Mittwoch, 18. August 2021

1920 – ein neues Jahrzehnt

Das neue Jahrzehnt begann trocken, aber Mitte Januar kamen Kälte und Schnee aus dem Norden. "Schon wieder!" und "Einmal mehr!", sagten die New Yorker, holten Mäntel und Stiefel, Mützen und Handschuhe aus den Kästen und stellten sich ein auf die übliche Verlangsamung des Pulses ihrer Stadt, wenn das harsche Winterklima über sie hereinbrach. Sieben Wochen lang lag der Schnee ohne Unterbruch im Central Park. Zwar türmte er sich nie so hoch wie in den vergangenen Jahren, als er tagelang jeden Verkehr in den Strassen zum Erliegen gebracht hatte und Tonne um Tonne des abgeräumten Matschs in den Hudson und den East River gekippt werden musste. Aber es war einmal eine Woche lang so kalt, dass die Vögel erfroren von den Bäumen fielen, jedenfalls gab es Leute, die dies behaupteten. Und der Februar begann mit einem Sturm, der mit Schnee, Graupel und Eisregen durch die Strassen fegte, die im nachfolgenden Sonnenschein glasiert dalagen, mit ihrem gesamten Inventar. Die Gehsteige funkelten und glänzten, aber betreten durfte man sie nicht ohne das Risiko einzugehen, sich sämtliche Knochen zu brechen. Elsie aber konnte nicht genug kriegen von Schnee und Eis. Die Eltern kauften ihr einen Schlitten, mit zwei schön gebogenen Hörnern und einem Kindersitz, dessen Lehne mit einem Schafsfell ausgepolstert wurde. Zu ihren warmen Wintersachen wurde das Mädchen noch in eine Wolldecke eingewickelt und so, dick eingemummt, auf das Gefährt gesetzt, das nun Julia in den Park ziehen konnte. Den beliebtesten Hügel fanden sie schnell wegen des lustvollen Kindergeschreis, das sich von dort ausbreitete, und sie trafen auch auf viele von Elsies Park-Freundschaften, die sich, wie sie begleitet von ihren nurses, auf der kurzen Abfahrt vergnügten. Zuerst aber musste der Schlitten hinaufgezogen werden. Als Elsie sah, wie die meisten Kinder diese Aufgabe alleine meisterten, wollte sie es ihnen gleich tun. Julia half ihr, den Sitz und die Decke zu entfernen, und verstaute beides neben einem Baum, bevor sie sich beide auf den Weg nach oben machten. Man musste der Kleinen einschärfen, nicht auf die Piste der Herabfahrenden zu treten, weil die meisten weder richtig lenken noch bremsen konnten. Julia schlug ihr vor, dass sie zuerst eine Abfahrt zu zweit versuchen sollten, womit Elise auch einverstanden war. Als sie sich beide auf den Schlitten setzen wollten, merkten sie, dass er für beide eigentlich zu kurz war. Sie versuchten es trotzdem, Julia mit klopfendem Herzen, denn sie war seit einigen Jahren nicht mehr gefahren. Aber was für eine Freude war das, als sie Fahrt aufnahmen, zuerst langsam, dann immer schneller. Ihre Füsse wussten von alleine, was sie zu tun hatten, sie lenkte das Gefährt mit ihren Fersen sicher zwischen den Hindernissen hindurch. Schreien musste sie vor Wonne. Erst als sie unten ankamen, wurde ihr bewusst, dass Elsie keinen Ton von sich gegeben hatte. Sie beugte sich über sie und sah ihr erschrecktes Gesicht. Tränen liefen ihr die Backen hinunter, aber die kamen Gottseidank nur vom Fahrtwind, denn nun begann das Mädchen zu strahlen. Es holte tief Luft und musste nun auch herausschreien:
"That was tough! Again!"
Nach ein paar weiteren Fahrten zu zweit wollte es Elsie alleine probieren. Julia war unsicher.
"Kannst du denn steuern und bremsen? Komm, wir probieren es zuerst auf einem flachen Stück. Ich ziehe dich, und du lenkst den Schlitten, und hältst ihn dann an."
Elsie machte ihre Sache gut, und so liess Julia sie schliesslich alleine losziehen.
"Ich warte unten auf dich."
Es ging nicht lange, da konnte Elise dorthin steuern, wo Julia stand, und es gelang ihr sogar, genau vor ihren Füssen zu halten. Bei einer der letzten Fahrten – man hatte noch weitere drei abgemacht, dann werde man heimgehen – wartete Julia am Ende der Abfahrt auf der anderen Seite, ohne zu überlegen, was dies für Folgen haben könnte. Sie stand nun links, ihr Schützling kam rechts herunter. Als sie Julia sah, änderte Elsie abrupt die Richtung und fuhr schräg über die Piste. Ein grosser Junge, der auf seinem Schlitten liegend daherfegte, fuhr sie über den Haufen. Es gab ein grosse Durcheinander und Geschrei, Julia hörte Elsies Klagerufe bis zu sich unten und rannte los. Als sie bei den beiden Kindern ankam, hatte der Junge die heulende Kleine schon auf die Beine gestellt und klopfte ihr den Schnee vom Mantel. Dazu tadelte er sie sanft:
"Was machst du denn? Du kamst so plötzlich von links in meine Bahn, ich konnte nicht mehr ausweichen! – Tut mir leid!"
Und zu Julia:
"Bitte, Miss, hab's nich extra gemacht, glauben Sie mir!"
Julia beschwichtigte ihn, sie habe es gesehen, er könne nichts dafür. Elsie weinte laut und musste in den Arm genommen werden. Als sie ihre Hand nicht von der Stirne nehmen wollte, musste Julia genauer schauen. Was für ein Mist, das wird eine Beule geben! Sie nahm den Schlitten mit der einen Hand, hob Elsie hoch und trug sie zum Rand der Piste. Dort kratzte sie sauberen Schnee zu einem kleinen Fladen zusammen und drückte ihn auf Elsies Stirne.
"Immer fest draufhalten, dann macht es bald nicht mehr weh!"
Und die Beule wird weniger gross und farbig, hoffte sie. Das wird ein Donnerwetter geben zu Hause!

Wie sie befürchtet hatte, erschütterte der Vorfall für eine Weile das Vertrauen der Dienstherrin in ihre Zuverlässigkeit und sie durften vorerst nicht mehr schlitteln gehen. Die Kleine litt mehr darunter als sie. Ihr war es in die Glieder gefahren, wie schwer die Verantwortung auf ihr lastete, wenn sie mit Elsie alleine unterwegs war. Bald aber lernte sie Mrs. Baileys Mutter, Elsies geliebte grandma kennen, für die, als Frau eines Chirurgen, eine einfache Beule zum Aufwachsen eines Kindes einfach dazu gehörte. Die Diskussion zwischen Elsies Mutter und Grossmutter wurde dadurch entfacht, dass Mrs. Lemen ihrer Enkelin ein paar Schlittschuhe aus Denver mitgebracht hatte und resolut bestimmte, die ganze Familie solle bei diesem herrlichen Winterwetter auf dem zugefrorenen See im Central Park schlittschuhlaufen gehen.
"Du hast das doch immer so gerne gemacht, Margaret, und du warst auch richtig gut darin! Auch Dewey würde ein bisschen Bewegung gut tun. Habt ihr eure Stiefel noch? Ich habe zwei Paar mitgebracht, vielleicht kann dann sogar Miss Julia mitkommen. Sind Sie in ihrer Heimat nicht auch Schlittschuh gelaufen?"
Die freundliche Bestimmtheit und die Kraft dieser Frau waren unwiderstehlich, das wurde Julia bald deutlich. Mrs. Elsie Lemen war eine drahtige Person mit einem hageren Gesicht und auffallend kräftigen Händen und Unterarmen. Die Augen hinter der Brille mit feinem Drahtgestell blickten unerschütterlich selbstbewusst, aber auch freundlich und offen. Ihre Stimme war tief und sehr vernehmbar, das Lächeln entwaffnend. Die Tochter gab seufzend und schulterzuckend nach, aber man merkte, dass sie ihrer Mutter aus Erfahrung vertraute und recht gab.

Mitte Februar starb Doktor Lewis E. Lemen mit einundsiebzig Jahren unerwartet in Denver, Colorado. Mr. Bailey nahm ein Woche frei in der Kanzlei, um seine Frau an das Begräbnis begleiten zu können. Sie beschlossen, Elsie nicht mitzunehmen, erstens weil die Reise pro Weg zwei Tage dauerte und zweitens weil sie der Meinung waren, es sei zu früh, die Sechsjährige an einer Bestattung teilnehmen zu lassen. Wenn Julia an die Begräbnisse in Cornol dachte, bei denen jeweils alle Kinder des Dorfes in irgendeiner Weise dabei waren, konnte sie diese Zurückhaltung nicht verstehen. Dazu kam, dass Elsie zum Tod des Grossvaters viele Fragen hatte, auf welche die Eltern ihr sehr zurückhaltend oder gar ausweichend antworteten. Julia dachte deshalb, es hätte dem kleinen Mädchen geholfen, den aufgebahrten Leichnam zu sehen, wie sie es schon als ganz kleines Mädchen bei den Grosseltern und andern Verwandten erlebt hatte. Auch das Bild, wie sich ein Sarg in die Grube absenkt, hatte sie als Kind nicht erschreckt, und sie meinte, dies wäre bei Elsie nicht anders. Aber sie musste sich auch sagen, dass sie noch nie einen sehr nahen Menschen verloren hatte, darum erlaubte sie sich kein Urteil gegenüber den familiären Entscheiden der Baileys. Und natürlich enthielt sie sich auch jeglicher Bemerkung diesbezüglich. Mrs. Bailey hatte die Nachricht vom Tod ihres Vaters in eine grosse Traurigkeit gestürzt, wodurch sie Julia in einem ganz neuen Licht erschien. Sie hatte die Dienstherrin bisher als eine sehr selbstbewusste, in sich ruhende und heitere Frau erlebt, die grossen Wert auf ein elegantes und gepflegtes Äusseres legte. Nun hatte sie dunkle Ringe um die Augen, ihr Gesicht war aufgedunsen und sie liess ihre Schultern hängen. Sie kleidete sich fast nachlässig oder ging gar den ganzen Tag im Morgenmantel umher. Diese Veränderung entging auch ihrem Mann nicht, und es war offensichtlich, dass er sich grosse Sorgen um sie machte. Als sie schliesslich nach Colorado aufbrachen, liessen die Herrschaften die riesige Wohnung still und bedrückt zurück. Julia und die beiden zurückgebliebenen Hausangestellten, die sie inzwischen wegen ihrer gleichen Vornamen Mary M und Mary McD nannte, gaben sich alle Mühe, Elsie bei guter Laune zu halten. Einar, der Chauffeur, erleichterte die Aufgabe. Er hatte frei für die Woche, in der sein Dienstherr in Denver war, und war ein unbeschwert fröhlicher junger Mann. Wenn die Kleine im Bett war, kam er zu Besuch in die Küche und brachte immer Schnaps mit, für den er eine gute Quelle besass. Mary M kochte etwas Gutes und dann konnte es vorkommen, dass man bis in die frühen Morgenstunden zusammensass.

Als die Herrschaften zurückkehrten, brachten sie die Witwe mit. Mrs. Lemen hielt es in ihrem Haus nicht alleine aus, wenigstens nicht für den Augenblick, und so war beschlossen worden, sie solle für eine Weile bei der Tochter, dem Schwiegersohn und ihrer Enkelin wohnen. Platz für sie gab es mehr als genug in der Wohnung, und Elsie war überglücklich, die Grossmutter um sich zu haben. Julia befürchtete, ihre Aufgabe als Kindermädchen könnte stark eingeschränkt werden und auch, durch das Dreinreden einer erfahrenen Mutter und nahen Bezugsperson, sehr erschwert. Aber zu ihrem grossen Erstaunen sprach Mrs. Lemen solche möglichen Erschwernisse gleich selber an, und zwar lächelnd und sich selber durchaus nicht allzu ernst nehmend.
"Ich bin eine Vatertochter, Miss Chiquet, und Arztfrau und Mutter gewesen fast ein Leben lang. Also machen Sie sich nichts draus, wenn ich manchmal so töne, als wüsste ich es besser. Ich habe allen Respekt gegenüber der Arbeit, die Sie leisten, und man sieht auch, dass Sie es gut machen mit der kleinen Miss Elsie. Sie wird wohl probieren, von mir Dinge zu bekommen, die Sie ihr versagt haben, Kinder sind so. Aber wir werden das hinbekommen." Für Julia war die Art und Weise völlig neu, wie diese Frau, die ihre Mutter hätte sein können, zu ihr sprach. Von Schwierigkeiten, die sie selber geahnt hatte, von sich aus zu reden begann, als könnte sie in ihr Herz schauen und nicht, wie sonst meistens ältere Frauen, schon alles zu wissen behauptete und ihr, der jüngeren, Anweisungen gab, oder in Ratschlägen versteckte Befehle. Hatte sie nicht sogar solche Besserwisserei beiläufig als eine Macke dargestellt von erfahrenen Frauen, auch von ihr persönlich, und sie, Julia, aufgefordert, sich dadurch nicht beirren zu lassen? Sie hatte anerkennende Worte gefunden für ihre Arbeit, obwohl sie davon noch wenig hatte sehen können, und ihr die Hand gereicht zu einer Art von Miteinander in der Betreuung Elsies. Es war fast zuviel des Guten, und Julia beschloss, sich etwas Misstrauen zu bewahren. Beeindruckend fand sie aber auf jeden Fall, wie wenig sich Mrs. Lemen die Trauer um ihren verstorbenen Gatten anmerken liess. Julia hatte sie nachts ein paarmal hinter verschlossener Zimmertüre verzweifelt schluchzen gehört, aber am Tag zeigte sie sich stets ausgeglichen und sogar heiter. Vielleicht half ihr die Sorge um ihre Tochter, die zeitweise in Melancholie zu versinken drohte, und der gegenüber sie sich als verlässliche Stütze zeigen wollte. Sie sorgte dafür, zusammen mit Mary McD, dass Mrs. Bailey morgens aus dem Bett kam, sich korrekt anzog und zurechtmachte. Dann bestand sie auf einem täglichen, gemeinsamen Spaziergang im Park, zu dem meist auch Elsie und Julia mitgenommen wurden. Sie schleppte ihre Tochter auch bald wieder zu Theateraufführungen oder Konzerten, obwohl die sich zunächst dagegen sträubte. Langsam aber kehrten Mrs. Baileys Lebensgeister wieder zurück.
"Wenn der Frühling kommt und es wärmer wird, geht es uns wieder besser, Sie werden sehen", meinte sie zu Julia, die einmal mehr von solcher Vertraulichkeit überrascht war. Mr. Bailey jedenfalls war sichtbar glücklich über die feinen Anzeichen von Aufhellung im Gemüt seiner Frau. Bald getraute er sich sogar, in ihrer Gegenwart mit der Schwiegermutter über Politik zu streiten. Er war zuversichtlich, dass der neue Präsident ein Republikaner sein werde, und die Parole back to normalcy dem Kandidaten seiner Partei den nötigen Schub verleihen werde, während sie die Haltung des Laissez-faire gegenüber der Wirtschaft als Demokratin harsch ablehnte und auch der Meinung war, die Vereinigten Staaten sollten dem Weltfrieden zuliebe dem Völkerbund beitreten. An Präsident Wilson habe ihr vieles nicht gepasst, seine unverhohlene Verachtung für die schwarze Bevölkerung zum Beispiel, aber den Anstoss für den Völkerbund habe er schliesslich gegeben und dafür auch zu Recht den Friedensnobelpreis bekommen. Und zudem seien seine, Mrs. Baileys, Republikaner für das Alkoholverbot, was er doch auch für einen Unsinn ansehe, an den zu halten er sich weigere. Man wurde sich nicht einig, aber der Streit belebte und erfrischte, das sah man. Und Julia merkte, wie wenig sie in den letzten Monaten davon mitbekommen hatte, was in der Welt passiert war.

Das änderte sich im Frühling, als sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Alcides Freunde treffen konnte, Liam und Kuiwa O'Fallan, sowie deren schwarze Freundin Margaret. Diese war mit Julia und Mathilde zusammen eingeladen in der neuen Wohnung des Ehepaars in Queens. Aus ihrer alten im Quartier Tenderloin waren sie ausgezogen, weil der Besitzer auf dem Grundstück ein grosses Warenhaus hatte bauen wollen. Auch Margaret wohnte nicht mehr in Manhattan, weil es ihr dort zu teuer geworden war. Sie teilte jetzt eine Wohnung mit einer Arbeitskollegin in Harlem, in einer Umgebung, in der sich immer mehr Menschen wie sie, aus der schwarzen Mittelschicht, niederliessen. Allerdings mussten sie etwa vierzig Minuten mit der Hochbahn fahren, um zu ihrer Schule in Soho zu kommen, und abends, wenn sie müde und die Züge überfüllt waren, wieder zurück in den Norden.
"Aber man kann nicht alles haben", fand Margaret, "Die Nachbarschaft ist lebendig, New Negro, kaum Weisse halt. Aber wahrscheinlich geht es noch nicht anders, und wir fühlen uns dort wohl und sicher."
"Solange nicht die Polizei auftaucht!", frotzelte Liam. Margaret musste ihm recht geben.
Auch den O'Fallans gefiel es in Queens, ausser an den Tagen, an denen der Ostwind wehte und alles mit einer gräulichen Ascheschicht aus den Deponien überzog. Das war aber zum Glück selten. Ihre Tochter, die sie erst bekommen hatten, als beide die Hoffnung schon ganz aufgegeben hatten, war nun fast so alt wie Elsie Bailey. Liam hatte mit viel Glück eine Stelle in der Buchhaltungsabteilung bei Stainway & Sons bekommen, was ein weiterer Grund dafür gewesen war, hierher nach Queens zu ziehen. Und Kuiwa arbeitete wieder ab und zu in dem früheren kleinen Atelier, in dem hauptsächlich Abänderungen an Damenkleidern gemacht wurden. Dass sie dafür wie Margaret einen weiten Weg zurücklegen mussten, störte sie nicht. In der Hochbahn konnte sie ihren Gedanken nachhängen, Zeitung lesen oder die Leute beobachten, was, wie sie lachend gestand, eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war.
"Vielleicht schreibe ich mal eine Geschichte über meine Fahrten mit der Hochbahn!"
Margaret spottete:
"Wenn du sie unter einem schmissigen Männernamen veröffentlichst, kommst du vielleicht sogar gross raus damit!"
"Aber nicht unter meinem!", warf Liam ein, fast schon im Ernst.
Die Rechte der Frauen war noch immer eines der wichtigsten Themen für Kuiwa, wie Julia und Mathilde feststellen konnten, und sie war sehr glücklich darüber, dass nun das Wahlrecht endlich Realität geworden war.
"Ja, für euch weisse Frauen!", wandte Margaret ein. "Aber für viele schwarze Frauen, für zu viele, sind die Auflagen nicht zu erfüllen: die Fähigkeit, zu lesen und, noch weniger, der Nachweis, dass sie die letzten Jahre am selben Ort gewohnt und Steuern bezahlt haben. Wir sind doppelt benachteiligt, darum haben sich viele von uns zurückgehalten in der Unterstützung der weissen Suffragetten. Und haben sich mehr eingesetzt für allgemeine Menschenrechte, die wirklich für alle gelten müssen, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Nation und was weiss ich noch alles!"
Die Diskussion wurde mit Eifer geführt am grossen ovalen Tisch. Die leer gegessenen Teller standen, gegen die Mitte geschoben, noch da. Kuiwa hatte mit Margarets Hilfe am Nachmittag einen irischen Eintopf aufgesetzt, Liam dazu eine beeindruckende Menge an Milchflaschen besorgt, die er in einer nahen Flüsterkneipe hatte mit Bier füllen lassen. Die kleine Tochter, die wie Alcides Freundin Fiona hiess, begann zu quengeln und musste von ihren Eltern ins Bett gebracht werden. Julia räumte mit Margaret zusammen den Tisch ab, Mathilde hatte schon mit dem Abwasch begonnen. Als wieder alle am Tisch sassen, erschien Fiona noch zweimal, musste zuerst aufs Klo, dann noch Wasser trinken. Als man nichts mehr von ihr hörte, verschwand Liam in der Küche und kam wenig später mit einem Tablett zurück. Darauf balancierte er fünf dampfende Gläser.
"Sein Dessert, irish coffee!", rief Kuiwa, und klatschte in die Hände. "Vorsicht, unter dem Schagsahnedeckel ist es sehr heiss!"
Julia versuchte vorsichtig. Die heisse Flüssigkeit rann durch ihre Kehle und hinunter zum Magen wie eine Feuerschlange, explodierte dort und breitete sich aus als warme Welle, die schliesslich, jenseits ihrer Körpergrenzen, verebbte. Sie wollte etwas Anerkennendes sagen, aber als sie dazu einatmete, fuhr ihr ein zweiter Feuerstrahl in den Rachen.
"Ailairme, mon Diou! Das ist stark! Was hast du denn da hineingetan?
Sie sah, wie Mathilde mit hochgezogenen Schultern und verkniffenem Gesicht schluckte, dann ein paar Mal tief einatmete und sich mit der rechten Hand aufs Brustbein klopfte. Die Iren lachten ungeniert, Margaret schob ihr Glas hinüber zu Liam.
"Ich möchte lieber keinen. Alkohol und Wärme, das ist mir zu heftig."
Julia spürte, wie der Rausch langsam in ihren Kopf fuhr. Sie sah nicht mehr ganz scharf, aber noch war es angenehm. Jetzt war es ein Leichtes, zu fragen.
"Habt ihr Nachrichten von Fiona? Von der in Irland, meine ich natürlich."
Es wurde still am Tisch. Kuiwa und Liam sahen sich an, er bedeutete ihr mit einer Hebung des Kinns, sie solle sagen, was geschehen war.
"Sie hat geheiratet", sagte Kuiwa leise. "Es tut mir leid für Alcide, Julia. Ich weiss nicht einmal, ob sie ihm davon geschrieben hat."
Mathilde stand auf und machte das Fenster auf. Blieb dort stehen, mit dem Rücken zu ihnen. Julia war es, als hätte man ihr einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Sie war wieder nüchtern.

Über Alcide und Fiona sprachen sie nicht auf der späten Heimfahrt. Dafür fing Mathilde unvermittelt davon an, sie wolle die Stelle bei den ältlichen Bayne-Geschwistern aufgeben. Auf Julias Frage, ob sie denn schon etwas Neues in Aussicht habe, sagte sie:
"Ja. Ich gehe zu einer Mrs. John Slade. Kinderloses Ehepaar, wohlhabend. Bekannte der Baynes. Sie wohnen an der Lexington Avenue, zwischen der fünfunddreissigsten und sechsunddreissigsten Strasse, in einem zwölfstöckigen Backsteinhaus. Aber ich werde nicht da arbeiten, wenigstens vorerst. Sie geht immer von Mai bis September nach Long Island, nach Oyster Bay. Das kennst du ja."
"Ja, da war ich mit den Lesters."
"Genau. Ich glaube, die kennen sich auch, oder sind sogar entfernt verwandt. Jedenfalls haben die Slades dort ein Haus, sie hat ihre Hunde und Katzen dort, und ich werde sie begleiten. Mal schauen, was es da zu tun gibt. Und für wie lange."
"Warst du so unglücklich bei deinen alten Leuten?"
Mathilde antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte sie die Frage nicht gehört, weil sie gerade über die Queensboro-Brücke fuhren und der Zug zusammen mit der Eisenkonstruktion ein höllisch lautes Ratterkonzert veranstaltete. Als es wieder ruhiger wurde, sagte sie:
"Es war mir einfach zu still und zu einsam in dem Haus. Und ich hatte zu wenig zu schaffen. Die sind alle drei so ordentlich und sauber, die brauchten mich wohl mehr als Gesellschafterin. Aber dazu tauge ich nicht. Ich bin nicht lange in die Schule gegangen, ich weiss nichts, kenne nichts. Ich konnte nicht mithalten mit ihren Gesprächen, wusste oft nicht einmal, wovon sie sprachen. Ich muss etwas anpacken können."
Julia musste umsteigen und noch ein Stück mit der Hochbahn die dritte Avenue hochfahren. Mathilde begleitete sie bis zur Station, von wo sie die paar Schritte nach Hause alleine gehen wollte. Als sie auf den Zug warteten, fragte sie:
"Und wie geht es dir am neuen Ort? Sind sie anständig zu dir?"
Julia musste überlegen, was sich in den zwei Minuten bis zu ihrer Abfahrt noch erzählen liess, und womit sie anfangen sollte.
"In letzter Zeit habe ich auch manchmal vergessen, wozu ich dort angestellt bin. Aber es ist ganz anders als bei dir, glaube ich. Es liegt daran, dass jetzt auch die Grossmutter von Elsie bei uns wohnt, und dass ich von ihr und von Mrs. Bailey fast wie ein Familienmitglied behandelt werde. Ich weiss auch nichts, und kenne vieles nicht, wovon sie sprechen. Aber sie tun nicht so, als ob ich es kennen müsste. Und sie fragen mich immer wieder aus über Cornol, über die Welt, aus der wir kommen. Es scheint sie wirklich zu interessieren, wer ich bin."
"Ja, das ist wohl für sie wie Afrika, exotisch. Dann können sie sich gut vorkommen, wenn sie so freundlich sind zu einem Bauerntrampel wie du einer bist."
Julia war überrascht über den bitter spöttischen Ton ihrer Schwester.
"Nein, so ist es eben nicht!", hielt sie mit fester Stimme dagegen. "Du müsstest das erleben. Die Mutter, Mrs. Lemen, würde dir gefallen, da bin ich mir sicher. Und die kleine Elsie sowieso. Sie kommt im September in den Kindergarten, in die Bayard Taylor School an der York Avenue. Da werde ich sie dann hinbringen und holen müssen, ist etwa eine Viertelstunde zu Fuss. Mit ihr aber wohl länger."
Das Eisengerippe der Station begann zu vibrieren und kündigte den Zug an. Julia umarmte ihre Schwester.
"Wenn du auch zu uns kommen könntest, das wäre das Schönste."

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