Freitag, 18. September 2020

Jimi

In der Oberstufe kam ein Neuer in die Klasse, ein grosser, phlegmatischer Kerl, sehr freundlich, mit langen, gewellten Haaren und einer grossen, markanten Nase. Er war etwas älter, rauchte Françaises mit Maispapier, und hatte eine enorme Plattensammlung. Bei ihm machte ich Entdeckungen, Hendrix, Cream. Zappa war mir zu schräg, und ich verstand seine Texte nicht, die offensichtlich wichtig waren. Ich durfte sogar Platten ausleihen, ein Privileg, und so konnte ich mich an Sperriges herantasten. An die Falsettstimmen von Jack Bruce und Eric Clapton, die mir zuerst affektiert, weibisch vorkamen. An die Länge der Stücke musste ich mich auch gewöhnen, an die zuweilen chaotischen Improvisationen zwischen den Teilen mit dem eigentlichen musikalischen Thema, dem Song. Bald begann ich selber nach Musik zu suchen, fand Musiker und Stile, die auch den andern neu waren. Otis Redding. Vanilla Fudge, Colosseum. Oder die Savage Rose aus Dänemark. Als mein Bruder in Zürich zu studieren begann, und ich das Zimmer für mich alleine hatte, stellte ich einen kleinen Plattenspieler neben das Bett. Es gibt Stücke, die ich so oft beim Einschlafen gehört habe, dass sie sich mit jedem Ton, jedem Geräusch und jeder Pause in mein Gehirn eingeschrieben haben. Rainy Day von Jimmi Hendrix, zum Beispiel, auf der zweiten Platte des Doppelalbums Electric Ladyland, das erste Stück. Beginnt mit einer winzigen Spielerei seiner Gitarre, die er ein paar Töne von sich geben lässt, wie eine quitschende Türe. Hustet dann zweimal, zieht die Nase hoch. Dann das jazzige Intro des Saxophonisten, für den ich mich nie interessierte. Er hiess Freddy Smith, und war mit seiner Soulband zufällig im gleichen Studio am Aufnehmen wie Hendrix, und man half sich gegenseitig aus. Dann ein einfacher Rhythmus von Schlagzeug und Congas, darüber ein spielerischer Dialog der Hammondorgel mit dem Saxophon, zuletzt mit der Gitarre. Dazu, mal dahinter, mal im Vordergrund, Jimmis Sprechgesang, cool, schwarz.

Hey man, take a look out the window 'n' see what's happenin'
Hey man, it's rainin'
It's rainin' outside man

Sie werfen sich Töne und kurze Tonfolgen zu, hin und her, dann Break. Leichtfüssige Überleitung zum Song, den er in typischer Weise halb spricht, halb singt.

Rainy day, dream away
Ah let the sun take a holiday
Flowers bathe an' ah see the children play
Lay back and groove on a rainy day

Nochmals ein Rhythmuswechsel, dann, wenn ich hier am Einnicken war, werde ich wieder wach. Die Wah-wah-Gitarre ruft. Wioau. WaeWoau. Ghiuhuageddiwua, und noch ein kurzes Solo, nochmals seine Stimme, langsam ausgeblendet. Von Jimmis Texten habe ich fast nichts mitbekommen, Englischunterricht war freiwillig im altsprachigen Gymnasium, und es ging mir vor allem um die Musik. Vielleicht bin ich auch der Düsternis aus dem Weg gegangen, bei den Doors bin ich mir sogar sicher. Mit dem Freund, der so viele Platten besass, hätte ich Erfahrungen mit LSD machen können, wenn ich es gewollt und ihm gesagt hätte. Davor hatte ich aber zu viel Respekt. Und es gab ja solche, die den Rückweg aus ihren Trips nie mehr fanden, einer in meiner Klasse, der sich später aus dem Fenster einer Anstalt geworfen hat. 1970 und 1971 waren traurige Jahre, unsere musikalischen Idole starben wie die Fliegen.

Kurz nachdem ich Jimi für mich entdeckt hatte, das muss im Laufe von 1969 gewesen sein, lieh ich mir Electric Ladyland aus, das Doppelalbum mit dem berüchtigten Cover. Neunzehn nackte Frauen posieren vor einem schwarzen Hintergrund, damit konnte man Reaktionen der Erwachsenen provozieren, und prüfen, wie sie mit der neuen Herausforderung, nicht als verklemmt zu gelten, umgingen. Das Bild war aber auch an sich hochinteressant, es liessen sich Frauenkörper miteinander vergleichen, Hauttypen, Brustformen, Brustwarzen. Schultern und Achseln, denn viele posierten leicht abgedreht. Manche wirken natürlich, ob selbstewusst, neugierig oder scheu, andere scheinen Haltung und Gesichtsausdruck vor dem Spiegel oder vor anderen Fotografen geübt zu haben.

Als ich die ausgeliehene Platte zurückgeben musste, kaufte ich sie mir sofort selber. Im Plattenladen waren die nackten Frauen nach innen gefaltet. Wir waren uns einig, dass dieses Foto das eigentliche Cover sei, also drehte ich die Hülle um. Die Musik war da aber schon viel wichtiger.

Die Frau ganz rechts auf dem Cover von Electric Ladyland, die mir besonders amerikanisch vorkam, hält auf ihrem Schoss ein schwarzweisses Porträt von Hendrix, das der Fotograf David Silverstein 1967 gemacht hat. Im Original zeigt das Bild Jimis ganzen Körper bis zu den Knien, sehr sorgfältig ausgeleuchtet und pastisch fotografiert mit einer Studiokamera, vor einem neutral grauen, nach oben heller werdenden Hintergrund. Er trägt helle Jeans, mit einem geknoteten Schal und einer zusätzlichen Silberkette mit Anhängern als Gürtel. Das geblümte Hemd ist weit geöffnet, so dass man seinen haarlosen, gut trainierten Bauch sieht. Die Brust wird grösstenteils verdeckt durch einen riesenhaften Anhänger und Jimis rechte, beringte Hand, mit der er an der Kette des Schmucks spielt. Die linke Hand, mit der er, wie wir wissen, auf der Gitarre das Plektrum führt, hält er lässig auf die Hüfte gestützt. Sein Kopf ist leicht nach oben gehoben, und unter schweren Lidern schaut er uns herausfordernd an, was ist los? Berühmt, und immer wieder kopiert, wurde eine Fassung des Bildes, die durch Track Records als Poster für Fans verkauft wurde. Dabei hatte man den Kontrast bis zur restlosen Trennung von Schwarz und Weiss gesteigert, was der Popart-Ästhetik von damals entsprach. Die Abstraktion erleichterte es den Fans, Schablonen vom Porträt anzufertigen, so auch mir, der mit Stencil-Posters, verkauft an die Klassenkameraden, eine Zeit lang sein Taschengeld aufbesserte.

Als mich die Nachricht von Jimis Tod erreichte, war das ein harter Schlag, gefolgt von wochenlanger Trauer. Ich hatte mir kurz zuvor das Album Band of Gipsys gekauft, und spielte es die ganze Zeit ab, wenn ich zuhause war. Seine Interaktionen mit dem Publikum während des Livekonzerts, seine rauhe Stimme und die meist beiläufig dahingenuschelten Worte, trösteten ein wenig.

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