Dienstag, 31. August 2021

Jenseits des Horizonts

Fast drei Wochen lang war es zum Ende des Winters nicht möglich gewesen in den Park zu gehen. Die Schneeschmelze zog sich bis in den Frühling dahin, die Böden waren voll gesogen mit Schmelzwasser. Überall lag ein klebriger Matsch aus verfaultem Laub und Gras, aus Lehm, Sand und Dreck. Julia und Elsie hatten es einmal trotzdem probiert, aber die darauf folgende Putzerei der verschmierten Stiefel, Strümpfe und Mäntel hatte sie beide von weiteren Versuchen abgehalten. Jetzt, Mitte Mai, war auch ein solcher Winter endgültig vergessen. Es war unvermittelt warm geworden, und Elsie bettelte so lange, bis sie Kniestrümpfe anziehen durfte bei ihren Spaziergängen mit Julia. Alle fanden sie süss mit ihrer neuen Kurzhaarfrisur, für die sie beim barber lange hatte still sitzen müssen. Ihr Haar war dicht und dunkel, so dass die Fransen und der seitlich abgestufte Schnitt ihr rundes Kindergesicht perfekt umrahmten. Auch Julia hatte sich die Haare noch etwas kürzer schneiden lassen, allerdings ohne Fransen. Sie trug einen Wirbel links über der Stirne und hatte es sich daher angewöhnt, die halblangen Haare nach hinten zu bürsten. Die Dienstherrin kleidete sie ein, sie hatte dabei nicht viel zu sagen. Aber es gab keinen Grund, sich zu beklagen. Die Kleider und Schuhe waren teuer, aus erlesenem Material und dank der neuen Mode bequem. Meistens gefielen sie ihr auch. Mrs. Bailey hantierte immer noch etwas an ihr herum, wenn sie etwas Neues angezogen hatte. Zum Beispiel musste ein Schal um die Hüfte neu gebunden werden, weil Julia ihn in der Taille trug und den Knoten vorne in der Mitte.
"Der gehört auf die Hüfte, meine Liebe, und den Knoten schieben Sie so zur Seite, dass er über ihrem Hüftknochen sitzt. Ach, Sie sind so schlank, genau wie man jetzt zu sein hat."
Julias Blusenkragen wurde aus dem Ausschnitt des Pullovers gezupft und neu drapiert.
"Ihre Brust ist flach und dabei straff, ich beneide Sie!"
Julia war sprachlos. In ihrer Jugend war sie oft gehänselt worden wegen ihres knochigen Körperbaus, und das spärliche Wachstum ihrer Brüste hatte sie eine Zeit lang bekümmert. Immer hatte sie zu hören bekommen, sie solle mehr essen, sonst sehe sie aus wie ein Junge. Nun bekam sie auf einmal Komplimente für ihr Aussehen, vor allem von Frauen. Mary McD hatte vor Kurzem, als sie einmal in Julias Zimmer geplatzt und sie in der Unterwäsche angetroffen hatte, ausgerufen:
"Wow, Julia! Aus dir könnte man eine richtige flapper machen!"
Und obwohl sie nicht genau gewusst hatte, was der Ausdruck bedeutete, hörte sie die Anerkennung im Ausbruch ihrer Kollegin. Manchmal war sie jetzt richtig befangen, wenn sie sich anzog. Es konnte vorkommen, dass sie sich längere Zeit im Spiegel betrachtete und kritisch an sich herumzupfte, so wie andere Frauen, über deren Angewohnheit sie früher den Kopf geschüttelt hatte. Sie war froh, dass niemand von ihr erwartete, sie solle sich schminken. Für Hausangestellte kam es absolut nicht in Frage, während der Dienstzeit mit angemaltem Gesicht zu erscheinen. Dass eine flapper sowas machte, wusste sie aber in der Zwischenzeit. Seit es warm geworden war, konnte man im Park vermehrt solchen Frauen begegnen, die Glockenhüte, wilde und schräge Röcke aus den unterschiedlichsten Materialien, dazu hautfarbige Strümpfe trugen. Ihre Lippen waren knallrot angestrichen und die Augen dunkel eingerahmt. Oft traten sie in lauten, selbstbewussten Gruppen auf, rauchten Zigaretten in langen Spitzen oder tranken sogar gigglewater aus Flachmännern wie die Kerle. Elsies Eltern achteten immer sehr darauf, dass ihr Tochter andere Leute nicht anstarrte oder gar auf sie zeigte. Julia konnte dieses Gebot nicht durchsetzen, weil sie selber immer noch staunen konnte wie ein Kind. Ausserdem fand sie, die modischen jungen Frauen hätten viel Mühe darauf verwendet, bestaunt und angestarrt zu werden, also solle man ihnen diesen Gefallen auch tun. Es war jedenfalls unterhaltsam im Park.
Auf einem ihrer Ausflüge entdeckten sie den Prinzessinnenweg. Die Kirschbäume standen in ihrem Teil des Parks besonders dicht, und als sie die rosarote Blütenpracht abzuwerfen begannen, sammelten sich die farbigen Punkte auf den Gehwegen an und bildeten einen wunderschönen Teppich, der sich in verblüffendem Gegensatz zum jungen Grün der Wiesen dahinschlängelte. Elsie wollte seit einiger Zeit alles ganz genau wissen.
"Warum hat es nur auf dem Weg Blüten, Julia? Wischen sie die Männer mit dem Besen vom Gras herunter?"
Julia musste zugeben, dass auch sie erstaunt war über die fast ausschliessliche Ablagerung der Blütenblätter auf dem Mergel der Pfade. Sie konnte es nicht erklären, und so erfand sie eine Geschichte, an deren Ausbau bald auch Elsie eifrig beteiligt war. Und die ging so:
Im Park wohnte eine Fee, die in der Nacht über alle Pflanzen und Tiere regierte. Sie hatte drei Töchter, das waren die Nachtprinzessinnen. Jede von ihnen musste auf einige der Tierfamilien im Park aufpassen. Die Älteste auf die Füchse und Kojoten, die Mittlere auf die Eulen, Marder und Ratten. Die jüngste aber durfte erst zu den Mäusen schauen. Das fand sie sehr ungerecht, denn den älteren Schwestern war es erlaubt, ihre Tiere auf deren nächtlichen Streifzügen in die Stadt zu begleiten. Die Kojoten und Füchse machten Ausflüge bis in die Lower Eastside, wo die Mülltonnen und Abfallhaufen am meisten Essbares für sie bereit hielten. Die Älteste erzählte stolz von den Abenteuern, die sie in den weit entfernten Stadtteilen erlebte. Von Kämpfen mit streunenden Hunden, und von Giftködern, vor denen ihre Schützlinge gewarnt werden mussten. Auch von richtigen Festen, die sie mit den Tieren feierte, wenn sie gemeinsam eine besonders ergiebige Futterquelle entdeckt hatten. Ähnliches konnte die mittlere der Schwestern berichten. Sie ging zusammen mit den Mardern und Ratten zu den Piers im Westen, und sogar auf die riesigen Ozeandampfer, wo es immer etwas zu futtern gab. Allerdings mussten sie aufpassen, nicht von einer der menschlichen Wachen erwischt zu werden, die immer und überall auftauchen konnten und bewaffnet waren mit Baseballschlägern oder mit von Nägeln starrenden Stöcken. Die Käuze und Eulen taten da gute Dienste, weil ihre Augen schärfer sahen in der Dunkelheit. Wenn Gefahr drohte, stiessen sie ihren Ruf aus und warnten die andern vor den bedrohlichen Menschen, die nicht begriffen, warum es so schwer war, auch nur eine Ratte oder einen Marder zu Gesicht zu bekommen, obwohl man sie eben noch gehört hatte und ihre Spuren deutlich sichtbar waren. Die Jüngste aber musste bei ihren Mäusen bleiben, die den Park nie verliessen. So sehr sie ihnen auch die Stadt ausserhalb der Zäune schmackhaft machen wollte, die Mäuse blieben stur.
"Was sollen wir dort", fragten sie, "wenn es hier immer genügend zu Essen gibt für uns und unsere Kinder? In der Stadt gibt es ausserdem viel zu viele Katzen!"
Die jüngste Prinzessin wurde immer trübsinniger und trauriger. Und als sie einmal wieder die ganze Nacht weinend unter einem Baum sass und ihre Aufgabe, auf die Mäuse aufzupassen, völlig vernachlässigte, beschlossen diese, es müsse etwas gehen um die Prinzessin aufzuheitern. Sie hatten die Idee, alle Wege, auf der sie sich üblicherweise bewegte, mit Blüten zu belegen, damit sie sich vorkommen sollte wie die Braut an einer vornehmen Hochzeit, oder sogar wie eine Königin. Da die Mäuse zwei- bis dreimal im Jahr Junge bekommen, war ihre Zahl ungeheuer gross, und weil alle mitmachten, konnten sie in einer einzigen Nacht alle Wege der Prinzessin mit dicken Teppichen aus Kirschblüten belegen. Wie aber staunte diese, als sie aus ihrem Trübsinn erwachte. Im Morgengrauen schon schimmerte der Weg vor ihr in zartem Rosa, und als die Sonne aufging, war es, als ob Feuerströme zwischen den taunassen Wiesen dahinflössen. Die Prinzessin setzte vorsichtig einen Fuss vor den andern. Bald aber schritt sie mit hoch erhobenem Kopf auf ihren Wegen dahin, stolz und schön wie eine Königin.
Wenn Julia die Geschichte zu Ende erzählt hatte, wollte sie Elsie gleich noch einmal hören.
"Morgen wieder", wurde sie getröstet. Sie tappte schweigend neben Julia her und beobachtete, wie sich ihre weissen Schuhe auf dem farbigen Untergrund bewegten.
"Julia...?"
"Ja, Elsie."
"Warst du auch im Kindergarten, als du klein warst?"
"Ja, natürlich. Alle Kinder gehen in den Kindergarten."
"War es schön?"
Julia zögerte einen Moment zu lange mit ihrer Antwort.
"Es war sehr schön! Wir durften spielen, was wir wollten. Wir waren viel draussen, haben gesungen und kleine Theaterstücke aufgeführt. Und mit den vielen andern Kindern zusammen zu sein war schön. Ich habe bis heute noch Freundinnen von damals."
Elsie hatte sie während ihrer Aufzählung prüfend von seitlich unten gemustert. Als Julia fertig war, gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander. Julia war froh, als man Bekannte antraf und kurz grüssen konnte. So konnte sie die auftauchenden Erinnerungen, die sie Elsie verschwiegen hatte, wieder an ihren Ort versorgen. Kurz bevor sie zurück an der Park Avenue waren, fragte Elsie:
"Und was ist, wenn ich nicht in den Kindergarten gehen möchte?"
Es blieb auch der Mutter nicht verborgen, dass sich ihre kleine Tochter Sorgen machte wegen dem bevorstehenden Schritt, den man von ihr offenbar erwartete. Dabei sollte es noch bis zum September dauern, bis es so weit war. Mrs. Bailey verlegte sich darauf, die Vorfreude auf ein näher liegendes Ereignis ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.
"Elsie, Liebes, wir werden bald nach Maine fahren, mit der Eisenbahn und dem Schiff, und dort den ganzen Sommer über bleiben. Grandma wird auch da sein, und sogar Daddy zwischendurch."
Elsie schwieg.
"Weisst du noch, wie du es genossen hast, als wir das letzte Mal dort waren? Das Meer, der Sandstrand? Die Eisdielen und Ballonverkäufer, die Ausfahrten mit den Pferdewagen? Daddy hat ein Haus gemietet, ganz für uns allein. Der Verwalter dort soll einen Hund haben, und ein paar Katzen. Vielleicht darfst du mit denen spielen. Und es wird bestimmt nur so von Kindern wimmeln. Es gibt dort Seen, in denen man baden kann, wo das Wasser nicht so kalt ist wie im Meer."
Es fiel ihr im Moment nicht mehr ein, und Elsie sagte noch immer nichts.
Erst als ihre Grossmutter aus Denver ankam um mit ihnen die Reisevorbereitungen für die Sommerferien zu treffen und sie dann auch nach Bar Harbour zu begleiten, hellte sich die Stimmung des Mädchens auf. Mrs. Lemen redete nur einmal mit Elsie über den bevorstehenden Kindergartenbesuch, wobei Julia einen Teil vom Nebenzimmer mithörte. Sie staunte über die Offenheit der Frau gegenüber ihrer Enkelin, die ja noch ein Kind war.
"Schau, Elsie. Du musst nicht alles toll finden im Kindergarten. Manche Kinder wirst du mögen, anderen wiederum wirst du lernen, aus dem Weg zu gehen. Das ist auch bei uns Erwachsenen so. Aber du kannst dort sicher neue und aufregende Sachen lernen. Du bist eine Grosse jetzt, und wenn du mit dem Kindergarten fertig bist, wirst du noch grösser und stärker sein. Und solltest du einmal traurig sein, weil etwas schief lief, dann hast du hier deine Leute, mit denen du darüber reden kannst: Mom und Daddy. Julia. Und mich, wenn ich da bin. Okey-dokey?"
Julia hörte die Kleine lachen über diesen Ausdruck, den die Eltern von ihr nicht gerne hörten.
"Okey-dokey!"

Und es war Mrs. Lemen, durch die Julia zu ihrem ersten richtigen Theaterbesuch kam. Eigentlich waren die Tickets von Mr. Bailey gekauft worden, für seine Frau, die Schwiegermutter und ihn selber. Das Stück, das sie sich ansehen wollten, hiess 'Beyond the Horizon'. Eugene O'Neill hatte für das Drama im Frühling den begehrten Pulitzer-Preis bekommen, es wurde überall besprochen und nun, nach der Premiere am Broadway und einer Fortführung im Criterion Theatre, im Little Theatre noch bis in den Sommer hinein gespielt. Man musste es also gesehen haben, und so hatte Mr. Bailey die Initiative ergriffen, obwohl er sonst eher ein Theatermuffel war, wie seine Frau fand. Umso enttäuschter war sie, als ihr Mann eine Woche vor dem Ereignis einen Rückzieher machte aus Gründen, die ihm selber unangenehm waren. Sein Vater war als Bürgermeister von Denver im Zusammenhang mit dem Arbeitskampf der Strassenbahn-Angestellten zunehmend unter Druck geraten und sein Sohn befürchtete, weil er den Vater nur zu gut kannte, dass dieser sich verrennen und die ganze Sache eskalieren lassen könnte. Mit viel Mühe und Fingerspitzengefühl hatte er den Senior zu einem persönlichen Gespräch überreden können, musste sich aber nun nach dessen Agenda richten. Ausgerechnet am Vortag des geplanten Theaterbesuchs sollte er nun nach Colorado reisen.
"Wollen Sie uns ins Theater begleiten, Miss Chiquet?", wurde Julia von Mrs. Lemen gefragt. "Es ist ein Stück, das Sie interessieren könnte. Es geht, neben einer dramatischen Liebesgeschichte, auch um die Frage, ob man als junger Mensch auswandern und sein Glück jenseits des Horizonts suchen, oder eher in vertrauter Umgebung durch der Hände Arbeit erschaffen solle. Und es wird in einem netten, nicht allzu grossen Theater gezeigt. Es würde mich freuen, wenn Sie uns dabei begleiten wollten."
Mit Herzklopfen sagte Julia zu. Da sie nicht wusste, was sie für den Abend anziehen sollte, fragte sie Mary McD, ob sie ihr vielleicht etwas ausleihen könne. Diese freute sich darüber und war zuversichtlich, dass sie schon etwas Passendes finden würden. Doch kurz vor der Anprobe, die sie für den Vortag des Theaterbesuchs abgemacht hatten, kam Mrs. Bailey mit zwei Abendkleidern in Julias Zimmer und bat sie, diese gleich auszuprobieren.
"Die sollten ihnen beide gehen, mir sind sie zu eng geworden, leider. Und die Länge ist fürs Theater genau richtig, würde ich sagen. Zeigen Sie mal!"
Etwas befangen schlüpfte Julia vor der Dienstherrin aus Rock und Bluse und in die leise parfümierten Kleider, die auf ihrem Bett lagen. Das eine war schwarz, bestand aus einem wadenlangen schmalen Rock und einem hüftlangen Jackett, unten verziert mit dunkelroten Seidenbändeln, die zu einem weiten Karomuster aufgenäht waren. Die Ärmel waren lang und trugen am Unterarm je eine Reihe von vier Stoffknöpfen. Die dazugehörige Seidenbluse war anthrazitfarben und trug ein ähnliches dunkelrotes Karo wie das Jackett. Mrs. Bailey band ihr noch eine schwarze Seidenschleife unter den Ausschnitt und liess sie sich dann um sich selber drehen.
"Das ginge auf jeden Fall schon mal. Steht Ihnen gut. Vielleicht aber doch etwas düster. Und brav! Probieren Sie mal noch das andere."
Dieses war aus flaschengrünem Satin und bestand auch aus zwei Teilen. Der Rock begann an der Taille fein gefältelt. Auf Hüfthöhe dann folgte ein breiter Saum mit einem Zierbändel, der über den Hüftknochen in fast rechtem Winkel nach unten abbog, links und rechts eine seitlich abstehende Tasche säumte, um dann wieder auf dieselbe Höhe aufzusteigen und den Rock über dem Hinterteil abzuschliessen. Von diesem Saum abwärts fiel der Stoff in wenigen einfachen Falten bis auf Wadenhöhe hinunter. Darüber war ein kurzes, nur bis zu Taille reichendes Jäckchen mit langen Ärmeln zu tragen. Derselbe Zierbändel wie auf dem Rock bildete auf Brust und Rücken ein rahmenartiges Ornament. Als Julia sich im Spiegel anschaute, kam sie sich noch fremder vor als im schwarzen Kleid. Wenigstens war der Ausschnitt hier weniger tief. Aber Mrs. Bailey war begeistert.
"Das ist es, das hat das gewisse It! Sie sehen fantastisch aus darin! Da werde ich sehen müssen, dass Sie mir nicht den Rang ablaufen."
Sie drehte Julia hin und her und lachte anerkennend.
"That's really the cat's meow!"
Als die drei Frauen nebeneinander in den Samtpolstern des Little Theatre sassen und auf den Beginn der Aufführung warteten, rutschte Julia unruhig hin und her. Ihre Erfahrung mit Theater war sehr beschränkt. Im Dorf hatte sie als Kind einmal das Stück eines Wandertheaters gesehen, von dessen Handlung sie fast nichts verstanden hatte, weil sie zu kompliziert gewesen war und die Schauspieler ein gestelztes Französisch sprachen. Sie reihten einen derben Spass an den andern, das jugendliche und erwachsene Publikum hieb sich auf die Schenkel und beteiligte sich am Geschehen auf der Bühne durch Zwischenrufe und sogar durch Werfen von Gegenständen. In Pruntrut hatte sie als junges Mädchen ein patriotisches Stück gesehen, so hölzern und langweilig, dass sie keine Ahnung mehr von dessen Handlung hatte.
Das Licht im Saal wurde so langsam schwächer, dass sie es zuerst gar nicht bemerkte. Als es ganz dunkel war, verstummten die Zuschauer, und in die Stille hinein öffnete sich der Vorhang. Julia hielt die Luft an.

Von dem, was sie damals auf der Bühne sah, oder besser: erlebte und erlitt, musste sie ihrer Schwester Mathilde später immer wieder erzählen. Es beschäftigte sie den ganzen Sommer und Herbst über, manchmal so intensiv, dass sie durch Ermahnungen der Herrschaften aus ihren Träumereien gerissen werden musste. Nie hatte sie damit gerechnet, das Theaterstück könnte so viel mit ihr selber zu tun haben, mit ihren Träumen und Sehnsüchten, Schrecken und Ängsten. Mehrmals hatte sie nach dem Öffnen des Vorhangs gemeint, zu Hause in Cornol zu sein, obwohl das Stück, wie sie wusste, im Mittleren Westen von Amerika spielte. Die Weggabelung am Rand eines Hügels mit dem alten Apfelbaum verwandelte sich in ihren Augen in den Ort, wo sie sich als Jugendliche getroffen hatten um zu tratschen und zu schäkern, dort hatte sie zum ersten Mal einen Jungen geküsst. Es half nicht, dass sie sich zwischendurch zwang, auf die bemalte und schon etwas brüchige Jute der Kulissen zu achten, oder auf da und dort hervorstehende Enden von Dachlatten. Die Stimmen der Schauspieler gingen ihr durch Mark und Bein. Mrs. Lemen hatte ihr schon in der ersten Szene ein Taschentuch geben müssen, als Ruth Robert ihre Liebe gestand und ihn damit zum Bleiben bewegen konnte. Und wie sie, Julia, sich verliebt hatte in diesen Robert! Oder in den Schauspieler, Richard Bennet, sie wusste es nicht. Es war so verwirrend gewesen, Roberts, Andrews und Ruths Leben in knapp zwei Stunden an sich vorbeiziehen und sie altern zu sehen. Die zunehmende Verwahrlosung der bäuerlichen Stube hatte ihr Angst gemacht, und sie fragte sich nun dauernd, ob ihr Bruder Alcide zurecht komme mit ihrem kleinen Hof. Wie es dem Vater wohl gehe mit seiner Lunge. Dass Robert auf der Bühne an seiner Tuberkulose sterben musste, hatte sie unerträglich geplagt. Und eigentlich war sie froh gewesen, dass die Handlung der Geschichte gegen Ende zu dick aufgetragen und dadurch etwas lächerlich gewirkt hatte, wie auch Mrs. Bailey und vor allem Mrs. Lemen fanden. Sie wurde dadurch aus ihrer Verwicklung mit dem Geschehen auf der Bühne geworfen und konnte sich etwas sammeln, bevor das Licht im Saal wieder anging.
Auf der Heimfahrt mit dem Taxi hatte sich Mrs. Lemen entschuldigend an sie gewandt.
"Ich wusste nicht, dass die Geschichte so tragisch verlaufen würde. Ich hoffe, es hat Sie nicht zu stark mitgenommen!"
Julia konnte nur heftig den Kopf schütteln. Fast wäre sie wieder in Tränen ausgebrochen.

Dabei war die Zeit nach diesem Ereignis eine einzige Glückssträhne gewesen. Mitte Juni waren sie mit dem speziellen Ferien-Express an die Küste von Maine gefahren, oder genauer auf die Desert-Island, nach Bar Harbour, wo Mr. Bailey für sie ein grosszügiges Cottage gemietet hatte. Das Fachwerkhaus hatte achtzehn Zimmer, verteilt auf vier Stöcken, gehörte zu einem Hotel mit dem Namen The Malvern, und stand an einer breiten, mit prächtig bepflanzten Blumenkisten dekorierten Strasse in der Nähe des Hafens. Die Sommergäste waren erst am Eintrudeln, viele Cottages standen noch leer, aber das änderte sich schnell im Juli, wo man für ein Abendessen in einem der Restaurants in Meeresnähe rechtzeitig einen Tisch vorbestellen musste. Julia ass zum ersten Mal Hummer und Languste. Muscheln kannte sie schon, aber hier waren sie frisch wie nirgends sonst. Wenn sie manchmal am frühen Morgen nicht mehr schlafen konnte, stand sie auf und machte einen Spaziergang, bei Ebbe auf der Kiesbank, die dem Städtchen den Namen gegeben hatte. Dort konnte man den Muschelsammlern zusehen, die sie von Weitem an die Kartoffelernte zuhause denken liess, eine Fläche mit verstreuten, tief gebückten Gestalten. Das Meer war sehr kalt, zu kalt zum Baden. Trotzdem fuhren sie ein paar Mal an die Sand Beach mit einem gemieteten Pferdegespann. Dort gab es bequeme Strandkörbe, welche Mrs. Bailey und ihre Mutter in die Nähe derjenigen von Bekannten rückten und stundenlange Gespräche führten, sich dazu Eiswasser und Gebäck kommen liessen. Elsie bekam regelmässig ihr Eis, gleich nachdem man am Strand ankam. Dann rannte sie los zu den anderen Kindern mit ihrem Kesselchen, den Schaufeln und Rechen, und Julia musste schauen, dass sie sie nicht aus den Augen verlor. Um zu baden, musste man an einen der Seen fahren, wo das Wasser zwar rötlich braun aber warm war. Mrs. Bailey traute der Farbe nicht, aber Mrs. Lemen sprang beherzt hinein und holte dann auch Elsie, der sie zuvor einen Schwimmring aus Korkstücken um den Bauch gebunden hatte. Sie war entschlossen, ihrer Enkelin das Schwimmen beizubringen. Julia staunte, wie rüstig und beweglich der drahtige Körper dieser Frau war, die im Herbst sechzig werden sollte. Sie selber konnte bei Weitem nicht so gut schwimmen wie Mrs. Lemen, mit ihr zusammen aber traute sie sich auch weit hinaus auf den See und war nach der Rückkehr an Land ganz wackelig auf den Beinen. Im Föhrenwald, der bis ans Wasser reichte, fanden sie zum grossen Entzücken Elsies Blaubeeren in rauen Mengen. Auf einem der Ausflüge in den Wald kam Mary M mit, die Köchin. Mit ihr und Elsie zusammen ging Julia Pilze suchen. Es hatte zwei Tage vorher geregnet, weshalb sie sicher waren, etwas zu finden. Dass sie auf so viele und so verschiedene Pilze stossen würden, überraschte sie dennoch. Ein paar knackige Steinpilze waren dabei, mehrere Hände voll Totentrompeten, ein grosser Büschel eines Pilzes, den Mary M hen of the wood nannte und ein paar junge Bovisten. Mrs. Bailey und Mrs. Lemen wollten nur von den Steinpilzen probieren, weil sie die selber kannten, also wurden diese separat gebraten für die Damen. Aus dem grösseren Rest wurde ein herrliches Mitternachtsmahl für die Angestellten. Mary M hatte sogar eine Flasche Weisswein auftreiben können, und Mrs. Lemen, die nicht schlafen konnte, setzte sich schliesslich auch noch dazu und probierte von der Pilzpfanne. Es war bei dieser Gelegenheit gewesen, dass sie Julia zum ersten Mal gefragt hatte, ob nicht auch ihre Schwester bei den Baileys arbeiten wolle. Sie habe vor, in den nächsten Jahren ein- zweimal nach Europa zu reisen mit ihrer Tochter und der Enkelin. Sie selber werde wohl nicht mehr so oft und so lange am Stück in Denver wohnen wie bisher, und zudem habe die Köchin angekündigt, dass sie im Oktober heiraten und ihre Stelle aufgeben wolle. Ob Julia und ihre Schwester auch kochen könnten zur Not. Und so gab Mathilde ihre Stellung auf Long Island mit Freude auf und zog in die Wohnung an der Park Avenue zu ihrer Schwester ein. Allerdings nicht für lange, denn bald darauf zogen die Baileys um in eine noch grössere Wohnung, auf zwei Stockwerken. Das Haus Nummer achthundertfünfzig an der Park Avenue war auch aus braunen Backsteinen gebaut und ähnlich hoch wie das vorherige, die Wohnungen aber deutlich grosszügiger und auch teurer. Der Umzug war für alle Beteiligten anstrengend und dauerte über eine Woche, und als man bereits die Wohnung bezogen hatte, musste darin zum grossen Ärger von Mr. Bailey noch gegipst und gestrichen werden. Auch hingen zum Teil noch die nackten Glühbirnen von den Decken. Schliesslich aber war alles so, wie man es sich vorgestellt hatte, und der Hausherr hatte nun sogar einen Flügel an Stelle des früheren Klaviers.

Im Januar erreichte sie die Nachricht, dass ihr geliebter Papa seinem Lungenleiden erlegen war. Joséphine reiste sofort nach Hause, kam dort aber erst einige Tage nach dem Begräbnis an. In einem langen Brief berichtete sie von der grossen Anteilnahme der Verwandten und Freunde in Dorf, aber auch derer aus Asuel, von wo der Vater herkam. Er war in Cornol begraben worden auf einem Plätzchen nahe des Friedhofseingangs, und nahe der Kirche, wie Joséphine schrieb. Die Mutter sei sehr tapfer, und Alcide schaue in bewundernswerter Weise zu ihr. Sie, Joséphine, bleibe nun sicher bis zum Herbst, und vielleicht könnten die Schwestern ja dann im nächsten Jahr kommen, wenn es ihre Herrschaften zuliessen. Sie versprachen es in ihrem Antwortbrief. Mathilde war wohl auch traurig, aber man konnte es ihr nicht so ansehen wie Julia, die vor allem unter der Unumkehrbarkeit der Tatsache litt, dass sie ihren Vater nie mehr würde lachen hören. Nie mehr seine raue Hand im Nacken spüren, oder seinen Schnurrbart auf der Stirn, wenn er ihr den Gutenachtkuss gab. Das Glitzern in seinen Augen sehen, wenn er eine seiner Geschichten erzählte und es genoss, die Zuhörer am Haken zu haben. Immer wieder musste sie die Vorstellung, wie er gestorben sein könnte, zur Seite schieben, eine Vorstellung, die eigentlich das Bild aus dem Theaterstück war, als Robert hustend gestorben war und sich kurz darauf vor dem klatschenden Publikum verbeugt hatte. Eine solche Finte hätte auch zu ihrem Vater gepasst. Aber der richtige Tod war eben kein Schauspiel, das man hinter sich lassen konnte. Es tröstete sie, Mathilde in ihrer Nähe zu haben. Und trotz allem bereute sie es nicht, jenseits des Horizonts gefahren zu sein.

Mittwoch, 18. August 2021

1920 – ein neues Jahrzehnt

Das neue Jahrzehnt begann trocken, aber Mitte Januar kamen Kälte und Schnee aus dem Norden. "Schon wieder!" und "Einmal mehr!", sagten die New Yorker, holten Mäntel und Stiefel, Mützen und Handschuhe aus den Kästen und stellten sich ein auf die übliche Verlangsamung des Pulses ihrer Stadt, wenn das harsche Winterklima über sie hereinbrach. Sieben Wochen lang lag der Schnee ohne Unterbruch im Central Park. Zwar türmte er sich nie so hoch wie in den vergangenen Jahren, als er tagelang jeden Verkehr in den Strassen zum Erliegen gebracht hatte und Tonne um Tonne des abgeräumten Matschs in den Hudson und den East River gekippt werden musste. Aber es war einmal eine Woche lang so kalt, dass die Vögel erfroren von den Bäumen fielen, jedenfalls gab es Leute, die dies behaupteten. Und der Februar begann mit einem Sturm, der mit Schnee, Graupel und Eisregen durch die Strassen fegte, die im nachfolgenden Sonnenschein glasiert dalagen, mit ihrem gesamten Inventar. Die Gehsteige funkelten und glänzten, aber betreten durfte man sie nicht ohne das Risiko einzugehen, sich sämtliche Knochen zu brechen. Elsie aber konnte nicht genug kriegen von Schnee und Eis. Die Eltern kauften ihr einen Schlitten, mit zwei schön gebogenen Hörnern und einem Kindersitz, dessen Lehne mit einem Schafsfell ausgepolstert wurde. Zu ihren warmen Wintersachen wurde das Mädchen noch in eine Wolldecke eingewickelt und so, dick eingemummt, auf das Gefährt gesetzt, das nun Julia in den Park ziehen konnte. Den beliebtesten Hügel fanden sie schnell wegen des lustvollen Kindergeschreis, das sich von dort ausbreitete, und sie trafen auch auf viele von Elsies Park-Freundschaften, die sich, wie sie begleitet von ihren nurses, auf der kurzen Abfahrt vergnügten. Zuerst aber musste der Schlitten hinaufgezogen werden. Als Elsie sah, wie die meisten Kinder diese Aufgabe alleine meisterten, wollte sie es ihnen gleich tun. Julia half ihr, den Sitz und die Decke zu entfernen, und verstaute beides neben einem Baum, bevor sie sich beide auf den Weg nach oben machten. Man musste der Kleinen einschärfen, nicht auf die Piste der Herabfahrenden zu treten, weil die meisten weder richtig lenken noch bremsen konnten. Julia schlug ihr vor, dass sie zuerst eine Abfahrt zu zweit versuchen sollten, womit Elise auch einverstanden war. Als sie sich beide auf den Schlitten setzen wollten, merkten sie, dass er für beide eigentlich zu kurz war. Sie versuchten es trotzdem, Julia mit klopfendem Herzen, denn sie war seit einigen Jahren nicht mehr gefahren. Aber was für eine Freude war das, als sie Fahrt aufnahmen, zuerst langsam, dann immer schneller. Ihre Füsse wussten von alleine, was sie zu tun hatten, sie lenkte das Gefährt mit ihren Fersen sicher zwischen den Hindernissen hindurch. Schreien musste sie vor Wonne. Erst als sie unten ankamen, wurde ihr bewusst, dass Elsie keinen Ton von sich gegeben hatte. Sie beugte sich über sie und sah ihr erschrecktes Gesicht. Tränen liefen ihr die Backen hinunter, aber die kamen Gottseidank nur vom Fahrtwind, denn nun begann das Mädchen zu strahlen. Es holte tief Luft und musste nun auch herausschreien:
"That was tough! Again!"
Nach ein paar weiteren Fahrten zu zweit wollte es Elsie alleine probieren. Julia war unsicher.
"Kannst du denn steuern und bremsen? Komm, wir probieren es zuerst auf einem flachen Stück. Ich ziehe dich, und du lenkst den Schlitten, und hältst ihn dann an."
Elsie machte ihre Sache gut, und so liess Julia sie schliesslich alleine losziehen.
"Ich warte unten auf dich."
Es ging nicht lange, da konnte Elise dorthin steuern, wo Julia stand, und es gelang ihr sogar, genau vor ihren Füssen zu halten. Bei einer der letzten Fahrten – man hatte noch weitere drei abgemacht, dann werde man heimgehen – wartete Julia am Ende der Abfahrt auf der anderen Seite, ohne zu überlegen, was dies für Folgen haben könnte. Sie stand nun links, ihr Schützling kam rechts herunter. Als sie Julia sah, änderte Elsie abrupt die Richtung und fuhr schräg über die Piste. Ein grosser Junge, der auf seinem Schlitten liegend daherfegte, fuhr sie über den Haufen. Es gab ein grosse Durcheinander und Geschrei, Julia hörte Elsies Klagerufe bis zu sich unten und rannte los. Als sie bei den beiden Kindern ankam, hatte der Junge die heulende Kleine schon auf die Beine gestellt und klopfte ihr den Schnee vom Mantel. Dazu tadelte er sie sanft:
"Was machst du denn? Du kamst so plötzlich von links in meine Bahn, ich konnte nicht mehr ausweichen! – Tut mir leid!"
Und zu Julia:
"Bitte, Miss, hab's nich extra gemacht, glauben Sie mir!"
Julia beschwichtigte ihn, sie habe es gesehen, er könne nichts dafür. Elsie weinte laut und musste in den Arm genommen werden. Als sie ihre Hand nicht von der Stirne nehmen wollte, musste Julia genauer schauen. Was für ein Mist, das wird eine Beule geben! Sie nahm den Schlitten mit der einen Hand, hob Elsie hoch und trug sie zum Rand der Piste. Dort kratzte sie sauberen Schnee zu einem kleinen Fladen zusammen und drückte ihn auf Elsies Stirne.
"Immer fest draufhalten, dann macht es bald nicht mehr weh!"
Und die Beule wird weniger gross und farbig, hoffte sie. Das wird ein Donnerwetter geben zu Hause!

Wie sie befürchtet hatte, erschütterte der Vorfall für eine Weile das Vertrauen der Dienstherrin in ihre Zuverlässigkeit und sie durften vorerst nicht mehr schlitteln gehen. Die Kleine litt mehr darunter als sie. Ihr war es in die Glieder gefahren, wie schwer die Verantwortung auf ihr lastete, wenn sie mit Elsie alleine unterwegs war. Bald aber lernte sie Mrs. Baileys Mutter, Elsies geliebte grandma kennen, für die, als Frau eines Chirurgen, eine einfache Beule zum Aufwachsen eines Kindes einfach dazu gehörte. Die Diskussion zwischen Elsies Mutter und Grossmutter wurde dadurch entfacht, dass Mrs. Lemen ihrer Enkelin ein paar Schlittschuhe aus Denver mitgebracht hatte und resolut bestimmte, die ganze Familie solle bei diesem herrlichen Winterwetter auf dem zugefrorenen See im Central Park schlittschuhlaufen gehen.
"Du hast das doch immer so gerne gemacht, Margaret, und du warst auch richtig gut darin! Auch Dewey würde ein bisschen Bewegung gut tun. Habt ihr eure Stiefel noch? Ich habe zwei Paar mitgebracht, vielleicht kann dann sogar Miss Julia mitkommen. Sind Sie in ihrer Heimat nicht auch Schlittschuh gelaufen?"
Die freundliche Bestimmtheit und die Kraft dieser Frau waren unwiderstehlich, das wurde Julia bald deutlich. Mrs. Elsie Lemen war eine drahtige Person mit einem hageren Gesicht und auffallend kräftigen Händen und Unterarmen. Die Augen hinter der Brille mit feinem Drahtgestell blickten unerschütterlich selbstbewusst, aber auch freundlich und offen. Ihre Stimme war tief und sehr vernehmbar, das Lächeln entwaffnend. Die Tochter gab seufzend und schulterzuckend nach, aber man merkte, dass sie ihrer Mutter aus Erfahrung vertraute und recht gab.

Mitte Februar starb Doktor Lewis E. Lemen mit einundsiebzig Jahren unerwartet in Denver, Colorado. Mr. Bailey nahm ein Woche frei in der Kanzlei, um seine Frau an das Begräbnis begleiten zu können. Sie beschlossen, Elsie nicht mitzunehmen, erstens weil die Reise pro Weg zwei Tage dauerte und zweitens weil sie der Meinung waren, es sei zu früh, die Sechsjährige an einer Bestattung teilnehmen zu lassen. Wenn Julia an die Begräbnisse in Cornol dachte, bei denen jeweils alle Kinder des Dorfes in irgendeiner Weise dabei waren, konnte sie diese Zurückhaltung nicht verstehen. Dazu kam, dass Elsie zum Tod des Grossvaters viele Fragen hatte, auf welche die Eltern ihr sehr zurückhaltend oder gar ausweichend antworteten. Julia dachte deshalb, es hätte dem kleinen Mädchen geholfen, den aufgebahrten Leichnam zu sehen, wie sie es schon als ganz kleines Mädchen bei den Grosseltern und andern Verwandten erlebt hatte. Auch das Bild, wie sich ein Sarg in die Grube absenkt, hatte sie als Kind nicht erschreckt, und sie meinte, dies wäre bei Elsie nicht anders. Aber sie musste sich auch sagen, dass sie noch nie einen sehr nahen Menschen verloren hatte, darum erlaubte sie sich kein Urteil gegenüber den familiären Entscheiden der Baileys. Und natürlich enthielt sie sich auch jeglicher Bemerkung diesbezüglich. Mrs. Bailey hatte die Nachricht vom Tod ihres Vaters in eine grosse Traurigkeit gestürzt, wodurch sie Julia in einem ganz neuen Licht erschien. Sie hatte die Dienstherrin bisher als eine sehr selbstbewusste, in sich ruhende und heitere Frau erlebt, die grossen Wert auf ein elegantes und gepflegtes Äusseres legte. Nun hatte sie dunkle Ringe um die Augen, ihr Gesicht war aufgedunsen und sie liess ihre Schultern hängen. Sie kleidete sich fast nachlässig oder ging gar den ganzen Tag im Morgenmantel umher. Diese Veränderung entging auch ihrem Mann nicht, und es war offensichtlich, dass er sich grosse Sorgen um sie machte. Als sie schliesslich nach Colorado aufbrachen, liessen die Herrschaften die riesige Wohnung still und bedrückt zurück. Julia und die beiden zurückgebliebenen Hausangestellten, die sie inzwischen wegen ihrer gleichen Vornamen Mary M und Mary McD nannte, gaben sich alle Mühe, Elsie bei guter Laune zu halten. Einar, der Chauffeur, erleichterte die Aufgabe. Er hatte frei für die Woche, in der sein Dienstherr in Denver war, und war ein unbeschwert fröhlicher junger Mann. Wenn die Kleine im Bett war, kam er zu Besuch in die Küche und brachte immer Schnaps mit, für den er eine gute Quelle besass. Mary M kochte etwas Gutes und dann konnte es vorkommen, dass man bis in die frühen Morgenstunden zusammensass.

Als die Herrschaften zurückkehrten, brachten sie die Witwe mit. Mrs. Lemen hielt es in ihrem Haus nicht alleine aus, wenigstens nicht für den Augenblick, und so war beschlossen worden, sie solle für eine Weile bei der Tochter, dem Schwiegersohn und ihrer Enkelin wohnen. Platz für sie gab es mehr als genug in der Wohnung, und Elsie war überglücklich, die Grossmutter um sich zu haben. Julia befürchtete, ihre Aufgabe als Kindermädchen könnte stark eingeschränkt werden und auch, durch das Dreinreden einer erfahrenen Mutter und nahen Bezugsperson, sehr erschwert. Aber zu ihrem grossen Erstaunen sprach Mrs. Lemen solche möglichen Erschwernisse gleich selber an, und zwar lächelnd und sich selber durchaus nicht allzu ernst nehmend.
"Ich bin eine Vatertochter, Miss Chiquet, und Arztfrau und Mutter gewesen fast ein Leben lang. Also machen Sie sich nichts draus, wenn ich manchmal so töne, als wüsste ich es besser. Ich habe allen Respekt gegenüber der Arbeit, die Sie leisten, und man sieht auch, dass Sie es gut machen mit der kleinen Miss Elsie. Sie wird wohl probieren, von mir Dinge zu bekommen, die Sie ihr versagt haben, Kinder sind so. Aber wir werden das hinbekommen." Für Julia war die Art und Weise völlig neu, wie diese Frau, die ihre Mutter hätte sein können, zu ihr sprach. Von Schwierigkeiten, die sie selber geahnt hatte, von sich aus zu reden begann, als könnte sie in ihr Herz schauen und nicht, wie sonst meistens ältere Frauen, schon alles zu wissen behauptete und ihr, der jüngeren, Anweisungen gab, oder in Ratschlägen versteckte Befehle. Hatte sie nicht sogar solche Besserwisserei beiläufig als eine Macke dargestellt von erfahrenen Frauen, auch von ihr persönlich, und sie, Julia, aufgefordert, sich dadurch nicht beirren zu lassen? Sie hatte anerkennende Worte gefunden für ihre Arbeit, obwohl sie davon noch wenig hatte sehen können, und ihr die Hand gereicht zu einer Art von Miteinander in der Betreuung Elsies. Es war fast zuviel des Guten, und Julia beschloss, sich etwas Misstrauen zu bewahren. Beeindruckend fand sie aber auf jeden Fall, wie wenig sich Mrs. Lemen die Trauer um ihren verstorbenen Gatten anmerken liess. Julia hatte sie nachts ein paarmal hinter verschlossener Zimmertüre verzweifelt schluchzen gehört, aber am Tag zeigte sie sich stets ausgeglichen und sogar heiter. Vielleicht half ihr die Sorge um ihre Tochter, die zeitweise in Melancholie zu versinken drohte, und der gegenüber sie sich als verlässliche Stütze zeigen wollte. Sie sorgte dafür, zusammen mit Mary McD, dass Mrs. Bailey morgens aus dem Bett kam, sich korrekt anzog und zurechtmachte. Dann bestand sie auf einem täglichen, gemeinsamen Spaziergang im Park, zu dem meist auch Elsie und Julia mitgenommen wurden. Sie schleppte ihre Tochter auch bald wieder zu Theateraufführungen oder Konzerten, obwohl die sich zunächst dagegen sträubte. Langsam aber kehrten Mrs. Baileys Lebensgeister wieder zurück.
"Wenn der Frühling kommt und es wärmer wird, geht es uns wieder besser, Sie werden sehen", meinte sie zu Julia, die einmal mehr von solcher Vertraulichkeit überrascht war. Mr. Bailey jedenfalls war sichtbar glücklich über die feinen Anzeichen von Aufhellung im Gemüt seiner Frau. Bald getraute er sich sogar, in ihrer Gegenwart mit der Schwiegermutter über Politik zu streiten. Er war zuversichtlich, dass der neue Präsident ein Republikaner sein werde, und die Parole back to normalcy dem Kandidaten seiner Partei den nötigen Schub verleihen werde, während sie die Haltung des Laissez-faire gegenüber der Wirtschaft als Demokratin harsch ablehnte und auch der Meinung war, die Vereinigten Staaten sollten dem Weltfrieden zuliebe dem Völkerbund beitreten. An Präsident Wilson habe ihr vieles nicht gepasst, seine unverhohlene Verachtung für die schwarze Bevölkerung zum Beispiel, aber den Anstoss für den Völkerbund habe er schliesslich gegeben und dafür auch zu Recht den Friedensnobelpreis bekommen. Und zudem seien seine, Mrs. Baileys, Republikaner für das Alkoholverbot, was er doch auch für einen Unsinn ansehe, an den zu halten er sich weigere. Man wurde sich nicht einig, aber der Streit belebte und erfrischte, das sah man. Und Julia merkte, wie wenig sie in den letzten Monaten davon mitbekommen hatte, was in der Welt passiert war.

Das änderte sich im Frühling, als sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Alcides Freunde treffen konnte, Liam und Kuiwa O'Fallan, sowie deren schwarze Freundin Margaret. Diese war mit Julia und Mathilde zusammen eingeladen in der neuen Wohnung des Ehepaars in Queens. Aus ihrer alten im Quartier Tenderloin waren sie ausgezogen, weil der Besitzer auf dem Grundstück ein grosses Warenhaus hatte bauen wollen. Auch Margaret wohnte nicht mehr in Manhattan, weil es ihr dort zu teuer geworden war. Sie teilte jetzt eine Wohnung mit einer Arbeitskollegin in Harlem, in einer Umgebung, in der sich immer mehr Menschen wie sie, aus der schwarzen Mittelschicht, niederliessen. Allerdings mussten sie etwa vierzig Minuten mit der Hochbahn fahren, um zu ihrer Schule in Soho zu kommen, und abends, wenn sie müde und die Züge überfüllt waren, wieder zurück in den Norden.
"Aber man kann nicht alles haben", fand Margaret, "Die Nachbarschaft ist lebendig, New Negro, kaum Weisse halt. Aber wahrscheinlich geht es noch nicht anders, und wir fühlen uns dort wohl und sicher."
"Solange nicht die Polizei auftaucht!", frotzelte Liam. Margaret musste ihm recht geben.
Auch den O'Fallans gefiel es in Queens, ausser an den Tagen, an denen der Ostwind wehte und alles mit einer gräulichen Ascheschicht aus den Deponien überzog. Das war aber zum Glück selten. Ihre Tochter, die sie erst bekommen hatten, als beide die Hoffnung schon ganz aufgegeben hatten, war nun fast so alt wie Elsie Bailey. Liam hatte mit viel Glück eine Stelle in der Buchhaltungsabteilung bei Stainway & Sons bekommen, was ein weiterer Grund dafür gewesen war, hierher nach Queens zu ziehen. Und Kuiwa arbeitete wieder ab und zu in dem früheren kleinen Atelier, in dem hauptsächlich Abänderungen an Damenkleidern gemacht wurden. Dass sie dafür wie Margaret einen weiten Weg zurücklegen mussten, störte sie nicht. In der Hochbahn konnte sie ihren Gedanken nachhängen, Zeitung lesen oder die Leute beobachten, was, wie sie lachend gestand, eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war.
"Vielleicht schreibe ich mal eine Geschichte über meine Fahrten mit der Hochbahn!"
Margaret spottete:
"Wenn du sie unter einem schmissigen Männernamen veröffentlichst, kommst du vielleicht sogar gross raus damit!"
"Aber nicht unter meinem!", warf Liam ein, fast schon im Ernst.
Die Rechte der Frauen war noch immer eines der wichtigsten Themen für Kuiwa, wie Julia und Mathilde feststellen konnten, und sie war sehr glücklich darüber, dass nun das Wahlrecht endlich Realität geworden war.
"Ja, für euch weisse Frauen!", wandte Margaret ein. "Aber für viele schwarze Frauen, für zu viele, sind die Auflagen nicht zu erfüllen: die Fähigkeit, zu lesen und, noch weniger, der Nachweis, dass sie die letzten Jahre am selben Ort gewohnt und Steuern bezahlt haben. Wir sind doppelt benachteiligt, darum haben sich viele von uns zurückgehalten in der Unterstützung der weissen Suffragetten. Und haben sich mehr eingesetzt für allgemeine Menschenrechte, die wirklich für alle gelten müssen, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Nation und was weiss ich noch alles!"
Die Diskussion wurde mit Eifer geführt am grossen ovalen Tisch. Die leer gegessenen Teller standen, gegen die Mitte geschoben, noch da. Kuiwa hatte mit Margarets Hilfe am Nachmittag einen irischen Eintopf aufgesetzt, Liam dazu eine beeindruckende Menge an Milchflaschen besorgt, die er in einer nahen Flüsterkneipe hatte mit Bier füllen lassen. Die kleine Tochter, die wie Alcides Freundin Fiona hiess, begann zu quengeln und musste von ihren Eltern ins Bett gebracht werden. Julia räumte mit Margaret zusammen den Tisch ab, Mathilde hatte schon mit dem Abwasch begonnen. Als wieder alle am Tisch sassen, erschien Fiona noch zweimal, musste zuerst aufs Klo, dann noch Wasser trinken. Als man nichts mehr von ihr hörte, verschwand Liam in der Küche und kam wenig später mit einem Tablett zurück. Darauf balancierte er fünf dampfende Gläser.
"Sein Dessert, irish coffee!", rief Kuiwa, und klatschte in die Hände. "Vorsicht, unter dem Schagsahnedeckel ist es sehr heiss!"
Julia versuchte vorsichtig. Die heisse Flüssigkeit rann durch ihre Kehle und hinunter zum Magen wie eine Feuerschlange, explodierte dort und breitete sich aus als warme Welle, die schliesslich, jenseits ihrer Körpergrenzen, verebbte. Sie wollte etwas Anerkennendes sagen, aber als sie dazu einatmete, fuhr ihr ein zweiter Feuerstrahl in den Rachen.
"Ailairme, mon Diou! Das ist stark! Was hast du denn da hineingetan?
Sie sah, wie Mathilde mit hochgezogenen Schultern und verkniffenem Gesicht schluckte, dann ein paar Mal tief einatmete und sich mit der rechten Hand aufs Brustbein klopfte. Die Iren lachten ungeniert, Margaret schob ihr Glas hinüber zu Liam.
"Ich möchte lieber keinen. Alkohol und Wärme, das ist mir zu heftig."
Julia spürte, wie der Rausch langsam in ihren Kopf fuhr. Sie sah nicht mehr ganz scharf, aber noch war es angenehm. Jetzt war es ein Leichtes, zu fragen.
"Habt ihr Nachrichten von Fiona? Von der in Irland, meine ich natürlich."
Es wurde still am Tisch. Kuiwa und Liam sahen sich an, er bedeutete ihr mit einer Hebung des Kinns, sie solle sagen, was geschehen war.
"Sie hat geheiratet", sagte Kuiwa leise. "Es tut mir leid für Alcide, Julia. Ich weiss nicht einmal, ob sie ihm davon geschrieben hat."
Mathilde stand auf und machte das Fenster auf. Blieb dort stehen, mit dem Rücken zu ihnen. Julia war es, als hätte man ihr einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Sie war wieder nüchtern.

Über Alcide und Fiona sprachen sie nicht auf der späten Heimfahrt. Dafür fing Mathilde unvermittelt davon an, sie wolle die Stelle bei den ältlichen Bayne-Geschwistern aufgeben. Auf Julias Frage, ob sie denn schon etwas Neues in Aussicht habe, sagte sie:
"Ja. Ich gehe zu einer Mrs. John Slade. Kinderloses Ehepaar, wohlhabend. Bekannte der Baynes. Sie wohnen an der Lexington Avenue, zwischen der fünfunddreissigsten und sechsunddreissigsten Strasse, in einem zwölfstöckigen Backsteinhaus. Aber ich werde nicht da arbeiten, wenigstens vorerst. Sie geht immer von Mai bis September nach Long Island, nach Oyster Bay. Das kennst du ja."
"Ja, da war ich mit den Lesters."
"Genau. Ich glaube, die kennen sich auch, oder sind sogar entfernt verwandt. Jedenfalls haben die Slades dort ein Haus, sie hat ihre Hunde und Katzen dort, und ich werde sie begleiten. Mal schauen, was es da zu tun gibt. Und für wie lange."
"Warst du so unglücklich bei deinen alten Leuten?"
Mathilde antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte sie die Frage nicht gehört, weil sie gerade über die Queensboro-Brücke fuhren und der Zug zusammen mit der Eisenkonstruktion ein höllisch lautes Ratterkonzert veranstaltete. Als es wieder ruhiger wurde, sagte sie:
"Es war mir einfach zu still und zu einsam in dem Haus. Und ich hatte zu wenig zu schaffen. Die sind alle drei so ordentlich und sauber, die brauchten mich wohl mehr als Gesellschafterin. Aber dazu tauge ich nicht. Ich bin nicht lange in die Schule gegangen, ich weiss nichts, kenne nichts. Ich konnte nicht mithalten mit ihren Gesprächen, wusste oft nicht einmal, wovon sie sprachen. Ich muss etwas anpacken können."
Julia musste umsteigen und noch ein Stück mit der Hochbahn die dritte Avenue hochfahren. Mathilde begleitete sie bis zur Station, von wo sie die paar Schritte nach Hause alleine gehen wollte. Als sie auf den Zug warteten, fragte sie:
"Und wie geht es dir am neuen Ort? Sind sie anständig zu dir?"
Julia musste überlegen, was sich in den zwei Minuten bis zu ihrer Abfahrt noch erzählen liess, und womit sie anfangen sollte.
"In letzter Zeit habe ich auch manchmal vergessen, wozu ich dort angestellt bin. Aber es ist ganz anders als bei dir, glaube ich. Es liegt daran, dass jetzt auch die Grossmutter von Elsie bei uns wohnt, und dass ich von ihr und von Mrs. Bailey fast wie ein Familienmitglied behandelt werde. Ich weiss auch nichts, und kenne vieles nicht, wovon sie sprechen. Aber sie tun nicht so, als ob ich es kennen müsste. Und sie fragen mich immer wieder aus über Cornol, über die Welt, aus der wir kommen. Es scheint sie wirklich zu interessieren, wer ich bin."
"Ja, das ist wohl für sie wie Afrika, exotisch. Dann können sie sich gut vorkommen, wenn sie so freundlich sind zu einem Bauerntrampel wie du einer bist."
Julia war überrascht über den bitter spöttischen Ton ihrer Schwester.
"Nein, so ist es eben nicht!", hielt sie mit fester Stimme dagegen. "Du müsstest das erleben. Die Mutter, Mrs. Lemen, würde dir gefallen, da bin ich mir sicher. Und die kleine Elsie sowieso. Sie kommt im September in den Kindergarten, in die Bayard Taylor School an der York Avenue. Da werde ich sie dann hinbringen und holen müssen, ist etwa eine Viertelstunde zu Fuss. Mit ihr aber wohl länger."
Das Eisengerippe der Station begann zu vibrieren und kündigte den Zug an. Julia umarmte ihre Schwester.
"Wenn du auch zu uns kommen könntest, das wäre das Schönste."

Samstag, 7. August 2021

Bei den Baileys

Gegen Ende des ersten Jahres nach dem Grossen Krieg war sie wieder als Kinderfrau angestellt. Ganz ohne den älteren Bruder, auch ohne dessen Vermittler Edmond Jacquelin, den sie öd fand, war es ihr zusammen mit Mathilde gelungen, eine Anstellung wie aus einem Traum zu finden, dazu noch in der Nähe ihrer Schwester. Sie konnte ihr Glück nicht fassen. Nach ihrer Genesung hatte Mathilde ihre Herrschaften dazu bewegen können, Julia für eine Weile als zahlenden Gast im Hause aufzunehmen. Der Preis für die Miete war eher symbolisch und wurde auch nur für den ersten Monat erhoben, weil sie bald kräftig im Haushalt anpackte. Noch besser aber waren die Bemühungen der Hausherrin, der Ältesten unter den Geschwistern, für sie eine Arbeitsstelle zu finden im weiten Kreis ihrer Bekanntschaften. Miss Ruth Bayne bekam Kenntnis davon, dass Mr. und Mrs. Dewey C. Bailey Junior, ebenfalls wohnhaft in der Nachbarschaft von Lennox Hill, in der Upper Eastside von Manhattan, eine Kinderfrau für ihre fünfjährige Tochter Elsie Adell suchten. Die Eltern kamen beide aus Denver, Colorado. Mr. Bailey war Anwalt in einer Kanzlei an der Wall Street, Sohn des eben gewählten Bürgermeisters von Denver, Mayor Dewey Crossman Bailey, der davor US Marshall gewesen war. Mrs. Bailey kümmere sich neben dem Haushalt und ihren Mutterpflichten um vielerlei kulturelle und wohltätige Organisationen. Sie reise oft und gerne und begeistere sich für Kultur, Kunst und Mode, so die zusammenfassende Schilderung von Miss Bayne. Die Baileys bewohnten ein ganzes Stockwerk in einem der grossen Stadthäuser an der oberen Park Avenue, eine ausgezeichnete Adresse.

Wenn Julia jetzt an ihre erste Begegnung mit der neuen Dienstherrin zurückdachte, freute sie das immer noch. Sie war sehr aufgeregt gewesen an jenem Morgen, bevor sie sich zu Fuss aufgemacht hatte zu den Baileys. Ihr Weg auf dem Trottoir der breiten Strasse zog sich dahin, sie hatte eine Viertelstunde Zeit um sich ein weiteres Mal zu überlegen, wie sie einen guten Eindruck hinterlassen könnte, welche ihrer Eigenschaften, Fähigkeiten und Erfahrungen sie in den Vordergrund rücken sollte. Sie malte sich aus, wie sie vor Mrs. Bailey stünde, in ihrer Vorstellung eine imponierende, deutlich ältere patronne, die ihr von einem bequemen Sessel aus zuhören und sie dabei kritisch mustern würde. Sie nahm sich vor, nicht einfach weiter zu plappern, wenn sie eine Frage der Dienstherrin beantwortet hätte und diese danach schwiege, eine Schwäche von ihr. Aber es kam ganz anders. Als sie mit dem Lift zur Wohnung hoch gefahren war und auf den Klingelknopf drückte, hörte sie hinter der Tür eine helle Kinderstimme, die eifrig rief:
"Ich, ich!"
Das Schloss klackerte ein paar Mal, bis sich die Türe langsam öffnete. Dahinter stand ein kleines Mädchen, ganz in Weiss, das sie mit gerunzelter Stirn musterte. Als Julia sagte: "Du musst Miss Elsie sein. Hallo, ich bin Julia", drehte sich die Kleine suchend um. Da kam aus dem halbdunkel des Flurs eine junge Frau, die, nach Julias nicht sehr weit reichenden Kenntnissen, überaus elegant und nach der neusten Mode gekleidet, geschminkt und frisiert war. Sie lachte entschuldigend und streckte Julia energisch ihre Hand entgegen.
"Julia, bitte entschuldigen Sie. Elsie wollte Ihnen unbedingt selber aufmachen. Das ist, wie Sie bald bemerken werden, ihr Lieblingsausdruck in letzter Zeit: "ich selber!""
Ein Zimmermädchen nahm Julia den Mantel ab und sie folgte Mrs. Bailey, wobei sie deren sehr tiefes Rückendecolletée bewundern konnte. Sie kamen in ein geräumiges Studierzimmer, dessen Wände weiss gestrichen waren und sich in der Höhe über mehrere scharfe Rippen nach innen zu einer rechteckigen Kuppel wölbten. Der riesige Schreibtisch sah aus wie eine moderne Brücke, ein Schrank dahinter wie ein Wolkenkratzer. Bei beiden waren die senkrechten Flächen mit tiefen, schmalen Rillen verziert, was die Möbelstücke aussehen liess, als seien sie aus Eisen gemacht. Als die Dienstherrin Julias Staunen bemerkte, sagte sie:
"Wir lieben den Modern Style, wie Sie sehen. Es wandelt sich gerade alles, wir werden das bald wieder verändern müssen, fürchte ich. Aber bitte nehmen Sie doch Platz. Wollen Sie etwas trinken? Tee, Zitronenwasser?
Und zu ihrer Tochter, die ihnen gefolgt war, sagte sie:
"Elsie Schatz, du kannst nur hier bei uns bleiben, wenn du ganz still bist und dein Büchlein anschaust. Julia und ich haben Wichtiges zu besprechen."
Julia erwartete nicht, dass das kleine Mädchen diese Bitte erfüllen würde. Aber Elsie sass die ganze Zeit still an ihrem Platz. Auch als sie das Buch durchgeblättert hatte, blieb sie sitzen. Sie verstand wohl kaum etwas von dem, was besprochen wurde, dennoch schien sie zuzuhören und liess die grossen Augen zwischen ihrer Mutter und der neuen nurse hin und her wandern. Mrs. Bailey nahm sich viel Zeit für das Gespräch, das eher zu einem Monolog ihrerseits wurde. Julia musste sich sehr konzentrieren, um nichts von dem zu verpassen, was unmittelbar ihren zukünftigen Auftrag betraf, denn die Dienstherrin kam von einem zum andern, plauderte über Musik und Theaterstücke, über die bevorstehende Präsidentschaftswahl, bei der die Frauen nun endlich auch mittun durften. Über moderne Möbel, Kindererziehung, die Sorgen ihres Mannes wegen den Schwierigkeiten seines Vaters als Bürgermeister von Denver, über das Sommerhaus in Maine, die Macken des neuen Autos und noch vieles andere mehr. Die Besichtigung der Wohnung wurde dadurch eingeleitet, dass Elsie Julia die Zimmer zeigen durfte.

Dabei kam es Julia so vor, als sei sie selber dieses Persönchen, das da auf einem Bein, dann wieder auf dem andern, vor ihnen her hüpfte. Ab ins Kinderzimmer, wo das Schaukelpferdchen auf sie wartete, und das grosse Puppenhaus. Und die Bären. Schaut, was ich ihnen angezogen habe, dem kleinen das Häubchen, dem grösseren die Schürze. Das ist mein Bett, mein weiches Sprungbett, hei, wie ich fliege!
"Und da wirst du wohnen", gab sie Julia über die Schulter Bescheid, und öffnete die Türe zum Nebenzimmer, wo es ein grosses Bett gab, einen Kasten und eine Kommode. Die Waschschüssel mit fliessendem warmem Wasser, dahinter ein grosser Spiegel. Mrs. Bailey zog die Vorhänge zurück.
"Ihr Zimmer geht nach hinten auf die Gärten, Sie haben Glück! Der Verkehr auf der Park Avenue ist manchmal überdeutlich zu hören, leider. Und schauen Sie, dort ist die Kuppel der St. Jean Baptiste Church zu sehen, Sie sind doch katholisch? Es ist die Kirche der Französich-Kanadier, ich meine, dass dort Messen auf Französisch abgehalten werden."
Mathilde hatte ihr schon von dieser Kirche erzählt, nun würden sie bald gemeinsam dahin gehen können. Und in den grossen Park. Sie schloss für ein paar Sekunden die Augen und öffnete sie wieder, um sicher zu sein, dass sie nicht träumte. Elsie war in ihr Zimmer zurückgekehrt, Julia wurde von Mrs. Bailey in den Salon geführt. Auch hier waren die Wände weiss und liessen die Möbelstücke, Teppiche und Bilder in scharfem Gegensatz hervortreten. Jeder Gegenstand schien in einer geheimen Beziehung zu den anderen zu stehen, an einem kunstvoll berechneten Ort. Nicht wie bei ihnen zuhause, wo die Dinge im Gebrauch herumgeschoben wurden, bis sie da landeten, wo sie vergessen wurden, oder nicht mehr störten und blind gegriffen werden konnten. Und das, was nach und nach dazukam, dorthin gestellt oder gehängt wurde, wo es eben noch Platz gab. Mrs. Bailey zeigte ihr das Grammophon – Julia hatte gar nicht gewusst, dass es solche ohne Trichter gab – und die Schallplatten, die einen ganzen Schrank füllten. Ausserdem stand, an einer gegenüberliegenden Wand, ein Klavier.
"Ach die Musik! Sie werden sehen, was die für eine Rolle spielt bei uns. Manchmal schaffen wir hier alle Möbel und Teppiche beiseite und tanzen!"
Dann aber, als sie sich nochmals gesetzt hatten, war die Dienstherrin ganz darauf konzentriert, Julia ihre Aufgaben zu erläutern. Elsie sei noch nicht bereit für den Kindergarten. Man wolle sie noch spielen lassen, sie dabei gleichzeitig in ihren Fähigkeiten und Begabungen fördern. Das hiesse, sie beim Spielen sachte zu begleiten, sie anzuregen, mit ihr zu malen oder Puzzles zusammenzusetzen. Ihr Geschichten erzählen, singen. Wenn immer möglich, solle Julia mit ihr ins Freie gehen. Ein grosser playground im Central Park sei in fünf bis zehn Minuten zu Fuss zu erreichen, und Elsie habe viele kleine Freunde, die auch regelmässig dorthin kämen, um zu spielen. Im Sommer und bis in den Herbst hinein gäbe es dort Theateraufführungen und Konzerte, extra für die Kinder, und Elsie liebe das. Sie sei ein liebes Mädchen, das aber genau wisse, was es wolle. Manchmal könne sie bockig sein und müsse klare Grenzen gesetzt bekommen. Dann kam die Dienstherrin auf die Bezahlung, auf die Bedingungen bei Krankheit, auf Freizeit und freie Tage zu sprechen. Sie ging dabei tastend vor, wie wenn sie darauf gefasst wäre, Julia würde mehr verlangen, als sie anbot. Aber dafür gab es keinen Grund – fünfzig Dollars pro Monat! – und alles, was Mrs. Bailey in Aussicht stellte, übertraf Julias Erwartungen ebenso wie das, was sie bei den Leslies erfahren hatte. Wie dort sollte Julia weisse Kleidung tragen, als sichtbares Zeichen ihrer Aufgabe als Kinderfrau. Man würde ihr zwei oder drei Garnituren anfertigen lassen. Schliesslich holte Mrs. Bailey noch die andern zwei Hausangestellten, um sie Julia vorzustellen. Beide hatten irische Wurzeln und denselben Vornamen, Mary. Miss Morgan, die Köchin, war etwa vierzig Jahre alt, Miss McDonough war zweiundzwanzig, fünf Jahre jünger als Julia, und als Zimmermädchen angestellt. Man gab sich höflich die Hand und musterte sich dabei aufmerksam. Den norwegischen Chauffeur, Einar Larsen, werde sie am Abend kennenlernen, wenn er mit Mr. Bailey von der Wall Street zurückkomme.

Und es trat ein, was man ihr gegenüber immer als unmöglich, auch gar nicht erstrebenswert bezeichnet hatte im Verhältnis zwischen den Herrschaften und ihrem Personal: sie wurde Teil der Familie. Jedenfalls empfand sie es so. Mr. und Mrs. Bailey interessierten sich für Julia als Julia, sie wollten alles wissen über ihre Herkunft, ihre Heimat, über die Eigenarten genauso wie über die wirtschaftliche Situation des Dorfes und der Region. Wer und wie ihre Eltern waren, ihre Geschwister. Woran man in ihrer Familie glaube, was zähle. Besonders fasziniert und entzückt war Mrs. Bailey über den Dialekt, weil sie einiges Französisch verstand und sogar etwas sprechen konnte. Umgekehrt erfuhr Julia schon bald viel über die Herrschaften, die ganz offen von sich und ihrer Heimat in Colorado erzählten. Von den beiden so unterschiedlichen Familien, aus denen sie stammten. Zum Beispiel waren die Baileys seit Generationen Republikaner, wogegen ihre Familie, die Lemens, immer für die Demokraten gewesen waren. Die beiden zogen sich gegenseitig auf wegen ihrer unterschiedlichen Überzeugungen, konnten über gewisse Themen, die von den beiden grossen Parteien gegensätzlich beurteilt wurden, auch energisch streiten, ohne sich deswegen böse zu sein. Gerade jetzt schaute man auf die Ereignisse des zu Ende gehenden Jahres zurück, und dabei gab es einige solcher Diskussionen. Wenn es um die Rolle der Polizei und der National Guard ging während dem blutigen Sommer, in dessen Verlauf es wieder zu Übergriffen gegen die schwarze Bevölkerung in Washington, Chicago und Arkansas gekommen war. Oder um die Razzien gegen Sozialisten und Kommunisten, welche sie als Folge einer hysterischen red fear bezeichnete, er hingegen durch die Bombenanschläge gegen Justizminister Palmer für durchaus begründet ansah. Trefflich streiten liess sich über den Sinn des Alkoholverbots, auch wenn das Gesetz dazu nun bereits die Zustimmung durch den Kongress gefunden hatte und im kommenden Jahr durchgesetzt werden sollte. Mrs. Bailey war im Rahmen ihrer wohltätigen Aktivitäten den Auswirkungen des Alkoholismus begegnet und hatte gesehen, was er mit den betroffenen Familien anstellte. Dazu wusste auch Julia zu erzählen aus Cornol, wo schon mehrfach Versuche mit dem Verbot scharfer Getränke angestellt worden waren. Nach ihrer Erfahrung hatte sich dadurch jedoch nichts verändert, und auch die Dienstherrin war sich über die Wirksamkeit von Verboten unschlüssig. Mr. Bailey dagegen fand den Eingriff des Staates in die Eigenverantwortung der Bürger ganz falsch und zeichnete sogar ein düsteres Bild möglicher Folgen, wenn zwielichtige und kriminelle Elemente begännen, mit dem verbotenen Stoff schwarz zu handeln. Einig dagegen war man sich darüber, dass es gut sei, die Frauen endlich wählen zu lassen. Man war gespannt, welchen Einfluss die Wählerinnen auf die im kommenden Jahr fällige Wahl des Präsidenten haben würden. Julia fiel auf, wie die Eheleute von Mr. Baileys Vater sprachen. Mrs. Bailey nahm sich bei diesem Thema zurück wie bei keinem sonst, und ihr Mann reagierte auf Kritik am Senior empfindlich, obwohl, oder vielleicht gerade weil er ihm gegenüber gemischte Gefühle hegte und sein Tun als Politiker kritisch hinterfragte. Aber das durfte nur er, ein Verhalten, das Julia an ihren ältesten Bruder Jean Baptiste erinnerte. Mr. Bailey Junior glich übrigens seinem Vater, wenigstens äusserlich, wie man auf Grund eines grossen fotografischen Porträts des Vaters feststellen konnte, das auf dem Kaminsims stand. Beide hatten recht grosse Nasen und eine kräftige Mundpartie, dichte Augenbrauen über einem prüfend zupackenden Blick. Dichte, links gescheitelte Haare, die aber beim Senior früh ergraut waren. Das Gesicht des Juniors war deutlich schmaler, dafür seine Ohren etwas abstehend. Aber dass sie Vater und Sohn waren trat klar hervor. Julia gegenüber war der Dienstherr sehr zurückhaltend, fast reserviert, was sie nicht unangenehm fand. Sie hatte mit ihm auch deutlich weniger zu tun als mit seiner Frau.

Mit Elsie war sie schon bald innig verbunden. Das kleine Mädchen berührte etwas in ihr, weckte Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit, die sie längst vergessen geglaubt hatte. Auf gewisse Haltungen und Bewegungen Elsies antwortete ihr eigener, nun erwachsener Körper mit spürbarem Wiedererkennen, mit unwillkürlichen Impulsen der Nachempfindung oder Nachahmung. Manchmal, wenn sie mit Elsie alleine war, gab sie dem nach und probierte, wie sie dazusitzen, zu hüpfen, oder etwas in die Hand zu nehmen. Die Kleine schien es meistens nicht zu bemerken, oder wenn, dann fand sie nichts dabei. Sie imitierte ja auch die Grossen, wurde dabei von ihnen korrigiert, wenn sie etwas nicht genau so machte, wie es sein sollte. Also gab sie auch Julia Hinweise, wie sie es besser machen könnte. Dabei waren Julia aber Grenzen gesetzt. Sie konnte sich zum Beispiel beim Knien nicht mehr zwischen ihre Fersen setzen wie das Elsie tat, und wie sie selber als Fünfjährige es auch gekonnt hatte: den Hintern am Boden, daneben die Füsse nach links und nach rechts abgespreizt, Unter- und Oberschenkel parallel nach vorne zu den Knien, die auch auf dem Boden aufliegen. Und alles ganz entspannt, dank Gelenken und Knochen aus Gummi. Elsie musste lachen über ihre staksigen Versuche, das Ächzen und Stöhnen wegen der Schmerzen in überdehnten Gliedern, den Abbruch der Übung. Julia kamen Spiele in den Sinn, die sie als kleines Mädchen geliebt hatte. Sie ging mit Elsie in den Central Park, beide ausgerüstet mit grossen Stofftaschen. Sie sammelten Eicheln und Rosskastanien, die die Kleine buckeyes nannte. Als Julia schon enttäuscht war darüber, dass die Hüllen der Kastanien hier keine Stacheln hatten, sich also nicht eigneten, daraus kleine Igel zu basteln, fanden sie unter einem feuerroten Baum andere Früchte, die rund und stachelig waren. Auch davon nahmen sie mit, ebenso wie eine ganze Menge farbiger Laubblätter. Zu Hause packten sie den Schatz aus am Küchentisch. Mary Morgan gab ihnen Zündhölzer, von denen die Köpfe weggeschnitten wurden, dann entstand ein ganzer Bauernhof: Kühe, Pferde, Schweine. Und natürlich die Igel. Julia bohrte für Elsie die Löcher in die harten Früchte, weil sie nach ein paar Versuchen selber eingesehen hatte, dass dies zu schwierig und zu gefährlich war für ihre kleinen Hände. Sie bekamen von der Köchin eine kleine Gemüsekiste, die sich als Stall eignete, dann wurde im Kinderzimmer alles aufgebaut. Elsie legte sich auf den Boden, wollte auf gleicher Höhe sein mit den Tieren, die sie sorgfältig herumschob, dazu die entsprechenden Geräusche von sich gab.
"Muh! Mäh! Mähähäh!"
Wiehern wie ein Pferd konnte Julia besser. Auch sie lag nun auf dem Boden, das Pferdchen wollte es so. Da standen die Herrschaften in der Türe, lachten etwas verlegen.
"Was macht denn ihr auf dem Boden?"
Julia schoss hoch, strich ihr Kleid glatt, und die zerzausten Haare hinter die Ohren.

Ach, sie war zum Fressen, wenn sie aus voller Kehle einen der neusten Schlager trällerte und dazu durch die Zimmer tanzte.
"Swanee!
How I love ya, how I love ya,
My dear ol' Swanee!"

Auch ihre Eltern fanden sie süss, wollten aber auch darauf achten, dass ihre Tochter nicht zu vulgär wirkte.
"Es heisst, I love you, Schatz!
Die Herrschaften hatten das Lied zum ersten Mal am Broadway gehört, wie sie erzählten. Es war ihnen aber nicht in guter Erinnerung geblieben, weil die Show darum herum die Musik unter sich begraben habe. Ein Aufmarsch mit Heerscharen von Tänzerinnen, die alle auf Teufel komm raus fröhlich grinsten, wie er betonte. Auch sie fand, die Frauen hätten übertrieben und too effusively getanzt. Dann aber war Mr. Bailey auf die Schallplatte gestossen, von diesem Sänger, von dem alle sprachen. Julia konnte sich den Namen nicht merken, zum grossen Erstaunen des Zimmermädchens, Al Johnson oder Jolson. Der Dienstherr kaufte sich die Noten zu dem Song. Und übte auf dem Piano in jeder freien Minute wie ein Verrückter. Man durfte ihn dabei nicht stören, aber natürlich bekam es das ganze Haus mit. Julia hatte gestaunt, wie Mr. Bailey eine Stelle der Melodie so oft hintereinander spielen konnte, dutzende Male, ja hunderte, wie ihr schien. Immer wieder spielte er es ganz langsam, das konnte er schon. Darauf etwas schneller, dann flink, bis er einen Fehler machte oder ganz hängen blieb. Dann hörte man ihn aufstöhnen und wieder von vorne beginnen. Aber jetzt, wenn er sich an die Tasten setzte, tief Luft holte und loslegte, seine Finger fliegen liess und auf dem Hocker hopsend dem Takt folgte, da riss es einen hoch, man musste tanzen. Mrs. Bailey warf ihren Schmetterlingsumhang von sich und wechselte die Schuhe. Der Clubtisch und die Sessel wurden zur Seite geschoben, der Teppich eingerollt. Und alle machten mit, Elsie, die Köchin, das Zimmermädchen Mary. Beim ragging war sie die Lehrerin, die den andern zeigte, wie es ging. Sie hatte irisch getanzt seit ihrer Kindheit und konnte auch den tap dance, bei dem sie ihre Füsse schneller bewegte, als Julia gucken konnte. Am rag gefiel Mary am besten, dass man, anders als beim traditionellen Tanz ihrer Heimat, die Arme und Hände bewegen durfte und es dafür keine festen Regeln gab. Und so trieb sie ihre Schülerinnen an, sich so frei und ungestüm zu bewegen wie Kinder.
"Schaut euch Elsie an! Sie überlegt nicht, ob sie gut aussieht bei einer Drehung. Sie denkt nicht schon im Voraus, ein Hüpfer oder ein Schlenkern der Arme könne missraten. Sie macht einfach, sie lässt die Musik und den Rhythmus machen mit ihrem kleinen Körper."
Und dann sauste Mary herum wie ein zierlicher Teufel, es war ein bisschen entmutigend. Julia war froh zu sehen, dass Mrs. Bailey noch gehemmter war als sie. Die gesellschaftliche Ordnung löste sich auf und verschob sich für die kurze Zeit des Tanzens, das war aufregend. Mr. Bailey konnte viele andere Stücke, und wenn sie einfacher zu spielen waren als "dieser verflixte Gershwin", dann steigerte er das Tempo noch, so dass sie sich am Ende ganz verschwitzt und mit hochroten Köpfen in die Sessel fallen liessen. Die Herrschaften verschwanden im Bad und nahmen Elsie mit, die Hausangestellten räumten auf und lüfteten die Räume. Bauten dabei da und dort kleine Tanzbewegungen ein, stiessen sich lachend an, sangen und summten vor sich hin.
"The folks up north will see me no more
When I go to the Swanee Shore."


Der Alkohol spielte keine Rolle bei diesen Ausgelassenheiten, man trank mässig im Hause Bailey. Der Hausherr bekannte sich allerdings jetzt, wo die bone-drys gewonnen hatten und mit dem Volstead Act die Herstellung, der Vertrieb und Verkauf von Alkohol verboten waren, erst recht dazu, ein "Feuchter" zu sein.
"Jawohl", sagte er trotzig. "Meine Hausbar ist voll und gepflegt wie eh und je. Und sie wird es bleiben."
Wie er es vorausgesagt hatte, explodierte in der Stadt die Zahl der Kneipen und Bars, in denen man Bier, Wein und Schnaps trinken konnte. Auch die Cornoler machten fleissig Gebrauch von dieser Möglichkeit. Irgendwie gelangten sogar noch immer heimatliche Schnäpse ins Land, damè zum Beispiel, oder coing, niemand wusste, wie und durch wen, und man wollte es auch gar nicht wissen. Bei den Festen musste man schon aufpassen, und gewisse Lokale waren für den gesetzeswidrigen Ausschank nicht mehr zu mieten, da sie es sich nicht leisten konnten, von den Behörden geschlossen zu werden. Das Gemeindehaus der Kirche St. Vincent de Paul etwa, in dem viele Anlässe der Ajolais stattgefunden hatten in den Zehnerjahren. Aber man konnte noch immer feuchtfröhlich feiern, wenn man wollte. Razzien gab es meistens dann, wenn das Fest noch nicht stattgefunden hatte, oder wenn es vorbei war.
"Komisch, nicht?", kommentierten dies Mathilde und Julia, und lachten sich krumm. Josephine fand das nicht lustig, sie war immer gegen Alkohol gewesen. Aber sie hatte auch die Zeiten erlebt, in denen man Papa fast jeden Abend hatte aus dem Wirtshaus holen müssen. Als die Mutter fast verzweifelte darüber. In Julias und Mathildes Kindheit hatte sich der Vater auf wundersame Weise wieder gefangen. Der Uhrenindustrie war es wieder besser gegangen, Papas Auftragsbücher und Rohlingkisten waren voll, er konnte sogar Leute anstellen. Sie sprachen oft über den Sinn des Verbots. Auch in Cornol hatte es der Gemeinderat probiert damit, in der Zeit, als Julia und Mathilde zum ersten Mal nach Amerika gekommen waren. Man zahlte den Kneipenwirten Geld dafür, dass sie keinen Schnaps ausschenkten. Aber der Versuch, der eigentlich auf vier Jahre angesetzt war, versandete nach kurzer Zeit und man sprach nicht mehr darüber. Dabei hatte es Familienväter gegeben, die im Suff ihre Frau und die Kinder verprügelten. Die es so arg trieben, dass man sie nötigte, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Julia hatte einen davon erlebt auf ihrer zweiten Überfahrt. Ob er es geschafft hatte, durch die Kontrollen auf Ellis Island zu kommen, wusste sie nicht. Sie bezweifelte es, denn er war auf der ganzen Fahrt immer voll gewesen. Also hatte man ihn wohl wieder zurückgeschickt, auf Kosten der Reederei des Schiffes, mit dem er gekommen war.

Nun war sie ganz angekommen in den Staaten, in dieser so farbig bevölkerten Stadt. Der liebe Gott – Mathilde korrigierte: der Zufall, das Glück– hatte sie in eine Umgebung gestellt, in der man atmen konnte und wo sich ein Gefühl von Sicherheit und Ruhe einstellte. Sie hatte eine zweite Familie gefunden, eine, die nach ihren eigenen Worten Wert darauf legte, "modern" zu sein, und "schön". Julia war bereit, zu lernen. Sie fühlte sich ausgeglichen und erwachsen, wenn sie feststellte, dass die Sorgen um ihre Cornoler Familie sie nicht niederdrückten wie früher. Sie konnte den Widerspruch fühlen zu ihrem gegenwärtig glücklichen Zustand, wollte und musste sich aber nicht entscheiden. Mit Papa ging es zu Ende, und bald würde Alcide alleine für die Mutter sorgen müssen. Und ihren beiden Schwestern erging es hier in den USA nicht so gut wie ihr. Trotzdem durfte sie glücklich sein.