Freitag, 6. November 2020

Lügengeschichten (Krimi 2)

Bürer hofft, man höre ihn im Auto und hantiert umständlich herum. Die Videokamera liegt in der offenen Tasche. Er spürt ihre Blicke, als sie in den Hinterhof gehen. Hier stinkts, das Tier sitzt verklebt im Käfig. Bürer zieht die Kamera aus der Tasche und richtet sie auf die Katze. Man schreit ihn an: "No film!" Bürer steckt die Kamera zurück, dabei entscheidet er intuitiv sie laufen zu lassen. Die Händler sprechen aufgeregt, Bürer meint, auf Chinesisch und Kirgisisch, oder Kasachisch. Er wendet sich dem Käfig zu. Das Tier macht sich flach, bewegt sich in Zeitlupe rückwärts und faucht. Hinter ihm wird es ruhiger, sie lachen. Da kommt vom Hof ein dritter Mann. Starrt Bürer an wie angenagelt. Der ist baff, er kennt den Mann: Nigmat, ein junger Uigure, den er in Almaty bei Tursun getroffen hat. Bürer sagt laut: "I buy the cat!" Nigmat schreit und zeigt auf ihn. Bürer wird herumgewirbelt, die Bauchtasche ist weg. Wildes Gerenne um den Käfig herum zur Rückseite des Hofs. Von dort kommen zwei. Hinter Bürer stürmen Hennings Leute aus dem Haus, zwei mit Filmgerät. Vorne wird einer überrannt, der andere zieht die Waffe, Henning brüllt, die Kameraleute rennen. Bürer sieht Nigmats Beine für einen Moment über der Mauer. Er erwartet einen Schuss, es fällt aber keiner.

Am nächsten Tag habe ich der Dolmetscherin das Band vorgespielt. Erst hat man schwankende Gitterstäbe gesehen, dahinter unscharf das zusammengekrümmte Tier. Von rechts ein Schatten, die Hand hat sich über das Bild gelegt, rosa durchscheinend, dazu: "No film!" Dann schwankende Wände, ein Stück Himmel, ein Kleiderhaufen, Dunkel.
Jetzt sind nur noch die Stimmen zu hören gewesen. Ich habe Asel gefragt: Kannst du mir übersetzen? Ich habe vor und zurückgespult und in mein Buch notiert. Zwei Stellen habe ich ihr nochmals vorgelesen, ich kann sie auswendig:
Uigure: Wo ist Nigmat?
Mann aus Guangdong: Fick deine Mutter, er kommt bald. Nächstes Mal werden wir sowieso ohne Nigmat abhauen. Der ist erledigt.
Uigure: Haben wir den Mist hier noch nötig? Das Ding mit dem Bus bringt doch viel mehr, zweihunderttausend? dreihundert? (lacht)
Mann aus Guangdong: Dollars, ja. Wird aber noch anders stinken als das hier. So, Klappe jetzt, Nigmat kommt.
Asel hat von mir wissen wollen, woher ich Nigmat kenne. Ich hab gesagt: Von Almaty. Von einem Projekt. Wir waren uns sympathisch, glaube ich. Er hat mich zu sich eingeladen, den ganzen Abend von der uigurischen Minderheit und ihren Problemen erzählt. Nigmat ist kurz vorbeigekommen und hat Drucksachen mitgebracht. Tursun hat gesagt, er passe auf ihn auf, weil er noch so jung sei und hier keine Familie habe. Tursun muss jetzt für ein paar Tage in Osh sein, er hat dort Verwandte besuchen wollen. Als ich Osh erwähnt habe, hat Asel offensichtlich gehen wollen. Die Stadt ist ein heisses Pflaster.
Tursun hat pausenlos erzählt. Von eingeschleusten chinesischen Provokateuren. Aus China geflohene uigurische Separatisten würden sie erst ködern und dann hochgehen lassen. Man beginne mit harmlosen Aufträgen, dann beteilige man sie an Überfällen. Irgendwann würden sie geschnappt. China übe wachsenden Druck auf die zentralasiatischen Länder aus, Separatisten aus Xinjiang auszuliefern. Systematisch schüre man den Hass auf Uiguren, unterstelle ihnen bei jeder Straftat terroristische Motive. Für ausgelieferte Delinquenten könne das die Todesstrafe bedeuten, Folterung auf jeden Fall. Die kirgisischen Behörden gäben trotz internationaler Proteste immer wieder nach. Ich habe ihn gefragt, woher er das wisse? Vieles vom Internet, hat er behauptet. Ich habe mir den Kopf zermartert: Sollte ich Tursun vom Schneeleoparden erzählen? Hat er vom illegalen Geschäft mit den Wilderern gewusst? Ist Nigmat in eine Falle der Chinesen getappt? Was hat Tursun mit der ganzen Sache zu tun gehabt. Er hat mir gesagt, die uigurische Sache interessiere ihn natürlich, weil er mütterlicherseits Uigure sei. Ich habe den Eindruck gehabt, Tursun sei tiefer in der Sache drin gesteckt als er mir gegenüber zugegeben hat. Aber ich habe gezögert, mit ihm Kontakt aufzunehmen, weil ich nicht habe enttäuscht werden wollen. Und weil ich mich für die Katzengeschichte geschämt habe.

Bürer hat Durchfall. Er kann das Telefon nicht abnehmen. Als es wieder klingelt, ist es Asel. Es geht um die Tonspur des Filmes, und sie will sofort mit ihm reden. Sie wirkt erschrocken und verstört. Als Bürer in einem Cafe auf sie wartet, liest er den Bericht in einer Zeitung. Das Bild zeigt den Bus am Grund einer Schlucht, der Kommentar dazu ist erstaunlich differenziert. Erste Annahme: Unfall. Am zweiten Tag steigen Polizisten zum Wrack ab und sehen, dass alle Leichen Schusswunden aufweisen. Es gibt zwei Thesen: Kirgisstan spricht von Gaunern mit ökonomischen Motiven, China unterschiebt Tat und Motiv uigurischen Separatisten. Eine mögliche Version: 28 Händlern sind von Xinjiang mit Waren auf den Markt in Bishkek gefahren. Sie haben einen Bus gemietet für die Fahrt in die Hauptstadt und wieder zurück. Nun ist alles verkauft und sie fahren mit dem Geld (bar, in Dollars) zurück nach China. Davon erfahren Kriminelle (oder Terroristen) und beschliessen, die Händler auszurauben. Sie erstellen eine Strassensperre und wollen den Bus stoppen. Der Fahrer versucht, die Sperre zu durchbrechen, worauf die Banditen das Feuer eröffnen. Der Fahrer wird getroffen, der Bus stürzt über den Steilhang ab. Ein Teil der Insassen wird getötet, andere werden verletzt, zwei oder drei befreien sich unversehrt aus dem Wrack. Die Gauner erschiessen alle und erbeuten knapp dreihunderttausend US-Dollars, mit denen sie entkommen. Die Grösse der Beute lässt beide offiziellen Thesen zu.

Ich habe versucht Asel davon zu überzeugen, dass die Tonspur noch keine Verbindung der Tierhändler mit dem Busüberfall beweise. Sie hat mir gar nicht zugehört sondern behauptet, für die Aufklärung der Sache und für die Gerechtigkeit mache es keinen Unterschied, ob man die Aufnahme den Behörden melde. Ich hätte dann aber sicher in Kirgisstan keine ruhige Minute mehr. Sie wolle das Video aus ihrem Gedächtnis löschen, wenn ich mich auch dazu entschliessen könne es zu überspielen und zu niemandem davon zu sprechen. Und noch am gleichen Abend hat sich Tursun aus Kasachstan gemeldet. Er hat sich Sorgen gemacht, hat schon erfahren von Nigmats Verschwinden. Ich bin zu feige gewesen, habe kein Wort über die Lippen gebracht. Er hat etwas gemerkt und mich gefragt, ob ich krank sei? Da habe ich die Darmprobleme vorgeschoben.

Am Nachmittag des folgenden Tages wird Bürer zum Direktor zitiert. Er kann nicht unschuldig tun, denn da steht einer, den er kennt, aus dem Innenministerium. Bürers Auftrag ist mit sofortiger Wirkung beendet, weitere Zusammenarbeit fraglich. Man übernimmt alle Kosten, die aus Umbuchungen und dem Abbruch der Miete entstehen. Auch die Kosten seines zweiten Visums für Kasachstan werden zurückerstattet. Er braucht nur die Airline anzurufen, dann fliegt er morgen früh nach Frankfurt. Ob man ihn rausschmeisse? Ach, er solle doch nicht so tun, er sei doch Profi. Und in diese Lage habe er sich selbst gebracht.

Zu Fuss auf den Heimweg habe ich das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Ich habe immer wieder angehalten und mich umgedreht. Schon ziemlich wütend habe ich meine Wohnung erreicht, wo ich die kleine Tasche gepackt und die Kamera dazugesteckt habe. Meine anderen Sachen habe ich in den grossen Rollkoffer gestopft und ihn in den Eingang gestellt. Dann bin ich in die Laufschuhe geschlüpft und habe mir eine dünne Windjacke übergezogen. Mit der Tasche über der Schulter habe ich die Wohnung verlassen. Die Sonne ist gerade am Untergehen gewesen.

Jetzt ist er sicher, verfolgt zu werden. Wenn er sich umdreht, halten zwei Männer an und reden eifrig miteinander. Bürer beginnt zu laufen, mit eiskalten Füssen. Hält bei einem Kiosk. Die kommen auf ihn zu, und Bürer bekommt Angst: links läuft der Chinese! Also nicht das Ministerium. Er rennt los, nimmt blindlings den vertrauten Weg: Internetcafe, Platanenallee zur grossen Kreuzung, Busbahnhof, die Unterführungen. Er dreht sich, der Chinese, schon mitten auf der Strasse, wedelt mit den Armen. Lautes Hupen, Bürer beschleunigt, niemand kommt entgegen. So kann er nur kurz laufen. Bei der Kreuzung in den nächsten Abgang, drei Stufen aufs Mal, über die Beine einer Bettlerin. Der Schuhputzer weicht nicht aus, Bürer hört es klirren. Menschen sausen vorbei, Gitter rasseln. Bürer, langsamer, trabt schwer atmend die Buden entlang, man schaut verwundert. In der Mitte, unter dem Zentrum der Kreuzung, nimmt er die Querverbindung und rennt zurück. In einer winzigen Papeterie verschwindet der Verkäufer eben hinter einem Vorhang. Bürer folgt ihm in den dunklen Lagerraum, eng wie ein Kasten. Zuckt der Mann zusammen und will ihn zurückdrängen. Bürer bringt heraus: only for a moment! Gestikuliert, drückt etwas nieder. Der Mann mustert ihn: Problems? Bürer nickt. Police? No, no! Bürer zeigt auf seine Uhr: Can I wait here? Five minutes? Ok. Ein Stuhl wird ihm angeboten, er stützt sich stehend auf die Lehne und lässt den Kopf sinken. Der Verkäufer räumt weiter zusammen. Bürer schnaufend, schaut auf. Was wollen die? Nigmat wird erzählt haben, dass er mich kennt. Und worüber Tursun mit mir gesprochen hat. Bringt es Tursun fertig, Nigmat auszuliefern? Der Mann schreckt ihn hoch: I close now. Nimmt kein Geld. Bürer muss gehen, drückt sich die Wände entlang, dreht sich, äugt hemmungslos hierhin und dorthin. Die sind weg. Oder warten oben. Von rechts hört er die Stimmen vieler Menschen, also dorthin. Die Treppe schleicht er hoch, sie endet mitten in den Leuten: Busfahrer rufen Reiseziele, Menschen verabschieden sich und steigen ein. Lange bleibt Bürer stehen und wartet. Nichts geschieht. Schliesslich fragt er einen Fahrer: to Almaty? Der schüttelt den Kopf und holt eine Kollegin, die erklärt: To the new station, then with the big bus to Almaty. You have a visa? Yes. You must leave now.

Und jetzt sitze ich neben Ihnen im Bus, schwatze Ihnen den Kopf voll. Ich habe immer noch Bauchweh, hoffentlich ist der Bus nicht aufgetankt und hält nochmals am Stadtrand. Was würden Sie machen? Ich will das verstehen, Tursun gegenüber stehen und fragen.

Donnerstag, 5. November 2020

Lügengeschichten (Krimi 1)

Als ich neu in den Kindergarten kam, wurde ich zuhause oft gefragt, wie es mir dort gehe, was wir machen würden, was es dort zum Spielen gebe. Mein Bruder konnte das Angebot mit dem vergleichen, was er, in einem anderen Kindergarten, erlebt hatte, und so kam es zu einer Art Wettstreit darüber, wer die besseren Bedingungen gehabt habe. Ich erfand ein grosses Feuerwehrauto, das in meiner Erzählung durch die Lust an Ausschmückung und Übertreibung sowie durch die Fragen meines Bruders nach Details immer grösser und funktionsmächtiger wurde. Zwar merkte ich bald, dass mir mein Bruder nicht mehr glaubte, aber auch er schien an der Entwicklung des traumhaften Spiel- und Fahrzeugs seinen Spass zu haben, schlug von sich aus phantastische Erweiterungen vor, die ich eifrig bestätigte. Die Sache endete für mich kläglich, weil mein Bruder mich schliesslich auf dem Weg zum Kindergarten auffliegen liess, indem er ein paar meiner Kameraden zu dem Feuerwehrauto befragte. Ich verkleinerte das phantasierte Konstrukt, buchstabierte die Geschichte auf ein Mass zurück, bei dem wenigstens eines der anderen Kinder hätte bestätigend einsteigen und mich retten können. Da es aber in unserem Kindergarten nicht einmal ein kleines Feuerwehrauto gab, liessen sie mich gnadenlos hängen und ich stand als Lüger und Betrüger da. Ich lernte meine Lektion, Geschichten darf man nicht erfinden.

An einem meiner Geburtstage, der wie immer in den Sommerferien lag, fuhr ich mit meinem Vater nach Zürich, wo wir das Kunsthaus besuchten. An die Ausstellung kann ich mich nicht erinnern, wohl aber daran, dass ich Papi für einen Tag für mich alleine hatte. Nach dem Besuch der Ausstellung sassen wir im Museumsrestaurant im Freien, und ich durfte mir etwas zum Essen und Trinken aussuchen. Neue Dinge, Rollmops mit frischem Brot, und Sauser. Und ich bekam von meinem Vater ein Taschenbüchlein geschenkt, das hiess 'Seemannsgarn und andere Lügengeschichten'. Da ich es im Museum nicht sehr lange ausgehalten hatte, wollte mein Vater nochmals in die Ausstellung gehen und schlug mir vor, ich könne sitzen bleiben und lesen, wenn ich wolle. Ich war schon sehr gespannt auf die Lügengeschichten, die auf dem Umschlag des Büchleins so unverfroren angekündigt wurden, willigte ein und begann zu lesen. Vergass alles um mich herum. Es war unglaublich, mein Feuerwehrauto war nichts gewesen im Vergleich zu den haarsträubenden Übertreibungen, Prahlereien und Schlitzohrigkeiten dieser Geschichten! Sie waren toll geschrieben, und weil mir diese Form der Fiktion noch immer als etwas Verbotenes erschien, war die Lektüre umso aufregender.

Ich habe noch nicht viel rein Fiktives geschrieben. Merkwürdigerweise fällt es mir bei erfundenen Geschichten schwerer, einen Ton zu finden, der über meine Person hinausträgt. Vor fünfzehn Jahren schrieb ich mal einen kurzen Krimi, der hiess 'Bürer beschleunigt'. Hier ist der erste Teil davon. Der zweite Teil folgt im nächten Posting.

Bürer beschleunigt

Bürer, den ich noch vor einer halben Stunde nicht kannte, sitzt im Bus nach Almaty neben mir, schwer atmend. Sein Hemd klebt. Im Bus ist es so eng, dass ich es aufgebe, Bürer beim Zuhören das Gesicht zuzuwenden. Es ist schon dunkel und draussen ist nicht mehr viel zu sehen. So starre ich wie er auf die Fläche aus schmuddeligem Kunstfasersamt vor mir, als wäre da ein Bildschirm. Er ist aufgedreht und schwatzt pausenlos, ohne ein Detail auszulassen, gegen die Lehne des vorderen Sitzes, mit weit offenen Augen.

Meinen Namen kennen Sie schon: Lorenz Bürer, siebenundfünfzig, Bauingenieur aus Ror-schach. In der Nacht auf letzten Montag mit dem Flugzeug angekommen, aus Almaty. In Ka-sachstan habe ich einen Monat lang Landsleute beraten. Ich bin zum ersten Mal in Bishkek gewesen und habe hier Bauland zu analysieren gehabt, für eine deutsche Firma. Am Montag-morgen bin ich also durch Bishkek gejoggt, im Trainingsanzug.

Bürer ist zu weit gerannt. Hier werden die Häuser niedriger, die Betonplatten der Trottoirs sind alle zerbrochen. Er muss seine Füsse höher nehmen bei jedem Schritt und ärgert sich. Im Mai sticht die Sonne um halb acht Uhr schon empfindlich, dazu hat der Arbeitsverkehr eingesetzt und macht das Atmen schwer. Schon am ersten Morgen in Bishkek meint er wie zu Hause laufen zu müssen. Bürer beschäftigt sich beim Laufen mit kniffligen Themen, als Teil des Programms. Wenn er abschweift, weiss er, dass er zu schnell rennt. Er hält an einer Kreuzung und orientiert sich: im Süden die Bergkette, rechts das Zirkusgebäude. Er staunt darüber, wie sehr er sich geirrt hat und überquert die Strasse gehend in einer Menschengruppe. Auf der anderen Seite beginnt er wieder zu laufen. Bis zu seiner Wohnung braucht er so fünf Minuten. Es gelingt ihm nicht mehr, den Faden aufzunehmen. Erst in der Badewanne, unter dem dünnen Duschestrahl, bringt er es zusammen.

Kennen Sie das: man ist an einem fremden Ort, ich meine, wirklich fremd? So dass es einen frösteln müsste. Man erlebt etwas, zum Beispiel: der Taxifahrer nimmt bei Tempo hundert-zwanzig beide Hände vom Steuer, führt sie ganz langsam vor sein Gesicht, bedeckt einen Moment lang beide Augen, legt sie dann seelenruhig wieder ans Steuer. Auf einer Strasse, wo unvermutet Schlaglöcher von einem halben Meter Tiefe auftauchen können. Ja, er hat gebetet, bei jedem Friedhof, an dem wir vorbeibrausten. So eine Erklärung beruhigt. Das Erschreckende ist nur: ich blieb schon vorher ruhig. Als ob ich mir die Emotionen aufsparen wollte für später! Für dann, wenn ich darüber erzählen würde. Reise ich zu oft? Oder noch immer zu wenig?

Man umsorgt Bürer, die Firma schickt einen Fahrer. Bishkek findet er vom Auto aus kleiner und schäbiger als Almaty. Man hält vor einem Bau aus den Siebzigerjahren. Er wird vom Direktor und kirgisischen Mitarbeitern mit Tee empfangen. Der Terminplan ist sinnvoll, aber dicht. Man stellt ihm die Dolmetscherin vor. Er kann nur ihren Vornamen behalten: Asel. Sie ist knapp dreissig, hat ein rundes, sehr flaches Gesicht, trägt Jeans und einen Pullover. Sie kann Deutsch, Russisch besser als Kirgisisch. Und Chinesisch. Das wird von der Firma geschätzt, weil Transporte von und nach China zunehmen. Bürer ist beeindruckt. Man verabredet sich für den Abend, die Firma wird ihre Partner in Bishkek empfangen.

Ich habe damals den ganzen Nachmittag verschlafen. Als ich die Vorhalle betreten habe, ist sie festlich geschmückt gewesen und das Büffet bereits eröffnet. Ich hasse Sekt und habe Ausschau gehalten nach Bier. Das habe ich dann auch gefunden, bei einer Gruppe Deutscher. Einer von denen, Henning, hat einen Vortrag für Insider gehalten: es ist um ein Tier gegangen, das er uncia genannt hat, oder ak ilbirs. Ich habe dann herausgefunden, dass das eine Raubkatze sein muss. Als ich nachgefragt habe, sind die anderen verschwunden und ich bin Henning alleine ausgesetzt gewesen. Er hat erzählt, dass er eine Organisation zur Rettung der Schneeleoparden in Zentralasien vertrete. Ich habe das Thema wechseln wollen und gesagt, ich hätte Mühe mit Katzen, reagiere allergisch auf ihre Haare. Henning hat das weggewischt: alles psychosomatisch!

Mitten in Bishkek wollen sie einen Schneeleopard befreien, die Händler dabei verhaften. Dazu braucht es einen fiktiven Käufer. Einer, etwa in Bürers Alter, ist ausgestiegen. Ob er einspringen wolle, Henning halte ihn für geeignet. Keiner kenne ihn und er entspreche dem Bild, das sie den Händlern per Mail beschrieben hätten. Bürer, fasziniert, schüttelt heftig den Kopf: kein Bier mehr jetzt. Laut sagt er: Nein, nein, wo denken Sie hin. Henning gibt ihm die Karte. Rufen Sie mich an, bis morgen Abend.

Ich habe am nächsten Tag viel zu tun gehabt, Kontakte knüpfen, Bauplätze besichtigen, mit dem Fahrer und meiner Dolmetscherin. Ich habe die junge Frau sofort gemocht und ihr das Du angeboten. Mich hat sie aber weiter mit Sie anreden wollen. Ich habe es auf den Altersunterschied geschoben und sie gefragt, wie alt sie mich den schätze. Sie hat es genau getroffen, das hat mich gewurmt.

Er schaltet den Fernsehapparat aus und steht in der dunklen Wohnung. Das Licht draussen ist blau, die Neonschrift auf dem Zirkus leuchtet rot. Dahinter die Bergspitzen des Tienschan, noch schwach rosa glühend. Er holt sich vom Eisschrank ein zweites Bier. Dann schliesst er seine Kamera am Fernseher an und drückt auf play. Für einen Moment erkennt er nicht, was er sieht und hört: eine schnurgerade Strasse, aus der Ferne ansteigend. Der Himmel bleigrau, die Hügel rechts der Strasse rotocker, der links abfallende Hang gelblich, darunter ein Stausee. Der Wind bullert gegen das ungeschützte Mikrophon. Im Fluchtpunkt taucht eine kleine Bewegung auf, leises Brummen: ein Lastwagen. Ganz langsam nimmt das Motorengeräusch zu, Bürer kann voraussehen, wann es den Wind übertönen wird. Ein chinesischer Lastwagen. Bevor der an ihm vorbeidonnern kann, friert Bürer das Bild ein und starrt es lange an. Mit klopfendem Herzen steht er auf, da ist es schon entschieden. Er ruft an und hört sich sagen: „Ich machs!“

Ich habe dann nicht gut geschlafen. Henning hat mir drei Männer vorgestellt, einen Österreicher und zwei Kirgisen in dunklen Anzügen: Beamte aus dem Innenministerium. Sie haben bereits ein Auto besorgt gehabt, und auf Anweisung der Schwarzhändler eine grosse Kiste samt Käfig für die Katze. Ins Auto haben sie ein Mikrophon platzieren wollen, ein zweites in meine Jacke. Sie haben die Absicht gehabt mit zwei zivilen Polizisten anzurücken, einer bewaffnet. Anweisung des Ministers. Ich habe geschwitzt und versucht, mich zu konzentrieren. Man wird mir unauffällig nachfahren und an Ort versuchen, die Fluchtwege abzuschneiden. Die Händler werden mit einem Auto an der Ecke Erkindik / Bokonbayev warten. Ich habe ihnen zu folgen. Falls es schief läuft, soll ich sagen: "My wife will be happy". Für die Händler bin ich der Geschäftsmann Berger, der die Katze für seine Frau kaufen will, die Papiere werden sie mir mitgeben. Ich soll einfach den Businessmann mimen, dem Artenschutz scheissegal ist. Ob ich verstehe? Auf keinen Fall aus Bishkek hinausfahren! Das Geld ist in der Bauchtasche, ein Teil in echten Scheinen. Sie werden aber zuschlagen, bevor es zum Zahlen kommt. Sie erscheinen auf mein Signal, der Satz heisst: "I buy the cat". Die ganze Zeit habe ich gemeint, ich stehe neben mir. Aber es ist mir nicht in den Sinn gekommen auszusteigen.