Sonntag, 20. Dezember 2020

gelungen - misslungen

Bei keiner anderen Katze hatte ich je dieses Verhalten beobachtet. Als ich es zum ersten Mal sah, war ich irritiert und besorgt, weil es weder zu ihrem sonstigen Geschick noch zu ihrer beeindruckenden Kraft beim Springen und Klettern passte.

Sie geht auf den Heizkörper zu, auf dem sie sich gerne den Bauch wärmt. Nimmt die Höhe in den Blick, bringt die Hinterläufe in Stellung, duckt sich leicht und. Landet auf der halben Höhe. Prallt, gar nicht katzenelegant, seitwärts gegen die Röhren, bringt, kurz vor dem Boden, die Pfoten unter den Leib. Findet schliesslich wieder ihr Gleichgewicht. Das spielt sich in Sekunden ab. Meist springt sie kurz darauf ein zweites Mal, in gewohnt schmeidiger, zurückgenommener Manier, die Höhe um keinen Millimeter verfehlend, genau im Höhepunkt der Sprungparabel aus der Luft aussteigend auf festen Grund, wie wenn es nichts bedeutete.

Die misslungenen Versuche las ich zuerst besorgt als Symptome einer möglichen Krankheit. Die Vorfälle blieben jedoch selten, und mir schien es nach genauerem Hinschauen eher eine Macke. Wenn sie auf diese Weise ihr Vorhaben verfehlte, war es, als ob sie es schon vor dem Losschnellen der Fersengelenke abbrechen würde, so als hätte ihr Körper den Sprung in Angriff genommen, bevor ihr Geist dazu bereit war. Ich sah, in der Zeit eines Wimpernschlags, die mangelnde Übereinstimmung in den Feinheiten ihrer Bewegung. Oder eher, spürte sie in meinem Körper, auftauchend aus dem Speicher ähnliche Erfahrungen. Die Beiläufigkeit, mit der die Katze ihren zweiten Versuch unmittelbar nach ihrem Scheitern realisierte, wirkte beruhigend. Manchmal erschien sie aber verlegen, und musste sich zuerst eine Weile putzen, als hätte sie eigentlich nur das gewollt.

Man kann es sich zur Methode machen, mit dem Arbeiten zu beginnen, bevor überhaupt die richtigen Werkzeuge dafür bereitgelegt sind, ja bevor auch nur genügend Platz und eine ausreichend geordnete Umgebung geschaffen wurden. Das würde einen bewahren vor der Beschämung, zu scheitern, nachdem und obwohl alles sorgfältig bereitet war, die Arbeitskleidung übergezogen, die Tischfläche abgedeckt, genügend Papier in Griffnähe, verschiedene Stifte und Pinsel in Wartestellung gebracht, gewisse Vorentscheidungen bezüglich der zu benützenden Mittel, Formate und Vorgehensweisen getroffen, der Kopf geleert, die Schultern entspannt und im Künstlerhabitus eingerichtet. Dann die Niederlage, den Misserfolg hinnehmen zu müssen, erschiene zweifach demütigend, weil sich zur Bitternis des Misslingens die Lächerlichkeit gesellte. Das sorgsam inszenierte Ritual der Vorbereitung würde durch die klägliche Qualität, oder noch schlimmer, durch das völlige Ausbleiben von Ergebnissen als Anmassung blossgestellt.

Und wenn auch die Umgebung kopfschüttelnd fragt, wie kannst du bloss in einer solchen Unordnung? - oder anrät, ich würde zuerst einmal dies und jenes!, so erscheint es dennoch verlockend, und leichter, jede Vorbereitung überspringend direkt mit der Arbeit zu beginnen. Nein, ein Anfang soll gar nicht zu erkennen sein, dann liesse sich im Falle einer Stockung, eines Scheiterns oder gar Abbruchs leichter so tun, als habe man gar nichts getan, ja nicht einmal etwas gewollt. Und man könnte einen Teil des Misserfolgs den Umständen zuschreiben, die einen Erfolg nicht zugelassen hätten. Noch nicht.

Vielleicht ist es aber einfach der fehlenden Kraft zuzuschreiben, dass man vor, während und nach dem Arbeiten nicht in der Lage war, Ordnung zu schaffen.

Ich mache mich daran, eine Geschichte aufzuschreiben, und mit einer Folge von Zeichnungen zu illustrieren. Anlass ist die Weihnachtszeit, zu der dem Enkelkind in der Ferne ein Märchen zum Vorlesen, mit Bildern zum Ausmalen, geschenkt werden sollen. Das Märchen der Rapunzel scheint für ein kleines Mädchen geeignet, wobei das Ende aus der neapolitanischen Urfassung die allzu tränenreiche Version der Gebrüder Grimme ersetzen wird.

Wieder einmal den Einstieg ins figürliche Zeichnen finden. Mit der Hexe zu beginnen ist wohl eine gute Idee, da wirken sich missgestaltete Glieder nicht zum Nachteil aus. Man kann experimentieren mit verschiedenen Graden von Naturalismus, mit Anlehnungen an Comic-Figuren und gelungen erscheinende Illustrationen.

Nichts vorbereitet und schon mittendrin, mit einem schlecht gespitzten Bleistift auf dem Block aus Makulatur, auf schlechtes Papier für den Drucker, mit von der Rückseite durchscheinender Schrift. Also richtiges Zeichenpapier geholt, den Stift gespitzt. Danach aber schaut mich die Hexe, und dann noch das Rapunzelmädchen!, so an, dass ich mich winde vor Unbehagen. Sie sind auf ungute Weise meine Kinder, ich sehe in ihnen Aspekte eines Selbstbildes, die mir unbehaglich sind.

Also wende ich mich an die ersten Versuche. Die Hexe da ist gut, sie hat Schmuddel, und sie hat sich von mir gelöst, ich kann unbeschwert an ihr herumdoktern. Ich schneide sie grob aus, klebe sie auf den besser gelungenen Hintergrund eines andern Blattes, auf stärkeres, reinweisses Papier. Die diebische Mutter Rapunzels, die im Garten der Hexe Wurzeln stiehlt, ist zu karikiert. Die wird der Enkelin vielleicht zu hässlich, zu bäurisch erscheinen, aber ich lasse sie. Sie hat sich von mir emanzipert.

Das fertige erste Bild ist eine sperrige Kollage, ich zwänge sie in den Scanner. Als digitale Zeichnung kann sie weiter überarbeitet werden. Ungeschickte Schlenker sind entfernbar, ich kann Teile der Zeichnung herausschneiden, vergrössern, drehen, spiegeln und, und. Auf der neuen Stufe von Entscheidungen sind Offenheit und die Vielzahl der Möglichkeiten nur durch intuitives Spielen zu bändigen. Irgendwann muss man dem ein Ende setzen, sich festlegen und die bleibende Ambivalenz schlucken.

Wieder am Tisch, mit der Feder in der Hand, ertappe ich mich mehrmals beim Suchen nach einer Reset-Taste, wenn ich den Strich schlecht geführt habe. Die erste Rapunzel ist unbrauchbar, zu alt, zu naturalistisch, zu wenig frech. Es hilft, zwischendurch in Ungerers Liederbüchern zu blättern. Plötzlich habe ich sie. Die Knopfaugen unter den hochgezogenen Brauen blicken konzentriert und etwas verärgert auf die Seilrolle, mit der sie die schwere Haarpracht herunterlassen soll. Rapunzel gleicht auf diesem Bild sogar etwas unserer Enkelin.

Freitag, 6. November 2020

Lügengeschichten (Krimi 2)

Bürer hofft, man höre ihn im Auto und hantiert umständlich herum. Die Videokamera liegt in der offenen Tasche. Er spürt ihre Blicke, als sie in den Hinterhof gehen. Hier stinkts, das Tier sitzt verklebt im Käfig. Bürer zieht die Kamera aus der Tasche und richtet sie auf die Katze. Man schreit ihn an: "No film!" Bürer steckt die Kamera zurück, dabei entscheidet er intuitiv sie laufen zu lassen. Die Händler sprechen aufgeregt, Bürer meint, auf Chinesisch und Kirgisisch, oder Kasachisch. Er wendet sich dem Käfig zu. Das Tier macht sich flach, bewegt sich in Zeitlupe rückwärts und faucht. Hinter ihm wird es ruhiger, sie lachen. Da kommt vom Hof ein dritter Mann. Starrt Bürer an wie angenagelt. Der ist baff, er kennt den Mann: Nigmat, ein junger Uigure, den er in Almaty bei Tursun getroffen hat. Bürer sagt laut: "I buy the cat!" Nigmat schreit und zeigt auf ihn. Bürer wird herumgewirbelt, die Bauchtasche ist weg. Wildes Gerenne um den Käfig herum zur Rückseite des Hofs. Von dort kommen zwei. Hinter Bürer stürmen Hennings Leute aus dem Haus, zwei mit Filmgerät. Vorne wird einer überrannt, der andere zieht die Waffe, Henning brüllt, die Kameraleute rennen. Bürer sieht Nigmats Beine für einen Moment über der Mauer. Er erwartet einen Schuss, es fällt aber keiner.

Am nächsten Tag habe ich der Dolmetscherin das Band vorgespielt. Erst hat man schwankende Gitterstäbe gesehen, dahinter unscharf das zusammengekrümmte Tier. Von rechts ein Schatten, die Hand hat sich über das Bild gelegt, rosa durchscheinend, dazu: "No film!" Dann schwankende Wände, ein Stück Himmel, ein Kleiderhaufen, Dunkel.
Jetzt sind nur noch die Stimmen zu hören gewesen. Ich habe Asel gefragt: Kannst du mir übersetzen? Ich habe vor und zurückgespult und in mein Buch notiert. Zwei Stellen habe ich ihr nochmals vorgelesen, ich kann sie auswendig:
Uigure: Wo ist Nigmat?
Mann aus Guangdong: Fick deine Mutter, er kommt bald. Nächstes Mal werden wir sowieso ohne Nigmat abhauen. Der ist erledigt.
Uigure: Haben wir den Mist hier noch nötig? Das Ding mit dem Bus bringt doch viel mehr, zweihunderttausend? dreihundert? (lacht)
Mann aus Guangdong: Dollars, ja. Wird aber noch anders stinken als das hier. So, Klappe jetzt, Nigmat kommt.
Asel hat von mir wissen wollen, woher ich Nigmat kenne. Ich hab gesagt: Von Almaty. Von einem Projekt. Wir waren uns sympathisch, glaube ich. Er hat mich zu sich eingeladen, den ganzen Abend von der uigurischen Minderheit und ihren Problemen erzählt. Nigmat ist kurz vorbeigekommen und hat Drucksachen mitgebracht. Tursun hat gesagt, er passe auf ihn auf, weil er noch so jung sei und hier keine Familie habe. Tursun muss jetzt für ein paar Tage in Osh sein, er hat dort Verwandte besuchen wollen. Als ich Osh erwähnt habe, hat Asel offensichtlich gehen wollen. Die Stadt ist ein heisses Pflaster.
Tursun hat pausenlos erzählt. Von eingeschleusten chinesischen Provokateuren. Aus China geflohene uigurische Separatisten würden sie erst ködern und dann hochgehen lassen. Man beginne mit harmlosen Aufträgen, dann beteilige man sie an Überfällen. Irgendwann würden sie geschnappt. China übe wachsenden Druck auf die zentralasiatischen Länder aus, Separatisten aus Xinjiang auszuliefern. Systematisch schüre man den Hass auf Uiguren, unterstelle ihnen bei jeder Straftat terroristische Motive. Für ausgelieferte Delinquenten könne das die Todesstrafe bedeuten, Folterung auf jeden Fall. Die kirgisischen Behörden gäben trotz internationaler Proteste immer wieder nach. Ich habe ihn gefragt, woher er das wisse? Vieles vom Internet, hat er behauptet. Ich habe mir den Kopf zermartert: Sollte ich Tursun vom Schneeleoparden erzählen? Hat er vom illegalen Geschäft mit den Wilderern gewusst? Ist Nigmat in eine Falle der Chinesen getappt? Was hat Tursun mit der ganzen Sache zu tun gehabt. Er hat mir gesagt, die uigurische Sache interessiere ihn natürlich, weil er mütterlicherseits Uigure sei. Ich habe den Eindruck gehabt, Tursun sei tiefer in der Sache drin gesteckt als er mir gegenüber zugegeben hat. Aber ich habe gezögert, mit ihm Kontakt aufzunehmen, weil ich nicht habe enttäuscht werden wollen. Und weil ich mich für die Katzengeschichte geschämt habe.

Bürer hat Durchfall. Er kann das Telefon nicht abnehmen. Als es wieder klingelt, ist es Asel. Es geht um die Tonspur des Filmes, und sie will sofort mit ihm reden. Sie wirkt erschrocken und verstört. Als Bürer in einem Cafe auf sie wartet, liest er den Bericht in einer Zeitung. Das Bild zeigt den Bus am Grund einer Schlucht, der Kommentar dazu ist erstaunlich differenziert. Erste Annahme: Unfall. Am zweiten Tag steigen Polizisten zum Wrack ab und sehen, dass alle Leichen Schusswunden aufweisen. Es gibt zwei Thesen: Kirgisstan spricht von Gaunern mit ökonomischen Motiven, China unterschiebt Tat und Motiv uigurischen Separatisten. Eine mögliche Version: 28 Händlern sind von Xinjiang mit Waren auf den Markt in Bishkek gefahren. Sie haben einen Bus gemietet für die Fahrt in die Hauptstadt und wieder zurück. Nun ist alles verkauft und sie fahren mit dem Geld (bar, in Dollars) zurück nach China. Davon erfahren Kriminelle (oder Terroristen) und beschliessen, die Händler auszurauben. Sie erstellen eine Strassensperre und wollen den Bus stoppen. Der Fahrer versucht, die Sperre zu durchbrechen, worauf die Banditen das Feuer eröffnen. Der Fahrer wird getroffen, der Bus stürzt über den Steilhang ab. Ein Teil der Insassen wird getötet, andere werden verletzt, zwei oder drei befreien sich unversehrt aus dem Wrack. Die Gauner erschiessen alle und erbeuten knapp dreihunderttausend US-Dollars, mit denen sie entkommen. Die Grösse der Beute lässt beide offiziellen Thesen zu.

Ich habe versucht Asel davon zu überzeugen, dass die Tonspur noch keine Verbindung der Tierhändler mit dem Busüberfall beweise. Sie hat mir gar nicht zugehört sondern behauptet, für die Aufklärung der Sache und für die Gerechtigkeit mache es keinen Unterschied, ob man die Aufnahme den Behörden melde. Ich hätte dann aber sicher in Kirgisstan keine ruhige Minute mehr. Sie wolle das Video aus ihrem Gedächtnis löschen, wenn ich mich auch dazu entschliessen könne es zu überspielen und zu niemandem davon zu sprechen. Und noch am gleichen Abend hat sich Tursun aus Kasachstan gemeldet. Er hat sich Sorgen gemacht, hat schon erfahren von Nigmats Verschwinden. Ich bin zu feige gewesen, habe kein Wort über die Lippen gebracht. Er hat etwas gemerkt und mich gefragt, ob ich krank sei? Da habe ich die Darmprobleme vorgeschoben.

Am Nachmittag des folgenden Tages wird Bürer zum Direktor zitiert. Er kann nicht unschuldig tun, denn da steht einer, den er kennt, aus dem Innenministerium. Bürers Auftrag ist mit sofortiger Wirkung beendet, weitere Zusammenarbeit fraglich. Man übernimmt alle Kosten, die aus Umbuchungen und dem Abbruch der Miete entstehen. Auch die Kosten seines zweiten Visums für Kasachstan werden zurückerstattet. Er braucht nur die Airline anzurufen, dann fliegt er morgen früh nach Frankfurt. Ob man ihn rausschmeisse? Ach, er solle doch nicht so tun, er sei doch Profi. Und in diese Lage habe er sich selbst gebracht.

Zu Fuss auf den Heimweg habe ich das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Ich habe immer wieder angehalten und mich umgedreht. Schon ziemlich wütend habe ich meine Wohnung erreicht, wo ich die kleine Tasche gepackt und die Kamera dazugesteckt habe. Meine anderen Sachen habe ich in den grossen Rollkoffer gestopft und ihn in den Eingang gestellt. Dann bin ich in die Laufschuhe geschlüpft und habe mir eine dünne Windjacke übergezogen. Mit der Tasche über der Schulter habe ich die Wohnung verlassen. Die Sonne ist gerade am Untergehen gewesen.

Jetzt ist er sicher, verfolgt zu werden. Wenn er sich umdreht, halten zwei Männer an und reden eifrig miteinander. Bürer beginnt zu laufen, mit eiskalten Füssen. Hält bei einem Kiosk. Die kommen auf ihn zu, und Bürer bekommt Angst: links läuft der Chinese! Also nicht das Ministerium. Er rennt los, nimmt blindlings den vertrauten Weg: Internetcafe, Platanenallee zur grossen Kreuzung, Busbahnhof, die Unterführungen. Er dreht sich, der Chinese, schon mitten auf der Strasse, wedelt mit den Armen. Lautes Hupen, Bürer beschleunigt, niemand kommt entgegen. So kann er nur kurz laufen. Bei der Kreuzung in den nächsten Abgang, drei Stufen aufs Mal, über die Beine einer Bettlerin. Der Schuhputzer weicht nicht aus, Bürer hört es klirren. Menschen sausen vorbei, Gitter rasseln. Bürer, langsamer, trabt schwer atmend die Buden entlang, man schaut verwundert. In der Mitte, unter dem Zentrum der Kreuzung, nimmt er die Querverbindung und rennt zurück. In einer winzigen Papeterie verschwindet der Verkäufer eben hinter einem Vorhang. Bürer folgt ihm in den dunklen Lagerraum, eng wie ein Kasten. Zuckt der Mann zusammen und will ihn zurückdrängen. Bürer bringt heraus: only for a moment! Gestikuliert, drückt etwas nieder. Der Mann mustert ihn: Problems? Bürer nickt. Police? No, no! Bürer zeigt auf seine Uhr: Can I wait here? Five minutes? Ok. Ein Stuhl wird ihm angeboten, er stützt sich stehend auf die Lehne und lässt den Kopf sinken. Der Verkäufer räumt weiter zusammen. Bürer schnaufend, schaut auf. Was wollen die? Nigmat wird erzählt haben, dass er mich kennt. Und worüber Tursun mit mir gesprochen hat. Bringt es Tursun fertig, Nigmat auszuliefern? Der Mann schreckt ihn hoch: I close now. Nimmt kein Geld. Bürer muss gehen, drückt sich die Wände entlang, dreht sich, äugt hemmungslos hierhin und dorthin. Die sind weg. Oder warten oben. Von rechts hört er die Stimmen vieler Menschen, also dorthin. Die Treppe schleicht er hoch, sie endet mitten in den Leuten: Busfahrer rufen Reiseziele, Menschen verabschieden sich und steigen ein. Lange bleibt Bürer stehen und wartet. Nichts geschieht. Schliesslich fragt er einen Fahrer: to Almaty? Der schüttelt den Kopf und holt eine Kollegin, die erklärt: To the new station, then with the big bus to Almaty. You have a visa? Yes. You must leave now.

Und jetzt sitze ich neben Ihnen im Bus, schwatze Ihnen den Kopf voll. Ich habe immer noch Bauchweh, hoffentlich ist der Bus nicht aufgetankt und hält nochmals am Stadtrand. Was würden Sie machen? Ich will das verstehen, Tursun gegenüber stehen und fragen.

Donnerstag, 5. November 2020

Lügengeschichten (Krimi 1)

Als ich neu in den Kindergarten kam, wurde ich zuhause oft gefragt, wie es mir dort gehe, was wir machen würden, was es dort zum Spielen gebe. Mein Bruder konnte das Angebot mit dem vergleichen, was er, in einem anderen Kindergarten, erlebt hatte, und so kam es zu einer Art Wettstreit darüber, wer die besseren Bedingungen gehabt habe. Ich erfand ein grosses Feuerwehrauto, das in meiner Erzählung durch die Lust an Ausschmückung und Übertreibung sowie durch die Fragen meines Bruders nach Details immer grösser und funktionsmächtiger wurde. Zwar merkte ich bald, dass mir mein Bruder nicht mehr glaubte, aber auch er schien an der Entwicklung des traumhaften Spiel- und Fahrzeugs seinen Spass zu haben, schlug von sich aus phantastische Erweiterungen vor, die ich eifrig bestätigte. Die Sache endete für mich kläglich, weil mein Bruder mich schliesslich auf dem Weg zum Kindergarten auffliegen liess, indem er ein paar meiner Kameraden zu dem Feuerwehrauto befragte. Ich verkleinerte das phantasierte Konstrukt, buchstabierte die Geschichte auf ein Mass zurück, bei dem wenigstens eines der anderen Kinder hätte bestätigend einsteigen und mich retten können. Da es aber in unserem Kindergarten nicht einmal ein kleines Feuerwehrauto gab, liessen sie mich gnadenlos hängen und ich stand als Lüger und Betrüger da. Ich lernte meine Lektion, Geschichten darf man nicht erfinden.

An einem meiner Geburtstage, der wie immer in den Sommerferien lag, fuhr ich mit meinem Vater nach Zürich, wo wir das Kunsthaus besuchten. An die Ausstellung kann ich mich nicht erinnern, wohl aber daran, dass ich Papi für einen Tag für mich alleine hatte. Nach dem Besuch der Ausstellung sassen wir im Museumsrestaurant im Freien, und ich durfte mir etwas zum Essen und Trinken aussuchen. Neue Dinge, Rollmops mit frischem Brot, und Sauser. Und ich bekam von meinem Vater ein Taschenbüchlein geschenkt, das hiess 'Seemannsgarn und andere Lügengeschichten'. Da ich es im Museum nicht sehr lange ausgehalten hatte, wollte mein Vater nochmals in die Ausstellung gehen und schlug mir vor, ich könne sitzen bleiben und lesen, wenn ich wolle. Ich war schon sehr gespannt auf die Lügengeschichten, die auf dem Umschlag des Büchleins so unverfroren angekündigt wurden, willigte ein und begann zu lesen. Vergass alles um mich herum. Es war unglaublich, mein Feuerwehrauto war nichts gewesen im Vergleich zu den haarsträubenden Übertreibungen, Prahlereien und Schlitzohrigkeiten dieser Geschichten! Sie waren toll geschrieben, und weil mir diese Form der Fiktion noch immer als etwas Verbotenes erschien, war die Lektüre umso aufregender.

Ich habe noch nicht viel rein Fiktives geschrieben. Merkwürdigerweise fällt es mir bei erfundenen Geschichten schwerer, einen Ton zu finden, der über meine Person hinausträgt. Vor fünfzehn Jahren schrieb ich mal einen kurzen Krimi, der hiess 'Bürer beschleunigt'. Hier ist der erste Teil davon. Der zweite Teil folgt im nächten Posting.

Bürer beschleunigt

Bürer, den ich noch vor einer halben Stunde nicht kannte, sitzt im Bus nach Almaty neben mir, schwer atmend. Sein Hemd klebt. Im Bus ist es so eng, dass ich es aufgebe, Bürer beim Zuhören das Gesicht zuzuwenden. Es ist schon dunkel und draussen ist nicht mehr viel zu sehen. So starre ich wie er auf die Fläche aus schmuddeligem Kunstfasersamt vor mir, als wäre da ein Bildschirm. Er ist aufgedreht und schwatzt pausenlos, ohne ein Detail auszulassen, gegen die Lehne des vorderen Sitzes, mit weit offenen Augen.

Meinen Namen kennen Sie schon: Lorenz Bürer, siebenundfünfzig, Bauingenieur aus Ror-schach. In der Nacht auf letzten Montag mit dem Flugzeug angekommen, aus Almaty. In Ka-sachstan habe ich einen Monat lang Landsleute beraten. Ich bin zum ersten Mal in Bishkek gewesen und habe hier Bauland zu analysieren gehabt, für eine deutsche Firma. Am Montag-morgen bin ich also durch Bishkek gejoggt, im Trainingsanzug.

Bürer ist zu weit gerannt. Hier werden die Häuser niedriger, die Betonplatten der Trottoirs sind alle zerbrochen. Er muss seine Füsse höher nehmen bei jedem Schritt und ärgert sich. Im Mai sticht die Sonne um halb acht Uhr schon empfindlich, dazu hat der Arbeitsverkehr eingesetzt und macht das Atmen schwer. Schon am ersten Morgen in Bishkek meint er wie zu Hause laufen zu müssen. Bürer beschäftigt sich beim Laufen mit kniffligen Themen, als Teil des Programms. Wenn er abschweift, weiss er, dass er zu schnell rennt. Er hält an einer Kreuzung und orientiert sich: im Süden die Bergkette, rechts das Zirkusgebäude. Er staunt darüber, wie sehr er sich geirrt hat und überquert die Strasse gehend in einer Menschengruppe. Auf der anderen Seite beginnt er wieder zu laufen. Bis zu seiner Wohnung braucht er so fünf Minuten. Es gelingt ihm nicht mehr, den Faden aufzunehmen. Erst in der Badewanne, unter dem dünnen Duschestrahl, bringt er es zusammen.

Kennen Sie das: man ist an einem fremden Ort, ich meine, wirklich fremd? So dass es einen frösteln müsste. Man erlebt etwas, zum Beispiel: der Taxifahrer nimmt bei Tempo hundert-zwanzig beide Hände vom Steuer, führt sie ganz langsam vor sein Gesicht, bedeckt einen Moment lang beide Augen, legt sie dann seelenruhig wieder ans Steuer. Auf einer Strasse, wo unvermutet Schlaglöcher von einem halben Meter Tiefe auftauchen können. Ja, er hat gebetet, bei jedem Friedhof, an dem wir vorbeibrausten. So eine Erklärung beruhigt. Das Erschreckende ist nur: ich blieb schon vorher ruhig. Als ob ich mir die Emotionen aufsparen wollte für später! Für dann, wenn ich darüber erzählen würde. Reise ich zu oft? Oder noch immer zu wenig?

Man umsorgt Bürer, die Firma schickt einen Fahrer. Bishkek findet er vom Auto aus kleiner und schäbiger als Almaty. Man hält vor einem Bau aus den Siebzigerjahren. Er wird vom Direktor und kirgisischen Mitarbeitern mit Tee empfangen. Der Terminplan ist sinnvoll, aber dicht. Man stellt ihm die Dolmetscherin vor. Er kann nur ihren Vornamen behalten: Asel. Sie ist knapp dreissig, hat ein rundes, sehr flaches Gesicht, trägt Jeans und einen Pullover. Sie kann Deutsch, Russisch besser als Kirgisisch. Und Chinesisch. Das wird von der Firma geschätzt, weil Transporte von und nach China zunehmen. Bürer ist beeindruckt. Man verabredet sich für den Abend, die Firma wird ihre Partner in Bishkek empfangen.

Ich habe damals den ganzen Nachmittag verschlafen. Als ich die Vorhalle betreten habe, ist sie festlich geschmückt gewesen und das Büffet bereits eröffnet. Ich hasse Sekt und habe Ausschau gehalten nach Bier. Das habe ich dann auch gefunden, bei einer Gruppe Deutscher. Einer von denen, Henning, hat einen Vortrag für Insider gehalten: es ist um ein Tier gegangen, das er uncia genannt hat, oder ak ilbirs. Ich habe dann herausgefunden, dass das eine Raubkatze sein muss. Als ich nachgefragt habe, sind die anderen verschwunden und ich bin Henning alleine ausgesetzt gewesen. Er hat erzählt, dass er eine Organisation zur Rettung der Schneeleoparden in Zentralasien vertrete. Ich habe das Thema wechseln wollen und gesagt, ich hätte Mühe mit Katzen, reagiere allergisch auf ihre Haare. Henning hat das weggewischt: alles psychosomatisch!

Mitten in Bishkek wollen sie einen Schneeleopard befreien, die Händler dabei verhaften. Dazu braucht es einen fiktiven Käufer. Einer, etwa in Bürers Alter, ist ausgestiegen. Ob er einspringen wolle, Henning halte ihn für geeignet. Keiner kenne ihn und er entspreche dem Bild, das sie den Händlern per Mail beschrieben hätten. Bürer, fasziniert, schüttelt heftig den Kopf: kein Bier mehr jetzt. Laut sagt er: Nein, nein, wo denken Sie hin. Henning gibt ihm die Karte. Rufen Sie mich an, bis morgen Abend.

Ich habe am nächsten Tag viel zu tun gehabt, Kontakte knüpfen, Bauplätze besichtigen, mit dem Fahrer und meiner Dolmetscherin. Ich habe die junge Frau sofort gemocht und ihr das Du angeboten. Mich hat sie aber weiter mit Sie anreden wollen. Ich habe es auf den Altersunterschied geschoben und sie gefragt, wie alt sie mich den schätze. Sie hat es genau getroffen, das hat mich gewurmt.

Er schaltet den Fernsehapparat aus und steht in der dunklen Wohnung. Das Licht draussen ist blau, die Neonschrift auf dem Zirkus leuchtet rot. Dahinter die Bergspitzen des Tienschan, noch schwach rosa glühend. Er holt sich vom Eisschrank ein zweites Bier. Dann schliesst er seine Kamera am Fernseher an und drückt auf play. Für einen Moment erkennt er nicht, was er sieht und hört: eine schnurgerade Strasse, aus der Ferne ansteigend. Der Himmel bleigrau, die Hügel rechts der Strasse rotocker, der links abfallende Hang gelblich, darunter ein Stausee. Der Wind bullert gegen das ungeschützte Mikrophon. Im Fluchtpunkt taucht eine kleine Bewegung auf, leises Brummen: ein Lastwagen. Ganz langsam nimmt das Motorengeräusch zu, Bürer kann voraussehen, wann es den Wind übertönen wird. Ein chinesischer Lastwagen. Bevor der an ihm vorbeidonnern kann, friert Bürer das Bild ein und starrt es lange an. Mit klopfendem Herzen steht er auf, da ist es schon entschieden. Er ruft an und hört sich sagen: „Ich machs!“

Ich habe dann nicht gut geschlafen. Henning hat mir drei Männer vorgestellt, einen Österreicher und zwei Kirgisen in dunklen Anzügen: Beamte aus dem Innenministerium. Sie haben bereits ein Auto besorgt gehabt, und auf Anweisung der Schwarzhändler eine grosse Kiste samt Käfig für die Katze. Ins Auto haben sie ein Mikrophon platzieren wollen, ein zweites in meine Jacke. Sie haben die Absicht gehabt mit zwei zivilen Polizisten anzurücken, einer bewaffnet. Anweisung des Ministers. Ich habe geschwitzt und versucht, mich zu konzentrieren. Man wird mir unauffällig nachfahren und an Ort versuchen, die Fluchtwege abzuschneiden. Die Händler werden mit einem Auto an der Ecke Erkindik / Bokonbayev warten. Ich habe ihnen zu folgen. Falls es schief läuft, soll ich sagen: "My wife will be happy". Für die Händler bin ich der Geschäftsmann Berger, der die Katze für seine Frau kaufen will, die Papiere werden sie mir mitgeben. Ich soll einfach den Businessmann mimen, dem Artenschutz scheissegal ist. Ob ich verstehe? Auf keinen Fall aus Bishkek hinausfahren! Das Geld ist in der Bauchtasche, ein Teil in echten Scheinen. Sie werden aber zuschlagen, bevor es zum Zahlen kommt. Sie erscheinen auf mein Signal, der Satz heisst: "I buy the cat". Die ganze Zeit habe ich gemeint, ich stehe neben mir. Aber es ist mir nicht in den Sinn gekommen auszusteigen.

Donnerstag, 15. Oktober 2020

gelungen

An einem der endlosen Nachmittage, an denen ich nicht die Kraft hatte, etwas von dem zu tun, was ich eigentlich hätte tun sollen, was meine Pflicht gewesen wäre, das Zimmer aufzuräumen, oder wenigstens mein Pult. Die Hausaufgaben zu machen, oder mindestens so zu tun als ob. Auf meinem Instrument zu üben, war es die Blockflöte oder schon das Cello?

Ging ich in den Keller, ohne Plan, in der vagen Hoffnung, im Gerümpel der Werkstatt etwas zu finden, was zu bearbeiten sich lohnte, und einen Ausweg versprach aus dem Kopfwehgrau, aus Sinnlosigkeit und Öde des Tages. Ich griff mir ein Rundholz mit Rinde, ein kurzes, krummes Aststück, das im Hobelbank eingespannt wurde, so gut es ging, und begann es mit Sägeschnitten eines Fuchsschwanzes zu traktieren. Erst als ich dem knorrigen Zylinder ein paar Kerben und Flächen zugefügt hatte, sah ich die Möglichkeit, ein Pferdchen daraus zu formen. Am Schwierigsten war es, das Stück Holz so festzuklemmen, dass es den Stössen meiner Säge widerstand und sich nicht immer wieder aus den Backen des Schraubstocks herausdrehte. Ich wusste auch nicht, wie das Material zwischen zwei Einschnitten, zum Beispiel zwischen den Beinen, herauszuholen war. Ich säbelte also kreuz und quer, sägte schräg und meinen Winkel laufend verändernd in der Lücke umher, bis alles Holz im Zwischenraum als Späne, Splitter und Sägemehl meinen Anstrengungen gewichen und heruntergerieselt war. Der Bauch des Pferdchens wurde struppig und zottig, aber es begann mir zu gefallen. Zwar tauchte die Frage auf, was ich denn mit einem hölzernen Tier anfangen sollte, wenn es denn einmal fertig würde, was also der Sinn meines Tuns sein könnte, und fast fiel ich heraus aus dem Fluss des eifrigen Hantierens, aus dem Kampf mit Material und Werkzeug, bedroht durch die vertrautverhasste Frage, was ich denn da mache. Ich verdoppelte darauf den Einsatz, wurde richtig schnell in meinen Entscheidungen und daraus folgenden Eingriffen, die allerdings allesamt unumkehrbar waren. Das Tier wurde kleiner, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich sah vieles zu spät, dass aus einem Knubbel am Hinterteil ein Schwanz zu machen gewesen wäre. So griff ich zum Bohrer, und in das Loch am Ende des Rückens stopfte ich eine dicke Hanfschnur, die ich mit reichlich Leim sicherte und anschliessend zu einem Schweif aufdröselte. Als mir das Holztier fertig erschien, oder ich nicht mehr weiterarbeiten mochte, zum Aufräumen fehlte mir erst recht die Energie, fegte ich mit dem Handrücken eine Fläche auf dem Hobelbank frei und stellte mein Werk darauf. Drehte und wendete es, betrachtete es von allen Seiten. War mir etwas gelungen? Ich hatte dieses Gefühl, ganz bestimmt, aber es bezog sich nicht auf dieses rohe, plumpe und unnütze Ding, das da vor mir stand. Es war mir gelungen, die bleierne Schwere von Langeweile und Melancholie zu durchbrechen. Den drängenden inneren Stimmen, die gemahnt hatten, man könne, solle, müsse etwas tun, hatte ich die Schnauze gestopft, indem ich irgendetwas anfing, etwas Unwahrscheinliches, ausserhalb jeden Zwecks Stehendes. Ich spürte den Impuls, mir diesen Nachmittag und die damit verbundenen Vorgänge zu merken.

Die Ausbildung zum Kunstpädagogen, zum Zeichenlehrer, wie es damals hiess, absolvierte ich an der Kunstgewerbeschule in Basel. Sie war stark geprägt einerseits von akademischen Vorbildern aus dem 19. Jahrhundert, andererseits von der englischen Arts and Crafts-Bewegung sowie von Ideen des Bauhauses. Es gab eine wirkungsmächtige Vorstellung von handwerklichen und theoretischen Grundlagen im Gestalterischen, die es, vom einfach Elementaren, schrittweise hin zum Komplexen, zu durchschreiten galt. Das Modell einer evolutionären, hierarchischen Entwicklung bildete sich ab in einem Curriculum aus Fächern, deren Abfolge, zeitliche Ausstattung und räumliche Verortung genau festgelegt waren. Am augenfälligsten wurde dieser Aufbau in der Stellung des Aktzeichnens. Während der ersten Semester beschäftigte man sich zeichnerischn ausschliesslich mit toten Gegenständen, vom Würfel zum Zylinder, darauf mit einfachen Werkzeugen, Flaschen und Geräten. Dann erst kamen Naturobjekte dazu wie Obst und Gemüse, Wurzeln, Steine. Die Beschäftigung mit der Figur wurde vorbereitet im Völkerkundemuseum, vor stark abstrahierten Holz- und Steinfiguren aus Afrika, Südamerika und der Sepik. Später ging man in die Skulpturenhalle und arbeitete sich vor Gipsabgüssen antiker Statuen zum Naturalismus vor, von den archaischen über die klassischen bis zu den spätantiken Vorbildern. Parallel setzte das Tierzeichnen im Zoo ein, dann das Kopfzeichnen nach lebendigen Modellen, das figürliche Skizzieren in den Trainingsräumen des Balletts, alles in entsprechend bezeichneten Fächern mit festen Stunden und dafür spezialisierten Lehrern, die ausschliesslich Männer waren. Und man wusste, das Aktzeichnen kommt zuletzt, der Aktsaal trohnt auch im obersten Stock über allem, und der Zutritt führt exklusiv über die Abarbeitung all dieser notwendigen Vorstufen.

Als ich zum ersten Mal meine Staffelei im Aktsaal aufstellte, meine Papierbögen, die Kohlen, Wischlappen und den Knetgummi bereitlegte, war ich etwas aufgeregt. Man wusste, dass die Modelle ausschliesslich weiblich waren. Wie würde sich das anfühlen? Als die Frau in einem weissen Morgenrock hereinkam, ihn ablegte und an einem Haken in der Wand aufhängte, sich vom Lehrer kurz die gewünschte stehende Stellung erläutern liess, ohne Berührung, und dann für die nächste Stunde ohne die kleinste Veränderung in dieser Position verharrte, war klar, dass sich das Aktzeichnen nur in Nuancen vom Zeichnen in der Skulpturhalle unterscheiden würde. Das Modell hatte einen durchtrainierten Körper ohne ein sichtbares Gramm an Fett, und die Frau war, wie sich zeigen sollte, eine Yogameisterin, was sich nicht in abenteuerlichen Posen äusserte, sondern darin, dass sie auch Stellungen mit verdrehtem Rückgrat lange durchhalten konnte, ohne sie zu verändern. Sie wirkte auf uns junge Männer absolut unerotisch, fast geschlechtslos. Nichts störte das objektivierende Sehen und Umsetzen, um das es der Institution und ihren Lehrmeistern ging. Es gab keine formulierten Qualitätskriterien, man wurde gelenkt durch knappe Bemerkungen. Durch ironische, manchmal direkt abwertende Umschreibungen dessen, was man aufs Papier gebracht hatte. Bestärkt wurde durch Auslassen von Kritik, durch Versammeln der Studenten vor der Staffelei mit einer in den Augen des Lehrers geglückten Arbeit. Hohes Lob äusserte sich dadurch, dass einem ein gelungenes Blatt abgenommen und der Sammlung guter Beispiele einverleibt wurde. Das höchste, wenn es in einem der Gänge des Hauses, hinter Glas im Wechselrahmen, auftreten durfte.

Eine solche Auszeichnung konnte auch zum Bumerang werden. Als ich mich im zweiten Semester Aktzeichnen auf der Suche nach einer eigenen Form und nach persönlichem Ausdruck in meinen Zeichnungen verheddert hatte, meinte Lehrer Maier, das hätte ich auch schon besser gekonnt. Er verschwand kurz im Nebenraum und kam mit einem meiner Blätter aus dem letzten Semester wieder. Da! Ich war niedergeschmettert. Die Studien auf dem Papier waren gut, das musste ich zugeben. Aber sie waren mir fremd, machten mich unsicher, ob ich je wieder so etwa schaffen könnte. Und führten mir deutlich vor Augen, dass ich das nicht, dass ich etwas anderes wollte. Nur, was?

Freitag, 18. September 2020

Jimi

In der Oberstufe kam ein Neuer in die Klasse, ein grosser, phlegmatischer Kerl, sehr freundlich, mit langen, gewellten Haaren und einer grossen, markanten Nase. Er war etwas älter, rauchte Françaises mit Maispapier, und hatte eine enorme Plattensammlung. Bei ihm machte ich Entdeckungen, Hendrix, Cream. Zappa war mir zu schräg, und ich verstand seine Texte nicht, die offensichtlich wichtig waren. Ich durfte sogar Platten ausleihen, ein Privileg, und so konnte ich mich an Sperriges herantasten. An die Falsettstimmen von Jack Bruce und Eric Clapton, die mir zuerst affektiert, weibisch vorkamen. An die Länge der Stücke musste ich mich auch gewöhnen, an die zuweilen chaotischen Improvisationen zwischen den Teilen mit dem eigentlichen musikalischen Thema, dem Song. Bald begann ich selber nach Musik zu suchen, fand Musiker und Stile, die auch den andern neu waren. Otis Redding. Vanilla Fudge, Colosseum. Oder die Savage Rose aus Dänemark. Als mein Bruder in Zürich zu studieren begann, und ich das Zimmer für mich alleine hatte, stellte ich einen kleinen Plattenspieler neben das Bett. Es gibt Stücke, die ich so oft beim Einschlafen gehört habe, dass sie sich mit jedem Ton, jedem Geräusch und jeder Pause in mein Gehirn eingeschrieben haben. Rainy Day von Jimmi Hendrix, zum Beispiel, auf der zweiten Platte des Doppelalbums Electric Ladyland, das erste Stück. Beginnt mit einer winzigen Spielerei seiner Gitarre, die er ein paar Töne von sich geben lässt, wie eine quitschende Türe. Hustet dann zweimal, zieht die Nase hoch. Dann das jazzige Intro des Saxophonisten, für den ich mich nie interessierte. Er hiess Freddy Smith, und war mit seiner Soulband zufällig im gleichen Studio am Aufnehmen wie Hendrix, und man half sich gegenseitig aus. Dann ein einfacher Rhythmus von Schlagzeug und Congas, darüber ein spielerischer Dialog der Hammondorgel mit dem Saxophon, zuletzt mit der Gitarre. Dazu, mal dahinter, mal im Vordergrund, Jimmis Sprechgesang, cool, schwarz.

Hey man, take a look out the window 'n' see what's happenin'
Hey man, it's rainin'
It's rainin' outside man

Sie werfen sich Töne und kurze Tonfolgen zu, hin und her, dann Break. Leichtfüssige Überleitung zum Song, den er in typischer Weise halb spricht, halb singt.

Rainy day, dream away
Ah let the sun take a holiday
Flowers bathe an' ah see the children play
Lay back and groove on a rainy day

Nochmals ein Rhythmuswechsel, dann, wenn ich hier am Einnicken war, werde ich wieder wach. Die Wah-wah-Gitarre ruft. Wioau. WaeWoau. Ghiuhuageddiwua, und noch ein kurzes Solo, nochmals seine Stimme, langsam ausgeblendet. Von Jimmis Texten habe ich fast nichts mitbekommen, Englischunterricht war freiwillig im altsprachigen Gymnasium, und es ging mir vor allem um die Musik. Vielleicht bin ich auch der Düsternis aus dem Weg gegangen, bei den Doors bin ich mir sogar sicher. Mit dem Freund, der so viele Platten besass, hätte ich Erfahrungen mit LSD machen können, wenn ich es gewollt und ihm gesagt hätte. Davor hatte ich aber zu viel Respekt. Und es gab ja solche, die den Rückweg aus ihren Trips nie mehr fanden, einer in meiner Klasse, der sich später aus dem Fenster einer Anstalt geworfen hat. 1970 und 1971 waren traurige Jahre, unsere musikalischen Idole starben wie die Fliegen.

Kurz nachdem ich Jimi für mich entdeckt hatte, das muss im Laufe von 1969 gewesen sein, lieh ich mir Electric Ladyland aus, das Doppelalbum mit dem berüchtigten Cover. Neunzehn nackte Frauen posieren vor einem schwarzen Hintergrund, damit konnte man Reaktionen der Erwachsenen provozieren, und prüfen, wie sie mit der neuen Herausforderung, nicht als verklemmt zu gelten, umgingen. Das Bild war aber auch an sich hochinteressant, es liessen sich Frauenkörper miteinander vergleichen, Hauttypen, Brustformen, Brustwarzen. Schultern und Achseln, denn viele posierten leicht abgedreht. Manche wirken natürlich, ob selbstewusst, neugierig oder scheu, andere scheinen Haltung und Gesichtsausdruck vor dem Spiegel oder vor anderen Fotografen geübt zu haben.

Als ich die ausgeliehene Platte zurückgeben musste, kaufte ich sie mir sofort selber. Im Plattenladen waren die nackten Frauen nach innen gefaltet. Wir waren uns einig, dass dieses Foto das eigentliche Cover sei, also drehte ich die Hülle um. Die Musik war da aber schon viel wichtiger.

Die Frau ganz rechts auf dem Cover von Electric Ladyland, die mir besonders amerikanisch vorkam, hält auf ihrem Schoss ein schwarzweisses Porträt von Hendrix, das der Fotograf David Silverstein 1967 gemacht hat. Im Original zeigt das Bild Jimis ganzen Körper bis zu den Knien, sehr sorgfältig ausgeleuchtet und pastisch fotografiert mit einer Studiokamera, vor einem neutral grauen, nach oben heller werdenden Hintergrund. Er trägt helle Jeans, mit einem geknoteten Schal und einer zusätzlichen Silberkette mit Anhängern als Gürtel. Das geblümte Hemd ist weit geöffnet, so dass man seinen haarlosen, gut trainierten Bauch sieht. Die Brust wird grösstenteils verdeckt durch einen riesenhaften Anhänger und Jimis rechte, beringte Hand, mit der er an der Kette des Schmucks spielt. Die linke Hand, mit der er, wie wir wissen, auf der Gitarre das Plektrum führt, hält er lässig auf die Hüfte gestützt. Sein Kopf ist leicht nach oben gehoben, und unter schweren Lidern schaut er uns herausfordernd an, was ist los? Berühmt, und immer wieder kopiert, wurde eine Fassung des Bildes, die durch Track Records als Poster für Fans verkauft wurde. Dabei hatte man den Kontrast bis zur restlosen Trennung von Schwarz und Weiss gesteigert, was der Popart-Ästhetik von damals entsprach. Die Abstraktion erleichterte es den Fans, Schablonen vom Porträt anzufertigen, so auch mir, der mit Stencil-Posters, verkauft an die Klassenkameraden, eine Zeit lang sein Taschengeld aufbesserte.

Als mich die Nachricht von Jimis Tod erreichte, war das ein harter Schlag, gefolgt von wochenlanger Trauer. Ich hatte mir kurz zuvor das Album Band of Gipsys gekauft, und spielte es die ganze Zeit ab, wenn ich zuhause war. Seine Interaktionen mit dem Publikum während des Livekonzerts, seine rauhe Stimme und die meist beiläufig dahingenuschelten Worte, trösteten ein wenig.

Mittwoch, 9. September 2020

rollende Steine

Ich stelle mir vor, der Klarinettenschüler kommt, gedemütigt, traurig. Dann zornig, den säu-erlichen Mief der Musikschule hinter sich bringend, abschüttelnd die verächtliche Strenge des Bläserlehrers. Das muss alles ein Ende nehmen, alles. Kommt ans Ende der Strasse, die in den ehemaligen Stadtgraben mündet, auch eine Strasse jetzt zwischen hohen Mauern, jäh abfallend zum Barfüsserplatz. Und zwischen dem aufragenden Lohnhofgefängnis und dem efeubewachsenen Kohlenberg hört er auf einmal Trost, ein wummerndes Intro. Was ist es? Bombomm, bababaaa bababaaa, bababa bommbomm. Jumpin' Jack Flash. Es knetet ihn, hebt ihn hoch, leicht wird sein Schritt. Das gibt es ja, die andere Musik, von der die Erwachsenen ihre Finger noch so gerne lassen. Er geht, jetzt ist alles offen, zum Platz und weiter zur Bühne, vor der sich die Menschen zu sammeln beginnen, junge Menschen wie er, und schon tanzend und ihre Köpfe werfend. Dabei ist, was sie hören, eine Kopie, aber das stört sie nicht. Rollende Steine sind rollende Steine, in unserer Stadt. Und er weiss nun, dass er zum letzten Mal in der Musikschule gewesen ist. Wenige Tage später ruft er den Lehrer an und teilt es ihm mit. Die Mutter stellt er vor vollendete Tatsachen, und kommt sich erwachsen vor. Sie nimmt es gelassen.

Die Rolling Stones hätten damals, so sagt man, einen Spalt zwischen die Jugendlichen getrieben, sie gezwungen, sich zu entscheiden zwischen ihrem stampfenden Rock mit den eindeutig zweideutigen Texten, und den schönen, eingängigen Melodien mit den harmlosen, locker psychedelischen Bildern in den Songs der Beatles. Ich war näher bei den Beatles, neue Lieder von ihnen drehten sich mir manchmal wochenlang im Kopf. An die Stones musste ich mich herantasten und gewöhnen. Mick Jaggers nölende Stimme ging mir lange auf die Nerven, und die Musik schien mir zu simpel. Wie für viele meiner gleichaltrigen Kameraden und Freunde spielten die Texte von Popsongs lange keine Rolle. Ich verstand sie nicht spontan, da ich Englisch mehr schlecht als recht im Wahlfach lernte, und weil es mir blöd vorkam, wenn ich für meine Erkundungen im Dschungel von Rock und Pop das Wörterbuch hervorholen musste. Das änderte sich erst, als Songtexte öffentlich thematisiert und kontrovers diskutiert wurden. Je bedenklicher sie von den Erwachsenen beurteilt wurden, desto mehr interessierten wir uns dafür. Wie explizit die Stones waren, lass uns zusammen die Nacht verbringen!, wurde mir ausgerechnet im Religionsunterricht klar, wo uns der Lehrer, ein katholischer Priester, sanft aber unmissverständlich auf die Seite der Beatles schubsen wollte. Zwar merkte man an den Auslassungen in seiner Auswahl, dass auch ihm die dunkleren Seiten der Beatles aufgegangen waren, dass sie nicht so harmlos waren, wie sie manchmal tönten, mit LSD experimentierten, Lucy in the Sky with Diamonds, oder, Fool on the Hill, mit Dropouts sympathisierten.

Es waren solche Reaktionen der Erwachsenen, die mir die Rolling Stones näher brachten, und auch die Erfahrung, dass sich zu ihren Stücken besser und wilder tanzen liess. Die Fans der Rollenden Steine erschienen mir nun ungebundener, frecher und, das war das Wichtigste, erfahrener. Down Home Girl wurde zum Soundtrack einer meiner ersten Liebesgeschichten. Dass in dem Song ein Mädchen besungen wird, als Landei mit drastischen Merkmalen, wusste ich damals nicht, da ich mir auch hier nicht die Mühe machte, zu verstehen.

Mir fiel auch nie eine Parallele auf zwischen dem Namen der Band und meiner Leidenschaft als Jugendlicher, reale Steine ins Rollen zu bringen. Begonnen hatte dies nicht einmal mit Steinen, sondern, zusammen mit meinem Cousion A, mit Autoreifen. In ihrer Garage lag immer mindestens ein Satz Reifen herum. Diejenigen mit weissen Seiten durften wir nicht anrühren, aber wir fanden noch genug schwarze, um damit eine Barrikade auf dem Rütiring zu errichten, uns zu verstecken und aus der Deckung zu beobachten, wie die Autofahrer darauf reagierten. Es gab solche, die verunsichert im Auto warteten, ob sich der Spuk von selbst auflöse, schliesslich umständlich kehrten und einen anderen Weg suchten. Wir lachten uns tot. Als dieses Spiel langweilig wurde, begannen wir einander die Reifen hin und her zuzurollen. Durch Zufall entdeckten wir, dass ein paar Liter Wasser, eingefüllt in die Rundung des Kännels, den Rollbewegungen eine grössere Stabilität verliehen. Wir überprüften das auf einem kleinen, geteerten Pfad, der vom Rütiring zur Wackernagelstrasse hinunter führte. Schon auf dem ersten, nur leicht geneigten Stück entwickelte der Pneu eine eindrückliche Geschwindigkeit, und derjenige von uns, der etwas weiter unten stand und die Aufgabe hatte, das Ding zu stoppen, wurde von der Wucht einfach umgerissen. Es erschien uns natürlich, dass man dem Reifen einmal seinen freien Lauf lassen sollte, irgendwo würde er schon zum Stehen kommen. Wir rollten ihn ein weiteres Mal hoch und liessen ihn fahren, voller Spannung und Vorfreude darauf, was passieren würde. Da wir ihn im Übereifer nicht genau ausgerichtet hatten, streifte er schon nach kurzer Fahrt die Buchenhecke auf der einen Seite des Wegleins. Zu unserer Verblüffung, wir rannte dem Reifen hinterher, leiteten ihn die Zweige und die Trägheit des Wassers in seinem Bauch zurück auf die gerade Bahn. Schon sehr schnell geworden, fuhr er nun in eine quer stehende Hecke, die den ab da in Serpentinen weiterführenden Pfad begrenzte. Unbewusst und unabgesprochen hatte wir beide damit gerechnet, dass die Abfahrt hier enden würde. Der Pneu hatte aber so viel Schwung, dass er einige Meter hoch in die Luft katapultiert wurde, zehn Meter hoch!, meinten wir hinterher, und im Steilhang jenseits der Hecke seine Hatz fortsetzte. Unter den Geländern des Wegleins flutschte er mit atemberaubendem Tempo hindurch, nahm die direkteste Abkürzung in der Falllinie und liess sich durch kleinere Hindernisse nicht mehr ins Taumeln bringen. Schwer atmend schauten wir vom Hang aus zu, wie er die kleine Aussichtsterrasse über dem Pissoir an der Wackernagelstrasse in einem Sekundenbruchteil überquerte, dann vom Abschlussmäuerchen wiederum hoch in den Himmel geschleudert wurde, schliesslich unseren Blicken entschwand. Einen Moment lang blieben wir hocken, dann dämmerte uns, dass der Reifen jetzt auf der Autostrasse, was, wie? Also rasten wir los. Auf der letzten Treppe nahmen wir zwei drei Stufen aufs Mal, standen schliesslich auf dem Trottoir, da sahen wir ihn wieder. Er torkelte, viel weiter unten, ganz langsam schräg über die Strasse, blieb schliesslich am Randstein stehen, und kippte müde auf die Seite. Wir lachten so, dass wir uns auf den Boden setzen mussten. Es war wie im Film gewesen. Aber wir waren auch erleichtert, dass nichts Schlimmes passiert war.

Steine liessen wir einmal rollen auf einem Zweitägigen, den wir in der Sechsten des Gymnasiums ins Gotthardgebiet unternahmen. Das Wetter war kühl und neblig, die Landschaft eine einzige riesige, graue Geröllhalde. Der Weg zur Hütte, in der wir übernachten wollten, führte entlang dem Hang eines endlos ansteigenden, nicht sehr breiten, ehemaligen Gletschertals. Es gab nur diesen einen Weg, und wir waren die einzigen Menschen, die einzigen Lebenwesen, weit und breit. Ab und zu löste einer von uns einen Stein, der sich darauf klackernd in Bewegung setzte, bald zu hüpfen und, sich wild drehend, zu springen anfing. Anfänglich gab es Warnrufe und Ermahnungen vom Lehrer, wenn solches geschah. Bald aber merkten alle, dass die Steine für niemanden eine Gefahr darstellten, da wir ihren Weg in voller Länge überschauen konnten, und das Tal völlig leer und unbewohnt war. So begannen einige von uns, Steine gezielt in Bewegung zu versetzen, wobei es bald zu einem Wettstreit kam, wer den grössten Brocken aus dem Hang lösen und auf den Weg schicken könne. Der Lehrer liess uns nach anfänglichen Bedenken gewähren, vielleicht weil er hoffte, dass wir, wegen der zusätzlichen körperlichen Anstrengung, in der kommenden Nacht im Massenlager früher Ruhe geben würden.

Bei der Hütte angelangt, waren wir zwar schon müde, hielten aber noch immer Ausschau nach möglichen Kandidaten für unsere Experimente mit Masse und schiefer Ebene. Weil auch unsere Herberge über einer übersichtlichen Senke stand, wollten wir vor dem Nachtessen einen letzten grossen Felsbrocken hinunter donnern lassen. Das ging beinahe schief, weil einer von uns dreien oder vieren, die sich an dem riesigen Stein abmühten, ein netter Junge, der erst vor Kurzem in die Klasse gekommen war, fast mit in die Tiefe gesaust wäre, als sich der Stein plötzlich aus dem sandigen Untergrund löste. Ich meine, dass ich ihn gerade noch am Kragen packen konnte und ihn so vor dem Absturz bewahrt habe. Vielleicht war es aber auch umgekehrt. Da nichts Böses passiert war, konnte man es sich leisten, die genauen Umstände zu vergessen.

Freitag, 4. September 2020

Zeug_1


Wie alle Kinder haben mich Dinge angezogen, deren ausgefeilte Form auf eine bestimmte, mir jedoch noch verschlossene Verwendung hindeutete. Wenn sie dazu bewegliche Teile aufwiesen, oder wenn sich mit ihnen Spuren erzeugen liessen, machte sie das für mein erkundendes Spielen umso interessanter. Leider waren diese Dinge, die von den Erwachsenen Werkzeuge oder gar Instrumente genannt wurden, meist für Kinder verboten, und sie waren mir rasch aus der Hand genommen, worauf ein längerer Vortrag über die Bezeichnung, den eigentlichen Verwendungszweck, die Gefahren sowie die zukünftigen Regeln des Gebrauchs, oder halt nur des Betrachtens meinerseits, erfolgte.

Im Einflussbereich meiner Mutter gab es zum Beispiel zwei Instrumente, die ähnlich geformt, aber aus unterschiedlichen Materialien gefertigt waren. Es handelte sich um Rädchen, die mittels einer kurzen Achse drehbar an einem Griff befestigt waren. Das eine war aus Holz, roch ganz leise ranzig, und befand sich in einer Schublade der Küche. Beim andern, das sich im Umfeld der Nähsachen befand, waren Rädchen, die Achse und Lagerung aus einem schwarzen Metall, befestigt in einem glänzenden, wohlgeformten kurzen Griff aus Holz. Während das Rad aus Holz einen Zickzack-Rand aufwies, hatte das metallene aggressive Spitzen, die beim Abrollen auf einer Fläche eine gepunktete Spur hinterliessen. Dieses Experiment war nun aber genau so eines, das mir strengstens verboten wurde, vor allem auf der Tischfläche. Nun schau doch mal, was du angerichtet hast, da sind Löcher, im Esstisch! Später, als der Ärger der Mutter etwas verflogen war, wurde mir erklärt und gezeigt, wie man, nie ohne Unterlage!, mit dem Rädchen Schnittmuster auf andere Papiere oder auf den Stoff übertragen konnte, im ersten Fall als Linien aus feinen Löchern, im zweiten als weisse Punkte, deren Farbe von einem beschichteten Kopierpapier stammten. Mit dem hölzernen Rädchen in der Küche liess sich Teig so zerschneiden, dass er danach einen gezackten Rand aufwies. Da meine Mutter gut und gerne kochte, machte sie manchmal sogar Ravioli selber. Dabei kam das Rädchen zum Einsatz, und ich durfte helfen.

Die Schubladenmöbel unter der Werkfläche, die sich über die ganze Breite des Esszimmers erstreckte, waren wunderbar gefüllt mit Werkzeug, aber für uns Kinder absolut tabu. Natürlich habe ich die Schubladen trotzdem immer wieder herausgezogen, vor allem die kleinen, um zu schauen, die zum Teil winzigen Zangen zu bewundern, oder die metallenen Stäbchen, deren polierten Enden Sternchen und Blümchen aufwiesen. Punzen hiessen die, und mein Vater konnte mit einem einzigen satten Schlag seines Hämmerchens die Verzierungen ins Blech übertragen. Er legte Wert darauf, dass wir die richtigen Bezeichnungen der Werkzeuge lernten, bei den Zangen zum Beispiel Rundzangen von Flachzangen oder Halbrundzangen unterscheiden konnten. Das Beisszangen auch Vor- oder Vornschneider genannt wurden, und dass es daneben Seitenschneider gab. Viele der kleinen Zangen hatten polierte Backen, was sehr wichtig war, damit das bearbeitete Metall keine unnötigen Prägespuren erhielt. Darum merkte mein Vater später, als wir selber bastelten und werkten, und dabei manchmal das Verbot missachteten, seine feinen Werkzeuge zu benützen, immer sofort an den Spuren unseren Murks damit. Dann konnte er richtig wild werden, und schimpfte wie sonst kaum je. Am schlimmsten traf es ihn, wenn er eines seiner geliebten Zänglein verrostet im Garten fand. Mit Metall konnte mein Vater sehr gut umgehen, vor allem im Formen von Blech durch Ziselieren und Treiben war er ein Virtuose. Ich weiss nicht mehr, ob bei ihm, meiner Mutter oder bei einer Kollegin in der Schule der Wunsch entstand, Stoff in der Batiktechnik zu bemalen. Jedenfalls suchte mein Vater im Geschäft für Kunstbedarf, beim Rebetez in der Bäumleingasse, nach den kleinen Dingern, mit denen man das Wachs auf den Stoff aufbringen kann. Batikkännchen heissen sie, etwas prosaisch, auf Deutsch. Bei Rebetez hatte sie welche direkt aus Japan, mit dem geheimnisvollen Namen Tjanting. Sie waren allerdings sehr teuer, und dabei noch handwerklich schlecht gemacht. Mein Vater kaufte widerwillig zwei davon, machte aber aus seinem Urteil keinen Hehl und sagte zum Verkäufer, nicht ganz ernst, er könne die besser und billiger machen. Daraus wurde ein Auftrag, und über die folgenden Jahre produzierte er für den Laden immer wieder zwischendurch eine kleine Serie Tjanting aus Kupfer, für die er die Hälfte des Verkaufspreises erhielt.

In Beijing kaufte ich einmal zwei winzige Hobel, der kleinere ist nur gerade sechs Zentimeter lang. Ich hatte damals keine Ahnung, wofür die gebraucht werden. Erst jetzt, Jahrzehnte später, leisten sie mir gute Dienste beim Zurichten von Bambusstäben, die ich für meine Drachen brauche. Ich verwende sie auf Stoss, obwohl ich weiss, dass Asiaten praktisch immer ziehend hobeln. Ich habe es versucht, aber ich müsste es neu lernen.

In der Kunstgewerbeschule hatten wir anfangs der 1970er-Jahre Unterricht in Holzbearbeitung bei einem Schreiner. Bei der ersten Arbeit, die ich dort als Aufgabe erhielt, konnte ich zwar selber bestimmen, was ich machen wollte, durfte dazu aber keine Maschine benützen. Ich entwarf eine würfelförmige Kiste mit Deckel, die als Hocker dienen sollte, und in deren Innerem sich Vynil-Schallplatten verstauen liessen. Im Laufe der Fertigung lernte ich Werkzeuge und deren Gebrauch kennen, die für mich neu waren, vor allem Hobel. Die Rauhbank, einen besonders langen Hobel, verwendete ich, um die Stirnseiten der Bretter zu richten. Dazu wurde er auf der Seite liegend gestossen, und das Werkstück musste gegen einen Hartholzklotz gedrückt werden, damit das Ende der Kante nicht ausbrach. Später habe ich mit Nut- und Grundhobel die Schlitze, oder eben Nuten, in zwei der Bretter angebracht, für die Eckverbindungen. Ich liebte diese Werkzeuge, auch wenn sowohl ihre Einstellung als auch Handhabung Zeit und Übung erforderten. Ich habe sie mir später selber angeschafft, auch den Falzhobel, und mit dem ganzen Set war es mir möglich, ein kleines Kellerfenster zu ersetzen, ganz von Hand und mit allen erforderlichen Profilen. Den damit verbundenen Stolz, eine ganz spezielle Art von gutem Gefühl, das einen ergreift, wenn man handwerklich etwas hinbekommen hat, lernte ich früh kennen, und noch immer zieht es mich dorthin.

Freitag, 21. August 2020

magische Dinge_2


Ich würde mich nicht als Schuhfetischisten bezeichnen, aber Schuhe waren und sind für mich immer etwas Spezielles. Ich habe an anderer Stelle von den Lackschühchen geschrieben, die mein Bruder und ich als kleine Knirpse für die Hochzeit einer Tante tragen durften. Obwohl mir die Füsse darin nach kurzer Zeit weh taten, musste ich doch immer nach unten schauen und die Glanzlichter auf den Kappen bewundern. Ähnlich erging es mir mit den poppigen Schuhen, die ich mir 1968 in London kaufen durfte, in dem Sommer, als Yellow Submarine Premiere hatte.

Sportschuhe waren nochmal etwas anderes für mich. Im unteren Gymnasium war wieder, wie in der Primarschule schon, Fussball ungeheuer wichtig für einige der tonangebenden Klassenkameraden. Die hatten Fussballschuhe mit Stollen, und waren für mich, der wie die meisten, die mit dem Ball nicht viel anfangen konnten, in der Verteidigung eingesetzt wurde, meist schon nach ein paar Schritten und Haken auf und davon. Ich rutschte mit meinen Hallenturnschuhen oft aus und manchmal haute es mich auch ohne Berührung des Balls oder Gegners auf den Rasen. Trotzdem schoss ich einmal in einem Match gegen eine Parallelklasse ein entscheidendes Tor. Eigentlich wollte ich einfach den taktischen Vorgaben meiner Chefs folgen und den Ball nach vorne hauen, wenn du ihn hast, einfach weg, weg, weg! Diesmal schien mein Kick mit der Fussspitze, etwas anderes konnte ich noch nicht, dem Ball Zauberkräfte zu verleihen. Niemand vermochte ihn mehr von seiner Bahn in Richtung Tor abzubringen, er schlitterte zwischen Beinen durch und an den geschicktesten Technikern vorbei, bis ihm schliesslich sogar der gegnerische Goalie mit einer unfreiwilligen Pirouette Platz machte. Dieses Tor liess mich dazugehören, ich wurde auf einmal in den Überlegungen zu Mannschaftsaufstellung in Betracht gezogen und auf verschiedenen Positionen auf die Probe gestellt. Mit dem wachsenden Selbstvertrauen kam auch die Übung, mit weiteren sportlichen Betätigungen die Kraft dazu, sodass ich bald mit dem rechten und dem linken Fuss hohe Flankenbälle schlagen konnte. Das war wichtig, denn damit half ich den Stars, sich in Szene zu setzen mit Kopfbällen und Direktabnahmen, auch wenn es meistens bei Versuchen blieb. Der Dank für eine schöne Flanke bekam ich sogar eher und herzlicher, wenn der Stürmer scheiterte. In dieser Zeit kaufte ich mir zum ersten und einzigen Mal Fussballschuhe. Zwar durfte man diese längst nicht immer anziehen in den Matches, die wir im Sportunterricht oder in der Freizeit spielten, denn wir wurden älter und damit kräftiger und schwerer. Die Mehrheit spielte noch immer mit normalen Turnschuhen, und praktisch niemand hatte Schienbeinschoner, so dass die wenigen Stollenschuhe gefürchtet waren und manchmal eben aus Gründen der Fairness ausgeschlossen wurden. Aber wenn ich sie trug, genoss ich die direkte Verbindung zum Boden, die Möglichkeit, sehr schnell durchzustarten und enge Kurven und Zickzacklinien laufen zu können. Es waren meine Schuhe, die ich mir gekauft hatte, und auch sorgfältig putzte und pflegte. Und sie waren das eindeutige Zeichen dafür, dass ich nun auch in diesem Teil des Sports zu den anderen dazu gehörte. Auch die Hallenschuhe kaufte ich mir nun selber, das Modell Rom von Addidas, weil ich begann, Volleyball zu spielen, und dieser Schuh dabei besonders populär war. Oder das Modell Gazelle, das aus rot gefärbtem Wildleder gemacht war, und ziemlich ausblutete, wenn es feucht wurde. Als es in meiner Umgebung hiess, die Schuhe von Künzli gäben einen besseren Halt, kaufte ich mir ein solches Paar. Und als ich sie zum ersten Mal im Sportunterricht trug, erzielte ich damit ebenfalls ein legendäres Tor in einem Fussballspiel. Ich zog auf der linken Seite nach vorn, konnte einen Gegenspieler umspielen und setzte dann zu einer hohen Flanke auf einen Mitspieler an, der in der Mitte den Arm hob. Das Bild habe ich noch immer vor Augen, der Ball stieg und stieg, ich dachte schon, ich hätte es vermasselt, da begann er sich zu senken, hatte aber von meinem Vorwärtsstürmen noch so viel Fahrt in die Tiefe, dass er in der entfernten oberen Torecke landete. Ein Meisterschuss, mit dem neuen Schuh. Das sollte aber eine Flanke sein und keine Torschuss, oder?, fragte der Klassenkamerad, der in der Mitte vergebens gerannt war. Ich zuckte mit den Schultern.

Beim Rudern ist die Geschichte mit den Schuhen eine eigene und eigentümliche Sache. Bis heute, wo man in manchen Klubs damit begonnen hat, die Boote mit Klicksystemen auszustatten, so dass jeder Ruderer seine persönlichen Schuhe im Boot befestigen kann, waren sie in den Ruderbooten fest verschraubt. Man war daran gewöhnt, und die meisten sind es noch immer, dass man in Schuhe schlüpft, in denen immer wieder andere Füsse stecken, Hygiene hin oder her. In meiner ersten Saison als Junior hatte unser Boot noch gar keine eigentlichen Schuhe auf den Stemmbrettern, sondern lediglich grobe, schnürbare Lederlaschen für den Vorderfuss, sowie zwei halbrunde Schalen aus Aluminium für die Fersen, die sich, wenn man sich auf der Rollschiene ganz nach vorne bewegte, bei jedem Schlag heraushoben und beim Durchdrücken der Beine wieder hineinsenkten. Man musste dicke Socken tragen beim Rudern, und deren Fersenteile wurden immer schwarz, und bald löcherig, weil das Aluminium Risse bekam, welche die Socke durchscheuerten. Für den Weg zum Bootssteg und wieder zurück waren in unserem Club damals Holzschuhe Mode, entweder die leichten, niederländischen, die ganz aus Lindenholz gefräst waren, oder dann die Schweizer Holzböden, mit Lederriemen. Irgendwann setzte sich aber die Einsicht durch, dass diese Holzdinger gefährlich waren für Ruderer und Boote, weil damit eine ganze Mannschaft ins Rutschen geraten konnte beim Tragen des Bootes auf den nassen Stegen. Nach der zweiten, erfolgreichen Saison als Junioren bekamen wir ein neues Boot, das nur wir benützen durften. Es war ein Vierer mit Steuermann, ein ziemlich schweres Gerät, was uns aber damals nicht störte. Es war mit dem neuen Schuhsystem ausgerüstet, das sich mit nur wenigen Anpassungen bis heute bewährt hat. Zuerst wurden einfach umgebaute Sprintschuhe verwendet, die an den Fussballen auf den Stemmbrettern festgeschraubt waren und die Abrollbewegung des Fusses erlaubten. Man schnürte die Schuhe mit Bändeln zu, und es gab noch keine Leinen, welche den Schuh bei einem erzwungenen Ausstieg, bei einer Kenterung, so niedergehalten hätten, dass das Herausschlüpfen einfach möglich gewesen wäre. Heute ist dieser Mangel aus Sicherheitsgründen behoben worden, alle Schuhe sind speziell für den Rudersport gemacht, sie haben Klettverschlüsse, die miteinander verbunden sind und sich mit einem Handgriff lösen lassen. Die vorschriftsmässige Ausstattung damit sowie mit den Leinen, welch die Schuhfersen im Notfall niederhalten, wird bei jedem Boot und vor jedem einzelnen Rennen von den Organisatoren überprüft.

Heute kommen die Ruderer mit Joggingschuhen oder Badelatschen auf den Bootssteg. Bei Regatten sind die Stege übersäht mit einem Gewühl aus Schuhen, Latschen, Trinkflaschen und Rudern, und es ist nicht einfach, seine Schuhe wieder zu finden. Da man meistens auch noch an einem anderen Steg landen muss als an dem, von dem man losfuhr, ist es besonders schwierig und man ist froh, wenn man Helfer hat, welche die Schuhe gleich einsammeln und zum Landesteg bringen. Und wenn man seine Schuhe irgendwie markiert hat. Ich habe auf meine die chinesischen Zeichen für Yeye aufgesprayt, Grossvater. Daran erkenne ich sie von Weitem.

Sonntag, 2. August 2020

Am Beschde, Si schmeissets weg!


Wir sagen manchmal, halb im Scherz, wir könnten nie umziehen, weil wir so viele Dinge in unserem Haus haben. Lange schon wollten wir wieder einmal mit einer ausgesuchten Ladung auf den Flohmarkt gehen, um die Entsorgung auf dem Werkhof bei den Sachen zu vermeiden, die wir dafür zu schade finden. Und das sind einige. Zum Beispiel ein letztes, halbrundes Eichenfenster unseres Hauses, das wir vor vierzig Jahren mühsam abgelaugt und geölt hatten, und bei dem mein Vater die Gläser herausgenommen und frisch verkittet hatte. Irgendwann wurden uns die Umstände mit dem Putzen der kleinteiligen Fenster, mit dem Ein- und Aushängen der Vorfenster zu viel. Auch war die Isolation gegenüber Temperaturen und Lärm von aussen schwach, so dass wir im ganzen Haus moderne Fenster mit doppelter Verglasung einbauen liessen. Die alten eichenen, fein profilierten Stücke nach ihrem Ausbau in eine Mulde zu werfen, kam für uns nicht infrage, und wir waren sehr froh, als sich ein Spezialist für historisches Baumaterial dafür interessierte und auch gleich alles mitnahm. Bis auf dieses eine Fenster, das wir aus Sentimentalität behielten, ohne einen Verwendungszweck dafür bereit zu haben. So stand es lange im Keller herum, musste immer wieder seinen Standort wechseln, und wurde schliesslich bei einer Entsorgungsfuhr mitgenommen. Es kehrte aber vom Werkhof wieder nach Hause zurück, weil der zuständige Mitarbeiter dort sich weigerte, das Fenster wegzuwerfen. Wir sollten es verkaufen oder verschenken, dafür gebe es genügend Interessenten. Nun, da wir lange genug gezögert und gewartet haben, kommt der Flohmarkt zu uns, als Quartiersveranstaltung, zu der alle, die möchten, ihren Vorgarten zum Verkaufsstand machen können. Wir werden das Fenster anbieten, natürlich für einen symbolischen Preis, denn wir möchten es ja loswerden ohne schlechtes Gewissen.

Nun ist der ganze Keller verstellt mit Schachteln, in denen wir die Objekte für den Markt vorbereiten. Kinderspielsachen zum Beispiel. Gerade bei denen fällt die Entscheidung, behalten oder wegschmeissen, besonders schwer, da wir ja Enkel haben. Aber von gewissen Spielsachen gibt es mehr als genug, oder sie wurden von den Buben mit Desinteresse behandelt, weshalb nun die Aussortierung nicht schwer fällt. Wie verfahren mit den von meinem Vater geschnitzten Holztieren? Er war so produktiv, dass er uns unzählige hinterliess, mit durchaus schwankender handwerklicher und gestalterischer Qualität. Ich habe mir solche Urteile schon lange erlaubt, da ich ab und zu Tiere reparieren musste, wenn deren Beine, Hörner, Ohren oder Rüssel beim Spiel der Kinder abbrachen. Manchmal war eine Reparatur zu aufwändig, weil mein Vater die Richtung der Holzmaserung missachtet hatte, oder weil es von der gleichen Tierart viel schönere Exemplare gab. In den Schachteln im Keller warten nun deshalb nicht die besten Werke meines Vaters auf einen Käufer. Oder sollen wir sie gleich verschenken, wenn sich jemand dafür interessiert? Soll man, darf man das an einem Flohmarkt, oder untergräbt man durch Gratisangebote den Sinn der Sache? Und was ist ein angemessener Preis für Dinge, die jemand in stunden- oder gar tagelanger Handarbeit geschaffen hat? Das Kinderbettchen aus Kirschenholz zum Beispiel, das nun zwei Generationen gedient hat, unseren Söhnen und allen drei Enkelkindern? Für uns besteht seine Patina aus Schichten von Erinnerungen, und ich denke nicht daran, die Pfosten und Docken abzuschleifen und neu zu ölen vor dem Verkauf. Aber gruselt es einer möglichen Interessentin vor den Spuren des Gebrauchs? Oder besuchen Menschen mit derartigen Empfindlichkeiten schon gar keinen Flohmarkt? Wir haben das Bettchen fotografiert und dann auseinandergenommen, so dass es leicht transportiert werden kann. Auf einem Handzettel wird es mit den Fotos und wenig Text vorgestellt. Lässt es sich von jedem beliebigen Käufer so leicht wieder zusammensetzen wie ein Möbel von Ikea? Oder ist das schon zu schwer? Wir werden sehen. Dass ich das Holz für das Bettchen damals gekauft und mit dem Bau begonnen hatte, als wir nach einer Fast-Fehlgeburt des ersten Kindes eine gewisse Sicherheit und Zuversicht verspürten, werde ich niemandem erzählen, der das Bettchen haben möchte. Es war ein magisches Objekt damals, aber nur für uns.

Ich hatte in einem früheren Text über die Unsicherheit beim Erinnern geschrieben, über die verstörende Wirkung eines grundsätzlichen Einwandes anderer, wenn man nach ihrer Meinung die Dinge verdreht und verschiebt. Ich hatte dabei eine Auseinandersetzung mit meiner Frau im Sinn, die mir im Detail erst hinterher wieder klarer ins Bewusstsein trat. Es ging um einen Witz, von dem ich behauptete, er sei von RW erzählt worden, einem lieben Nachbarn unseres Elternhauses. Physikprofessor aus dem Badischen mit wunderbar trockenem Humor. Da der Witz von einem badischen Handwerker handelt, und weil er in seiner Qualität gut zu ihm passte, war ich ganz sicher, dass er ihn erzählt hatte, ja, ich meinte, seine Stimme und seinen Dialekt zu hören, wenn der Alte in der kleinen Geschichte sprach. Meine Frau aber entgegnete, es sei Herbster gewesen, der die Anekdote erzählt habe. Der war selber ein Handwerker, nämlich Giesser aus Stetten bei Lörrach, der nach seiner Pensionierung in derselben Freizeiteinrichtung mithalf, in der auch meine Frau eine Zeit lang Goldschmiedekurse gab. Als ich vor kurzem die Frau des inzwischen verstorbenen Nachbars traf, erschien es mir plötzlich klar, weshalb ich ihn als Urheber des Witzes in meine Erinnerung eingebaut hatte. Er fand ihn damals unglaublich lustig, es schüttelte ihn vor Lachen und er wiederholte die drei Stufen sowie den Schluss der Geschichte immer wieder. Hier ist sie also.

Eine Frau im Badischen findet beim Aufräumen im Keller eine alte, kupferne Bettflasche. Da sie vor dem Einschlafen oft kalte Füsse hat, möchte sie die Flasche, die sie im Übrigen schöner findet als die modernen Gummidinger, wieder aktivieren. Grosse Enttäuschung, als sie sie zum ersten Mal mit Wasser füllt. Die Flasche leckt an mehreren Stellen aus den verzinnten Nähten. Sie bringt sie zu einem alten Handwerker, einem Schlosser oder Schmied, von dem sie meint, dass er sich mit Metallsachen auskennt. Er begutachtet die Flasche von allen Seiten, stellt sie vor sich auf die Werkbank, kratzt sich am Kopf, zündet die Pfeife an, nimmt das Ding wieder in die Hand. Sagt endlich etwas. Me könnts löte. Dann wieder lange nichts, wiegt den Kopf hin und her, dreht das Kupfergefäss in alle Richtungen. Dann das erste Urteil. Aber des hält net. Erneut langes Abwägen, hin und her. Dann, mit Betonung. Me könnts HART löte. Nach einer längeren Pause dann, aber des hält au net! Schliesslich, wir kennen ihn nun, nach wiederum langer Betrachtung und stummem Zwiegespräch mit sich selber. Me könnts SCHWEISSE. Nach einer kurzen Pause das Fazit. Aber denn ischs he (hin)! Am Beschte, Si schmeissets weg!

Freitag, 17. Juli 2020

zum Beispiel ein Tisch

Dinge, auch unscheinbare, können einen um Generationen überleben. Es gibt in unserem Atelierhaushalt einen kleinen Tisch aus Kirschholz, den wir beim Kauf des Hauses als eines von ganz wenigen Dingen übernommen und behalten haben. Es könnte sein, dass das kleine Möbelstück noch aus der Zeit des Architekten stammt, der das Haus für sich und seine Familie 1907 gebaut hat. Auf einer Fotografie aus der Zeit nach der Fertigstellung sitzen Gottfried Gfeller und seine Frau Marie, geborene Steinmann, mit ihren beiden Kindern Erika und Arnold auf dem Kiesplatz seitlich neben dem Haus, dort, wo wir achtzig Jahre später eine Terrasse mit einem Wintergarten ans Haus anbauen liessen. Der Architekt trägt einen karierten Anzug mit Gilet und gut sichtbarer, silberner Uhrenkette. Über dem gestärkten Hemdkragen ein etwas spöttisch zum Fotografen blickender Charakterkopf, mit Bürstenschnitt und quer gezwirbeltem Schnurrbart. Seine Frau, in einem schweren, schwarzen Rock, darüber eine reich bestickte, weisse Bluse mit Stehkrägchen, die Haare kunstvoll frisiert und hochgesteckt, blättert in einem Buch, das auf einem kleinen Beistelltischchen liegt. Davor die beiden Kinder, auch sie sonntäglich gekleidet mit weissen Spitzenkragen. Arnold, der später Architekt wird wie sein Vater, scheint sich über ein Bild im Buch zu amüsieren, das seine Schwester auf ihrem Schoss hält. Die kleine Erika schaut herausfordernd in die Kamera. Die Eltern sitzen auf zwei gleichen Stühlen, die sie aus dem Haus nach draussen geholt haben, Möbelstücke aus Kirschholz, mit Rattangeflecht auf Sitzfläche und in der Rücklehne, die oben durch eine quer liegende, gedrechselte Docke abgeschlossen wird. Wir benützen sie heute als Kleiderstühle.

Das Tischchen aus Kirschholz, von dem anfangs die Rede war, ist auf dem Bild nicht zu sehen. Ich sah es zum ersten Mal als Kind, und zwar in der Mansarde des Hauses, das dann nicht mehr der Familie Gfeller gehörte, sondern einer Frau D, die darin als Witwe wohnte, zusammen mit ihrem jüngsten, geistig behinderten Sohn. Frau D war die Grossmutter eines meiner Spielkameraden, dem jüngsten Kind der Familie H, mit der meine Eltern auf eine etwas komplizierte Weise befreundet waren. Ich wurde einmal mitgenommen ins Haus der Grossmutter, und wir durften auf dem Estrich spielen, der sich, aufregend und etwas gruselig dunkel, um die Mansarde zog wie der Gang einer Geisterbahn. In einer Pause unseres Spiels führte mich mein Kamerad zu Werni. Dieser sass im schwachen Schein einer Lampe an einem kleinen Tisch und arbeitete an seinen Musikkatalogen. Aus den Broschüren eines Musikhauses schrieb er Titel um Titel akkurat ab in ein Heft, in Grossbuchstaben, auf jeder Zeile in einer anderen Farbe, und er zeigte uns sein Werk mit würdevollem Stolz. Dass diese Tätigkeit als bizarr angesehen wurde, merkte ich erst am Verhalten und an den Äusserungen der Familienmitglieder, die sich, zwar nicht lieblos, aber doch recht ungeniert, über ihren Webstübeler lustig machten.

Ich mochte Werni, vor allem, nachdem ich ihn einmal im Winter beim Schlitteln auf dem Hang unter der Wackernagelstrasse angetroffen und mit ihm einen sehr vergnügten Nachmittag verbracht hatte. Werni legte sich bäuchlings auf seinen Davoserschlitten und fädelte die Unterschenkel in die Kufen meines Schlittens ein, den er dann, oft wild schleudernd, hinterherzog. Bob nannten wir solche Verbände, die manchmal auch auf drei oder vier Schlitten verlängert wurden. Dann hat es das auf dem letzten sitzende Kind aber meist abgeworfen, und die verbindenden Beine des Zugs bekamen blaue Flecken und Verstauchungen ab. Werni war da vorsichtig. Bei ihm durfte sich immer nur ein Schlitten anhängen. Weil viele Kinder mit ihm fahren wollten, musste man warten, bis man an der Reihe war. Mich liess er an diesem Nachmittag aber unvermittelt auf seinem Rücken mitfahren. Ich spürte zwischen meinen Beinen, wie er mit seinem breiten, mir unendlich stark vorkommenden Rücken steuerte, und sah ein Stück seines geröteten Nackens zwischen dem gestrickten Mützenrand und dem schwarzen Kragen der Windjacke. Die Mütze rutschte ihm während der Fahrt immer über die Augen, was für ihn eine Gelegenheit zu ausgiebigem, lustvollem Fluchen war. Im Ziel sagten wir lachend zu ihm, aber, aber, Werni, red doch nicht so unanständig, worauf er alle schlimmen Wörter der Abfahrt nochmals sorgfältig wiederholte, dazu grinsend von einem Ohr zum andern.

Später, als ich in der Stadt zur Schule ging, begegnete ich Werni nach zwölf im Zweiertram. In der warmen Jahreszeit blieben die Schiebetüren der alten Tramwagen geöffnet, und es wurde eine Querstange zwischen die Türpfosten eingehängt. Der Platz an diesen Stangen war begehrt, für Werni musste aber immer einer frei bleiben, denn dort, halb im Freien hängend, mit wehenden Haaren und tränenden Augen über die Wettsteinbrücke segelnd, war er Tramführer, Billetteur, Kontrolleur und deren aller Chef gleichzeitig. Sein so sichtbares Glück wurde ihm nie streitig gemacht, auch von den gröbsten Rabauken nicht.

Wernis Tischchen aus Kirschenholz ist nun ein Werktisch, an dem ich handwerkliche Arbeiten für meine Kunstprojekte ausführe. Es steht immer noch, oder wieder, auf demselben Estrich, in deren Mansarde Werni seine farbigen Listen malte. Die mit Schilfmatten armierten Gipswände der Mansarde haben wir bei einer unserer Renvationsrunden herausgerissen und aus dem Estrich einen einzigen, grossen Raum gemacht. Dass wir einmal in dem Haus wohnen, es sogar besitzen würden, hätte ich mir damals, als ich vor Wernis Tischchen stand und seine farbige Schönschrift bewunderete, nie träumen lassen. Aber anfangs der Achtzigerjahre suchten wir ein Haus, weil die Situation in der Kleinbasler Wohnung für eine junge Familie ungünstig wurde und meine Frau nach dem frühen Tod ihrer Eltern etwas geerbt hatte. Die ehemalige Freundschaft meines Vaters zur Familie H wurde nun plötzlich zu einem schicksalshaften Vorteil, weil er in einer zufälligen Begegnung mit Frau H erfuhr, dass diese ihr Elternhaus in Riehen verkaufen wollte. Sie berichtete über die unterschiedlichen Ansichten bezüglich des Verkaufs zwischen ihren Geschwistern, und als mein Vater ihr dann von unserer Suche nach einem Haus erzählte, versprach sie, sich für uns, für eine junge Familie, einzusetzen. Was sie dann auch mit Erfolg tat, so dass wir 1980 in den Besitz des Gfellerhauses kamen, mit Werni-Tischchen.

In meiner letzten Ausstellung wurde es in eine grosse Installation eingebaut. Ich habe die unaufgeräumte Situation, die ich beim Modellieren darauf angerichtet hatte, fotografiert, und in der Ausstellung mit allen Dingen, mit allen Tonbröseln und mitsamt dem Staub, wieder aufgebaut. Es hat mich erstaunt, wie sehr sich das kleine Möbel durch die Verschiebung des Kontextes in meinen Augen veränderte, und wie vollständig es sich danach wieder in das ganz normale Werktischchen zurück verwandelt hat. Gerade habe ich Drachen darauf gebaut, für ein nächstes Vorhaben. Mir gefällt der Gedanke, dass das Tischchen noch viel länger leben könnte als ich. Auch wenn, oder gerade weil dann niemand mehr wissen wird, wie einst Werni daran gearbeitet hat, und dass ich an einem der gedrechselten Beine ein Astloch sorgfältig mit Kirschholz geflickt habe.

Montag, 29. Juni 2020

man hat (k)ein Hobby


Ich weiss nicht mehr, wann ich dem Wort Hobby zum ersten Mal begegnet bin. Es war mir jedoch von Anfang an klar, dass wir so etwas nicht hatten in der Familie. Das ist halt sein Hobby, wurde im Tonfall geäussert, als rede man von einer Behinderung. Man konnte den Satz als Antwort bekommen auf die Frage nach Sinn und Zweck einer Beschäftigung, die man bei jemandem in der Umgebung beobachtet hatte, und deren Resultate von einem ungewöhnlich grossen Aufwand erzählten. Eine mir damals riesig erscheinende Eisenbahnanlage in der Garage der Familie S zum Beispiel. Mehrere Züge konnten darauf gleichzeitig fahren, in gegenläufiger Richtung. Es gab viele Weichen, Abzweigungen und Ausweichstellen. Die Steuerung erfolgte über zwei oder drei Transformerkästchen mit schwarzen Drehknöpfen, und, das sah man an den konzentrierten Gesichtern der Buben, die hier wohnten, und deren Vater mit ihnen diese Wunderwelt geschaffen hatte, es erforderte ein mir unerreichbar erscheinendes Wissen, die Bewegungen der Züge ohne Zusammenstösse zu meistern. Ich durfte ein zwei Mal an die Regler, aber nur unter der vereinfachenden Bedingung, dass die von mir befohlene Bahn alleine unterwegs war. Ich hatte bald schweissige Hände und einen verspannten Nacken, so dass ich noch so gerne die Kontrolle wieder abgab. Viel lieber kletterte ich auf ein kleines Schemelchen, das, wenn man sich darauf stellte, auf der Rückseite des Berges den Einblick in die Eingeweide der Anlage ermöglichte. Ich liebte den Moment, wenn die Lokomotive plötzlich in der hell gleissenden Öffnung des Tunneleingangs erschien, sie mit den hinterher gezogenen Wagen füllte und verdunkelte und sich dann, mit ihren zwei gelblichen Scheinwerferchen den Schienenweg schwach beleuchtend, durch die Unterwelt aus Sperrholzspanten, Kanthözern, Eisenwinkeln und Hühnerdrahtgittern bewegte. Der Gegensatz zur Aussenseite der Landschaft hätte nicht grösser sein können. Draussen gab es die Faller-Häuschen aus trübfarbigem Plastik, welche den Mief schweizerischer Provinzbahnhöfe so echt ins Zwergenhafte übersetzten, dass man den säuerlichen Geruch nach Rost, Urin und Schmieröl zu riechen meinte. Die Wiesen aus eingefärbtem Sägemehl, ausgestrichen auf nicht überall mit gleichem Geschick gefalteter Jute, konnten mit der Natürlichkeit der Gebäude nicht mithalten, und bei näherer Betrachtung entdeckte ich auch allerlei irritierende Brüche in den Grössenverhältnissen.

Ein Hobby, wenn ich hier eines vor Augen hatte, war offensichtlich mit ungeheuren, kniffligen und langwierigen Anstrengungen verbunden, an deren Ende – wenn sie denn je ein Ende fanden – ein zwar erstaunliches, im Wert aber zweifelhaftes Resultat stand. Dennoch schob ich die leise Distanznahme, die ich aus den Äusserungen meiner Eltern über Hobbies heraushörte, nicht diesem scheinbaren Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag zu. Tätigkeiten solcher Art kannte ich durchaus von meinen Eltern, aber sie wurden niemals auch nur in die Nähe der Bezeichnung als Hobby gebracht.

Viel später, als Kunstpädagoge, musste ich die Überschneidungen und Abgrenzungen zwischen Hobby und Kunst, zwischen Kunst und Kunsthandwerk, aus Gründen der professionellen Klarheit analysieren und mir zu einer vorläufigen Ordnung zurechtlegen. Heute, wieder als Künstler-Kind, habe ich die Begriffe entlassen in ihre angestammte Vieldeutigkeit. Wenn ich Drachen baue und fliegen lasse, bin ich am Arbeiten.

Einmal, während meiner Zeit als Werklehrer, wollte ich ganz eintauchen in die Welt der Modellbauer. Ich war in der Kindheit und Jugend nie über das Zusammenkleben von ein paar Schiffsmodellen aus Plastik hinausgekommen. Zwar hatte ich auch einen Ausflug in die Welt des Flaschenschiff-Baus unternommen, aber das war mehr als Beschäftigungstherapie während Spitalaufenthalten entstanden. Was ich nie versucht hatte, war die Konstruktion von bewegten, ferngesteuerten Flug- oder Schiffsmodellen. Und so schenkte ich mir auf den Geburtstag, der immer in den Sommerferien lag, den Graupner-Bausatz eines Modellsegelschiffs. Es handelte sich um die 'Optimist', den Nachbau einer erfolgreichen Ein-Tonnen-Rennyacht aus den späten Sechzigerjahren. Ich war bald komplett eingetaucht ins Lesen der Baupläne und Konstruktionsanleitungen, dabei räumte ich mir eine grosszügige Zeitvorgabe zur Fertigstellung des Modells ein. Zuerst musste ich begreifen, dass im Bausatz vieles noch nicht enthalten war, was ich für den erfolgreichen Bau eines steuerbaren Segelschiffs brauchte. Ich wurde also Kunde eines dieser Hobby-Läden, in die wohl noch kaum jemand aus unserer Familie je einen Fuss gesetzt hatte. Ein kleines Lokal hinter einem vollkommen mit Modellen und Kartonschachteln von Modellen zugestellten Schaufenster, in dem ein Bastler, Sammler und Verkäufer hauste, der schlicht alles kannte und wusste, was mit Modellbau zu tun hatte. Ich lernte ihn gut kennen, denn ich musste ihn während meines Vorhabens dutzende Male aufsuchen, und er machte mit mir einen guten Umsatz, auch dank einiger Fehlversuche, welche den Ersatz kaputt gegangener Teile zur Folge hatten.

Es gab viele Knacknüsse zu bewältigen, die für mich harmloseren betrafen handwerkliche und materialtechnische Probleme, bei denen ich auf meine Erfahrung zurückgreifen konnte. Zum Beispiel war die Befestigung des sehr schweren Kiels aus Gusseisen am sehr leichten, dünnwandigen Kunststoffrumpf eine Herausforderung. Die Gefahr bestand in einer Verformung der Schale, die um jeden Preis vermieden werden musste. Dies galt auch beim Verkleben des Decks. Die Reihenfolge bei der Montage der verschiedenen Teile, so wie sie in der Bauanleitung angegeben war, musste unbedingt eingehalten werden. Zu Beginn meinte ich es da und dort besser zu wissen, wurde jedoch durch Misserfolge bestraft und verstand die Struktur der Anleitung erst danach. Als das Boot dann als Modell fertig auf seinem Ständer zu ruhen schien, kam das komplexe, und für mich ganz neue, elektronische Innenleben dazu. Ich hatte im Hobbyladen zwei Server-Motoren gekauft, einen mit einer Seilwinde und einen mit einem kleinen Hebel. Mit der Winde sollten die Segel über die entsprechenden Schoten dichtgeholt und gefiert werden. Ich lernte parallel zu meiner Betätigung als Bootsbauer auch die Funktionen und die fachsprachlichen Begriffe. Mit dem Hebel konnte man das Steuer hin und her bewegen.

In dieser Zeit meines Modellbau-Abenteuers war ich völlig absorbiert. Es waren zwar Sommerferien, aber damit verbanden sich für mich immer auch grundsätzliche Zweifel am Sinn meiner beruflichen Tätigkeit als Lehrer. Ich sollte in dieser Zeit einerseits für die Familie dasein, andererseits aber auch wieder Unterrichtsvorhaben für das nach den Ferien folgende Semester planen und vorbereiten. Das so einzuteilen, dass ich nicht dauernd gedanklich mit der Schule beschäftigt war und mich auch erholen und mit den Kindern und meiner Frau die Zeit geniessen konnte, war schwierig. Und nun diese völlig absurde Idee mit dem Segelschiff! Ich schaffte es damals nicht, dem Unternehmen einen Sinn zu unterlegen, der das Gewissen beruhigt hätte. Es war ein Entlastungs- und Befreiungsversuch aus diffus empfundenen Einschränkungen. Aus der Geringschätzung von Menschen, die Hobbies haben. Aus dem nie aufhörenden Begründungs- und Verbesserungszwang, dem sich Lehrerinnen und Lehrer aussetzen. Aus den armseligen Abgrenzungen zwischen Freizeit und Arbeit, Arbeit und Hobby, Hobby und Kunst. Ob man selber arbeitet oder nicht, weiss man selber ganz genau, schreibt Ludwig Hohl in einem Aphorismus. Der Satz tönt gut, vereinfacht aber, indem er eine quasi objektive Realität sowohl für Arbeit als auch für Wissen suggeriert. Ich hatte damals für beides nicht einmal eine klare eigene Konstruktion.

Das Segelboot wurde noch in den Sommerferien fertig und ich fuhr damit ein paar Mal nach Brüglingen zum Teich, um es auzuprobieren. Das Segeln, in einer verkleinerten und etwas vereinfachten Form, brachte ich mir vor Ort bei, mit dem Fernsteuer-Kästchen vor dem Bauch. Bald konnte ich bei sanftem Wind jeden beliebigen Ort im Teich gezielt ansteuern. Bei stärkerem Wind erzeugte der breite Rumpf allerdings zu starke Wellen, wodurch Effizienz und Eleganz der Fortbewegung stark beeinträchtigt wurden. Ich beherrschte aber das Segeln vor dem Wind, am und gegen den Wind so gut, dass ich einmal bei einem motorisierten Modellboot, dessen Schraube sich mitten im kleinen See in den Algen verheddert hatte, längs anlegen und es mit dem Winddruck auf den Segeln seitwärts befreien konnte. Den Applaus der Umstehenden nahm ich etwas verlegen, aber auch stolz, entgegen.

Die Optimist stand jahrzehntelang abgetakelt in unserem Keller, bis ich mich bei einer Aufräumaktion entschloss, sie übers Internet zu verschenken. Es meldete sich ein Handwerker aus dem Bodenseegebiet, der mit seinem Kastenwagen zu uns nach Basel fuhr und das Boot mitsamt der Fernsteuerung glücklich mitnahm. Er erzählte, dass er als Bub von diesem Modell geträumt hatte, es sich aber nicht leisten konnte. So kaufte er sich mit seinem gesamten Taschengeld ein kleineres Boot von Graupner, das er aber einmal bei zu starkem Wind auf den Seegrund setzte. Jahre später habe er mit Tauchen begonnen und einmal einen ganzen Nachmittag lang nach dem Modellboot gesucht. Er fand es aber nicht, obwohl er meinte, den genauen Ort seines Versinkens gefunden zu haben. Wahrscheinlich sei es aber in der langen Zeit von Sedimenten begraben worden.

Donnerstag, 28. Mai 2020

fliegende Dinge


An einem Herbstnachmittag blies die Bise heftig, und ich sah am Himmel über unserem Quartier einen Drachen. Er erschien mir rund, hatte einen sehr langen Schwanz mit kleinen Papierschlipsen dran, die er mit seinem leichten Hin- und Herschwanken in eine wunderschöne Schlangenbewegung versetzte. Ich wollte unbedingt wissen, von woher der Drache aufgestiegen war, und wer dieses Meisterwerk in Flugkünsten vollbrachte, und machte mich auf den Weg, kreuz und quer durch die Strassen der Nachbarschaft. Es war nicht einfach, den Standort des Drachenfliegers zu ermitteln, denn die Schnur war kaum zu sehen, und ich hatte sie zuerst auf einer direkten, schrägen Verbindung zum Boden gesucht, sah aber dann, dass sie vom Drachen fast senkrecht nach unten und, in einem immer flacher werdenden Bogen, zur Erde führte. Schliesslich fand ich eine Gruppe von Kindern, die auf einer Nebenstrasse im Kreis standen und nach oben schauten, mitten drin ein älterer Bub mit einer dicken Schnurrolle. Ich stellte mich zwischen die kleinen Zuschauer und hörte ihren Fragen zu, die der junge Fachmann mit betonter Geduld beantwortete, den Blick immer himmelwärts gerichtet, ab und zu etwas Schnur gebend oder einholend. Der Drache war selbst gebaut, mit ein wenig Hilfe des älteren Bruders. Er war achteckig, nicht rund, was ich erst jetzt sehen konnte, obwohl er inzwischen noch weiter gestiegen war. Die Schnur sei ein Kilometer lang, behauptete der Drachenlenker, aber niemand schien ihm recht zu glauben. Das Schwierigste sei das Starten gewesen, in der Enge der Strasse, und mit den Bäumen am Trottoirrand und in den Gärten. Ich hatte noch nie einen Drachen gebaut, also hatte ich auch keine Erfahrung mit den Schwierigkeiten beim Steigenlassen, aber Drachenleichen hatte ich schon viele gesehen in den Bäumen. Manche blieben jahrelang hängen, bleichten aus und zerfledderten immer mehr, bis nur noch die Stäbe und ein paar Schnüre übrig waren. Nun fragte ein Kind, ob es die Rolle auch ein Mal halten dürfe, und sofort wollten alle, so dass eine Warteschlange entstand. Ich stellte mich an, und als ich dran war und die Rolle übernahm, klopfte mir das Herz bis zum Hals vor Aufregung. Keine Schnur mehr geben, befahl der Besitzer des Drachens, du musst die Rolle blockieren. Was für ein Gefühl, als man den Zug des Drachens spürte und es einem die Arme nach vorne und aufwärts hob. Mit dem Blick der riesigen Kurve der Schnur entlang nach oben folgen. Zu spüren, dass man für den Moment Ankerpunkt und Gebieter dieses fliegenden Tiers war. Als der Drache plötzlich stärker schwankte und begann, eine liegende Acht in den Himmel zu schreiben, nahm man mir die Rolle aus der Hand. Melken muss man, dann kommt er wieder. Und mit grossen Pandelbewegungen zog der Dachenflieger an der Leine, liess locker, zog wieder an. Der Drache stellte seine Seitwärtsbewegungen ein, stieg bei jedem Straffen der Leine senkrecht auf und schien wieder eine stabile Luftschicht zu erreichen. Hing eine kurze Zeit sogar völlig still am Himmel.

Ich weiss nicht mehr, ob es dieses Erlebnis war, das mich bewog, meinen Vater zu bearbeiten, er solle mit uns Drachen steigen lassen. Jedenfalls machte er sich eines Tages dahinter, mit meinem Bruder und mir einen riesigen Vogel zu bauen. Wenn schon, dann schon. Und, wie es typisch war für ihn, begann er das Unterfangen mit grossem Selbstbewusstsein und ohne jede Anleitung. Wie ich erst viel später beurteilen konnte, auch ohne jede Ahnung von der Kunst des Drachenbaus und -fliegens. Als Bespannung verwendeten wir ein weisses Papier ab der Rolle, das wir auf ein Kreuz aus zwei hölzernen Halbrundprofilen spannten und es dann bemalten. Es wurde ein Adler mit sicher zweieinhalb Metern Spannweite, sehr schwer und, vor allem für uns Buben, unhandlich. Durchaus schön und dekorativ anzuschauen. Aber das reicht nicht als Qualitätsmerkmal für einen Drachen, wir wollte ihn fliegen sehen. So zogen wir los und versuchten ihn auf einem Feld zu starten. Einer stellte sich hinter das Ungetüm und hielt es, aufgestellt auf den Boden, in der Senkrechten. Der andere gab einige Meter Schnur, und auf sein Kommando, bei dem der andere loslassen sollte, rannte er los. Der Vogel erhob sich kaum, der Zug auf die Schnur war ungeheuer stark und wir waren nach kurzer Zeit so ausgepumt, dass wir auf die Idee kamen, es mit dem Velo zu versuchen, diesmal auf der Strasse, die dem Feld entlang führte. Bei diesen Starts zog der Drachen stark auf eine Seite, und da er nie weit vom Boden wegkam, überschlug er sich einige Male und bekam erste Risse. Wir flickten sie tapfer mit Klebstreifen, und holten schliesslich den Vater, der uns mit dem Töff helfen sollte, das Ding hochzuziehen. Mein Bruder wusste, dass auch Segelflugzeuge mit Autos oder motorisierten Seilwinden gestartet werden, und so kam uns diese Möglichkeit naheliegend vor. Als wir die Schnur am Gepäckträger der Hummel befestigt hatten, stellten wir uns in einiger Entfernung beide hinter den Drachen, gaben das Startzeichen, und mein Vater fuhr los. Der Drachen zog hoch, dann in einer schwerfälligen Kurve wieder nach unten, und zerschellte auf dem Trottoir. Da mein Vater nicht nach hinten schauen konnte, schleifte er den Kadaver noch eine Weile hinter sich drein, bis es so aussah, als würde er ein zerissenes Leintuch hinter sich herziehen. Danach baute ich keine Drachen mehr. Ich glaubte nicht daran, dass es mir je gelingen könnte.

Ende der 70er-, anfangs der 80er-Jahre gab es erste Drachenbücher zu kaufen, und der alte Traum wurde wieder wach. Bevor der Hype einsetzte, mit Drachenläden, Drachenkursen und Drachentagen in der Region, war es nicht einfach, die geeigneten Materialien zu bekommen. Zum Beispiel Drachenschnur. Ich kam auf die Idee, in dem kleinen Fischerei-Laden nachzufragen, den es damals noch gab, am Barfüsserplatz. Es war Frühling, und ich arbeitete mich beharrlich durchs Sortiment, interessierte mich für die Zugfestigkeit und das Gewicht der Schnüre. Die Ladeninhaberin fragte mich schliesslich, etwas ungeduldig, wozu ich denn die Schnur brauche. Als ich sagte, um Drachen steigen zu lassen, wollte sie mir die Rolle nicht verkaufen. Sie regte sich darüber auf, dass man diese traditionelle Herbstangelegenheit jetzt auch vorverlege, wie die Schokoladenhasen und die Fastenwähen, die schon bald nach Weihnachten angeboten würden. Alles werde verschoben und verdreht, fand sie. Es kostete mich viel Geduld und freundliches Beharren, bis sie mir die Schnur schliesslich doch überliess.

In einem Klassenlager im Brugnasco anfangs der 1980er-Jahre baute ich mit Schülerinnen und Schülern der DMS Drachen. Es war knifflig, in der steilen Hanglage unseres Aufenthaltsortes Drachen steigen zu lassen, ohne sie alle in den Wald zu setzen. Wenn die Schnur schon sehr weit ausgerollt und der Drache hoch aufgestiegen war, befand er sich doch immer noch sehr nahe über den Baumwipfeln, und da der Wind jeder topografischen Form des Untergrundes folgte, über den er in die Höhe strich, sog er die Drachen bei Senken oder Waldlichtungen gefährlich nach unten. Einmal baute ein Schüler einen grossen Vogel, nach einem brasilianischen Modell aus einem meiner Bücher. Wir bespannten ihn mit zusammengeklebten schwarzen Plastikfolien grosser Abfallsäcke. Als er fertig war, hatte er eine Spannweite von etwa zwei Metern, und obwohl er mich an den Riesenvogel meines Vaters erinnerte, versprachen seine Form und sein geringes Gewicht mehr Erfolg. Der Drache stieg von Anfang an völlig ruhig und steil senkrecht nach oben. Wenn er den Jungen unten an der Rolle fast überflogen hatte, zog er einen Kreis und setzte, wenn er wieder flacher stand, seinen Ansteig fort. Schon bald hatte er optisch die Grösse eines Adlers oder Milans, und seine Silhouette erinnerte trotz der Abstraktion stark an einen echten Vogel. Und so erstaunte es uns kaum, als ein Milan vom Wald herflog, neugierig ein zweimal um unseren Drachen kreiste, und dann wieder abzog. Dieser war in der Zwischenzeit sehr hoch aufgestiegen und geriet in eine starke Windströmung. Bald wurde uns klar, dass er sich kaum mehr einholen liess, weil die Nylonschnur, die wir aus Kostengründen verwendeten, reissen würde. Da sich das Schullager seinem Ende näherte, schlugen die Schüler vor, wir sollten dem Drachen alle Schur geben, die wir noch hatten. Und so liessen wir den Drachen bis über die Wolken steigen. Dann riss die Schur, irgendwo in der Mitte, so dass das Gewicht des an dem Drachen verbleibenden Restes ihn immer noch im richtigen Winkel hielt. Aber nach oben gabs kein Halten mehr. Es war nur noch ein Pünktchen zu sehen, man verlor ihn aus den Augen, andere hatten ihn noch im Blick und zeigten auf Wolkenlücken, in denen sie ihn angeblich noch sahen. Er war in den schnellen Windstrom aufgestiegen, der in diesen Tagen von Süden nach Norden über den Gotthard zog.