Donnerstag, 1. April 2021

Irritationen

Der Frühlingsanfang 1911 war nass und kalt. Dicker Nebel schwabbte vom Long Island Sound hinüber in den East River. Es nieselte, als Jules mit dem Hündchen von Mrs. McCurdy das Haus verliess. Sein Dienstherr wollte noch verschiedene Telefongespräche führen und hatte gemeint, er brauche seinen Kammerdiener erst wieder in einer knappen Stunde. Von der Hausherrin wurde er daraufhin beauftragt, mit dem Hund hinauszugehen.
"Mindestens eine Stunde, Chiquet, er war diese Woche zu oft eingesperrt, der Arme!"
Jules machte sie darauf aufmerksam, dass er von ihrem Mann voraussichtlich früher gebraucht werde, doch sie wischte darüber hinweg.
"Papperlapapp! Ich werde mit ihm reden."
Als der kleine Pudel hörte, wie Jules die Leine vom Haken nahm, kam er angesaust, sprang an ihm hoch und bekam, wie immer, wenn er aufgeregt war, einen Hustenanfall.
"Komm, du verrückter kleiner Teufel", sagte er auf Patois, und schon stürmte Blacky die Treppe hinunter. Jules hatte ein Stück Zeitung eingesteckt um, wie von Mrs. McCurdy gewünscht, die Hinterlassenschaften des Haustiers einzusammeln. Er nahm den Hund an die Leine und ging auf der Einundfünzigsten in Richtung East River bis zur First Avenue, dann bog er nach links ab, bis sie die Siebenundfünfzigste erreicht hatten, die bis zu einem kleinen Park am Fluss hinuterführte. Er wollte zur Sicherheit nicht bis auf die Brücke gehen, weil dort um diese Zeit sehr viele Fussgänger unterwegs waren und er auch schon in der Menge steckengeblieben war. Im Park liess er den Hund auf den Rasen scheissen, nahm die warmen Würstchen mit der Zeitung auf und warf sie in den Abfalleimer. Er musste grinsen bei der Vorstellung, wie er so etwas in Cornol machen würde.
"Komm, wir werfen einen Blick auf die Brücke!"
Der Hund verstand gleich viel, oder wenig, ob er ihn auf englisch oder in seinem Dialekt ansprach. Die Pfeiler der Queensboro Bridge sahen heute besonders eindrucksvoll aus. Wie eine Kolonne hintereinander marschierender Riesen, bis zu den Knien im Nebel, über sich geworfen ihre zusammengewachsenen, aus Stahlseilen gewobenen Pellerinen. Die Fahrbahn trugen sie wie eine lange, schwarze Bahre. Jules begann zu frösteln und wollte zurück.

Als sie zuhause ankamen, öffnete ihm Mary die Tür und gab mit einer Grimasse zu verstehen, dass Ärger auf ihn warte. Mr. McCurdy war mit seinen Anrufen früher fertig geworden und hatte sich nach einem Wutanfall alleine zur Wallstreet aufgemacht. Die Ehefrau schien nicht daran zu denken, Jules Verspätung mit ihren eigenen Anweisungen in Verbindung zu bringen. Da Jules nie mitgeteilt worden war, wie lange seine Probezeit dauern würde und ob sie schon beendet sei, machte er sich Sorgen. Und er war wütend auf Mrs. McCurdy. Die Unterredung mit seinem Dienstherrn, am Abend in dessen Büro, war demütigend. Jules kannte sich im Beziehungsgeflecht der McCurdys mittlerweile genügend aus um zu wissen, dass er mit Hinweisen auf eine Mitschuld der Ehefrau an seiner Verspätung Mr. McCurdy nur noch mehr gegen sich aufbringen würde. Dieser sei vor allem deshalb wütend, so vermutete er, weil sich bei solchen und ähnlichen Manövern ihre verborgene Missbilligung des Umstands zeigte, dass ihr Mann einen Diener hatte, für den er alleine zuständig sein wollte. Als nun Mr. McCurdy auf die Probezeit zu sprechen kam und sagte, er habe diese eigentlich für erfolgreich beendet erklären wollen, sehe sich nun aber veranlasst, sie nochmals um einen Monat zu verlängern, fühlte sich Jules auf einmal sehr müde. Es kam ihm vor, als habe er nun schon mehr als ein dutzendmal gesagt, "Ja, Sir, das sehe ich auch so, Sir, ja Sir, das kann ich verstehen, Sir", dabei war er versucht, dem Mann vor sich ins Gesicht zu sagen, was er von ihm hielt. Aber er wollte und konnte sich zurückhalten.

Ein paar Tage später war New York in hellem Aufruhr. Am fünfundzwanzigsten März, einem Samstag, war in einer Kleiderfabrik kurz vor dem Wochenendfeierabend ein Brand ausgebrochen. Die Fabrik, in welcher Damenblusen hergestellt wurden, vor allem von jungen Frauen und Mädchen, belegte die drei obersten von zehn Stockwerken eines grossen Mietshauses am Washington Place. Nur ein kleiner Teil der Belegschaft, darunter die Besitzer, welche an diesem Tag zusammen mit ihren Kindern im Haus gewesen waren, konnten sich übers Dach und die viel zu wenigen, zu schwach gebauten Feuertreppen retten. Eine Zeit lang wurden auch die Lifte noch in Betrieb gehalten, bis sie wegen der Hitze unbrauchbar wurden. Wie sich herausstellte, waren die Türen der Fabrikationsräume geschlossen, so dass die jungen Frauen und Mädchen in ihrer Not begannen, sich aus den Fenstern in den sicheren Tod zu stürzen, mitten unter die unzähligen Schaulustigen. Die Feuerwehr war zwar schnell mit mehreren Pferdewagen zur Stelle, aber ihre Leitern reichten nur bis zum siebten Stock, und die Rettungstücher wurden von den Herunterspringenden zerrissen. Der Brand wütete bis zum nächsten Morgen, und als man die Türen öffnen konnte, türmten sich dahinter die Leichen erstickter Mädchen und Frauen. Mehr als hundertvierzig Arbeiterinnen wurden getötet. Die Presse schrieb von einem Riesenskandal.

Als Jules mit Mr. McCurdy am Montag darauf an die Wallstreet fuhr, wollte der Chauffeur unbedingt am Brandort vorbeifahren. Der Dienstherr wehrte sich nur halbherzig dagegen. Er schimpfte während der ganzen Fahrt auf die beiden Fabrikbesitzer.
"Juden, wie könnte es anders sein! Unsere Versicherung hatte schon mehrfach mit ihnen zu tun wegen Bränden. Wir vermuteten, dass sie ihre Fabriken immer dann in Brand steckten, wenn sich ein Produktionszweig nicht mehr lohnte. Wir haben sie dann rausgeschmissen aus allen Verträgen. Wenn das hier wieder so ein Fall ist, dann Gnade ihnen Gott!"
Als sie am Ende der Fifth Avenue beim Park ankamen, konnte man nicht nach links abbiegen, der Unfallort war grossräumig abgesperrt. Jules war froh darüber, denn schon die wenigen Pressebilder, die er gesehen hatte, verfolgten ihn bis in seine Träume.

Und es kam zum ersten Streit mit Fiona wegen der Sache. An einem der auf das Unglück folgenden Sonntage hatten sie nach dem Kirchgang noch ein paar Stunden Zeit. Es war endlich warm geworden und sie nutzten die Umstände für einen Spaziergang im Central Park. Als sie Halt machten auf einer Bank, kam Fiona auf den Brand zurück, über den sie bereits gesprochen hatten. Jules erzählte ihr von Mr. McCurdys Reaktion und teilte dessen Meinung, die Besitzer der Fabrik seien Verbrecher, da hielt Fiona plötzlich vehement dagegen.
"Also, erstens einmal hat das gar nichts damit zu tun, dass sie Juden sind. Wären es irgendwelche Amerikaner, würde man auch nicht sagen, so etwas sei typisch für, sagen wir mal, Babtisten. Und zudem ist es ein fataler Irrtum zu glauben, dass dies einfach passiert sei wegen dieser zwei Verbrecher. Wegen zwei schwarzen Schafen. Damit kommen die gestopften Unternehmer und die von ihnen bezahlten Politiker auch bei uns zuhause immer dann, wenn eine Mine explodiert oder eingestürzt ist. Dabei zeigen soche Vorfälle nur zu deutlich, wie das ganze System wirklich ist. Tödlich für die Arbeiter, aber lukrativ für die Besitzer! Hier sperrt man die Mädchen ein, nur damit sie nichts klauen können. Wenn es brennt, sitzen sie in der Falle. Und bei uns müssen die Minenleute Abstützungen und Belüftungen auf eigene Rechnung bauen, in der Freizeit! Und sie sterben mit dreissig, vierzig an der Staublunge!"
Sie hatte sich in Fahrt geredet, wurde richtig laut. Ihre Wangen glühten, und Jules kam kaum dazwischen. Es befremdete ihn, dass sie so mit ihm redete. Er war ein Dummkopf, der nichts von den wahren Hintergründen verstand, ja. Aber konnte es sein, dass sie so viel mehr wusste, und wenn, musste sie es ihn so spüren lassen? Er fragte kleinlaut:
"Was müsste man denn machen? Wie kann man das ändern?"
"Man muss sich organisieren. Wir müssen uns organisieren! Man sollte hier, und auch in Irland, in der Schweiz, endlich die Gewerkschaften voranbringen! Auch für uns Diener und Hausmädchen schaut ja niemand, wenn wir krank werden, oder schwanger, womöglich vom Dienstherrn. Auch wenn wir unsere Eltern besuchen wollen, verdienen wir nichts, man kann uns jederzeit feuern, wegen nichts! Wenn manche von uns das Tafelsilber mitgehen lassen, ist das doch kein Wunder!"
Das fand nun Jules völlig übertrieben, und er versuchte ihr klarzumachen, dass Diebstahl nach seiner Auffassung eine Sünde sei, die nicht mit dem Hinweis auf schlechte Behandlung gerechtfertigt werden könne. Fiona hielt es nicht mehr auf der Bank, sie war aufgestanden und redete weiter auf ihn ein, manchmal schien es ihm fast, als ob sie ihre Worte mit einem Aufstampfen der zierlichen Füsse unterstreichen würde. Als er deswegen lachen musste, lief sie ihm davon.

Ende April wurde Jules eines Morgens ins Büro von Mr. McCurdy bestellt. Dort teilte man ihm förmlich mit, er habe seine Probezeit bestanden und dürfe sich hiermit und ab sofort als vollwertiges Mitglied im Team der Hausangestellten betrachten. Sein Gehalt wurde um zehn Dollar im Monat erhöht und man wies ihn darauf hin, dass bei Krankheit oder allfälligen Besuchen von Verwandten grundsätzlich kein Anspruch auf Bezahlung bestehe. Man werde aber in solchen Fällen die Situation prüfen und sich im Härtefall kulant zeigen.

Am gleichen Tag durfte er den Dienstherrn zu einer Sitzung begleiten. Zuerst wurde ihm nur gesagt, es handle sich um ein Treffen mit sehr bedeutenden Geschäftspartnern, und zu seinem Erstaunen machte man sich zu Fuss auf den Weg, nachdem noch Mr. McCurdys Sekretärin aus dem Büro an der Wallstreet eingetroffen war. Sie gingen die Einundfünfzigste entlang nach Westen bis zur Fifth Avenue, dann in Richtung Central Park bis zur Vierundfünfzigsten. Jules begann zu ahnen, dass sie der Weg ins Imperium der Rockefeller führen könnte, und wirklich rief die Sekretärin, als sie die Avenue überquert hatten:
"Da ist die Baustelle der neuen Mansion, die Mr. Rockefeller Junior für sich bauen lässt. Sie soll gigantisch werden!"
Mr. McCurdy drehte sich etwas unwirsch zu ihr um und sagte:
"Ja, Miss Castenay, danke, dass Sie uns darüber informiert haben. Wir sind jedoch bestellt ins Büro des Hauses Nummer dreizehn. Darf ich Sie bitten dafür zu sorgen, dass wir eingelassen und hinaufgeführt werden?"

Es war das erste Mal, dass Jules Vater und Sohn Rockefeller aus der Nähe sah und erlebte. Er war schon verschiedentlich von andern auf die teuren Automobile der Millionäre hingewiesen worden, wenn sie durchs Quartier fuhren, und einmal hatte er von Weitem gesehen, wie Reporter und Fotografen vor einem der Häuser in der Vierundfünfzigsten dem alten Rockefeller abpassten und ihn bestürmten, als er das Haus verlassen wollte. Nun war er zu Beginn und gegen den Schluss der Besprechung im gleichen Raum mit den Herrschaften, wurde von Mr. Rockefeller Seniors wässerigblauen Vogelaugen fixiert, als er Mr. McCurdy die Taschen und Mappen überreichte. Kam dabei, weil sich Mr. Rockefeller Junior im gleichen Moment erhoben hatte, für einen Augenblick zu nahe neben diesen zu stehen, der gleich gross war und dieselbe Statur hatte wie er. Er trat sofort mit einer leise ausgesprochenen Entschuldigung zur Seite, wodurch er von Mr. McCurdy getrennt wurde.
"Sie sind Mr. McCurdys valet, Mr...... ?
"Ja Sir. Jules Chiquet, Sir. Aus der Schweiz, Sir."
Mr. Rockefeller Junior sah ihn nachdenklich an, nickte dazu fast unmerklich ein paarmal, ohne noch etwas zu sagen. Jules war verlegen. Er stand falsch, zog es aber vor, sich nicht vom Fleck zu bewegen. Sein Dienstherr erlöste ihn, indem er, etwas zu laut, nach ihm rief.
"Haben Sie meine Füllfeder gesehen, Chiquet?"
Jules brachte sie ihm. Er hatte sie auf einem Beistelltisch bemerkt und an sich genommen.

Jules hatte nur wenig mitbekommen von dem, worum es bei dem Treffen gegangen war. Der Butler meinte, die Rockefellers müssten etwas von Mr. McCurdy gewollt haben, sonst hätten sie ihn nicht extra in ihr Büro kommen lassen. Wahrscheinlich eine Versicherungsgeschichte. Er liess sich von Jules berichten, was er hatte aufschnappen können und meinte aus den Gesprächsfetzen eine Version der Geschehnisse rekonstruieren zu können. Zuerst war es wirklich um die Anpassung der Lebensversicherung für die Familie gegangen. Mr. McCurdy war zwar als Geschäftsführer der Mutual Life vor ein paar Jahren zurückgetreten, verfügte aber immer noch über reichlich Insiderwissen und war deshalb als Berater willkommen. Das Gespräch im Büro der Rockefellers wandte sich aber schon bald anderen Dingen zu. Das Monopol im Ölsektor war unter Druck geraten. Es gab Untersuchungen durch einen Ausschuss, schliesslich in jüngster Zeit sogar eine Anklage gegen Standard Oil wegen Verstosses gegen das Antitrust-Gesetz. Eine Verhandlung am höchsten Gericht war im Gange, und es stand zu befürchten, etwas ähnliches könnte auch dem Komplex der Telefon- und Telegrafengesellschaften zustossen, in dem Mr. McCurdy eine führende Position inne hatte. So besprach man mögliche Verteidigungsstrategien und alternative Geschäftsmodelle für die Unternehmungsgruppen. Und man tauschte Adressen geeigneter Anwälte und geneigter Politiker untereinander aus. Jules versuchte, Mr. Kretschmans Erklärungen zu folgen. Dabei erinnerte er sich daran, wie Mr. Rockefeller Junior vor ihm gestanden und ihn gemustert hatte. Es kam ihm fast so vor, als hätte ihn dieser absichtlich in eine Situation unangemessener Nähe gebracht.

Er bekam einen aufgeregten Brief von Berthe, in dem sie ihre Überfahrt, gemeinsam mit Marie, für den November ankündigte. Endlich erfülle sich ihr Traum, sie hoffe, als Modistin in New York eine gute Stellung zu finden, und freue sich sehr auf das Leben in der Grossstadt, auf ihn. Er werde ihr sicher alles zeigen. Sie würde am Anfang im Home Jeanne d' Arc wohnen. Von Marie war der Brief ebenfalls unterschrieben, mit ein paar förmlichen Gruss- und Segensworten. Jules hatte sich mit Fiona wieder versöhnt und erzählte ihr von der bevorstehenden Ankunft seiner Schwestern. Als sie hörte, dass beide in der Textilbranche arbeiten wollten, machte sie sich Sorgen. Jules merkte, wie sie bei dem Thema sorgfältig darauf achtete, nicht wieder mit ihm in Streit zu geraten. Er beruhigte sie:
"Marie hat ja schon in einem kleineren Atelier gearbeitet, in dem die Bedingungen erträglich sind. Dort werden die Türen nicht verschlossen. Vielleicht kann sie da wieder Arbeit bekommen. Sie möchte nicht die volle Zeit arbeiten, damit sie noch in der Kirchgemeinde mithelfen kann. Sie wird jedenfalls Berthe nicht in einer dieser Fabriken sehen wollen."
"Ja, und du?", wollte Fiona wissen.
"Ich natürlich auch nicht. Auf Berthe muss man sicher noch gut aufpassen, sie ist ja erst neunzehn. Wenn sie etwas begeistert, dann ist ihr alles egal, da hat sie etwas Naives. Auch wenn sie als Haus- oder Kindermädchen eine Stelle findet, braucht sie Unterstützung. Ich kümmere mich um sie, keine Sorge!"
"Vielleicht müssen wir deinen Edmond einschalten, was meinst du?", fragte Fiona vorsichtig.
Er lachte.
"Er ist nicht mein Edmond, aber ja, das kann man machen."

Es war schliesslich der Hilfe von Mr. Solomon Abramov, des Schneiders von Mr. McCurdy, zu verdanken, dass Berthe in einer mittelgrossen Hutmanufaktur unterkam, wo sie ihre in Pruntrut erworbenen Fertigkeiten einsetzen konnte. Jules begleitete sie zu Beginn ein paarmal dorthin, um sich ein Bild zu machen von den Verhältnissen. Er konnte herausfinden, dass der ihr zuerst offerierte Lohn zu tief war, weil er nicht berücksichtigte, dass sie ein Zeugnis aus der Fabrik in der Schweiz vorlegen konnte, das ihre Berufserfahrung belegte. Sie wäre zufrieden gewesen, freute sich dann aber doch sehr über die frühe Gehaltserhöhung. Und war stolz auf ihren Bruder, der sich für sie eingesetzt hatte. Jules liebte es, mit seiner jüngeren Schwester New York zu Fuss zu erkunden, weil er alles durch ihre Augen wieder frisch und neu erlebte. Sie fuhren an Sonntagen kreuz und quer mit den Fähren, über den Hudson oder den East River, zur Freiheitsstatue, und einmal sogar nach St. George auf Staten Island. Berthe war von allem begeistert, vom dichten Verkehr der Schiffe und deren Hornen, von den Manövern der Schiffscrews, der modischen Kleidung der New Yorker, dem Salzgeruch des Meeres, den Flugkünsten und Schreien der Möwen. Sie hatte Mitleid mit Bettlern, Krüppeln und Obdachlosen, mit verdreckten Kinderarbeitern und Huren. Sie staunte über die Zahl der Pferdefuhrwerke und Kutschen, die unterwegs waren, und darüber, wie viele chinesische Läden und Restaurants es in gewissen Quartieren gab. Jules musste sie oft daran hindern, mit dem Finger auf Menschen zu zeigen, auf Schwarze, auf Einbeinige, besonders Vornehme oder Zerlumpte. Sie blieb immer wieder stehen und musste schauen, wie ein kleines Kind. Er zeigte ihr, was er am liebsten mochte, Fahrten mit der Hochbahn oder den Gang über Brücken, den Blick von einem Wolkenkratzer, zum Beispiel vom 'Bügeleisen', dem Flatiron, das auch 'grösstes Kuchenstück der Welt' genannt wurde wegen seiner Form. Einmal passierte es, dass er sich am gleichen Sonntagnachmittag mit Berthe und mit Fiona verabredet hatte. Er entschied sich kurzerhand, die beiden Frauen zusammenzubringen, ohne es ihnen vorher anzukündigen. Als er mit Fiona am Arm bei dem mit Berthe abgemachten Ort eintraf, war er unsicher, ob er nicht einen Fehler gemacht hatte. Berthe war zu Beginn eingeschüchtert von Fionas Selbstsicherheit, und wohl von ihrer modischen Kleidung. Diese bemerkte Berthes Unsicherheit und bemühte sich betont freundlich um sie. Schon nach kurzer Zeit hatte Jules den Eindruck, dass ihn die beiden zwischendurch vergassen. Fiona befragte Berthe über ihre ersten Erfahrungen im Hutatelier und erzählte ihr im Gegenzug aus ihrem Leben als Dienerin reicher Leute. Die Frauen lachten viel. Jules war glücklich.
"Du hast eine tolle Schwester, aber sie ist ein bisschen verrückt, glaube ich", sagte Fiona später.
"Du hast eine wunderschöne Freundin, du musst lieb sein zu ihr", meinte Berthe über Fiona. Um das zu bekräftigen, fügte sie ein Sprichwort hinzu, auf Patois.
"D'enne rôse, te n'en faîs pi ïn graipe-tiu! – Aus einer Rose macht man keinen Arschkratzer!"

Auch bei den McCurdys wurde in den nächsten zwei Jahren vieles für Jules zur Routine. Die Rituale des Ankleidens und Entkleidens morgens und abends erledigte er mit geübten Handgriffen und wenigen Worten. Am Morgen war sein Dienstherr froh, wenn er vor dem Frühstück nicht reden musste, am Abend war er meist sehr müde, und schläfrig von den paar Gläsern Brandy oder Whisky, die er gewohnheitsmässig nach dem Abendessen zu sich nahm. Dann musste Jules meistens zum Büro mitfahren, bei Sitzungen im Hintergrund warten und dabei die von Mr. McCurdy verstreuten Gegenstände im Auge behalten. Am langweiligsten waren die Ausflüge nach Morristown zum Landhaus von Mr. McCurdy Senior, oder nach Morris Plains, in das Pendent des Sohnes. Dort konnte es sein, dass Jules halbe Sonntage im Automobil der Herrschaften verschlief, sich zwischendurch die dreckigen Witze des Chauffeurs anhörte, dann im nahen Wäldchen sein grosses Geschäft verrichtete. Sich dabei den Hintern mit Blättern putzte wie in der Kindheit, und sich freute über den Gegensatz zu der Fassade, die er gegenüber den Herrschaften aufrecht erhalten musste. Manchmal war er froh, den Hund um sich zu haben, der rührend an ihm hing, vor allem, seit er ihm einmal mit einer seiner feinen Uhrmacherzangen eine Gräte aus dem Rachen entfernt hatte. Mrs. McCurdy war eifersüchtig, wenn Blacky zuerst zu Jules lief, um ihm die Hände zu lecken. Einmal wollte sich die Hausherrin mit der Haushälterin und der Köchin, mit Jules und dem Hund vor dem Landhaus ablichten lassen mit dem Fotoapparat, den sie von ihrem Mann geschenkt bekommen hatte. Sie bat den Chauffeur, das Bild zu machen und wollte, dass Blacky artig zu ihren Füssen sässe. Dieser sprang aber immer wieder davon, und wenn er endlich zurückkam, presste er sich gegen Jules' Beine. So packte der ihn schliesslich am Halsband, setzte sich vor den Damen ins Gras und hielt den Hund mit beiden Armen fest. Es entstand ein mehrwürdiges Foto, das Mrs. McCurdy wohl nicht ihrem Mann zeigte.

Mr. McCurdy war mehrere Male krank während dieser Zeit, dabei ein ungeduldiger und mürrischer Patient. Jules führte es auf den beruflichen Druck zurück, der auf dem Dienstherr lastete und zugenommen hatte. Er verstand nun, dank vieler Gespräche mit Mr. Kretschman über das Thema, einigermassen die Zusammenhänge. Die Monopolstellung des Bell-Systems, wie der Zusammenschluss einer grossen Zahl von Telefon- und Telegrafengesellschaften unter der Leitung der American Telephone & Telegraph genannt wurde, war der Bundesregierung zunehmend ein Dorn im Auge. Sie drohten mit der Auflösung oder gar Verstaatlichung von Ma Bell, wie die Unternehmensgruppe, halb höhnisch, halb bewundernd, auch genannt wurde. Mr. McCurdys Seniors Schwager, Gardiner Green Hubbard, war erster Präsident gewesen der Bell Telephon Company, seine Tochter heiratete Alexander Graham Bell, der das erste Telefon für jedermann patentieren liess und auch eine leitende Stellung im Unternehmen bekeidete. Mr. McCurdy Junior war Präsident der internationalen Abteilung, mit Hauptsitz in Brüssel. Jules konnte sich also vorstellen, dass sein Dienstherr, der selber keine Kinder hatte, aber ein ausgesprochener Familienmensch war, unter der Situation sehr litt. Man hatte einen tüchtigen Hausarzt, so dass er als Kammerdiener etwas entlastet war. Trotzdem musste er Mr. McCurdy Fusswickel machen gegen das Fieber, oder ihm gut zureden, damit er seine Medizin pünktlich einnahm. Der schwere Mann wirkte hilflos und es war unmöglich, ihn durch Ablenkung aus seiner jammervoll selbstmitleidigen Stimmung herauszuholen. Jules gab sich Mühe, ihn deswegen nicht zu verachten.

Fiona, ganz die Tochter eines Minenarbeiters, war die erste in Jules Umgebung, die im Spätsommer 1913 von den Streiks in Colorado berichtete.
"Siehst du, die haben eine starke Gewerkschaft, konnten schon die Achtundvierzig-Stundenwoche durchdrücken. Und letzes Jahr erfolgreich gekämpft in West-Virginia. Mittlerweile werden sie sogar von der Bundesregierung als Verhandlungspartner akzeptiert. Und jetzt geht es los in Colorado. Auch dort sind die Bedingungen in den Minen erbärmlich."
Jules hielt es für besser, zuzuhören und zu schweigen.
"Weisst du eigentlich, dass auch dort die Rockefellers die Hände im Spiel haben?"
Natürlich hatte ihr Jules von seinem Erlebnis damals im Büro der Millionäre erzählt, und sie hatten gemeinsam, nicht ganz ernsthaft, Pläne geschmiedet, wie er Diener werden könnte in dem Haus. Er sagte: "Nein, weiss ich nicht.
"Die Gesellschaft, die jetzt bestreikt wird, die Colorado Fuel & Iron, wurde von Rockefeller Senior bedrängt und schliesslich gekauft. Seitdem wurden die Arbeiter immer schlechter behandelt. Der Alte hat das Unternehmen dann seinem Sohn zum Geburtstag geschenkt, stell dir das mal vor! Der besitzt das Ganze jetzt, und war noch nie dort, hat keine Ahnung, was es bedeutet, dort unten in der Hitze, in dem Staub und dem höllischen Lärm zu molochen. Dabei sein Leben zu riskieren. Zu krepieren, wenn nicht bei einem Schlagwetter, dann wegen dem schwarzen Zeug in der Lunge!"
Sie hatte sich wieder in Wut geredet. Jules wollte etwas Hoffnungsvolles sagen.
"Vielleicht schafft es die Gewerkschaft ja, das zu verändern. Vielleicht sollte man Rockefeller mal sagen, er solle hinfahren und einfach nur schauen."
"Ich rufe ihn gleich an", sagte sie, und beide lachten.

2 Kommentare:

  1. Ich setz mich nieder. 1913 - da haben meine Grosseltern geheiratet in Schaffhausen. Die leiblichen Eltern und 5 Geschwister von meinem Grossvater lebten in den Vereinigeten Staaten (ca. 1875 nach Boston ausgewandert) und haben solche Geschichten leibhaftig erlebt. Ich frage mich, ob die sozialen Verhältnisse heute wesentlich besser sind? Jetzt während der Pandemie starben und sterben vor allem die, die nicht krankenversichert sind und im Elend leben, z.B. Künstler, Gelegenheitsarbeiter, Moribunde ... Ich bin gespannt, wie die Geschichte weitergeht. Gibt es ein neues Unik-Buch? - Frohe Ostern und weiterhin gute Schreib-Energie wünscht dir:
    Herzlich Fredi

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  2. Interessant! Auf dieser Plattform der Einwanderungsbehörde könntest du vielleicht die Einreisedaten deiner Vorfahren finden: https://heritage.statueofliberty.org/passenger
    Ja, die Zeit von ca. 1870 bis 1900 in den USA nannte man guilded age, vergoldet waren sie aber nur für wenige, und es war die Zeit, wo der Rockefeller Senior sein Imperium skrupellos aufbaute, sich gleichzeitig als spendefreudiger Philanthrop betätigte.
    Nein, es gibt keine Unik-Buch. Ich würde es gerne in einem Verlag unterbringen. Mal schauen...

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