weil er nicht alles mitnehmen durfte, was er wollte. Die Kleinsten weinten fast ununterbrochen. Sie spürten die Anspannung der Erwachsenen, verstanden aber nicht, worum es ging. Babs und John bemühten sich sichtlich, gross und vernünftig zu sein. Als der Tross abgefahren war, wurde es auf einmal still im Haus. Mr. Rockefeller hatte sich in seinem Büro eingeschlossen. Er sei pausenlos am Telefonieren, hiess es. In Ludlow sei Krieg ausgebrochen.

Am nächsten Morgen erfuhr Jules in der Küche, dass sein Dienstherr noch früher aufgestanden sei als sonst, und oben im Gymnastikraum Dampf ablasse, wie die Köchin sagte. Er ging zuerst in den Ankleideraum von Sir John und suchte ein paar Sachen zusammen. Dann fuhr er hinauf in den siebten Stock, wo er ihn auf dem Trockenrudergerät sitzend antraf, keuchend und mit klatschnassen Kleidern. Die Haare klebten ihm am Kopf, sein Gesicht war rot und von Schweisstropfen übersät. Jules reichte ihm wortlos ein Handtuch.
"Danke, Chiquet. Bitte schauen Sie, dass mein Tee in einer halben Stunde bereit ist. Wir werden dann gleich losfahren zum Broadway, essen kann ich dort etwas. Und bitte bringen Sie mir andere Schuhe, diese sind mir zu warm."

Heute folgte ihnen, mit etwas Abstand, ein zweites Auto. Darin sass der Detektiv Billy Ward, gesteuert wurde es von einem zweiten Mann, der wie ein Polizist in Zivil aussah. Jules wusste nicht, ob sie auch früher schon auf diese Weise begleitet worden waren, heute fiel es ihm jedenfalls auf. Als sie die Rondelle von Bowling Green umrundet hatten und auf den Parkplatz der Rockefellers zusteuerten, sahen sie mehrere Reporter mit Fotoapparaten, die vor dem Haupteingang des Gebäudes warteten. Mr. Rockefeller liess den Chauffeur daran vorbeifahren. Sie parkten schliesslich, nach einigen Umwegen durchs Quartier, auf der Rückseite in einem Hof, von wo aus sie unbehelligt einen Hintereingang erreichten und das Haus betreten konnten. Jules wies den Chauffeur an, für Mr. Rockefeller etwas zum Frühstück einzukaufen und bat eine der Sekretärinnen, Teewasser aufzusetzen. Dann setzte er sich in einen der Vorräume des Büros und wartete. Nach einer Weile kam der Mann, den Jules für einen Polizisten in Zivil hielt, die Treppe hinauf und setzte sich am anderen Ende des Raumes auf einen Sessel. Er nahm sich eine der Zeitungen, die auf den niederen Tischen bereit lagen, faltete sie auseinander und verschwand dahinter. Jules überlegte einen Moment, ob er sich auch eine nehmen sollte, aber er wollte eigentlich gar nicht wissen, was passiert war.

Er dachte an Mrs. Rockefeller und die Kinder, an ihre Flucht vom Vorabend. Er konnte sich nicht vorstellen, welche Gefahr ihnen drohen könnte, wer ihnen etwas zuleide tun sollte. Aber er begann zu verstehen, dass die Zeitungen etwas damit zu tun hatten. Wie musste das sein, wenn Tausende, Hunderttausende nachlesen konnten, wie der Ehemann im eigenen Stall werkte. Wenn nicht nur in den Wirtshäusern des Dorfes, sondern in einer Riesenstadt wie New York, dann in allen grossen Städten, schliesslich im ganzen Land, alle lesen konnten, dieser sei ein Blutsauger. Er sei schuld an den Toten, die in einem Streit ums Leben kamen, für den er verantwortlich sei. Seine Maman hatte schon gelitten, wenn die Söhne ihren Mann hatten aus dem Wirtshaus holen müssen, oder wenn jemand im Dorf fand, und es herumerzählte, ihr Misthaufen gehöre wieder einmal ordentlich gezöpfelt. Aber auch wenn man das nicht miteinander vergleichen konnte, wie sollte er es denn verstehen? Wie musste man sich das Innenleben eines Mannes vorstellen, dem der Vater den Drittel einer Kohlenmine zum Geburtstag schenkte? Und zu einer Mine gehörten ja ein paar hundert Arbeiter mit ihren Frauen und Kindern, die in den Hütten des Unternehmens lebten, leben mussten. Genauso wie sie nur in den Läden einkaufen durften, die Kinder nur in die Schulen gehen durften, die von diesem betrieben wurden. Wo die Arbeiter, Männer, und oft auch schon Buben, viel zu oft Unfälle erlitten und dabei verletzt oder getötet wurden. Und wenn sie dagegen protestierten und streikten, auf die Strasse gestellt wurden und nichts mehr hatten. Keinen Lohn, keine Häuser, keine Einkaufsläden, keine Schulen. Das alles hatte ihm Fiona berichtet, und die Rockefellers dafür verantwortlich gemacht. Aber es passte nicht zu dem Bild, das er sich von Mr. Rockefeller Junior zu machen begann. Der Mann beeindruckte ihn. Er übertraf an Disziplin noch Jules' ältere Geschwister Joseph und Marie, die er in dieser Beziehung immer für perfekt gehalten hatte. An der Art, wie Mr. Rockefeller sprach, konnte man erkennen, dass er viel länger in die Schule gegangen war, in bessere Schulen. Dass er ein Studierter war. Jules war schon oft verblüfft gewesen, wie viele Wörter sein Dienstherr verwendete, um etwas auszudrücken, was man mit der Hälfte hätte sagen können. Mit Wörtern und Ausdrücken, die er oft nicht einmal kannte. Die aber schön, und vor allem gebildet klangen, und mit denen er die Aufmerksamkeit der Zuhörenden an sich band, wie mit verzierten Fesseln. Jules hatte das bisher nur bei einem Pfarrer erlebt, der für eine kurze Zeit in Cornol gepredigt hatte, und es hiess ja auch, dass Mr. Rockefeller einige Jahre eine Bibelklasse angeführt und dort gelernt habe, vor vielen Menschen zu reden. Vor seiner Frau schien er grossen Respekt zu haben. Sie war oft anderer Meinung als er, und scheute sich nicht, ihm zu widersprechen, sogar vor den Hausangestellten. Er liess sich in solchen Situationen nie dazu hinreissen, mit ihr zu streiten, sondern sagte zum Beispiel nur: "Lass uns später weiter darüber reden. Ich möchte darüber nachdenken." Mit den Kindern war er meistens sehr herzlich, blieb aber unerbittlich streng, wenn es um ihre Pflichten ging, die genau festgelegt waren. Schon die Kleinen hatten ihre bescheidenen Aufgaben im Haus, durften neue Spielsachen erst hervorholen, wenn die Hinterlassenschaften vom letzten Spiel restlos versorgt waren. Die Grösseren putzten ihre Schuhe selbst, unter Anleitung eines jüngeren Butlers, der ihnen nur zeigen durfte, wie man es macht. Jules meinte, dass es festgelegte Tarife gab, nach denen die Kinder ihr Taschengeld erwirtschaften mussten, und er hatte schon gesehen, wie Babs und John in einem kleinen Heft sorgfältig aufschrieben, was sie wofür ausgegeben hatten. Mr. Rockefeller hatte über alles und jedes die Übersicht und volle Kontrolle. Die Beziehung des Juniors zum Senior konnte Jules nicht durchschauen. In der Gegenwart des Vaters veränderte sich etwas an seinem Gebaren, ganz leise. Es hatte auch etwas mit Respekt zu tun, aber auf eine ganz andere Weise als gegenüber seiner Frau.

Jules hatte sich nicht darum gekümmert, genau zu erfahren, was geschehen war. Eigentlich wollte er es auch nicht wissen, aber die Geschehnisse und ihr Echo bei den Menschen, die ihn umgaben, waren unausweichlich. Es war ihm klar, dass die Art und Weise, wie die Dinge im Haus kommentiert wurden, sich deutlich unterschieden von der, wie sie zum Beispiel von Fiona gesehen würden. Immerhin stellte er auch zwischen den wenigen Zeitungsartikeln, die er überflog, beträchtliche Unterschiede in der Beurteilung fest. Einig waren sich alle darin, dass beide Seiten in Ludlow schwer bewaffnet und bereit waren, brutale Gewalt anzuwenden. Über den Auslöser der Ereignisse am zwanzigsten April gingen die Meinungen weit auseinander, die traurigen Resultate mussten aber alle feststellen. Der griechischstämmige Streikführer Tikas war tot, wahrscheinlich mit einem Gewehrkolben niedergeschlagen und dann erschossen worden. Elf Kinder und drei oder vier Frauen unter den Bewohnern des Zeltlagers waren ebenfalls tot. Zuerst hiess es, sie seien den Maschinengewehrsalven der National Guard oder der Milizen zum Opfer gefallen, aber als man sie barg, stellte man keine Schussverletzungen fest. Offenbar waren sie in der Grube unter ihrem brennenden Zelt erstickt. Das öffentliche Entsetzen über den Tod dieser Unschuldigen war gross, und die Angreifer, welche die Zeltstadt mit Öl übergossen und angezündet hatten, sagten, sie seien davon ausgegangen, dass alle Bewohner das Lager verlassen hätten. Die berichteten Tatsachen, und noch mehr die Unentscheidbarkeit in der Frage, wer schuld sei, wer Täter und wer Opfer, berührten Jules quälend unangenehm, und er überlegte sich, wie es erst für seinen Dienstherrn sein musste, den man verantwortlich machte für alles, was dort geschah und weiter geschehen würde. Es hatte nun seit fast zehn Tagen ein blutiges Chaos geherrscht, und er wusste, wie sehr Mr. Rockefeller alles verabscheute, was unordentlich und ungerecht war. Heute war zu erfahren, dass Präsident Woodrow Wilson Bundestruppen nach Ludlow schickte, um beide Konfliktparteien zu entwaffnen. Man war erleichtert, realisierte aber gleichzeitig, welche Dimension die Angelegenheit angenommen hatte.

Am zweiten Mai wachte Jules auf, weil durch das geöffnete Fenster ein ungewohntes Geräusch von der Strasse zu ihm heraufdrang. Es waren Menschenstimmen, ein kleiner Chor, der murmelte, dazwischen sang. Er stand auf und schaute hinunter. Was er sah, konnte er zuerst nicht einordnen. Es waren etwa zehn schwarz gekleidete Gestalten, manche hatte ihre Gesichter hinter schwarzen Masken versteckt. Sie gingen in langsamem Gleichschritt, an der Spitze des kleinen Zugs wurde eine Fahne getragen, zwei Männer trugen einen Kindersarg. Vor dem Eingang der Mansion hielten sie inne und begannen zu rufen:
"Rock – e – feller! Remem – ber Ludlow! Rock – e – feller! Remem – ber Ludlow!
Da stürmten die beiden Detektive aus dem Haus und begannen, die Protestierenden mit laut gebellten Befehlen und unter heftigem Gestikulieren zum Weitergehen zu bewegen, was ihnen schliesslich auch gelang. Jules schloss das Fester und zog sich an.

Die im Haus verbleibenden Angestellten wurden im Empfangsraum im Erdgeschoss versammelt. Mr. Rockefeller kündigte an, dass sich nun auch er nach Pocantico zurückziehen müsse. Er bezeichnete die Bediensteten, die ihn dabei begleiten würden, die andern würden im Haus verbleiben. Er konnte nicht angeben, für wie lange dieser Ausnahmezustand andauern würde, er rechne aber mit etwa zwei Wochen. Wenn er sich nicht mehr in New York befinde, werde den Protesten das Ziel entzogen. Die Lage sollte sich auf diese Weise schnell beruhigen. Die Bundestruppen hätten bereits begonnen, Waffen einzusammeln, und die Streikenden würden kooperieren, soweit er informiert sei. Wer hier im Haus Dienst tue, habe also nichts zu befürchten. Die Abfahrten der drei Automobile, die nach Pocantico fahren würden, erfolgten gestaffelt. Aus einer aufgehängten Liste könnten die Angestellten ersehen, wann sie an der Reihe seien.

Jules war froh, unter denen zu sein, die zum Landhaus der Familie fahren durften. Die Stimmung im Haus kam ihm nun doch hysterisch vor. Den ganzen Tag hindurch befragten Billy Ward und seine zwei Assistenten jeden einzelnen der Angestellten, mindestens eine halbe Stunde lang. Er kam kurz nach dem Mittagessen dran. Zuerst nahm man seine persönlichen Daten auf und er musste seine Papiere zeigen. Dann wurde er über seine Freunde und Bekannten in den Vereinigten Staaten ausgefragt. Er hätte am liebsten gesagt, dass er gar keine habe, aber das hätte man ihm wohl nicht geglaubt, und er wusste auch nicht, ob die Detektive das Personal schon vor den Ereignissen in Colorado beobachtet hatten. Also sagte er, als Kammerdiener habe er wenig Freizeit und daher auch wenige Freunde und Bekannte ausserhalb des Hauses. Er nannte die Stöcklis in Ohio, das hielt er für unverfänglich, dann auch Edmond, dessen Bereitschaft zur Unterordnung er kannte. Fiona verschwieg er mit klopfendem Herzen, obwohl ihn Mr. Ward direkt fragte, ob er eine Freundin habe.
"Im Moment nicht. Wie gesagt..."
Zu seiner Erleichterung liess man es dabei, fragte nun aber nach Namen, von denen er noch nie gehört hatte. Ob er Verbindungen habe zu einem Ferrer Center, ob er einen Mr. Alexander Berkman kenne, oder Mr. Carlo Tresca. Ob er Mitglied sei einer anarchistischen Gruppe, oder einer kommunistischen Partei. Schliesslich wurde er entlassen.

Sie kamen erst spät nachts in Pocantico an, die Kinder schliefen schon alle. Mr. Rockefeller wollte noch mit seiner Frau Tee trinken und die Situation bereden. Jules wurde weggeschickt und durfte sich zurückziehen. Er wollte noch einen Spaziergang durch den Park machen, liess aber davon ab, als er zwei bewaffnete Männer erblickte, die in einiger Entfernung ihre Runden drehten. Er setzte sich auf einen der Rohrsessel, die auf der Aussenterrasse standen, und drehte ihn so, dass er die Wachleute nicht sehen musste.

Für die Kinder war es am schwierigsten. Die grossen, Babs und John, und zum Teil auch schon Nelson, verstanden schon einiges von dem, was die Erwachsenen erzählten. Und sie beobachteten die Wachmänner mit ihren geschulterten Gewehren, und machten sich ihren eigenen Reim darauf. Ausserdem wurden sie in ihren Bewegungen, die sie üblicherweise an diesem Ort unternehmen durften, deutlich eingeschränkt. Keine unbegleiteten Ausflüge in den Park, keine Ausritte. Das Hallenbad bot einen gewissen Ausgleich, und vor allem Nelson spielte so lange Seehund und Walfisch, bis nicht nur seine Lippen, sondern auch die Finger und Zehen blau waren, und er noch ein halbe Stunde weiter zitterte, wenn man ihn endlich aus dem Wasser geholt und in warme Tücher gehüllt hatte. Jules war von Lady Aldrich Rockefeller gebeten worden, sich auch etwas um die Kinder zu kümmern, aber er wusste nicht, was da genau seine Aufgabe war. Er hatte es als Kind kaum je erlebt, dass Erwachsene mit ihm gespielt hatten. In guten Momenten hatte man ihm etwas gezeigt, was er noch nicht kannte, oder ihm etwas beigebracht. Ihn an etwas teilnehmen lassen, was bisher nicht zu seiner Kinderwelt gehört hatte. Also zeigte er den Kindern, wie man Holz so aufschichtet, dass der Stapel nicht wieder auseinanderfällt. Oder wo man jungen Löwenzahn fand, den man essen konnte. Einmal, als Nelson wieder einmal über Langeweile klagte, nahm er ihn bei der Hand und sagte: "Komme, ich zeige dir was!", ohne einen Plan zu haben. Er meldete dem Wachmann, dass sie zum Golfplatz hinunter gingen, weil er dachte, dort könnte er mit dem Buben vielleicht einen Tunnel graben in einem der Sandlöcher. Als sie beim ersten ankamen, sah Jules sofort, dass die Ränder der Sandgrube ein idealer Ort waren für Ameisenlöwen. Der Sand war dort feiner, und der Grasboden bildete eine Art Dach, unter dem es trocken blieb. Er hatte keine Ahnung, ob es in Amerika auch Ameisenlöwen gab, aber nach kurzem Suchen fand er mehrere der Trichter. Nelson hatte schon ein paarmal nörgelnd gefragt, was er ihm denn zeigen wolle. Nun kauerte sich Jules neben den Trichtern nieder und sagte:
"Schau, in jedem dieser kleinen Löcher sitzt ein kleines Tierchen, das wartet auf Beute. Suche mal ein paar Ameisen, dann wirst du sehen, was passiert."
Die erste zerdrückte Nelson aus Ungeschick, die zweite liessen sie in einen der Trichter fallen. Sie versuchte, an der Wand des Trichters emporzuklettern, aber der Sand war so fein, dass er unter ihren Beinchen wegrutschte. Kaum hatte der herunterrieselnde Sand den Grund des Trichters erreicht, wurde von dort wie von Zauberhand neuer Sand nach oben geschleudert. Das Kind zuckte beim ersten Mal verschreckt zurück, schaute dann aber fasziniert zu, wie die Ameise immer näher zum Zentrum des Trichters befördert und dort schliesslich von zwei Klauen gepackt wurde. Nelson war begeistert.
Auf dem Rückweg zum Haus schwieg er lange, dann fragte er:
"Sind wir belagert?"

Mittwoch, 21. April 2021

Im neuen Haus

Jules wollte von Edmond begleitet werden beim Übergang zum neuen Dienstverhältnis. Schon der Abschied von den McCurdys stellte er sich kompliziert vor, weil sein Dienstherr sich doch an ihn gewöhnt und ihn manchmal in den Konflikten mit seiner Frau fast wie einen Komplizen behandelt hatte. Vor seiner neuen Aufgabe hatte er grossen Respekt. Seit er von Mr. Rockefeller Juniors Interesse an seiner Person erfahren hatte, interessierte er sich vermehrt für Informationen über den zukünftigen Dienstherrn. Er begann eine Vorstellung zu entwickeln von den Dimensionen der häuslich privaten wie der öffentlich beruflichen Verhältnisse, in die er da geraten würde. Schon die Liste der Hausangestellten war doppelt so lang wie diejenige seines bisherigen Arbeitgebers, und alle Gebäude und Räumlichkeiten, in denen er arbeiten würde, schienen die Ausmasse von Palästen zu haben. Auch Edmond wirkte nervös und reagierte ausweichend auf das von Jules geäusserte Bedürfnis nach Unterstützung, so dass sich dieser zu ungewohnter Deutlichkeit durchringen musste.
"Sie können mich da nicht im Regen stehen lassen, Edmond! Schliesslich war das ja Ihre Idee. Und es liegt wohl auch in Ihrem Interesse, dass das gut herauskommt."
Edmond beteuerte wortreich, er habe nie die Absicht gehabt, Jules allein zu lassen, und natürlich werde er alles in seiner Macht Stehende tun, ihn auf optimale Weise in sein neues Betätigungsfeld einzuführen.

Zuerst musste das alte Dienstverhältnis beendet werden. Die Besprechung mit den McCurdys fand im häuslichen Büro des Dienstherrn statt, am Konferenztisch, an dem sechs Personen Platz gehabt hätten. Man sass recht weit auseinander, Mr. McCurdy und Edmond an den schmalen Enden, Jules und Mrs. McCurdy an den Längsseiten, wobei diese beide ihre Stühle diskret seitlich verschoben, sie näher zu ihrem Mann, Jules zu Edmond. Diese Geometrie trug sicherlich zum förmlich steifen Verlauf des Gespräch bei. Mrs. McCurdy flocht allerlei kleine Anekdoten ein, von Vorfällen, bei denen Jules aus ihrer Sicht Fehler unterlaufen seien. Sie wollte offensichtlich die Tatsache, dass er von einem bedeutenderen Dienstherrn abgeworben worden war, nicht anerkennen und versuchte, aus seinem Abschied eine Kündigung ihrerseits zu schmieden. Edmond war aber zu Jules' Erleichterung sehr aufmerksam und durchkreuzte Mrs. McCurdys Pläne erfolgreich, indem er sich konsequent an ihren Mann wandte. Er brachte es sogar fertig, die grundsätzlichen Differenzen der Eheleute bezüglich der Anstellung eines Kammerdieners zu aktualisieren, indem er so tat, als sei er bereits beauftragt, einen baldigen Ersatz für Jules zu beschaffen, was er angesichts der Qualität des scheidenden Dieners als nicht gerade einfach bezeichnete. Über diese Auslassungen wurde Mrs. McCurdy so wütend, dass sie trotzig verstummte. Mr. McCurdy holte schliesslich aus seinem Portfolio ein Arbeitszeugnis für Jules hervor, das er vorbereitet hatte. Er überreichte es mit einer kurzen Rede des Dankes, die Jules berührte. Er hatte sich mit dem oft plumpen, zerstreuten Mann nicht leicht getan, aber gerade deshalb war er ihm ans Herz gewachsen. Er musste sich nicht zwingen, Mr. McCurdy die Hand zu reichen und sich seinerseits zu bedanken.

Er war sehr froh, dass der neue Arbeitsort so nahe beim alten lag, denn zum Zeitpunkt, als er sein Gepäck in die Vierundfünfzigste transportieren lassen musste, gegen Ende März 1914, lag mehr als ein Fuss Schnee auf den Gehsteigen. Es kam zu der erst zweiten, und gleichzeitig letzten, Begegnung mit dem schwarzen caretaker der McCurdys, William Ryan. Dieser hatte sich für seine Besorgungen während dem grossen Schnee einen Handschlitten gebaut, auf den er Jules' Taschen und Koffer mit Seilen festzurrte. Er redete nur wenig, in einem eigentümlichen Dialekt, und nahm dazu seine Pfeife nicht aus dem Mund. Jules verstand fast nichts, nickte und lächelte deshalb mehr als nötig. Sie konnten nicht nebeneinander gehen, weil nur ein schmaler Trampelpfad freigeräumt war. Der Hausmeister stapfte voraus und zog, Jules ging hinter dem Schlitten und war bemüht, ein Kippen des Gefährts zu verhindern. Er war froh um die Stiefel, die er sich angeschafft hatte.

Als er vor der Mansion stand, legte er den Kopf in den Nacken und schaute nach oben, bis ihm die Augen tränten. Er war beeindruckt. Acht Stockwerke türmten sich aufeinander, jeweils zwei oder drei zusammengefasst durch wuchtige Simse, die das Gebäude umschlossen wie Stahlbänder eine Transportkiste. Die schmale, mit nur drei Fenstern nebeneinander ausgestattete Seite bildete die Fassade gegen die Strasse. Zum Garten und zum daran anschliessenden, älteren Haus von Rockefeller Senior präsentierte das Gebäude eine hoch aufragende Wand, links und rechts gerahmt von zwei turmartigen Anbauten, in welche die mächtigen, nochmals etwas vorstehenden Kaminschächte eingebaut waren. Im unteren Teil wölbte sich die Fassade in der Mitte gegen den Garten vor und bot Raum für eine gedeckte Terrasse im ersten sowie eine offene im zweiten Stock.
"Sieht aus wie eine Fabrik, wenn Sie mich fragen."
Mr. Ryan hatte die Pfeife aus dem Mund genommen und war klar und deutlich zu verstehen. Sie suchten die Klingel und fanden schliessliche einen unscheinbaren Knopf, den sie drückten. Ein junger Hausangestellter öffnete ihnen und führte sie in die Eingangshalle, wo er Jules' Mantel abnahm und ihn bat, im Empfangsraum Platz zu nehmen. Er möge bitte auf den Butler, Mr. Dowers, warten. Das Gepäck werde in der Zwischenzeit ins Haus gebracht. Jules gab Mr. Ryan ein paar Münzen und verabschiedete sich von ihm. Dann setzte er sich auf einen der Stühle und wartete. Es war dunkel in dem Raum, und er hatte kalte Füsse.

Mr. Dowers war eine stattliche Erscheinung. Er war ähnlich gekleidet wie der Butler von Mr. McCurdy, mit schwarzem Cutaway und dezent grau gestreifter Hose, aber Jules sah sofort einen Unterschied in der Qualität der Stoffe und des Schnitts. Dowers war etwa gleich gross wie er, Jules schätzte sein Alter auf fünfundvierzig Jahre. Nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten, deutete der Butler wieder auf den Stuhl.
"Bitte setzten Sie sich doch noch einmal. Ich halte es für das Beste, wenn ich Ihnen zuerst den ganzen Ablauf Ihrer Einführung in unser Haus schildere, so wie er von Sir John in Absprache mit Lady Aldrich Rockefeller festgelegt wurde."
Am heutigen Tag sollte Jules den anwesenden Hausangestellten vorgestellt werden. Man würde ihm das Haus zeigen und ihm beim Bezug seines Zimmers im vierten Stock behilflich sein. Dort befänden sich auch die Zimmer der Kinder, der Kindermädchen sowie der zwei Butler. Die Kinder dürfte er bei dieser Gelegenheit ein erstes Mal kurz kennenlernen, sofern sie im Haus seien. Es könne auch sein, dass man bei der Besichtigung schon auf die Hausherrin stossen werde, was für eine kurze Begrüssung genutzt werden könne. Sir John sei heute und am Samstag in Pocantico, um nach seiner Mutter zu schauen, die leider erkrankt sei. Am morgigen Tag, am Donnerstag Vormittag um zehn Uhr dreissig, fände dann die offizielle Einführung ins Team der Angestellten statt, in Anwesenheit von Mr. Rockefeller Junior und seiner Gemahlin. Auch Jules' Vermittler, Mr. Edmond Jacquelin werde dort dabei sein, ebenso wie bei der darauf folgenden Erledigung der Formalitäten in Sir John's Büro. Jules werde in den ersten zwei Wochen von ihm, dem ersten Butler, sowei von der Haushälterin, Miss Annie Davis, betreut und bei verschiedenen innerhäuslichen Diensten eingesetzt. Es könne auch sein, dass er in dieser Zeit ein paar Mal mitfahren werde in Sir John's Büro im Standard Oil Building am Broadway. So könne er Schritt für Schritt an den Tagesablauf seines Dienstherrn herangeführt und damit vertraut gemacht werden. Mr. Rockefeller Junior werde dann das Signal geben für den Beginn von Jules' spezifischen Aufgaben als Kammerdiener. Ob dies so auch in seinem Sinne sei?
"Ja, ich kenne dieses Vorgehen aus meinem letzten Dienstverhältnis. Das hatte sich bewährt, vielen Dank!"
Jules folgte dem Butler zum Aufzug und sie liessen sich hochfahren zum Dachgeschoss des riesigen Hauses.

Was Jules auf den obersten zwei Stockwerken zu sehen bekam, machte ihn sprachlos. Es gab eine Turnhalle im Siebten, gefüllt mit Geräten, deren Funktion er längst nicht bei allen erkannte. Auch musste er sich vom Butler die Spielweise von squash erklären lassen, ein Spiel, für das ein eigener Platz eingerichtet war, mit hohen Wänden an drei Seiten. Es gab ein kleines Schwimmbad, dazu eine Badewanne, so gross, dass ein kleiner Elefant darin Platz gefunden hätte. Mr. Dowers nannte es ein spa, zweimal, weil Jules es nicht auf Anhieb verstand. Für die Kinder waren zwei Spielzimmer eingerichtet. Aus einem drangen fröhliche Kinderstimmen, und als sie eintraten, trafen sie auf zwei kleine Buben, die unter der Aufsicht eines Kindermädchens mit ihrer Eisenbahn spielten. Die Schienen bedeckten eine grosse Fläche des Fussbodens, eine aufziehbare Lokomotive war gerade dabei, in einem Tunnel zu verschwinden. Der grössere Bub versuchte den kleineren daran zu hindern, den Ausgang mit Klötzen zu blockieren, da klatschte das Kindermädchen in die Hände und hielt ihre Zöglinge dazu an, Jules die Hand zu geben und ihn, den neuen valet ihres Vaters, zu begrüssen.
"Das ist Mr. Chiquet, bitte sagt schön eure Namen."
Der Ältere stellte sich vor Jules auf, gab ihm die Hand, schaute ihm in die Augen und sagte:
"Guten Abend, Mr. Chiquet. Ich heisse Nelson und bin sechs Jahre alt."
Jules staunte. Die anerzogen guten Manieren wurden von dem kleinen Mann mit erstaunlicher Leichtigkeit aufgeführt. Als der Kleinere an der Reihe war, brachte er keinen Ton heraus und drehte verlegen am Saum seines Schürzchens. So redete der grosse Bruder an seiner Stelle.
"Und das ist mein Bruder Laurance, Sir. Er ist erst vier Jahre alt." Die Kinder wollten aufs Dach mitkommen, was ihnen aber von der nurse angesichts der Kälte und Nässe verwehrt wurde.

Zuoberst stand den Kindern bei freundlichem Wetter noch ein Spielplatz im Freien zur Verfügung, mit Sandhaufen, einem kleinen Fort aus Holz, Schaukelpferden und -schwänen, einem Tor für Ballspiele. Neben einem Garten wurde ein grosser Teil der Dachfläche eingenommen von einem verglasten Pavillon, darin sah Jules Liegestühle, Betten, Tische und Regale, verstellbare Trennwände und eine Theke mit Barstühlen. Es wurde ihm erklärt, dass sich hier manchmal, zum Beispiel in heissen Sommernächten, die ganze Familie zum Schlafen zurückziehe. Die Glaswände liessen sich fast nach Belieben drehen und verschieben, so dass für optimale Belüftung und eine angenehme Atmosphäre gesorgt sei. Man hatte eine beeindruckende Rundsicht aus dieser Höhe, die Mr. Dowers mit hundertundzwei Fuss angab. Er rechnete es um für Jules, mit ungefähr einunddreissig Metern sei es das höchste Privatgebäude von New York. Man hörte ihm den Stolz auf seinen Arbeitsort an. Es wurde ihnen schnell kalt, sodass sie wieder ins Innere und zum Treppenhaus gingen. Im fünften und sechsten Stock zeigte ihm Mr. Dowers je ein Schlafzimmer, einen Aufenthaltsraum und ein Badezimmer, in zwei unterschiedlichen Grössen und Graden der Luxuriosität. Es handelte sich um die Gästezimmer, die noch nie alle gleichzeitig belegt gewesen seien. Bei grösseren Einladungen werde den Gästen eine Übernachtung im Hause angeboten, seltener nähmen auch Geschäftsfreunde oder Bekannte für ein paar Tage die Gastfreundschaft der Rockefellers in Anspruch. Bei solchen Gelegenheiten könne ein beträchtlicher Teil der Angestellten an diese zwei Etagen gebunden sein.

Im vierten Stock, wo sich die Kinderzimmer, die Räume der Kindermädchen sowie diejenigen der persönlichen Betreuer der Familie befanden, also auch sein zukünftiges Zimmer, trafen sie auf die Hausherrin, die sich mit einer Kinderfrau gerade um den kleinsten Bub, um Winthrop, kümmerte. Ihn plagten die Zähne, er hatte rote Backen und weinte. Trotzdem wandte sich Mrs. Rockefeller sehr freundlich den zwei Eintretenden zu und begrüsste Jules mit kräftigem Händedruck. Er hatte schon Fotos von ihr in der Zeitung gesehen. Auffällig an ihrem Gesicht war der kurze Abstand vom Mund zu ihrer Nase, die dadurch länger wirkte, als sie tatsächlich war. Sie war eine grosse, stattliche Person, gehüllt in ein helles Kleid mit Spitzen an Kragen und Ärmeln. Um den Hals trug sie eine Kette aus einer Reihe grosser, runder Perlen. Ihr dunkles Haar bildete eine Art Kappe aus gedrehten Locken und Wellen. Sie hatte eine einnehmende Art, das Gegenüber anzuschauen, als wolle sie gleich einen Scherz machen um darüber zu lachen. Ihre Stimme war etwas schrill, und sie sprach sehr selbstbewusst.
"Ich nehme an, man kümmert sich gut um sie, Mr. Chiquet. Unser armer Winthrop zahnt, wir machen ihm jetzt einen Tee. Meinen Mann werden Sie wohl erst morgen antreffen. Er ist im Haus seiner Eltern, in Pocantico, und kümmert sich um seine Mutter. Es steht leider nicht gut um sie, die Arme hat eine Lungenentzündung. Bitte entschuldigen Sie mich nun!"

Im dritten Stock wurde Jules die Bibliothek gezeigt. Er kannte so etwas nur von Abbildungen, Wände aus Büchern, seitlich rollbare Leitern, grosse Tische mit Lederbezügen, darüber spezielle Lampen, deren Licht sich mit Klappen regulieren und richten liess. In diesem Stock befand sich auch das Schlafzimmer der Rockefellers, mit je einem anschliessenden Ankleideraum.
"Das wird für Sie ein wichtiger Raum werden. Ich werde Ihnen alles zeigen, was Sir John's Kleider und Toilette betrifft, aber das hat noch Zeit", sagte der Butler im dressing room des Dienstherrn. Der andere wurde ihm nicht gezeigt. Die Besichtigung wurde wirkungsvoll abgeschlossen mit einem Rundgang im ersten Stock, wo sich Jules alleine schon wegen der Höhe der Räume klein und unbedeutend vorkam. Dazu kam die einschüchternde Ermahnung des Butlers, sich vorsichtig und mit dem nötigen Abstand zu den chinesischen Porzellanvasen zu bewegen, die überall aufgestellt waren, auf speziell dafür eingerichteten Regalen, auf dem Sims des voluminösen Kamins, auf Sockeln und Säulen, manchmal verdoppelt durch dahinter angebrachte Spiegel.
"Die Sammlung von Mr. Rockefeller Junior ist einzigartig. Mit ihrem Gegenwert könnte leicht nochmals so ein Haus gebaut werden", verkündete der Butler mit Pathos in der Stimme. Mit den Säulen und Verzierungen aus Stuck, dem auf mehrfarbigem Parkett ausgelegten Perserteppichen, bestickten Polstersesseln, wuchtigen Kronleuchtern, Vitrinen mit weiterem Porzellan, Seidenvorhängen und Blumenarrangements entfaltete sich vor Jules' Augen eine Pracht, die auf ihn abweisend wirkte. Es fiel ihm schwer, sich Szenen des täglichen Lebens darin vorzustellen, mit lebendigen Menschen, die schwatzten und lachten. Unwillkürlich dachte er daran, wie sie zuhause manchmal Hühner aus der Stube scheuchen mussten, die sich dorthin verirrt hatten. Er konnte sich selber noch nicht sehen in solcher Umgebung. Trotzdem bemühte er sich, einer gewissen Bewunderung für den Pomp Ausdruck zu geben, weil Mr. Dowers dies zu erwarten schien.

Das Team der Hausangestellten, das sich am nächsten Morgen im Empfangsraum versammelte, war noch grösser, als er es sich vorgestellt hatte. Eine Sekretärin des Dienstherrn hatte eine Liste mit allen Namen und Funktionen vorbereitet. Die ersten Exemplare bekamen Jules und zwei weitere Angestellte, die heute offiziell in den Haushalt aufgenommen werden sollten, eine Wäscherin sowie eine zweite Köchin. Edmond war auch schon da und unterhielt sich lebhaft mit seiner früheren Kollegin, der Haushälterin Miss Davis. Als Mr. Rockefeller Junior, zusammen mit seiner Frau, eintrat, wurde es augenblicklich still. Sir John lächelte freundlich in die Runde, wirkte dabei aber angespannt und müde. Er sprach leise und in wohlgesetzten Worten. Jules sah verstohlen um sich und bemerkte mit Erstaunen, wie alle im Raum an den Lippen des Hausherrn hingen. Er hielt eine Rede von gut einer Viertelstunde, in der er an die Bereitschaft zur Pflichterfüllung sowie an den Teamgeist aller Anwesenden appellierte. Gegen Ende stellte er die Neuen vor, Jules und die zwei Frauen, Miss Ida Anderson und Augusta Wjovkist, die gut in ihr Arbeitsumfeld einzugliedern eine Aufgabe aller sein müsse. Jemand in Jules' Umgebung äusserte den Spruch, die skandinavische Fraktion würde also weiter verstärkt, was zu verhaltendem Gelächter Anlass gab. An dieser Stelle ergriff Mrs. Rockefeller das Wort. Sie wies auf die Verdienste der beiden leitenden Angestellten hin und liess Miss Swenson und Mr. Dowers vortreten. Applaus ertönte, und nachdem er verhallt war, forderte die Hausherrin alle Angestellten auf, die Haushälterin und den ersten Butler nach Kräften zu unterstützen und ihren Anordnungen strikte Folge zu leisten. Im übrigen könne man sich im Falle einer unlösbaren Meinungsverschiedenheit oder bei Problemen jeglicher Art auch immer vertrauensvoll an sie wenden, ein Angebot, das verschiedene Anwesende in der Vergangenheit schon genutzt und damit zum Hausfrieden beigetragen hätten. Jules sah vereinzelt Köpfe nicken. Es entstand ein Getuschel, und halblaut wurden Fragen geäussert zu zwei Männern, die in der Nähe des Dienstherrn standen, und die man nicht kannte. Mr. Rockefeller reagierte, und stellte sie vor als detectives Billy Ward und Charles Bacon. Ihnen komme die Aufgabe zu, in der gegenwärtigen Lage schwer einzuschätzender Dynamik für die Sicherheit des Hauses zu sorgen. Oft werde man die zwei Herren sicher nicht zu Gesicht bekommen – die Detektive grinsten zu dieser Bemerkung – , aber die Angestellten seien angewiesen, ihnen jederzeit für Auskünfte zur Verfügung zu stehen, wenn sie dies für angebracht hielten. Für den Schluss seiner Rede stellte sich Mr. Rockefeller wieder an die Seite seiner Frau und wechselte den Tonfall.
"Wie Sie sicher gehört haben, kam ich gestern Abend spät von Pocantico zurück, wo ich mich um meine schwer erkrankte Mutter kümmern musste. Ich werde am Samstag wieder hinreisen, wir hoffen aber zusammen mit den Ärzten, dass sie die Krise heil übersteht und bald wieder genesen wird. Ich lerne daraus selbst wieder, dass die Erbringung nützlicher Dienste unser aller gemeinsame Pflicht ist. Dem Hang zur Selbstsucht begegnen wir am besten, indem wir Opfer erbringen und so die Größe unserer menschlichen Seele freisetzen."
Gut gepredigt, fand Jules, und tatsächlich wurden einige Amen gemurmelt. Er konnte nicht einschätzen, ob sie ernst gemeint waren.

Danach gab es Tee und kleine Häppchen, welche im Stehen eingenommen wurden. Jules musste warten, bis er nach den zwei neuen Kolleginnen ins Büro des Dienstherrn gerufen wurde. Die Anstellung der zwei Detektive wurde unter den Herumstehenden lebhaft diskutiert, über den Grund dafür sprach man aber nur in Andeutungen. Es musste mit dem Streik in Colorado und der zunehmenden Kritik an Mr. Rockefeller Junior zu tun haben, das war auch Jules klar. Als er mit Edmond ins Büro trat, stand Sir John von seinem Schreibtisch auf und begrüsste sie beide durch Handschlag.
"Konnten Sie sich schon etwas eingewöhnen, Mr. Chiquet? Hat Ihnen unser Mr. Dowers alles Nötige gezeigt?
Als Jules dies bejaht hatte, setzte man sich an einen Besprechungstisch. Und wie es Edmond vorausgesehen hatte, lag ein schriftlicher Vertrag vor, in dreifacher Ausführung, den durchzulesen er höflich gebeten wurde. In dem Papier stand wenig, was von den Bedingungen bei seinem früheren Arbeitgeber abwich. Es stand nichts von einer Probezeit. Als Edmond danach fragte, verwies Mr. Rockefeller auf die gegenseitige Kündigungsfrist von einem Monat, eine Regelung, die sich bewährt habe. Im Krankheitsfall, nach einem Unfall oder für Besuche bei Verwandten stand den Angestellten grundsätzlich keine Bezahlung zu. In Einzelfall werde aber geprüft, ob dadurch ein Härtefall entstehe, den man in Betracht ziehen müsse. Was neu war und auch Anlass gab für eine ausführlichere Erläuterung, war ein Abschnitt, in dem es um Loyalität zum Dienstherrn und zu dessen Familie ging, auch um Diskretion bezüglich dessen, was ein Bediensteter im Hause an privaten und geschäftlichen Dingen mitbekomme. Es wurde betont, dass seine Anstellung im Haus Rockefeller jegliche andere berufliche Einbindung ausschliesse. Eine Reihe von Organisationen war aufgelistet, mit denen nichts zu tun zu haben er mit seiner Unterschrift bezeugen sollte. Ebenso wurden ihm jegliche patriotische Tätigkeiten oder Äusserungen untersagt, die mit seinem früheren Heimatland in Verbindung gebracht werden könnten. Man erklärte ihm, solche Aktivitäten hätten, gerade in New York, in letzter Zeit zugenommen, parallel zu den politischen Spannungen in Europa, und bei seinem Vorgänger, einem Kammerdiener mit deutscher Abstammung, zur Entlassung geführt.

Jules hatte das Gefühl, nicht ganz in seiner Haut zu stecken. Die in ruhigem, gleichmässig hellem Ton erklärende Stimme von Mr. Rockefeller schien in einer ihm kaum verständlichen Sprache zu sprechen. Es war wie damals vor sieben Jahren, als er frisch ins Land gekommen war, und seine Konzentration nicht ausreichte, jedes fremde Wort zu erfassen. Zweimal musste er gefragt werden, ob er alles verstanden habe und bereit sei, zu unterschreiben. Als er es getan hatte, gab er sich einen Ruck. Er wollte noch etwas Eigenes, Ehrliches sagen.
"Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Sir. Ich hoffe, Ihre Erwartungen erfüllen zu können, Sir."

Nach einem Mittagessen im Essraum der Bediensteten, auch im Erdgeschoss, hatte Jules eine Stunde für sich, auf seinem Zimmer im Vierten. Seine Taschen und Koffer standen noch unausgepackt herum. Er sah lange aus dem Fenster, auf das Tauwetter draussen. Weit unten zog ein Pferdegespann einen hölzernen Keil durch den Matsch, er hörte den Glockenschlag der nahen Kirche. Eine Taube landete auf dem Sims vor dem Fenster, und flog gleich wieder auf, als er eine Bewegung machte. Er zog seinen Kittel aus und hängte ihn über die Lehne des Stuhls, streifte die Schuhe von den Füssen und legte sich aufs Bett. Jetzt, wo erreicht war, was er sich heimlich gewünscht hatte während der letzten Jahre, fühlte er sich traurig und leer. Es war die Aussicht, sich in fremder Umgebung aufs Neue in ein System von Regeln und Verboten einfühlen zu müssen, die ihn müde machte. Er wusste, dass ihm dies, genauso wie die völlige Anpassung an die Wünsche und Launen eines Dienstherrn, bald gelingen und sogar Freude bereiten würde, aber im Moment spürte er keinerlei Energie in sich, wenn er an die kommende Zeit dachte. Er sehnte sich nach dem Stall, nach dem stummen Zutrauen der Tiere, nach ihrer Wärme und ihrem Geruch. Und schlief ein.

Vielleicht hatte es schon länger an der Türe geklopft, als er aufwachte. Draussen stand der jüngere Butler, Arthur Smith, der ihn im Auftrag von Mr. Dowers abholte zum Silber putzen. Als der Lift auf dem Stockwerk ankam, stiegen die älteren zwei Kinder der Rockefellers aus, die eben von der Schule heimgekommen waren. Der Butler sorgte für eine ordentliche gegenseitige Vorstellung. Beide Kinder trugen sehr gepflegt aussehende Schuluniformen, auf dem Kopf des Mädchens thronte eine riesige weisse Schlaufe. Sie gab Jules die Hand und deutete gekonnt einen Knicks an.
"Ich heisse Abby, aber die meisten sagen Babs zu mir. Ich bin elf Jahre alt."
"Wir nennen Sie Miss Abby", stellte Mr. Smith klar. Dem Bub schien das Begrüssungsritual lästig zu sein.
"Ich heisse einfach John."
"Mister John spielt darauf an, dass er zuweilen 'John der Dritte' genannt wird. Er ist acht Jahre alt, nicht wahr?"
Aber da waren die Kinder schon davongerannt.

Sie fuhren mit dem Lift in den ersten Stock, wo sie zwei grosse Körbe mit Besteck, Kannen, Platten und allerlei Tischaufsätzen abzuholen hatten. Danach ging es ins Untergeschoss, in die Küche, wo der grosse Tisch mit Tüchern abgedeckt war. Jules war gespannt, welche Methoden und Mittel in diesem Haus angewandt wurden. Miss Carlson, die Köchin, hatte ihnen einen grossen Kessel mit Wasser auf dem Herd bereit gestellt, und Mr. Smith begann, Soda und Salz mit einem Massbecher abzumessen und beizufügen. Das war etwas Neues für Jules. Die Brühe wurde aufgekocht, dann wickelte der Butler ein Stück graues Metall aus einem Lappen und liess es in den Kessel plumpsen.
"Aluminium!" sagte er stolz. "Man kann auch ein Stück Zink nehmen, aber das verbraucht seine Wirkung viel schneller."
Mit einer hölzernen Zange legte er nun Stück für Stück des Silbers in die kochende Lösung. Jules bekam einen grossen Holzlöffel und konnte mithelfen.
"Wir müssen schauen, dass ein grösseres Stück mit dem Aluminium in Berührung bleibt, und alle anderen wiederum mit diesem und untereinander. Es geht um elektrischen Strom, der dabei entsteht. Jedenfalls hat das Mr. Dowers so erklärt. Sie werden staunen, was jetzt passiert!"
Es war wirklich staunenswert, was sich vor ihren Augen abspielte. Das Silber hellte sich in Sekundenschnelle auf, bekam zwar nicht die helle Farbe, die durch Reiben mit Poliermitteln entstand, welche Jules kannte. Aber die Veränderung geschah überall, in allen Vertiefungen und Gravuren. Die Stücke wurden nun aus dem Kessel gefischt und auf dem Tisch ausgebreitet. Die Nachbehandlung erfolgte so, wie es Jules kannte, durch Reiben mit Putzmittel, nur dass es viel scheller und gründlicher gelang nach dem Zauberbad. Miss Carlson half mit, sodass sie sich recht schnell durch den Silberberg arbeiten konnten. Anschliessend mussten die schwarzen Finger geschrubbt werden, bis sie brannten. Und es gab heissen Kakao. Jules wurde ausgefragt über die Schweiz. Er versuchte zu erklären, dass seine Heimat, die Ajoie, nicht gleichbedeutend sei mit der Schweiz. Man sagte ihm Sätze vor, die er in seinen Dialekt übersetzen musste, und versuchte, es nachzusagen. Es wurde viel gelacht. Seine trübe Stimmung hatte er vergessen.

Dienstag, 6. April 2021

vor Umbrüchen

Der Oktober 1913 begann mit sintflutartigen Regengüssen, denen das Kanalisationssystem der Stadt bei weitem nicht gewachsen war. Das Wasser hob die Gullyplatten an vielen Orten in die Höhe und warf sie zur Seite wie Bierdeckel. Unterführungen und Keller wurden überflutet, Archive lösten sich auf, Kurzschlüsse führten zu Bränden. Und es regnete fast den ganzen Monat hindurch weiter, sodass dieser Oktober zu einem der nässesten seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen wurde.

Ein beunruhigender Brief des ältesten Bruders Joseph erreichte Jules und seine Schwestern. Sie setzten sich zusammen, im Aufenthaltsraum des Home Jeanne d'Arc. Es ging dem Vater, nach einer längeren Phase scheinbarer Genesung, wieder schlechter. Ausserdem machte sich Joseph Sorgen über die politischen Spannungen zwischen dem deutschen Kaiserreich und Frankreich, deren Auswirkungen er an der Grenze sehen konnte, sowohl in Basel, wo die Grenzwache durch Soldaten verstärkt wurde, als auch bei Bonfol, in der Nachbarschaft von Cornol, wo die gegnerischen Länder mit der Schweiz einen gemeisamen Grenzpunkt teilten. Er machte in seinem Schreiben deutlich, dass er ihre Heimkehr wünschte, zumindest vorübergehend, damit man sich gemeinsam Gedanken über die Zukunft der Familie machen könne. Für Marie war es sofort klar, dass sie zurückkehren werde. Berthe dagegen war masslos enttäuscht. Sie hatte die Krankheit des Vaters schon völlig vergessen und damit gerechnet, dass bald auch die jüngste Schwester Clara zu ihnen stossen werde. Auch Jules musste zugeben, dass er, wegen dem längeren Ausbleiben schlechter Nachrichten von zuhause, sich nicht mehr gefragt hatte, wie es dem Vater gehe. Es wurde ihm bewusst, wie wenig er bisher über das Altwerden, oder gar den Tod, seiner Eltern nachgedacht hatte. Und deutlicher als auch schon tauchte die Möglichkeit auf, sein amerikanisches Abenteuer könnte von begrenzter Dauer sein.
"Wir kommen wieder!", versuchte er Berthe trösten, aber sie legte den Kopf auf die Arme und heulte. Er verstand sie.

Mr. McCurdy überreichte ihm an einem Abend einen Briefumschlag von Edmond.
"Sie wollen uns doch nicht verlassen, Chiquet?"
Jules konnte nicht deuten, ob die Frage ernst gemeint war. Und er hatte keine Ahnung, was Edmond ihm mitteilen oder von ihm wollen könnte.
"Natürlich nicht, Sir. Vielleicht geht es um meine Schwester Berthe, Sir. Sie würde gerne als Hausangestellte arbeiten."
"Ach so!"
Mr. McCurdy schien nicht überzeugt zu sein.
Als Jules den Brief bei sich im Zimmer öffnete, las er wirklich von der Aussicht auf eine mögliche Arbeitsstelle seiner Schwester bei drei älteren, unverheirateten Geschwistern mit dem Namen Bayne, an guter Adresse. Edmond werde diese Option genau prüfen, was noch ein paar Wochen dauern könne. Er sei aber zuversichtlich. Dann kam eine seltsame Passage, die Jules betraf. Sie bestand nur aus Andeutungen. Er schrieb über Anzeichen von Interesse an seiner, Jules', Person aus allerhöchsten Kreisen, über die sie unbedingt bald, und persönlich, miteinander reden müssten. Er könne sich diese unerwartete und, im Falle ihre Eintretens, überaus glückliche Wendung selber nicht erklären. Vielleicht ahne Jules ja, woher und weshalb ihm das Schicksal winken könnte, aber weiteres lieber mündlich.

Jules sass auf seinem Bett, den Brief noch immer in der Hand. Er musste überlegen. Natürlich hatte er sofort an Rockefeller gedacht, aber warum sollte sich der Millionär jetzt plötzlich, mehr als zwei Jahre nach jener seltsamen Begegnung, für ihn interessieren? Er stand unter öffentlichem Druck wegen der Sache in Colorado, das wusste Jules von Fiona. Sie redete vom Colorado Coalfield War, wie es auch in Mr. McCurdys Zeitungen genannt wurde. Zudem redeten Mr. Kretschman und die anderen Angestellten im Haus häufig vom Umzug von Rockefeller Juniors Familie in die kürzlich fertigegestellte, achtstöckige Mansion an der Vierundfünzigsten. Die Rockefellers hatten in der Zwischenzeit fünf Kinder, und es gab viele Spekulationen über die Anzahl der Zimmer in dem riesigen Haus, und darüber, wie viele Hausangestellte dafür nötig seien. Natürlich träumten einige davon, einmal in so einer Umgebung arbeiten zu dürfen. Konnten diese Umstände, vielleicht zusammen mit einer Kündigung des bisherigen Kammerdieners, dazu führen, dass sich Mr. Rockefeller Junior an ihn, den Bauernbub aus dem Jura, erinnerte? Er versuchte, weiter reichende Überlegungen auf die Seite zu schieben und das Treffen mit Edmond abzuwarten.

Diesem erschien es am besten, wenn man sich an einem freien Sonntagnachmittag in einem Kaffee treffe, und so musste Jules schweren Herzens Fiona ausladen. Aber sie fand es aufregend.
"Da bin ich ja gespannt, ob du recht hast. Ob es wirklich um Rockefeller geht."
Halb scherzhaft fügte sie hinzu:
"Ich weiss nicht, ob ich das zulassen werde."

Als er Edmond im King's Coffee and Teas gegenüber sass, wollte dieser zu einer seiner ausschweifenden Einleitungen ansetzen, aber Jules unterbrach in sofort.
"Es geht um Mr. Rockefeller Junior, oder?"
Edmond schien einen Augenblick lang beleidigt, rührte in seinem Kaffee, räusperte sich und druckste herum. Schliesslich aber schwenkte er auf Jules' direkten Kurs ein und bestätigte:
"Ja, Sie haben es erraten. Ich weiss nicht, was da zwischen Ihnen vorgefallen ist, Jules. Man erwähnte, dass Mr. Rockefeller Junior Sie einmal gesehen habe, bei einer Besprechung in seinem früheren Haus an der Vierundfünfzigsten. Hat er Sie damals ausgefragt? Was hat er gesagt?"
Jules hatte nicht die Absicht, dem Vermittler von der speziellen Situation zu erzählen, die damals entstanden war, ob zufällig oder durch das Zutun des Millionärs.
"Nein, er hat nur gefragt, ob ich Mr. McCurdys Kammerdiener sei, was ich bejahte. Dazu gab ich ihm meinen Namen bekannt, und dass ich aus der Schweiz komme."
Edmond überlegte.
"Das könnte eine gewisse Rolle spielen. Aber am besten erzähle ich Ihnen der Reihe nach, wie mir Mr. Rockefellers Interesse an Ihnen überhaupt zu Ohren gekommen ist. Ich hatte vor Jahren das Vergnügen, mit Miss Annie Davis zusammenzuarbeiten, die jetzt Haushälterin ist bei den Rockefellers. Offenbar hat sich Mrs. Aldrich Rockefeller bei ihr nach einem zuverlässigen Vermittler erkundigt, wodurch mein Name ins Spiel kam. Gegenwärtig hat Mr. Rockefeller einen Kammerdiener deutscher Herkunft, der in letzter Zeit einen übertriebenen Enthusiasmus für die Sache seines ehemaligen Vaterlandes offenbart. Dem Dienstherr ist dies angesichts der politischen Lage in Europa, die vermehrt zu unerwünschten Resonanzen auch hierzulande führt, sehr unangenehm. Wie Sie vielleicht mitbekommen haben, steht Mr. Rockefeller auch wegen der Sache in Colorado in der öffentlichen Kritik, weshalb er sorgfältig darauf achten muss, dass keiner seiner Hausangestellten Indiskretionen irgendwelcher Art hinausträgt in ausserhäusliche Kreise. Noch schlimmer wären Beziehungen eines Angestellten zur Presse oder gar zu einer politischen Vereinigung. Er möchte sich also von seinem Kammerdiener trennen und sucht quasi ein unbeschriebenes Blatt. Jemand, der in dieser Situation ein Neutrum darstellt. Und selbstverständlich dennoch möglichst gute Empfehlungen für die Profession mitbringt."
"Und das wäre ich?"
"Das könnte Sie sein, ja doch."

Jules konnte Edmonds Überlegungen zwar nachvollziehen, aber angenehm war es ihm nicht, als "unbeschriebenes Blatt" oder gar als "Neutrum" zu gelten. Was sollte das überhaupt bedeuten? Aber er spürte ein Kribbeln im Bauch bei der Vorstellung, das erreichen zu können, was er sich nie ganz ernsthaft zu wünschen getraut hatte. Da kam ihm in den Sinn, dass sie ja im Sinne hatten, schon bald nach Cornol zurückzufahren.
"Meinem Vater geht es wieder schlechter, und wir haben beschlossen, ihn bald zu besuchen. Das heisst, ich könnte erst anfangs nächstes Jahr den Dienst antreten. Das ist wohl zu spät?"
Edmond beruhigte ihn.
"Nein, nein, das wird nicht so schnell gehen. Wie gesagt, war es ein vorsichtiges Herantasten von Seiten der Rockefellers, noch keine konkrete Anfrage. Und wir müssen Mr. und Mrs. McCurdy dazu bringen, Sie ohne Groll freizugeben."
Jules erzählte Edmond von seinem Eindruck, dass zwischen den Eheleuten keine Einigkeit darüber bestehe, ob Mr. McCurdy einen Kammerdiener haben sollte oder nicht.
"Da muss ich Ihnen wohl recht geben. Mrs. McCurdy ist eine starke Persönlichkeit, die gerne alles genau kontrolliert, was in ihrem Hause geschieht. Und ein valet ist immer eine Art Springer im Schach der Hausführung. Nicht einfach, das kann ich aus meiner Erfahrung als Butler sagen. Aber Sie scheinen damit gut zurecht gekommen zu sein bisher. Nun, jedenfalls wird es Mr. McCurdy schmeicheln, wenn sein Diener von Mr. Rockefeller Junior abgeworben wird, und ich habe noch ein zwei Männer an der Hand, die Sie ablösen könnten. Wann kommen Sie zurück?"
"Ende Januar, wäre das in Ordnung?"
"Ja das ist gut."
Edmond machte eine sehr ernste Miene.
"Ich möchte Sie aber darauf hinweisen, dass Sie noch mit niemandem über diese Aussichten reden dürfen, auch nicht mit Ihren Familienangehörigen. Wenn Sie plaudern, sind Sie sofort aus dem Spiel. Ich denke, Sie sind nicht vertraut mit dem Grad der Diskretion, der von Ihnen verlangt werden wird, sobald Sie als Kammerdiener ernsthaft in Frage kommen, und erst recht ab dem Moment des Vertragsabschlusses, der mit grösster Wahrscheinlichkeit schriftlich und sehr detailliert behandelt werden wird. Sie bewegen sich dann in unmittelbarer Nähe einer höchst öffentlichen Person von enormer Bedeutung, was Ihnen eine entsprechende Verantwortung auferlegt. Können Sie mir da folgen?"
Jules bejahte es mit einem Kopfnicken. Er spürte seinen Magen, und Edmond sah seine Unsicherheit.
"Aber wir werden Sie sorgfältig darauf vorbereiten, seien Sie unbesorgt! Mit Ihrer Schwester Berthe werde ich noch sprechen wegen der Stelle bei den Geschwistern Bayne. Das könnte sehr interessant sein für sie, der ideale Ort, um als Hausangestellte zu beginnen. Die ältere Schwester ist ungefähr fünfundsechzig, sie hat das Sagen im Haus. Die jüngere und der Bruder sind um die Fünfzig, oder etwas darüber. Sehr nette, weltoffene Leute. Sie haben im Moment nur zwei Angestellte, eine Köchin aus Irland und einen Diener aus Japan."

Die Geschwister Chiquet beschlossen, ihre Heimreise auf Anfang Dezember zu planen, damit sie Weihnachten mit den Eltern zusammen in Cornol feiern könnten. Jules war froh von Fiona zu hören, dass auch sie über die Feiertage wieder einmal zu ihren Eltern und Brüdern nach Irland fahren wollte. Natürlich konnte er ihr gegenüber den Inhalt des Gesprächs mit Edmond nicht verheimlichen. Er spürte ihren Zwiespalt, wenn sie sich ihn als Kammerdiener bei Rockefeller Junior vorstellte, einem der ganz grossen Blutsauger, wie sie ihn nannte. Einerseits freute sie sich über seinen Erfolg, und war auch stolz auf ihn, andererseits las sie seit einiger Zeit alles über den Streik in Colorado. Sie sah Rockefeller verantwortlich für die immer wieder aufflammenden Gewaltausbrüche und die zunehmende, beidseitige Aufrüstung mit Waffen, die nichts Gutes verhiess für den Ausgang der Auseinandersetzungen. Und sie schwärmte geradezu für Mother Jones, die sechsundsiebzigjährige irische Aktionistin, welche sich auch durch falsche Anklagen und unrechtmässige Haftstrafen nicht unterkriegen liesse und nun auch in Ludlow die Frauen und Kinder der Streikenden unterstütze.
"Jetzt kommt dann der Winter, und die leben dort in Zelten, stell dir vor! Warum geht er nicht hin, dein Rockefeller? Warum kann er ihnen nicht das bisschen geben, was sie fordern? Ich versteh's nicht!"
Jules wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er hätte lieber weniger geredet und mehr Zärtlichkeiten ausgetauscht mit ihr, in der kurzen Zeit, die ihnen blieb.

Am sechzehnten November feierte die New Yorker Gemeinde der Cornoler gemeinsam das Fest des Heiligen Martin. Man hatte dafür den Saal des Gemeindehauses von St. Vincent de Paul reserviert, darin zwei lange Tischreihen eingerichtet und alles sorgfältig dekoriert. In vielen Haushalten war vorgekocht worden, damit die Speisen in der Küche nur aufgewärmt werden mussten. Auch traditionelle Backwaren und Desserts wurden in grossen Mengen antransportiert, dazu Wein und Schnaps. Jemand brachte sogar ein Fässchen damassine, das aus der Heimat per Schiff herbestellt worden war. Da man auch Begleitung mitbringen durfte, fragte Jules Fiona, ob sie Lust hätte, an dem Fest teilzunehmen. Es werde aber nur Patois gesprochen an dem Abend. Da sie neugierig war und zusagte, legte er ihr nahe, sie solle an dem Tag nichts essen, weil das Menu an St. Martin unglaublich reichhaltig und fett sei. "Bei uns werden da keine Gänse gegessen, aber viel Schweinefleisch und Würste. Isst du Blutwurst?"
"Ich weiss nicht, black pudding mag ich nicht so, aber ich glaube, die französischen sind ganz anders."
Zu Fionas Überraschung begann Jules zu singen:
Eh! vive lai Saint Maitchïn!
Maindgeans bïn di boudïn!
Eh! vive lai Saint Maitchïn!
Boyans di bon vïn!

Als er fertig war, klatschte sie in die Hände und umarmte ihn lachend.
"So eine fröhliche Melodie! Was bedeutet der Text?"
"Es ist eine Einladung zum Fest, von einfachen Leuten. Für einfache Leute, so wie wir halt sind: Es lebe der Heilige Martin! Lasst uns viele Würste essen und guten Wein trinken!"

Als sie abends den Saal betraten, herrschte schon munteres Treiben und ein beeindruckender Lärm. Die Leute standen zum Aperitif in Gruppen zusammen, eine kleine Musikkapelle spielte, Helferinnen der Kirchgemeinde eilten zwischen den Leuten hin und her und versorgten sie mit Weisswein und salzigem Gebäck. Jules stellte Fiona unzähligen Menschen vor. Er kannte fast alle und war froh, als Berthe auftauchte, Fiona am Ärmel von ihm wegzog und sich um sie zu kümmern schien. Nach einer Weile spielte die Musik einen Tusch und man wurde gebeten, sich zu setzen, weil der erste Gang serviert werde. Jules suchte Fiona und fand sie bei Berthe, die daran war, Plätze auszusuchen und zu besetzen, inmitten von Cornolern, die alle näher oder ferner mit ihnen verwandt waren. Rondez, Girard, Crétin. Man studierte schon die von Hand kolorierten Menukarten, überprüfte und kommentierte die Vollständigkeit des traditionellen Ablaufs der Speisen. Bouillon, Gelée de ménage, Blutwurst mit Apfelmus und Randensalat, Grillade mit Bratwurst und Atriaux, Schweinebraten mit Sauerkraut. Dann Damassine- sowie Kirsch- und Apfelschnaps. Und zum Dessert gebrannte Crème, Toetché und Chtriflates. Während sie die Suppe assen, wurde Fiona erklärt, was noch alles auf sie zukommen sollte.

Mit zunehmendem Genuss der Schnäpse wurde die Stimmung noch angeregter, das Stimmengewirr immer lauter. Man musste sich rufend unterhalten und die Mimik des Gegenübers gut im Auge behalten, um ihn zu verstehen. Jules wurde heiser, und ihm war schwindlig. Da stellte sich Fiona hinter ihn und legte ihre Hände auf seine Schultern. Als er zu ihr aufschaute, küsste sie ihn auf die Stirn und sagte:
"Komm, lass uns tanzen!"
Ein paar Stunden später fuhren sie mit der Untergrundbahn nach Norden. Jules brachte Fiona nach Hause zu Liam und Kuiwa. Sie waren beide müde und hatten zuviel gegessen und getrunken. Fiona legte ihren Kopf auf seine Schulter und ging die Erlebnisse des Abends durch, dabei mehr zu sich selber sprechend.
"Vieles ist bei euch ganz ähnlich wie bei uns, obwohl ich wirklich nichts verstehe, wenn ihr miteinander redet. Aber das ist umgekehrt auch so, du hast es ja schon erlebt, wenn wir unter uns sind, und nur gälisch reden und singen. Diese Lust an der eigenen Sprache, die einen einhüllt, und andere ausschliesst. Die Musik klingt ganz anders. Unbekümmert fröhlich, französisch irgendwie. Wie an einem Bauernfest."
"Wir sind Bauern", sagte Jules.
Sie hob den Kopf und schaute ihn an.
"Einmal Bauer, immer Bauer?"
Jules zuckte mit den Schultern und grinste.

Es war eine grosse Gruppe von Cornolern, die am fünften Dezember das Schiff nach Le Havre bestieg. Es gab solche darunter, die mehr Gepäck dabei hatten als sonst, weil sie das Abenteuer der Auswanderung beenden und endgültig ins Dorf zurückkehren wollten. Berthe mochte deren Geschichten nicht hören, sie war traurig und betrachtete ihre Rückkehr wie eine Niederlage. Zum Glück blieb das Wetter die ganze Fahrt über ruhig, sodass nicht noch die Seekrankheit zu ihrem Elend dazu kam. Jules konnte ein paar längere Gespräche mit seiner Schwester Marie führen, die ihm hauptsächlich von ihren Erlebnissen im Home Jeanne d' Arc und in der Kirchgemeinde erzählte. Die Arbeit im Nähatelier schien sie als unvermeidlichen Teil ihrer Pflichten anzusehen, über den es nichts zu berichten gab. In der kirchlichen Umgebung aber hatte sie ihren Platz gefunden, und der Name eines Mitarbeiters fiel mehrmals, sodass Jules den Eindruck hatte, sie entwickle zarte Bande zu einem Mann. Er selber war froh, die ruhigen Tage der Fahrt dazu nutzen zu können, über alles nachzudenken, was in der letzten Zeit passiert war, und was vielleicht auf ihn zukommen könnte. Die Aussicht, bei Rockefeller Junior arbeiten zu können, löste wiedersprüchliche Gefühle in ihm aus. Einerseits war er aufgeregt und freute sich auf eine neue Herausforderung. Auf der andern Seite war ihm klar, dass er dabei kläglich versagen könnte. Und er konnte das Erlebnis damals im Büro noch immer nicht einordnen. Wenn er jetzt, aus der Distanz, darüber nachdachte, konnte er gar nicht verstehen, weshalb diese Begegnung eine solche Bedeutung bekommen hatte. Und doch verfolgte ihn das Bild, wie sie einander gegenüber gestanden, wie Mr. Rockefeller ihn angeschaut und dabei wortlos genickt hatte.

Nach so langer Zeit wieder einmal die weihnächtliche Mitternachtsmesse in Cornol zu erleben, im Kreise der vollständig versammelten Familie, war eine berührende Erfahrung für alle. Es war eng gewesen am Heiligen Abend in der guten Stube. Man hatte den Tisch ausgezogen, und das von den jüngsten Schwestern, Berthe und Clara, geschmückte Bäumchen brauchte auch seinen Platz. Man sang alle Weihnachtslieder, die man kannte. Maman wusste alle Strophen auswendig, aber ihre Stimme war dünner geworden. Papa war gerührt und weinte ein bisschen. Alle steckten in ihren besten Kleidern, die Américains mit modischen Anteilen aus Übersee, der älteste Bruder in seiner Galauniform. Nach dem Essen legte man sich kurz hin, dann gab es eine Tasse Tee, und man machte sich auf den kurzen Weg hinüber zur Kirche. Die Leute vom Dorf strömten aus allen Richtungen herbei, leise miteinander sprechend und dabei Wolken ausatmend, die im Schein der Strassenlaternen hell aufleuchteten. Die Kirche war nur von Kerzen erleuchtet, die Krippe liebevoll hergerichtet mit viel Tannengrün. Auch hier sang man Lieder, wobei der Organist versuchte, die Gläubigen durch leichtes Vorauseilen zum Halten des Tempos zu bewegen. Es tönte wie immer, etwas dünn und falsch, aber vertraut. In seiner Predigt sprach der Pfarrer von der Notwendigkeit, Frieden zu bewahren, und alle wussten, damit war nicht nur ihr Dorf gemeint.

Papa war meist guter Dinge. Aber er war schwächer geworden, und seine Hustenanfälle waren manchmal begleitet von blutigem Auswurf. Maman war vom Arzt zu grösstmöglicher Sorgfalt bei der Hygiene im Umgang mit dem Patienten angewiesen worden, und man konnte sich denken, was das bedeutete. Ins Berner Oberland in die Kur zu gehen, kam für Papa nicht infrage. Er hatte schon einige Schübe seiner Krankheit erlebt und war zuversichtlich, dass er auch diesmal wieder gesund würde. Aber es war offenkundig, dass er den kleinen Hof nicht mehr lange alleine würde führen können. Jules nahm sich vor, seinen kommenden Aufenthalt in Amerika bewusst zu geniessen. Und in der kurzen Zeit zu Hause packte er an wie noch nie. Er mistete den Stall gründlich aus und kalkte ihn überall bis in Schulterhöhe. Er fegte die Spinnweben herunter und befreite die Balken von Staub und Sand. Er ersetzte alle gebrochenen Sprossen der Futtergitter, legte neue Bodenbretter, wo die alten durchgefault waren. Und er hackte Holz für zwei Winter. Seine Hände sahen bald nicht mehr aus wie die eines Kammerdieners, aber das war ihm gerade recht.

Dass seine Rückfahrt, diesmal mit der Chicago, fast zwei Wochen dauern würde, konnte er nicht wissen. Marie wollte noch in Cornol bleiben für eine Weile, und auch Berthe hatte sich dazu überreden lassen, abzuwarten, bis es Papa besser ginge. Vielleicht könnten sie dann in einem halben Jahr reisen und dabei Clara mitnehmen, die auch ihr Glück jenseits des Atlantik versuchen wollte. Jules aber machte sich wieder auf den Weg durch Frankreich, bestieg dann in Le Havre das Schiff. Es war schlechtes Wetter angesagt, mehrere Winterstürme waren im Anmarsch, auf ihrem Weg von West nach Ost. Wenn Jules später über diese Fahrt nachdachte, kam sie ihm vor wie ein dunkler, nicht enden wollender Tunnel. Er verlor mehrere Kilos, weil er tagelang nichts essen konnte und das wenige, das er heruntergebracht hatte, gleich wieder erbrach. Der Gestank, der sich überall in den Kajüten, Gängen, Toiletten ausbreitete, ja sogar die Luft in den Speisesäälen und auf Deck verpestete, war unerträglich. Mit der Zeit wurde er aber so allgegenwärtig, dass sein Gehirn es aufgab ihn wahrzunehmen. Die Bewegungen der Chicago vorauszusehen und sich eingermassen aufrecht und geradeaus vorwärts zu bewegen, war unmöglich. Man wurde umhergeschleudert und hatte bald überall blaue Flecken. Alles bewegliche Mobiliar wurde vom Personal entweder entfernt oder angeschraubt. Schwere Gepäckstücke mussten von den oberen Ablagen heruntergenommen oder angezurrt werden. Getrunken wurde alles, auch Kaffee und Tee, nur noch direkt aus der Flasche. Für die Teller gab es zwar Haltevorrichtungen, aber die Speisen rutschten zuweilen einfach auf den Tisch, und von dort auf den Boden. Manchmal krachte das Schiff mit solcher Wucht auf die Brecher, dass es wie von einer Explosion erschüttert wurde. Es folgten ächzende, knackende und polternde Geräusche, die einen das Auseinanderbrechen des Rumpfs befürchten liessen. Es wurde viel gebetet und geweint auf der Fahrt, und selbst die Mitglieder der Crew machten zuweilen besorgte Gesichter. Nach zwölf Tagen war der Spuk vorbei, das Meer beruhigte sich und wurde schliesslich, wie zum Hohn, spiegelglatt. Das Personal wollte bis zur Ankunft alle Spuren der Seekrankheit entfernt haben, und so roch bald jeder Winkel nach Alkohol und Chlor. Jules duschte ausgiebig, und langsam kamen sein Appetit und seine Fähigkeit, normal zu denken, wieder zurück. Am vierzehnten Februar 1914 betrat er wieder den Boden von Manhattan.

Donnerstag, 1. April 2021

Irritationen

Der Frühlingsanfang 1911 war nass und kalt. Dicker Nebel schwabbte vom Long Island Sound hinüber in den East River. Es nieselte, als Jules mit dem Hündchen von Mrs. McCurdy das Haus verliess. Sein Dienstherr wollte noch verschiedene Telefongespräche führen und hatte gemeint, er brauche seinen Kammerdiener erst wieder in einer knappen Stunde. Von der Hausherrin wurde er daraufhin beauftragt, mit dem Hund hinauszugehen.
"Mindestens eine Stunde, Chiquet, er war diese Woche zu oft eingesperrt, der Arme!"
Jules machte sie darauf aufmerksam, dass er von ihrem Mann voraussichtlich früher gebraucht werde, doch sie wischte darüber hinweg.
"Papperlapapp! Ich werde mit ihm reden."
Als der kleine Pudel hörte, wie Jules die Leine vom Haken nahm, kam er angesaust, sprang an ihm hoch und bekam, wie immer, wenn er aufgeregt war, einen Hustenanfall.
"Komm, du verrückter kleiner Teufel", sagte er auf Patois, und schon stürmte Blacky die Treppe hinunter. Jules hatte ein Stück Zeitung eingesteckt um, wie von Mrs. McCurdy gewünscht, die Hinterlassenschaften des Haustiers einzusammeln. Er nahm den Hund an die Leine und ging auf der Einundfünzigsten in Richtung East River bis zur First Avenue, dann bog er nach links ab, bis sie die Siebenundfünfzigste erreicht hatten, die bis zu einem kleinen Park am Fluss hinuterführte. Er wollte zur Sicherheit nicht bis auf die Brücke gehen, weil dort um diese Zeit sehr viele Fussgänger unterwegs waren und er auch schon in der Menge steckengeblieben war. Im Park liess er den Hund auf den Rasen scheissen, nahm die warmen Würstchen mit der Zeitung auf und warf sie in den Abfalleimer. Er musste grinsen bei der Vorstellung, wie er so etwas in Cornol machen würde.
"Komm, wir werfen einen Blick auf die Brücke!"
Der Hund verstand gleich viel, oder wenig, ob er ihn auf englisch oder in seinem Dialekt ansprach. Die Pfeiler der Queensboro Bridge sahen heute besonders eindrucksvoll aus. Wie eine Kolonne hintereinander marschierender Riesen, bis zu den Knien im Nebel, über sich geworfen ihre zusammengewachsenen, aus Stahlseilen gewobenen Pellerinen. Die Fahrbahn trugen sie wie eine lange, schwarze Bahre. Jules begann zu frösteln und wollte zurück.

Als sie zuhause ankamen, öffnete ihm Mary die Tür und gab mit einer Grimasse zu verstehen, dass Ärger auf ihn warte. Mr. McCurdy war mit seinen Anrufen früher fertig geworden und hatte sich nach einem Wutanfall alleine zur Wallstreet aufgemacht. Die Ehefrau schien nicht daran zu denken, Jules Verspätung mit ihren eigenen Anweisungen in Verbindung zu bringen. Da Jules nie mitgeteilt worden war, wie lange seine Probezeit dauern würde und ob sie schon beendet sei, machte er sich Sorgen. Und er war wütend auf Mrs. McCurdy. Die Unterredung mit seinem Dienstherrn, am Abend in dessen Büro, war demütigend. Jules kannte sich im Beziehungsgeflecht der McCurdys mittlerweile genügend aus um zu wissen, dass er mit Hinweisen auf eine Mitschuld der Ehefrau an seiner Verspätung Mr. McCurdy nur noch mehr gegen sich aufbringen würde. Dieser sei vor allem deshalb wütend, so vermutete er, weil sich bei solchen und ähnlichen Manövern ihre verborgene Missbilligung des Umstands zeigte, dass ihr Mann einen Diener hatte, für den er alleine zuständig sein wollte. Als nun Mr. McCurdy auf die Probezeit zu sprechen kam und sagte, er habe diese eigentlich für erfolgreich beendet erklären wollen, sehe sich nun aber veranlasst, sie nochmals um einen Monat zu verlängern, fühlte sich Jules auf einmal sehr müde. Es kam ihm vor, als habe er nun schon mehr als ein dutzendmal gesagt, "Ja, Sir, das sehe ich auch so, Sir, ja Sir, das kann ich verstehen, Sir", dabei war er versucht, dem Mann vor sich ins Gesicht zu sagen, was er von ihm hielt. Aber er wollte und konnte sich zurückhalten.

Ein paar Tage später war New York in hellem Aufruhr. Am fünfundzwanzigsten März, einem Samstag, war in einer Kleiderfabrik kurz vor dem Wochenendfeierabend ein Brand ausgebrochen. Die Fabrik, in welcher Damenblusen hergestellt wurden, vor allem von jungen Frauen und Mädchen, belegte die drei obersten von zehn Stockwerken eines grossen Mietshauses am Washington Place. Nur ein kleiner Teil der Belegschaft, darunter die Besitzer, welche an diesem Tag zusammen mit ihren Kindern im Haus gewesen waren, konnten sich übers Dach und die viel zu wenigen, zu schwach gebauten Feuertreppen retten. Eine Zeit lang wurden auch die Lifte noch in Betrieb gehalten, bis sie wegen der Hitze unbrauchbar wurden. Wie sich herausstellte, waren die Türen der Fabrikationsräume geschlossen, so dass die jungen Frauen und Mädchen in ihrer Not begannen, sich aus den Fenstern in den sicheren Tod zu stürzen, mitten unter die unzähligen Schaulustigen. Die Feuerwehr war zwar schnell mit mehreren Pferdewagen zur Stelle, aber ihre Leitern reichten nur bis zum siebten Stock, und die Rettungstücher wurden von den Herunterspringenden zerrissen. Der Brand wütete bis zum nächsten Morgen, und als man die Türen öffnen konnte, türmten sich dahinter die Leichen erstickter Mädchen und Frauen. Mehr als hundertvierzig Arbeiterinnen wurden getötet. Die Presse schrieb von einem Riesenskandal.

Als Jules mit Mr. McCurdy am Montag darauf an die Wallstreet fuhr, wollte der Chauffeur unbedingt am Brandort vorbeifahren. Der Dienstherr wehrte sich nur halbherzig dagegen. Er schimpfte während der ganzen Fahrt auf die beiden Fabrikbesitzer.
"Juden, wie könnte es anders sein! Unsere Versicherung hatte schon mehrfach mit ihnen zu tun wegen Bränden. Wir vermuteten, dass sie ihre Fabriken immer dann in Brand steckten, wenn sich ein Produktionszweig nicht mehr lohnte. Wir haben sie dann rausgeschmissen aus allen Verträgen. Wenn das hier wieder so ein Fall ist, dann Gnade ihnen Gott!"
Als sie am Ende der Fifth Avenue beim Park ankamen, konnte man nicht nach links abbiegen, der Unfallort war grossräumig abgesperrt. Jules war froh darüber, denn schon die wenigen Pressebilder, die er gesehen hatte, verfolgten ihn bis in seine Träume.

Und es kam zum ersten Streit mit Fiona wegen der Sache. An einem der auf das Unglück folgenden Sonntage hatten sie nach dem Kirchgang noch ein paar Stunden Zeit. Es war endlich warm geworden und sie nutzten die Umstände für einen Spaziergang im Central Park. Als sie Halt machten auf einer Bank, kam Fiona auf den Brand zurück, über den sie bereits gesprochen hatten. Jules erzählte ihr von Mr. McCurdys Reaktion und teilte dessen Meinung, die Besitzer der Fabrik seien Verbrecher, da hielt Fiona plötzlich vehement dagegen.
"Also, erstens einmal hat das gar nichts damit zu tun, dass sie Juden sind. Wären es irgendwelche Amerikaner, würde man auch nicht sagen, so etwas sei typisch für, sagen wir mal, Babtisten. Und zudem ist es ein fataler Irrtum zu glauben, dass dies einfach passiert sei wegen dieser zwei Verbrecher. Wegen zwei schwarzen Schafen. Damit kommen die gestopften Unternehmer und die von ihnen bezahlten Politiker auch bei uns zuhause immer dann, wenn eine Mine explodiert oder eingestürzt ist. Dabei zeigen soche Vorfälle nur zu deutlich, wie das ganze System wirklich ist. Tödlich für die Arbeiter, aber lukrativ für die Besitzer! Hier sperrt man die Mädchen ein, nur damit sie nichts klauen können. Wenn es brennt, sitzen sie in der Falle. Und bei uns müssen die Minenleute Abstützungen und Belüftungen auf eigene Rechnung bauen, in der Freizeit! Und sie sterben mit dreissig, vierzig an der Staublunge!"
Sie hatte sich in Fahrt geredet, wurde richtig laut. Ihre Wangen glühten, und Jules kam kaum dazwischen. Es befremdete ihn, dass sie so mit ihm redete. Er war ein Dummkopf, der nichts von den wahren Hintergründen verstand, ja. Aber konnte es sein, dass sie so viel mehr wusste, und wenn, musste sie es ihn so spüren lassen? Er fragte kleinlaut:
"Was müsste man denn machen? Wie kann man das ändern?"
"Man muss sich organisieren. Wir müssen uns organisieren! Man sollte hier, und auch in Irland, in der Schweiz, endlich die Gewerkschaften voranbringen! Auch für uns Diener und Hausmädchen schaut ja niemand, wenn wir krank werden, oder schwanger, womöglich vom Dienstherrn. Auch wenn wir unsere Eltern besuchen wollen, verdienen wir nichts, man kann uns jederzeit feuern, wegen nichts! Wenn manche von uns das Tafelsilber mitgehen lassen, ist das doch kein Wunder!"
Das fand nun Jules völlig übertrieben, und er versuchte ihr klarzumachen, dass Diebstahl nach seiner Auffassung eine Sünde sei, die nicht mit dem Hinweis auf schlechte Behandlung gerechtfertigt werden könne. Fiona hielt es nicht mehr auf der Bank, sie war aufgestanden und redete weiter auf ihn ein, manchmal schien es ihm fast, als ob sie ihre Worte mit einem Aufstampfen der zierlichen Füsse unterstreichen würde. Als er deswegen lachen musste, lief sie ihm davon.

Ende April wurde Jules eines Morgens ins Büro von Mr. McCurdy bestellt. Dort teilte man ihm förmlich mit, er habe seine Probezeit bestanden und dürfe sich hiermit und ab sofort als vollwertiges Mitglied im Team der Hausangestellten betrachten. Sein Gehalt wurde um zehn Dollar im Monat erhöht und man wies ihn darauf hin, dass bei Krankheit oder allfälligen Besuchen von Verwandten grundsätzlich kein Anspruch auf Bezahlung bestehe. Man werde aber in solchen Fällen die Situation prüfen und sich im Härtefall kulant zeigen.

Am gleichen Tag durfte er den Dienstherrn zu einer Sitzung begleiten. Zuerst wurde ihm nur gesagt, es handle sich um ein Treffen mit sehr bedeutenden Geschäftspartnern, und zu seinem Erstaunen machte man sich zu Fuss auf den Weg, nachdem noch Mr. McCurdys Sekretärin aus dem Büro an der Wallstreet eingetroffen war. Sie gingen die Einundfünfzigste entlang nach Westen bis zur Fifth Avenue, dann in Richtung Central Park bis zur Vierundfünfzigsten. Jules begann zu ahnen, dass sie der Weg ins Imperium der Rockefeller führen könnte, und wirklich rief die Sekretärin, als sie die Avenue überquert hatten:
"Da ist die Baustelle der neuen Mansion, die Mr. Rockefeller Junior für sich bauen lässt. Sie soll gigantisch werden!"
Mr. McCurdy drehte sich etwas unwirsch zu ihr um und sagte:
"Ja, Miss Castenay, danke, dass Sie uns darüber informiert haben. Wir sind jedoch bestellt ins Büro des Hauses Nummer dreizehn. Darf ich Sie bitten dafür zu sorgen, dass wir eingelassen und hinaufgeführt werden?"

Es war das erste Mal, dass Jules Vater und Sohn Rockefeller aus der Nähe sah und erlebte. Er war schon verschiedentlich von andern auf die teuren Automobile der Millionäre hingewiesen worden, wenn sie durchs Quartier fuhren, und einmal hatte er von Weitem gesehen, wie Reporter und Fotografen vor einem der Häuser in der Vierundfünfzigsten dem alten Rockefeller abpassten und ihn bestürmten, als er das Haus verlassen wollte. Nun war er zu Beginn und gegen den Schluss der Besprechung im gleichen Raum mit den Herrschaften, wurde von Mr. Rockefeller Seniors wässerigblauen Vogelaugen fixiert, als er Mr. McCurdy die Taschen und Mappen überreichte. Kam dabei, weil sich Mr. Rockefeller Junior im gleichen Moment erhoben hatte, für einen Augenblick zu nahe neben diesen zu stehen, der gleich gross war und dieselbe Statur hatte wie er. Er trat sofort mit einer leise ausgesprochenen Entschuldigung zur Seite, wodurch er von Mr. McCurdy getrennt wurde.
"Sie sind Mr. McCurdys valet, Mr...... ?
"Ja Sir. Jules Chiquet, Sir. Aus der Schweiz, Sir."
Mr. Rockefeller Junior sah ihn nachdenklich an, nickte dazu fast unmerklich ein paarmal, ohne noch etwas zu sagen. Jules war verlegen. Er stand falsch, zog es aber vor, sich nicht vom Fleck zu bewegen. Sein Dienstherr erlöste ihn, indem er, etwas zu laut, nach ihm rief.
"Haben Sie meine Füllfeder gesehen, Chiquet?"
Jules brachte sie ihm. Er hatte sie auf einem Beistelltisch bemerkt und an sich genommen.

Jules hatte nur wenig mitbekommen von dem, worum es bei dem Treffen gegangen war. Der Butler meinte, die Rockefellers müssten etwas von Mr. McCurdy gewollt haben, sonst hätten sie ihn nicht extra in ihr Büro kommen lassen. Wahrscheinlich eine Versicherungsgeschichte. Er liess sich von Jules berichten, was er hatte aufschnappen können und meinte aus den Gesprächsfetzen eine Version der Geschehnisse rekonstruieren zu können. Zuerst war es wirklich um die Anpassung der Lebensversicherung für die Familie gegangen. Mr. McCurdy war zwar als Geschäftsführer der Mutual Life vor ein paar Jahren zurückgetreten, verfügte aber immer noch über reichlich Insiderwissen und war deshalb als Berater willkommen. Das Gespräch im Büro der Rockefellers wandte sich aber schon bald anderen Dingen zu. Das Monopol im Ölsektor war unter Druck geraten. Es gab Untersuchungen durch einen Ausschuss, schliesslich in jüngster Zeit sogar eine Anklage gegen Standard Oil wegen Verstosses gegen das Antitrust-Gesetz. Eine Verhandlung am höchsten Gericht war im Gange, und es stand zu befürchten, etwas ähnliches könnte auch dem Komplex der Telefon- und Telegrafengesellschaften zustossen, in dem Mr. McCurdy eine führende Position inne hatte. So besprach man mögliche Verteidigungsstrategien und alternative Geschäftsmodelle für die Unternehmungsgruppen. Und man tauschte Adressen geeigneter Anwälte und geneigter Politiker untereinander aus. Jules versuchte, Mr. Kretschmans Erklärungen zu folgen. Dabei erinnerte er sich daran, wie Mr. Rockefeller Junior vor ihm gestanden und ihn gemustert hatte. Es kam ihm fast so vor, als hätte ihn dieser absichtlich in eine Situation unangemessener Nähe gebracht.

Er bekam einen aufgeregten Brief von Berthe, in dem sie ihre Überfahrt, gemeinsam mit Marie, für den November ankündigte. Endlich erfülle sich ihr Traum, sie hoffe, als Modistin in New York eine gute Stellung zu finden, und freue sich sehr auf das Leben in der Grossstadt, auf ihn. Er werde ihr sicher alles zeigen. Sie würde am Anfang im Home Jeanne d' Arc wohnen. Von Marie war der Brief ebenfalls unterschrieben, mit ein paar förmlichen Gruss- und Segensworten. Jules hatte sich mit Fiona wieder versöhnt und erzählte ihr von der bevorstehenden Ankunft seiner Schwestern. Als sie hörte, dass beide in der Textilbranche arbeiten wollten, machte sie sich Sorgen. Jules merkte, wie sie bei dem Thema sorgfältig darauf achtete, nicht wieder mit ihm in Streit zu geraten. Er beruhigte sie:
"Marie hat ja schon in einem kleineren Atelier gearbeitet, in dem die Bedingungen erträglich sind. Dort werden die Türen nicht verschlossen. Vielleicht kann sie da wieder Arbeit bekommen. Sie möchte nicht die volle Zeit arbeiten, damit sie noch in der Kirchgemeinde mithelfen kann. Sie wird jedenfalls Berthe nicht in einer dieser Fabriken sehen wollen."
"Ja, und du?", wollte Fiona wissen.
"Ich natürlich auch nicht. Auf Berthe muss man sicher noch gut aufpassen, sie ist ja erst neunzehn. Wenn sie etwas begeistert, dann ist ihr alles egal, da hat sie etwas Naives. Auch wenn sie als Haus- oder Kindermädchen eine Stelle findet, braucht sie Unterstützung. Ich kümmere mich um sie, keine Sorge!"
"Vielleicht müssen wir deinen Edmond einschalten, was meinst du?", fragte Fiona vorsichtig.
Er lachte.
"Er ist nicht mein Edmond, aber ja, das kann man machen."

Es war schliesslich der Hilfe von Mr. Solomon Abramov, des Schneiders von Mr. McCurdy, zu verdanken, dass Berthe in einer mittelgrossen Hutmanufaktur unterkam, wo sie ihre in Pruntrut erworbenen Fertigkeiten einsetzen konnte. Jules begleitete sie zu Beginn ein paarmal dorthin, um sich ein Bild zu machen von den Verhältnissen. Er konnte herausfinden, dass der ihr zuerst offerierte Lohn zu tief war, weil er nicht berücksichtigte, dass sie ein Zeugnis aus der Fabrik in der Schweiz vorlegen konnte, das ihre Berufserfahrung belegte. Sie wäre zufrieden gewesen, freute sich dann aber doch sehr über die frühe Gehaltserhöhung. Und war stolz auf ihren Bruder, der sich für sie eingesetzt hatte. Jules liebte es, mit seiner jüngeren Schwester New York zu Fuss zu erkunden, weil er alles durch ihre Augen wieder frisch und neu erlebte. Sie fuhren an Sonntagen kreuz und quer mit den Fähren, über den Hudson oder den East River, zur Freiheitsstatue, und einmal sogar nach St. George auf Staten Island. Berthe war von allem begeistert, vom dichten Verkehr der Schiffe und deren Hornen, von den Manövern der Schiffscrews, der modischen Kleidung der New Yorker, dem Salzgeruch des Meeres, den Flugkünsten und Schreien der Möwen. Sie hatte Mitleid mit Bettlern, Krüppeln und Obdachlosen, mit verdreckten Kinderarbeitern und Huren. Sie staunte über die Zahl der Pferdefuhrwerke und Kutschen, die unterwegs waren, und darüber, wie viele chinesische Läden und Restaurants es in gewissen Quartieren gab. Jules musste sie oft daran hindern, mit dem Finger auf Menschen zu zeigen, auf Schwarze, auf Einbeinige, besonders Vornehme oder Zerlumpte. Sie blieb immer wieder stehen und musste schauen, wie ein kleines Kind. Er zeigte ihr, was er am liebsten mochte, Fahrten mit der Hochbahn oder den Gang über Brücken, den Blick von einem Wolkenkratzer, zum Beispiel vom 'Bügeleisen', dem Flatiron, das auch 'grösstes Kuchenstück der Welt' genannt wurde wegen seiner Form. Einmal passierte es, dass er sich am gleichen Sonntagnachmittag mit Berthe und mit Fiona verabredet hatte. Er entschied sich kurzerhand, die beiden Frauen zusammenzubringen, ohne es ihnen vorher anzukündigen. Als er mit Fiona am Arm bei dem mit Berthe abgemachten Ort eintraf, war er unsicher, ob er nicht einen Fehler gemacht hatte. Berthe war zu Beginn eingeschüchtert von Fionas Selbstsicherheit, und wohl von ihrer modischen Kleidung. Diese bemerkte Berthes Unsicherheit und bemühte sich betont freundlich um sie. Schon nach kurzer Zeit hatte Jules den Eindruck, dass ihn die beiden zwischendurch vergassen. Fiona befragte Berthe über ihre ersten Erfahrungen im Hutatelier und erzählte ihr im Gegenzug aus ihrem Leben als Dienerin reicher Leute. Die Frauen lachten viel. Jules war glücklich.
"Du hast eine tolle Schwester, aber sie ist ein bisschen verrückt, glaube ich", sagte Fiona später.
"Du hast eine wunderschöne Freundin, du musst lieb sein zu ihr", meinte Berthe über Fiona. Um das zu bekräftigen, fügte sie ein Sprichwort hinzu, auf Patois.
"D'enne rôse, te n'en faîs pi ïn graipe-tiu! – Aus einer Rose macht man keinen Arschkratzer!"

Auch bei den McCurdys wurde in den nächsten zwei Jahren vieles für Jules zur Routine. Die Rituale des Ankleidens und Entkleidens morgens und abends erledigte er mit geübten Handgriffen und wenigen Worten. Am Morgen war sein Dienstherr froh, wenn er vor dem Frühstück nicht reden musste, am Abend war er meist sehr müde, und schläfrig von den paar Gläsern Brandy oder Whisky, die er gewohnheitsmässig nach dem Abendessen zu sich nahm. Dann musste Jules meistens zum Büro mitfahren, bei Sitzungen im Hintergrund warten und dabei die von Mr. McCurdy verstreuten Gegenstände im Auge behalten. Am langweiligsten waren die Ausflüge nach Morristown zum Landhaus von Mr. McCurdy Senior, oder nach Morris Plains, in das Pendent des Sohnes. Dort konnte es sein, dass Jules halbe Sonntage im Automobil der Herrschaften verschlief, sich zwischendurch die dreckigen Witze des Chauffeurs anhörte, dann im nahen Wäldchen sein grosses Geschäft verrichtete. Sich dabei den Hintern mit Blättern putzte wie in der Kindheit, und sich freute über den Gegensatz zu der Fassade, die er gegenüber den Herrschaften aufrecht erhalten musste. Manchmal war er froh, den Hund um sich zu haben, der rührend an ihm hing, vor allem, seit er ihm einmal mit einer seiner feinen Uhrmacherzangen eine Gräte aus dem Rachen entfernt hatte. Mrs. McCurdy war eifersüchtig, wenn Blacky zuerst zu Jules lief, um ihm die Hände zu lecken. Einmal wollte sich die Hausherrin mit der Haushälterin und der Köchin, mit Jules und dem Hund vor dem Landhaus ablichten lassen mit dem Fotoapparat, den sie von ihrem Mann geschenkt bekommen hatte. Sie bat den Chauffeur, das Bild zu machen und wollte, dass Blacky artig zu ihren Füssen sässe. Dieser sprang aber immer wieder davon, und wenn er endlich zurückkam, presste er sich gegen Jules' Beine. So packte der ihn schliesslich am Halsband, setzte sich vor den Damen ins Gras und hielt den Hund mit beiden Armen fest. Es entstand ein mehrwürdiges Foto, das Mrs. McCurdy wohl nicht ihrem Mann zeigte.

Mr. McCurdy war mehrere Male krank während dieser Zeit, dabei ein ungeduldiger und mürrischer Patient. Jules führte es auf den beruflichen Druck zurück, der auf dem Dienstherr lastete und zugenommen hatte. Er verstand nun, dank vieler Gespräche mit Mr. Kretschman über das Thema, einigermassen die Zusammenhänge. Die Monopolstellung des Bell-Systems, wie der Zusammenschluss einer grossen Zahl von Telefon- und Telegrafengesellschaften unter der Leitung der American Telephone & Telegraph genannt wurde, war der Bundesregierung zunehmend ein Dorn im Auge. Sie drohten mit der Auflösung oder gar Verstaatlichung von Ma Bell, wie die Unternehmensgruppe, halb höhnisch, halb bewundernd, auch genannt wurde. Mr. McCurdys Seniors Schwager, Gardiner Green Hubbard, war erster Präsident gewesen der Bell Telephon Company, seine Tochter heiratete Alexander Graham Bell, der das erste Telefon für jedermann patentieren liess und auch eine leitende Stellung im Unternehmen bekeidete. Mr. McCurdy Junior war Präsident der internationalen Abteilung, mit Hauptsitz in Brüssel. Jules konnte sich also vorstellen, dass sein Dienstherr, der selber keine Kinder hatte, aber ein ausgesprochener Familienmensch war, unter der Situation sehr litt. Man hatte einen tüchtigen Hausarzt, so dass er als Kammerdiener etwas entlastet war. Trotzdem musste er Mr. McCurdy Fusswickel machen gegen das Fieber, oder ihm gut zureden, damit er seine Medizin pünktlich einnahm. Der schwere Mann wirkte hilflos und es war unmöglich, ihn durch Ablenkung aus seiner jammervoll selbstmitleidigen Stimmung herauszuholen. Jules gab sich Mühe, ihn deswegen nicht zu verachten.

Fiona, ganz die Tochter eines Minenarbeiters, war die erste in Jules Umgebung, die im Spätsommer 1913 von den Streiks in Colorado berichtete.
"Siehst du, die haben eine starke Gewerkschaft, konnten schon die Achtundvierzig-Stundenwoche durchdrücken. Und letzes Jahr erfolgreich gekämpft in West-Virginia. Mittlerweile werden sie sogar von der Bundesregierung als Verhandlungspartner akzeptiert. Und jetzt geht es los in Colorado. Auch dort sind die Bedingungen in den Minen erbärmlich."
Jules hielt es für besser, zuzuhören und zu schweigen.
"Weisst du eigentlich, dass auch dort die Rockefellers die Hände im Spiel haben?"
Natürlich hatte ihr Jules von seinem Erlebnis damals im Büro der Millionäre erzählt, und sie hatten gemeinsam, nicht ganz ernsthaft, Pläne geschmiedet, wie er Diener werden könnte in dem Haus. Er sagte: "Nein, weiss ich nicht.
"Die Gesellschaft, die jetzt bestreikt wird, die Colorado Fuel & Iron, wurde von Rockefeller Senior bedrängt und schliesslich gekauft. Seitdem wurden die Arbeiter immer schlechter behandelt. Der Alte hat das Unternehmen dann seinem Sohn zum Geburtstag geschenkt, stell dir das mal vor! Der besitzt das Ganze jetzt, und war noch nie dort, hat keine Ahnung, was es bedeutet, dort unten in der Hitze, in dem Staub und dem höllischen Lärm zu molochen. Dabei sein Leben zu riskieren. Zu krepieren, wenn nicht bei einem Schlagwetter, dann wegen dem schwarzen Zeug in der Lunge!"
Sie hatte sich wieder in Wut geredet. Jules wollte etwas Hoffnungsvolles sagen.
"Vielleicht schafft es die Gewerkschaft ja, das zu verändern. Vielleicht sollte man Rockefeller mal sagen, er solle hinfahren und einfach nur schauen."
"Ich rufe ihn gleich an", sagte sie, und beide lachten.