Mittwoch, 9. September 2020

rollende Steine

Ich stelle mir vor, der Klarinettenschüler kommt, gedemütigt, traurig. Dann zornig, den säu-erlichen Mief der Musikschule hinter sich bringend, abschüttelnd die verächtliche Strenge des Bläserlehrers. Das muss alles ein Ende nehmen, alles. Kommt ans Ende der Strasse, die in den ehemaligen Stadtgraben mündet, auch eine Strasse jetzt zwischen hohen Mauern, jäh abfallend zum Barfüsserplatz. Und zwischen dem aufragenden Lohnhofgefängnis und dem efeubewachsenen Kohlenberg hört er auf einmal Trost, ein wummerndes Intro. Was ist es? Bombomm, bababaaa bababaaa, bababa bommbomm. Jumpin' Jack Flash. Es knetet ihn, hebt ihn hoch, leicht wird sein Schritt. Das gibt es ja, die andere Musik, von der die Erwachsenen ihre Finger noch so gerne lassen. Er geht, jetzt ist alles offen, zum Platz und weiter zur Bühne, vor der sich die Menschen zu sammeln beginnen, junge Menschen wie er, und schon tanzend und ihre Köpfe werfend. Dabei ist, was sie hören, eine Kopie, aber das stört sie nicht. Rollende Steine sind rollende Steine, in unserer Stadt. Und er weiss nun, dass er zum letzten Mal in der Musikschule gewesen ist. Wenige Tage später ruft er den Lehrer an und teilt es ihm mit. Die Mutter stellt er vor vollendete Tatsachen, und kommt sich erwachsen vor. Sie nimmt es gelassen.

Die Rolling Stones hätten damals, so sagt man, einen Spalt zwischen die Jugendlichen getrieben, sie gezwungen, sich zu entscheiden zwischen ihrem stampfenden Rock mit den eindeutig zweideutigen Texten, und den schönen, eingängigen Melodien mit den harmlosen, locker psychedelischen Bildern in den Songs der Beatles. Ich war näher bei den Beatles, neue Lieder von ihnen drehten sich mir manchmal wochenlang im Kopf. An die Stones musste ich mich herantasten und gewöhnen. Mick Jaggers nölende Stimme ging mir lange auf die Nerven, und die Musik schien mir zu simpel. Wie für viele meiner gleichaltrigen Kameraden und Freunde spielten die Texte von Popsongs lange keine Rolle. Ich verstand sie nicht spontan, da ich Englisch mehr schlecht als recht im Wahlfach lernte, und weil es mir blöd vorkam, wenn ich für meine Erkundungen im Dschungel von Rock und Pop das Wörterbuch hervorholen musste. Das änderte sich erst, als Songtexte öffentlich thematisiert und kontrovers diskutiert wurden. Je bedenklicher sie von den Erwachsenen beurteilt wurden, desto mehr interessierten wir uns dafür. Wie explizit die Stones waren, lass uns zusammen die Nacht verbringen!, wurde mir ausgerechnet im Religionsunterricht klar, wo uns der Lehrer, ein katholischer Priester, sanft aber unmissverständlich auf die Seite der Beatles schubsen wollte. Zwar merkte man an den Auslassungen in seiner Auswahl, dass auch ihm die dunkleren Seiten der Beatles aufgegangen waren, dass sie nicht so harmlos waren, wie sie manchmal tönten, mit LSD experimentierten, Lucy in the Sky with Diamonds, oder, Fool on the Hill, mit Dropouts sympathisierten.

Es waren solche Reaktionen der Erwachsenen, die mir die Rolling Stones näher brachten, und auch die Erfahrung, dass sich zu ihren Stücken besser und wilder tanzen liess. Die Fans der Rollenden Steine erschienen mir nun ungebundener, frecher und, das war das Wichtigste, erfahrener. Down Home Girl wurde zum Soundtrack einer meiner ersten Liebesgeschichten. Dass in dem Song ein Mädchen besungen wird, als Landei mit drastischen Merkmalen, wusste ich damals nicht, da ich mir auch hier nicht die Mühe machte, zu verstehen.

Mir fiel auch nie eine Parallele auf zwischen dem Namen der Band und meiner Leidenschaft als Jugendlicher, reale Steine ins Rollen zu bringen. Begonnen hatte dies nicht einmal mit Steinen, sondern, zusammen mit meinem Cousion A, mit Autoreifen. In ihrer Garage lag immer mindestens ein Satz Reifen herum. Diejenigen mit weissen Seiten durften wir nicht anrühren, aber wir fanden noch genug schwarze, um damit eine Barrikade auf dem Rütiring zu errichten, uns zu verstecken und aus der Deckung zu beobachten, wie die Autofahrer darauf reagierten. Es gab solche, die verunsichert im Auto warteten, ob sich der Spuk von selbst auflöse, schliesslich umständlich kehrten und einen anderen Weg suchten. Wir lachten uns tot. Als dieses Spiel langweilig wurde, begannen wir einander die Reifen hin und her zuzurollen. Durch Zufall entdeckten wir, dass ein paar Liter Wasser, eingefüllt in die Rundung des Kännels, den Rollbewegungen eine grössere Stabilität verliehen. Wir überprüften das auf einem kleinen, geteerten Pfad, der vom Rütiring zur Wackernagelstrasse hinunter führte. Schon auf dem ersten, nur leicht geneigten Stück entwickelte der Pneu eine eindrückliche Geschwindigkeit, und derjenige von uns, der etwas weiter unten stand und die Aufgabe hatte, das Ding zu stoppen, wurde von der Wucht einfach umgerissen. Es erschien uns natürlich, dass man dem Reifen einmal seinen freien Lauf lassen sollte, irgendwo würde er schon zum Stehen kommen. Wir rollten ihn ein weiteres Mal hoch und liessen ihn fahren, voller Spannung und Vorfreude darauf, was passieren würde. Da wir ihn im Übereifer nicht genau ausgerichtet hatten, streifte er schon nach kurzer Fahrt die Buchenhecke auf der einen Seite des Wegleins. Zu unserer Verblüffung, wir rannte dem Reifen hinterher, leiteten ihn die Zweige und die Trägheit des Wassers in seinem Bauch zurück auf die gerade Bahn. Schon sehr schnell geworden, fuhr er nun in eine quer stehende Hecke, die den ab da in Serpentinen weiterführenden Pfad begrenzte. Unbewusst und unabgesprochen hatte wir beide damit gerechnet, dass die Abfahrt hier enden würde. Der Pneu hatte aber so viel Schwung, dass er einige Meter hoch in die Luft katapultiert wurde, zehn Meter hoch!, meinten wir hinterher, und im Steilhang jenseits der Hecke seine Hatz fortsetzte. Unter den Geländern des Wegleins flutschte er mit atemberaubendem Tempo hindurch, nahm die direkteste Abkürzung in der Falllinie und liess sich durch kleinere Hindernisse nicht mehr ins Taumeln bringen. Schwer atmend schauten wir vom Hang aus zu, wie er die kleine Aussichtsterrasse über dem Pissoir an der Wackernagelstrasse in einem Sekundenbruchteil überquerte, dann vom Abschlussmäuerchen wiederum hoch in den Himmel geschleudert wurde, schliesslich unseren Blicken entschwand. Einen Moment lang blieben wir hocken, dann dämmerte uns, dass der Reifen jetzt auf der Autostrasse, was, wie? Also rasten wir los. Auf der letzten Treppe nahmen wir zwei drei Stufen aufs Mal, standen schliesslich auf dem Trottoir, da sahen wir ihn wieder. Er torkelte, viel weiter unten, ganz langsam schräg über die Strasse, blieb schliesslich am Randstein stehen, und kippte müde auf die Seite. Wir lachten so, dass wir uns auf den Boden setzen mussten. Es war wie im Film gewesen. Aber wir waren auch erleichtert, dass nichts Schlimmes passiert war.

Steine liessen wir einmal rollen auf einem Zweitägigen, den wir in der Sechsten des Gymnasiums ins Gotthardgebiet unternahmen. Das Wetter war kühl und neblig, die Landschaft eine einzige riesige, graue Geröllhalde. Der Weg zur Hütte, in der wir übernachten wollten, führte entlang dem Hang eines endlos ansteigenden, nicht sehr breiten, ehemaligen Gletschertals. Es gab nur diesen einen Weg, und wir waren die einzigen Menschen, die einzigen Lebenwesen, weit und breit. Ab und zu löste einer von uns einen Stein, der sich darauf klackernd in Bewegung setzte, bald zu hüpfen und, sich wild drehend, zu springen anfing. Anfänglich gab es Warnrufe und Ermahnungen vom Lehrer, wenn solches geschah. Bald aber merkten alle, dass die Steine für niemanden eine Gefahr darstellten, da wir ihren Weg in voller Länge überschauen konnten, und das Tal völlig leer und unbewohnt war. So begannen einige von uns, Steine gezielt in Bewegung zu versetzen, wobei es bald zu einem Wettstreit kam, wer den grössten Brocken aus dem Hang lösen und auf den Weg schicken könne. Der Lehrer liess uns nach anfänglichen Bedenken gewähren, vielleicht weil er hoffte, dass wir, wegen der zusätzlichen körperlichen Anstrengung, in der kommenden Nacht im Massenlager früher Ruhe geben würden.

Bei der Hütte angelangt, waren wir zwar schon müde, hielten aber noch immer Ausschau nach möglichen Kandidaten für unsere Experimente mit Masse und schiefer Ebene. Weil auch unsere Herberge über einer übersichtlichen Senke stand, wollten wir vor dem Nachtessen einen letzten grossen Felsbrocken hinunter donnern lassen. Das ging beinahe schief, weil einer von uns dreien oder vieren, die sich an dem riesigen Stein abmühten, ein netter Junge, der erst vor Kurzem in die Klasse gekommen war, fast mit in die Tiefe gesaust wäre, als sich der Stein plötzlich aus dem sandigen Untergrund löste. Ich meine, dass ich ihn gerade noch am Kragen packen konnte und ihn so vor dem Absturz bewahrt habe. Vielleicht war es aber auch umgekehrt. Da nichts Böses passiert war, konnte man es sich leisten, die genauen Umstände zu vergessen.

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