Dienstag, 31. August 2021

Jenseits des Horizonts

Fast drei Wochen lang war es zum Ende des Winters nicht möglich gewesen in den Park zu gehen. Die Schneeschmelze zog sich bis in den Frühling dahin, die Böden waren voll gesogen mit Schmelzwasser. Überall lag ein klebriger Matsch aus verfaultem Laub und Gras, aus Lehm, Sand und Dreck. Julia und Elsie hatten es einmal trotzdem probiert, aber die darauf folgende Putzerei der verschmierten Stiefel, Strümpfe und Mäntel hatte sie beide von weiteren Versuchen abgehalten. Jetzt, Mitte Mai, war auch ein solcher Winter endgültig vergessen. Es war unvermittelt warm geworden, und Elsie bettelte so lange, bis sie Kniestrümpfe anziehen durfte bei ihren Spaziergängen mit Julia. Alle fanden sie süss mit ihrer neuen Kurzhaarfrisur, für die sie beim barber lange hatte still sitzen müssen. Ihr Haar war dicht und dunkel, so dass die Fransen und der seitlich abgestufte Schnitt ihr rundes Kindergesicht perfekt umrahmten. Auch Julia hatte sich die Haare noch etwas kürzer schneiden lassen, allerdings ohne Fransen. Sie trug einen Wirbel links über der Stirne und hatte es sich daher angewöhnt, die halblangen Haare nach hinten zu bürsten. Die Dienstherrin kleidete sie ein, sie hatte dabei nicht viel zu sagen. Aber es gab keinen Grund, sich zu beklagen. Die Kleider und Schuhe waren teuer, aus erlesenem Material und dank der neuen Mode bequem. Meistens gefielen sie ihr auch. Mrs. Bailey hantierte immer noch etwas an ihr herum, wenn sie etwas Neues angezogen hatte. Zum Beispiel musste ein Schal um die Hüfte neu gebunden werden, weil Julia ihn in der Taille trug und den Knoten vorne in der Mitte.
"Der gehört auf die Hüfte, meine Liebe, und den Knoten schieben Sie so zur Seite, dass er über ihrem Hüftknochen sitzt. Ach, Sie sind so schlank, genau wie man jetzt zu sein hat."
Julias Blusenkragen wurde aus dem Ausschnitt des Pullovers gezupft und neu drapiert.
"Ihre Brust ist flach und dabei straff, ich beneide Sie!"
Julia war sprachlos. In ihrer Jugend war sie oft gehänselt worden wegen ihres knochigen Körperbaus, und das spärliche Wachstum ihrer Brüste hatte sie eine Zeit lang bekümmert. Immer hatte sie zu hören bekommen, sie solle mehr essen, sonst sehe sie aus wie ein Junge. Nun bekam sie auf einmal Komplimente für ihr Aussehen, vor allem von Frauen. Mary McD hatte vor Kurzem, als sie einmal in Julias Zimmer geplatzt und sie in der Unterwäsche angetroffen hatte, ausgerufen:
"Wow, Julia! Aus dir könnte man eine richtige flapper machen!"
Und obwohl sie nicht genau gewusst hatte, was der Ausdruck bedeutete, hörte sie die Anerkennung im Ausbruch ihrer Kollegin. Manchmal war sie jetzt richtig befangen, wenn sie sich anzog. Es konnte vorkommen, dass sie sich längere Zeit im Spiegel betrachtete und kritisch an sich herumzupfte, so wie andere Frauen, über deren Angewohnheit sie früher den Kopf geschüttelt hatte. Sie war froh, dass niemand von ihr erwartete, sie solle sich schminken. Für Hausangestellte kam es absolut nicht in Frage, während der Dienstzeit mit angemaltem Gesicht zu erscheinen. Dass eine flapper sowas machte, wusste sie aber in der Zwischenzeit. Seit es warm geworden war, konnte man im Park vermehrt solchen Frauen begegnen, die Glockenhüte, wilde und schräge Röcke aus den unterschiedlichsten Materialien, dazu hautfarbige Strümpfe trugen. Ihre Lippen waren knallrot angestrichen und die Augen dunkel eingerahmt. Oft traten sie in lauten, selbstbewussten Gruppen auf, rauchten Zigaretten in langen Spitzen oder tranken sogar gigglewater aus Flachmännern wie die Kerle. Elsies Eltern achteten immer sehr darauf, dass ihr Tochter andere Leute nicht anstarrte oder gar auf sie zeigte. Julia konnte dieses Gebot nicht durchsetzen, weil sie selber immer noch staunen konnte wie ein Kind. Ausserdem fand sie, die modischen jungen Frauen hätten viel Mühe darauf verwendet, bestaunt und angestarrt zu werden, also solle man ihnen diesen Gefallen auch tun. Es war jedenfalls unterhaltsam im Park.
Auf einem ihrer Ausflüge entdeckten sie den Prinzessinnenweg. Die Kirschbäume standen in ihrem Teil des Parks besonders dicht, und als sie die rosarote Blütenpracht abzuwerfen begannen, sammelten sich die farbigen Punkte auf den Gehwegen an und bildeten einen wunderschönen Teppich, der sich in verblüffendem Gegensatz zum jungen Grün der Wiesen dahinschlängelte. Elsie wollte seit einiger Zeit alles ganz genau wissen.
"Warum hat es nur auf dem Weg Blüten, Julia? Wischen sie die Männer mit dem Besen vom Gras herunter?"
Julia musste zugeben, dass auch sie erstaunt war über die fast ausschliessliche Ablagerung der Blütenblätter auf dem Mergel der Pfade. Sie konnte es nicht erklären, und so erfand sie eine Geschichte, an deren Ausbau bald auch Elsie eifrig beteiligt war. Und die ging so:
Im Park wohnte eine Fee, die in der Nacht über alle Pflanzen und Tiere regierte. Sie hatte drei Töchter, das waren die Nachtprinzessinnen. Jede von ihnen musste auf einige der Tierfamilien im Park aufpassen. Die Älteste auf die Füchse und Kojoten, die Mittlere auf die Eulen, Marder und Ratten. Die jüngste aber durfte erst zu den Mäusen schauen. Das fand sie sehr ungerecht, denn den älteren Schwestern war es erlaubt, ihre Tiere auf deren nächtlichen Streifzügen in die Stadt zu begleiten. Die Kojoten und Füchse machten Ausflüge bis in die Lower Eastside, wo die Mülltonnen und Abfallhaufen am meisten Essbares für sie bereit hielten. Die Älteste erzählte stolz von den Abenteuern, die sie in den weit entfernten Stadtteilen erlebte. Von Kämpfen mit streunenden Hunden, und von Giftködern, vor denen ihre Schützlinge gewarnt werden mussten. Auch von richtigen Festen, die sie mit den Tieren feierte, wenn sie gemeinsam eine besonders ergiebige Futterquelle entdeckt hatten. Ähnliches konnte die mittlere der Schwestern berichten. Sie ging zusammen mit den Mardern und Ratten zu den Piers im Westen, und sogar auf die riesigen Ozeandampfer, wo es immer etwas zu futtern gab. Allerdings mussten sie aufpassen, nicht von einer der menschlichen Wachen erwischt zu werden, die immer und überall auftauchen konnten und bewaffnet waren mit Baseballschlägern oder mit von Nägeln starrenden Stöcken. Die Käuze und Eulen taten da gute Dienste, weil ihre Augen schärfer sahen in der Dunkelheit. Wenn Gefahr drohte, stiessen sie ihren Ruf aus und warnten die andern vor den bedrohlichen Menschen, die nicht begriffen, warum es so schwer war, auch nur eine Ratte oder einen Marder zu Gesicht zu bekommen, obwohl man sie eben noch gehört hatte und ihre Spuren deutlich sichtbar waren. Die Jüngste aber musste bei ihren Mäusen bleiben, die den Park nie verliessen. So sehr sie ihnen auch die Stadt ausserhalb der Zäune schmackhaft machen wollte, die Mäuse blieben stur.
"Was sollen wir dort", fragten sie, "wenn es hier immer genügend zu Essen gibt für uns und unsere Kinder? In der Stadt gibt es ausserdem viel zu viele Katzen!"
Die jüngste Prinzessin wurde immer trübsinniger und trauriger. Und als sie einmal wieder die ganze Nacht weinend unter einem Baum sass und ihre Aufgabe, auf die Mäuse aufzupassen, völlig vernachlässigte, beschlossen diese, es müsse etwas gehen um die Prinzessin aufzuheitern. Sie hatten die Idee, alle Wege, auf der sie sich üblicherweise bewegte, mit Blüten zu belegen, damit sie sich vorkommen sollte wie die Braut an einer vornehmen Hochzeit, oder sogar wie eine Königin. Da die Mäuse zwei- bis dreimal im Jahr Junge bekommen, war ihre Zahl ungeheuer gross, und weil alle mitmachten, konnten sie in einer einzigen Nacht alle Wege der Prinzessin mit dicken Teppichen aus Kirschblüten belegen. Wie aber staunte diese, als sie aus ihrem Trübsinn erwachte. Im Morgengrauen schon schimmerte der Weg vor ihr in zartem Rosa, und als die Sonne aufging, war es, als ob Feuerströme zwischen den taunassen Wiesen dahinflössen. Die Prinzessin setzte vorsichtig einen Fuss vor den andern. Bald aber schritt sie mit hoch erhobenem Kopf auf ihren Wegen dahin, stolz und schön wie eine Königin.
Wenn Julia die Geschichte zu Ende erzählt hatte, wollte sie Elsie gleich noch einmal hören.
"Morgen wieder", wurde sie getröstet. Sie tappte schweigend neben Julia her und beobachtete, wie sich ihre weissen Schuhe auf dem farbigen Untergrund bewegten.
"Julia...?"
"Ja, Elsie."
"Warst du auch im Kindergarten, als du klein warst?"
"Ja, natürlich. Alle Kinder gehen in den Kindergarten."
"War es schön?"
Julia zögerte einen Moment zu lange mit ihrer Antwort.
"Es war sehr schön! Wir durften spielen, was wir wollten. Wir waren viel draussen, haben gesungen und kleine Theaterstücke aufgeführt. Und mit den vielen andern Kindern zusammen zu sein war schön. Ich habe bis heute noch Freundinnen von damals."
Elsie hatte sie während ihrer Aufzählung prüfend von seitlich unten gemustert. Als Julia fertig war, gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander. Julia war froh, als man Bekannte antraf und kurz grüssen konnte. So konnte sie die auftauchenden Erinnerungen, die sie Elsie verschwiegen hatte, wieder an ihren Ort versorgen. Kurz bevor sie zurück an der Park Avenue waren, fragte Elsie:
"Und was ist, wenn ich nicht in den Kindergarten gehen möchte?"
Es blieb auch der Mutter nicht verborgen, dass sich ihre kleine Tochter Sorgen machte wegen dem bevorstehenden Schritt, den man von ihr offenbar erwartete. Dabei sollte es noch bis zum September dauern, bis es so weit war. Mrs. Bailey verlegte sich darauf, die Vorfreude auf ein näher liegendes Ereignis ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.
"Elsie, Liebes, wir werden bald nach Maine fahren, mit der Eisenbahn und dem Schiff, und dort den ganzen Sommer über bleiben. Grandma wird auch da sein, und sogar Daddy zwischendurch."
Elsie schwieg.
"Weisst du noch, wie du es genossen hast, als wir das letzte Mal dort waren? Das Meer, der Sandstrand? Die Eisdielen und Ballonverkäufer, die Ausfahrten mit den Pferdewagen? Daddy hat ein Haus gemietet, ganz für uns allein. Der Verwalter dort soll einen Hund haben, und ein paar Katzen. Vielleicht darfst du mit denen spielen. Und es wird bestimmt nur so von Kindern wimmeln. Es gibt dort Seen, in denen man baden kann, wo das Wasser nicht so kalt ist wie im Meer."
Es fiel ihr im Moment nicht mehr ein, und Elsie sagte noch immer nichts.
Erst als ihre Grossmutter aus Denver ankam um mit ihnen die Reisevorbereitungen für die Sommerferien zu treffen und sie dann auch nach Bar Harbour zu begleiten, hellte sich die Stimmung des Mädchens auf. Mrs. Lemen redete nur einmal mit Elsie über den bevorstehenden Kindergartenbesuch, wobei Julia einen Teil vom Nebenzimmer mithörte. Sie staunte über die Offenheit der Frau gegenüber ihrer Enkelin, die ja noch ein Kind war.
"Schau, Elsie. Du musst nicht alles toll finden im Kindergarten. Manche Kinder wirst du mögen, anderen wiederum wirst du lernen, aus dem Weg zu gehen. Das ist auch bei uns Erwachsenen so. Aber du kannst dort sicher neue und aufregende Sachen lernen. Du bist eine Grosse jetzt, und wenn du mit dem Kindergarten fertig bist, wirst du noch grösser und stärker sein. Und solltest du einmal traurig sein, weil etwas schief lief, dann hast du hier deine Leute, mit denen du darüber reden kannst: Mom und Daddy. Julia. Und mich, wenn ich da bin. Okey-dokey?"
Julia hörte die Kleine lachen über diesen Ausdruck, den die Eltern von ihr nicht gerne hörten.
"Okey-dokey!"

Und es war Mrs. Lemen, durch die Julia zu ihrem ersten richtigen Theaterbesuch kam. Eigentlich waren die Tickets von Mr. Bailey gekauft worden, für seine Frau, die Schwiegermutter und ihn selber. Das Stück, das sie sich ansehen wollten, hiess 'Beyond the Horizon'. Eugene O'Neill hatte für das Drama im Frühling den begehrten Pulitzer-Preis bekommen, es wurde überall besprochen und nun, nach der Premiere am Broadway und einer Fortführung im Criterion Theatre, im Little Theatre noch bis in den Sommer hinein gespielt. Man musste es also gesehen haben, und so hatte Mr. Bailey die Initiative ergriffen, obwohl er sonst eher ein Theatermuffel war, wie seine Frau fand. Umso enttäuschter war sie, als ihr Mann eine Woche vor dem Ereignis einen Rückzieher machte aus Gründen, die ihm selber unangenehm waren. Sein Vater war als Bürgermeister von Denver im Zusammenhang mit dem Arbeitskampf der Strassenbahn-Angestellten zunehmend unter Druck geraten und sein Sohn befürchtete, weil er den Vater nur zu gut kannte, dass dieser sich verrennen und die ganze Sache eskalieren lassen könnte. Mit viel Mühe und Fingerspitzengefühl hatte er den Senior zu einem persönlichen Gespräch überreden können, musste sich aber nun nach dessen Agenda richten. Ausgerechnet am Vortag des geplanten Theaterbesuchs sollte er nun nach Colorado reisen.
"Wollen Sie uns ins Theater begleiten, Miss Chiquet?", wurde Julia von Mrs. Lemen gefragt. "Es ist ein Stück, das Sie interessieren könnte. Es geht, neben einer dramatischen Liebesgeschichte, auch um die Frage, ob man als junger Mensch auswandern und sein Glück jenseits des Horizonts suchen, oder eher in vertrauter Umgebung durch der Hände Arbeit erschaffen solle. Und es wird in einem netten, nicht allzu grossen Theater gezeigt. Es würde mich freuen, wenn Sie uns dabei begleiten wollten."
Mit Herzklopfen sagte Julia zu. Da sie nicht wusste, was sie für den Abend anziehen sollte, fragte sie Mary McD, ob sie ihr vielleicht etwas ausleihen könne. Diese freute sich darüber und war zuversichtlich, dass sie schon etwas Passendes finden würden. Doch kurz vor der Anprobe, die sie für den Vortag des Theaterbesuchs abgemacht hatten, kam Mrs. Bailey mit zwei Abendkleidern in Julias Zimmer und bat sie, diese gleich auszuprobieren.
"Die sollten ihnen beide gehen, mir sind sie zu eng geworden, leider. Und die Länge ist fürs Theater genau richtig, würde ich sagen. Zeigen Sie mal!"
Etwas befangen schlüpfte Julia vor der Dienstherrin aus Rock und Bluse und in die leise parfümierten Kleider, die auf ihrem Bett lagen. Das eine war schwarz, bestand aus einem wadenlangen schmalen Rock und einem hüftlangen Jackett, unten verziert mit dunkelroten Seidenbändeln, die zu einem weiten Karomuster aufgenäht waren. Die Ärmel waren lang und trugen am Unterarm je eine Reihe von vier Stoffknöpfen. Die dazugehörige Seidenbluse war anthrazitfarben und trug ein ähnliches dunkelrotes Karo wie das Jackett. Mrs. Bailey band ihr noch eine schwarze Seidenschleife unter den Ausschnitt und liess sie sich dann um sich selber drehen.
"Das ginge auf jeden Fall schon mal. Steht Ihnen gut. Vielleicht aber doch etwas düster. Und brav! Probieren Sie mal noch das andere."
Dieses war aus flaschengrünem Satin und bestand auch aus zwei Teilen. Der Rock begann an der Taille fein gefältelt. Auf Hüfthöhe dann folgte ein breiter Saum mit einem Zierbändel, der über den Hüftknochen in fast rechtem Winkel nach unten abbog, links und rechts eine seitlich abstehende Tasche säumte, um dann wieder auf dieselbe Höhe aufzusteigen und den Rock über dem Hinterteil abzuschliessen. Von diesem Saum abwärts fiel der Stoff in wenigen einfachen Falten bis auf Wadenhöhe hinunter. Darüber war ein kurzes, nur bis zu Taille reichendes Jäckchen mit langen Ärmeln zu tragen. Derselbe Zierbändel wie auf dem Rock bildete auf Brust und Rücken ein rahmenartiges Ornament. Als Julia sich im Spiegel anschaute, kam sie sich noch fremder vor als im schwarzen Kleid. Wenigstens war der Ausschnitt hier weniger tief. Aber Mrs. Bailey war begeistert.
"Das ist es, das hat das gewisse It! Sie sehen fantastisch aus darin! Da werde ich sehen müssen, dass Sie mir nicht den Rang ablaufen."
Sie drehte Julia hin und her und lachte anerkennend.
"That's really the cat's meow!"
Als die drei Frauen nebeneinander in den Samtpolstern des Little Theatre sassen und auf den Beginn der Aufführung warteten, rutschte Julia unruhig hin und her. Ihre Erfahrung mit Theater war sehr beschränkt. Im Dorf hatte sie als Kind einmal das Stück eines Wandertheaters gesehen, von dessen Handlung sie fast nichts verstanden hatte, weil sie zu kompliziert gewesen war und die Schauspieler ein gestelztes Französisch sprachen. Sie reihten einen derben Spass an den andern, das jugendliche und erwachsene Publikum hieb sich auf die Schenkel und beteiligte sich am Geschehen auf der Bühne durch Zwischenrufe und sogar durch Werfen von Gegenständen. In Pruntrut hatte sie als junges Mädchen ein patriotisches Stück gesehen, so hölzern und langweilig, dass sie keine Ahnung mehr von dessen Handlung hatte.
Das Licht im Saal wurde so langsam schwächer, dass sie es zuerst gar nicht bemerkte. Als es ganz dunkel war, verstummten die Zuschauer, und in die Stille hinein öffnete sich der Vorhang. Julia hielt die Luft an.

Von dem, was sie damals auf der Bühne sah, oder besser: erlebte und erlitt, musste sie ihrer Schwester Mathilde später immer wieder erzählen. Es beschäftigte sie den ganzen Sommer und Herbst über, manchmal so intensiv, dass sie durch Ermahnungen der Herrschaften aus ihren Träumereien gerissen werden musste. Nie hatte sie damit gerechnet, das Theaterstück könnte so viel mit ihr selber zu tun haben, mit ihren Träumen und Sehnsüchten, Schrecken und Ängsten. Mehrmals hatte sie nach dem Öffnen des Vorhangs gemeint, zu Hause in Cornol zu sein, obwohl das Stück, wie sie wusste, im Mittleren Westen von Amerika spielte. Die Weggabelung am Rand eines Hügels mit dem alten Apfelbaum verwandelte sich in ihren Augen in den Ort, wo sie sich als Jugendliche getroffen hatten um zu tratschen und zu schäkern, dort hatte sie zum ersten Mal einen Jungen geküsst. Es half nicht, dass sie sich zwischendurch zwang, auf die bemalte und schon etwas brüchige Jute der Kulissen zu achten, oder auf da und dort hervorstehende Enden von Dachlatten. Die Stimmen der Schauspieler gingen ihr durch Mark und Bein. Mrs. Lemen hatte ihr schon in der ersten Szene ein Taschentuch geben müssen, als Ruth Robert ihre Liebe gestand und ihn damit zum Bleiben bewegen konnte. Und wie sie, Julia, sich verliebt hatte in diesen Robert! Oder in den Schauspieler, Richard Bennet, sie wusste es nicht. Es war so verwirrend gewesen, Roberts, Andrews und Ruths Leben in knapp zwei Stunden an sich vorbeiziehen und sie altern zu sehen. Die zunehmende Verwahrlosung der bäuerlichen Stube hatte ihr Angst gemacht, und sie fragte sich nun dauernd, ob ihr Bruder Alcide zurecht komme mit ihrem kleinen Hof. Wie es dem Vater wohl gehe mit seiner Lunge. Dass Robert auf der Bühne an seiner Tuberkulose sterben musste, hatte sie unerträglich geplagt. Und eigentlich war sie froh gewesen, dass die Handlung der Geschichte gegen Ende zu dick aufgetragen und dadurch etwas lächerlich gewirkt hatte, wie auch Mrs. Bailey und vor allem Mrs. Lemen fanden. Sie wurde dadurch aus ihrer Verwicklung mit dem Geschehen auf der Bühne geworfen und konnte sich etwas sammeln, bevor das Licht im Saal wieder anging.
Auf der Heimfahrt mit dem Taxi hatte sich Mrs. Lemen entschuldigend an sie gewandt.
"Ich wusste nicht, dass die Geschichte so tragisch verlaufen würde. Ich hoffe, es hat Sie nicht zu stark mitgenommen!"
Julia konnte nur heftig den Kopf schütteln. Fast wäre sie wieder in Tränen ausgebrochen.

Dabei war die Zeit nach diesem Ereignis eine einzige Glückssträhne gewesen. Mitte Juni waren sie mit dem speziellen Ferien-Express an die Küste von Maine gefahren, oder genauer auf die Desert-Island, nach Bar Harbour, wo Mr. Bailey für sie ein grosszügiges Cottage gemietet hatte. Das Fachwerkhaus hatte achtzehn Zimmer, verteilt auf vier Stöcken, gehörte zu einem Hotel mit dem Namen The Malvern, und stand an einer breiten, mit prächtig bepflanzten Blumenkisten dekorierten Strasse in der Nähe des Hafens. Die Sommergäste waren erst am Eintrudeln, viele Cottages standen noch leer, aber das änderte sich schnell im Juli, wo man für ein Abendessen in einem der Restaurants in Meeresnähe rechtzeitig einen Tisch vorbestellen musste. Julia ass zum ersten Mal Hummer und Languste. Muscheln kannte sie schon, aber hier waren sie frisch wie nirgends sonst. Wenn sie manchmal am frühen Morgen nicht mehr schlafen konnte, stand sie auf und machte einen Spaziergang, bei Ebbe auf der Kiesbank, die dem Städtchen den Namen gegeben hatte. Dort konnte man den Muschelsammlern zusehen, die sie von Weitem an die Kartoffelernte zuhause denken liess, eine Fläche mit verstreuten, tief gebückten Gestalten. Das Meer war sehr kalt, zu kalt zum Baden. Trotzdem fuhren sie ein paar Mal an die Sand Beach mit einem gemieteten Pferdegespann. Dort gab es bequeme Strandkörbe, welche Mrs. Bailey und ihre Mutter in die Nähe derjenigen von Bekannten rückten und stundenlange Gespräche führten, sich dazu Eiswasser und Gebäck kommen liessen. Elsie bekam regelmässig ihr Eis, gleich nachdem man am Strand ankam. Dann rannte sie los zu den anderen Kindern mit ihrem Kesselchen, den Schaufeln und Rechen, und Julia musste schauen, dass sie sie nicht aus den Augen verlor. Um zu baden, musste man an einen der Seen fahren, wo das Wasser zwar rötlich braun aber warm war. Mrs. Bailey traute der Farbe nicht, aber Mrs. Lemen sprang beherzt hinein und holte dann auch Elsie, der sie zuvor einen Schwimmring aus Korkstücken um den Bauch gebunden hatte. Sie war entschlossen, ihrer Enkelin das Schwimmen beizubringen. Julia staunte, wie rüstig und beweglich der drahtige Körper dieser Frau war, die im Herbst sechzig werden sollte. Sie selber konnte bei Weitem nicht so gut schwimmen wie Mrs. Lemen, mit ihr zusammen aber traute sie sich auch weit hinaus auf den See und war nach der Rückkehr an Land ganz wackelig auf den Beinen. Im Föhrenwald, der bis ans Wasser reichte, fanden sie zum grossen Entzücken Elsies Blaubeeren in rauen Mengen. Auf einem der Ausflüge in den Wald kam Mary M mit, die Köchin. Mit ihr und Elsie zusammen ging Julia Pilze suchen. Es hatte zwei Tage vorher geregnet, weshalb sie sicher waren, etwas zu finden. Dass sie auf so viele und so verschiedene Pilze stossen würden, überraschte sie dennoch. Ein paar knackige Steinpilze waren dabei, mehrere Hände voll Totentrompeten, ein grosser Büschel eines Pilzes, den Mary M hen of the wood nannte und ein paar junge Bovisten. Mrs. Bailey und Mrs. Lemen wollten nur von den Steinpilzen probieren, weil sie die selber kannten, also wurden diese separat gebraten für die Damen. Aus dem grösseren Rest wurde ein herrliches Mitternachtsmahl für die Angestellten. Mary M hatte sogar eine Flasche Weisswein auftreiben können, und Mrs. Lemen, die nicht schlafen konnte, setzte sich schliesslich auch noch dazu und probierte von der Pilzpfanne. Es war bei dieser Gelegenheit gewesen, dass sie Julia zum ersten Mal gefragt hatte, ob nicht auch ihre Schwester bei den Baileys arbeiten wolle. Sie habe vor, in den nächsten Jahren ein- zweimal nach Europa zu reisen mit ihrer Tochter und der Enkelin. Sie selber werde wohl nicht mehr so oft und so lange am Stück in Denver wohnen wie bisher, und zudem habe die Köchin angekündigt, dass sie im Oktober heiraten und ihre Stelle aufgeben wolle. Ob Julia und ihre Schwester auch kochen könnten zur Not. Und so gab Mathilde ihre Stellung auf Long Island mit Freude auf und zog in die Wohnung an der Park Avenue zu ihrer Schwester ein. Allerdings nicht für lange, denn bald darauf zogen die Baileys um in eine noch grössere Wohnung, auf zwei Stockwerken. Das Haus Nummer achthundertfünfzig an der Park Avenue war auch aus braunen Backsteinen gebaut und ähnlich hoch wie das vorherige, die Wohnungen aber deutlich grosszügiger und auch teurer. Der Umzug war für alle Beteiligten anstrengend und dauerte über eine Woche, und als man bereits die Wohnung bezogen hatte, musste darin zum grossen Ärger von Mr. Bailey noch gegipst und gestrichen werden. Auch hingen zum Teil noch die nackten Glühbirnen von den Decken. Schliesslich aber war alles so, wie man es sich vorgestellt hatte, und der Hausherr hatte nun sogar einen Flügel an Stelle des früheren Klaviers.

Im Januar erreichte sie die Nachricht, dass ihr geliebter Papa seinem Lungenleiden erlegen war. Joséphine reiste sofort nach Hause, kam dort aber erst einige Tage nach dem Begräbnis an. In einem langen Brief berichtete sie von der grossen Anteilnahme der Verwandten und Freunde in Dorf, aber auch derer aus Asuel, von wo der Vater herkam. Er war in Cornol begraben worden auf einem Plätzchen nahe des Friedhofseingangs, und nahe der Kirche, wie Joséphine schrieb. Die Mutter sei sehr tapfer, und Alcide schaue in bewundernswerter Weise zu ihr. Sie, Joséphine, bleibe nun sicher bis zum Herbst, und vielleicht könnten die Schwestern ja dann im nächsten Jahr kommen, wenn es ihre Herrschaften zuliessen. Sie versprachen es in ihrem Antwortbrief. Mathilde war wohl auch traurig, aber man konnte es ihr nicht so ansehen wie Julia, die vor allem unter der Unumkehrbarkeit der Tatsache litt, dass sie ihren Vater nie mehr würde lachen hören. Nie mehr seine raue Hand im Nacken spüren, oder seinen Schnurrbart auf der Stirn, wenn er ihr den Gutenachtkuss gab. Das Glitzern in seinen Augen sehen, wenn er eine seiner Geschichten erzählte und es genoss, die Zuhörer am Haken zu haben. Immer wieder musste sie die Vorstellung, wie er gestorben sein könnte, zur Seite schieben, eine Vorstellung, die eigentlich das Bild aus dem Theaterstück war, als Robert hustend gestorben war und sich kurz darauf vor dem klatschenden Publikum verbeugt hatte. Eine solche Finte hätte auch zu ihrem Vater gepasst. Aber der richtige Tod war eben kein Schauspiel, das man hinter sich lassen konnte. Es tröstete sie, Mathilde in ihrer Nähe zu haben. Und trotz allem bereute sie es nicht, jenseits des Horizonts gefahren zu sein.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen