Freitag, 17. Juli 2020

zum Beispiel ein Tisch

Dinge, auch unscheinbare, können einen um Generationen überleben. Es gibt in unserem Atelierhaushalt einen kleinen Tisch aus Kirschholz, den wir beim Kauf des Hauses als eines von ganz wenigen Dingen übernommen und behalten haben. Es könnte sein, dass das kleine Möbelstück noch aus der Zeit des Architekten stammt, der das Haus für sich und seine Familie 1907 gebaut hat. Auf einer Fotografie aus der Zeit nach der Fertigstellung sitzen Gottfried Gfeller und seine Frau Marie, geborene Steinmann, mit ihren beiden Kindern Erika und Arnold auf dem Kiesplatz seitlich neben dem Haus, dort, wo wir achtzig Jahre später eine Terrasse mit einem Wintergarten ans Haus anbauen liessen. Der Architekt trägt einen karierten Anzug mit Gilet und gut sichtbarer, silberner Uhrenkette. Über dem gestärkten Hemdkragen ein etwas spöttisch zum Fotografen blickender Charakterkopf, mit Bürstenschnitt und quer gezwirbeltem Schnurrbart. Seine Frau, in einem schweren, schwarzen Rock, darüber eine reich bestickte, weisse Bluse mit Stehkrägchen, die Haare kunstvoll frisiert und hochgesteckt, blättert in einem Buch, das auf einem kleinen Beistelltischchen liegt. Davor die beiden Kinder, auch sie sonntäglich gekleidet mit weissen Spitzenkragen. Arnold, der später Architekt wird wie sein Vater, scheint sich über ein Bild im Buch zu amüsieren, das seine Schwester auf ihrem Schoss hält. Die kleine Erika schaut herausfordernd in die Kamera. Die Eltern sitzen auf zwei gleichen Stühlen, die sie aus dem Haus nach draussen geholt haben, Möbelstücke aus Kirschholz, mit Rattangeflecht auf Sitzfläche und in der Rücklehne, die oben durch eine quer liegende, gedrechselte Docke abgeschlossen wird. Wir benützen sie heute als Kleiderstühle.

Das Tischchen aus Kirschholz, von dem anfangs die Rede war, ist auf dem Bild nicht zu sehen. Ich sah es zum ersten Mal als Kind, und zwar in der Mansarde des Hauses, das dann nicht mehr der Familie Gfeller gehörte, sondern einer Frau D, die darin als Witwe wohnte, zusammen mit ihrem jüngsten, geistig behinderten Sohn. Frau D war die Grossmutter eines meiner Spielkameraden, dem jüngsten Kind der Familie H, mit der meine Eltern auf eine etwas komplizierte Weise befreundet waren. Ich wurde einmal mitgenommen ins Haus der Grossmutter, und wir durften auf dem Estrich spielen, der sich, aufregend und etwas gruselig dunkel, um die Mansarde zog wie der Gang einer Geisterbahn. In einer Pause unseres Spiels führte mich mein Kamerad zu Werni. Dieser sass im schwachen Schein einer Lampe an einem kleinen Tisch und arbeitete an seinen Musikkatalogen. Aus den Broschüren eines Musikhauses schrieb er Titel um Titel akkurat ab in ein Heft, in Grossbuchstaben, auf jeder Zeile in einer anderen Farbe, und er zeigte uns sein Werk mit würdevollem Stolz. Dass diese Tätigkeit als bizarr angesehen wurde, merkte ich erst am Verhalten und an den Äusserungen der Familienmitglieder, die sich, zwar nicht lieblos, aber doch recht ungeniert, über ihren Webstübeler lustig machten.

Ich mochte Werni, vor allem, nachdem ich ihn einmal im Winter beim Schlitteln auf dem Hang unter der Wackernagelstrasse angetroffen und mit ihm einen sehr vergnügten Nachmittag verbracht hatte. Werni legte sich bäuchlings auf seinen Davoserschlitten und fädelte die Unterschenkel in die Kufen meines Schlittens ein, den er dann, oft wild schleudernd, hinterherzog. Bob nannten wir solche Verbände, die manchmal auch auf drei oder vier Schlitten verlängert wurden. Dann hat es das auf dem letzten sitzende Kind aber meist abgeworfen, und die verbindenden Beine des Zugs bekamen blaue Flecken und Verstauchungen ab. Werni war da vorsichtig. Bei ihm durfte sich immer nur ein Schlitten anhängen. Weil viele Kinder mit ihm fahren wollten, musste man warten, bis man an der Reihe war. Mich liess er an diesem Nachmittag aber unvermittelt auf seinem Rücken mitfahren. Ich spürte zwischen meinen Beinen, wie er mit seinem breiten, mir unendlich stark vorkommenden Rücken steuerte, und sah ein Stück seines geröteten Nackens zwischen dem gestrickten Mützenrand und dem schwarzen Kragen der Windjacke. Die Mütze rutschte ihm während der Fahrt immer über die Augen, was für ihn eine Gelegenheit zu ausgiebigem, lustvollem Fluchen war. Im Ziel sagten wir lachend zu ihm, aber, aber, Werni, red doch nicht so unanständig, worauf er alle schlimmen Wörter der Abfahrt nochmals sorgfältig wiederholte, dazu grinsend von einem Ohr zum andern.

Später, als ich in der Stadt zur Schule ging, begegnete ich Werni nach zwölf im Zweiertram. In der warmen Jahreszeit blieben die Schiebetüren der alten Tramwagen geöffnet, und es wurde eine Querstange zwischen die Türpfosten eingehängt. Der Platz an diesen Stangen war begehrt, für Werni musste aber immer einer frei bleiben, denn dort, halb im Freien hängend, mit wehenden Haaren und tränenden Augen über die Wettsteinbrücke segelnd, war er Tramführer, Billetteur, Kontrolleur und deren aller Chef gleichzeitig. Sein so sichtbares Glück wurde ihm nie streitig gemacht, auch von den gröbsten Rabauken nicht.

Wernis Tischchen aus Kirschenholz ist nun ein Werktisch, an dem ich handwerkliche Arbeiten für meine Kunstprojekte ausführe. Es steht immer noch, oder wieder, auf demselben Estrich, in deren Mansarde Werni seine farbigen Listen malte. Die mit Schilfmatten armierten Gipswände der Mansarde haben wir bei einer unserer Renvationsrunden herausgerissen und aus dem Estrich einen einzigen, grossen Raum gemacht. Dass wir einmal in dem Haus wohnen, es sogar besitzen würden, hätte ich mir damals, als ich vor Wernis Tischchen stand und seine farbige Schönschrift bewunderete, nie träumen lassen. Aber anfangs der Achtzigerjahre suchten wir ein Haus, weil die Situation in der Kleinbasler Wohnung für eine junge Familie ungünstig wurde und meine Frau nach dem frühen Tod ihrer Eltern etwas geerbt hatte. Die ehemalige Freundschaft meines Vaters zur Familie H wurde nun plötzlich zu einem schicksalshaften Vorteil, weil er in einer zufälligen Begegnung mit Frau H erfuhr, dass diese ihr Elternhaus in Riehen verkaufen wollte. Sie berichtete über die unterschiedlichen Ansichten bezüglich des Verkaufs zwischen ihren Geschwistern, und als mein Vater ihr dann von unserer Suche nach einem Haus erzählte, versprach sie, sich für uns, für eine junge Familie, einzusetzen. Was sie dann auch mit Erfolg tat, so dass wir 1980 in den Besitz des Gfellerhauses kamen, mit Werni-Tischchen.

In meiner letzten Ausstellung wurde es in eine grosse Installation eingebaut. Ich habe die unaufgeräumte Situation, die ich beim Modellieren darauf angerichtet hatte, fotografiert, und in der Ausstellung mit allen Dingen, mit allen Tonbröseln und mitsamt dem Staub, wieder aufgebaut. Es hat mich erstaunt, wie sehr sich das kleine Möbel durch die Verschiebung des Kontextes in meinen Augen veränderte, und wie vollständig es sich danach wieder in das ganz normale Werktischchen zurück verwandelt hat. Gerade habe ich Drachen darauf gebaut, für ein nächstes Vorhaben. Mir gefällt der Gedanke, dass das Tischchen noch viel länger leben könnte als ich. Auch wenn, oder gerade weil dann niemand mehr wissen wird, wie einst Werni daran gearbeitet hat, und dass ich an einem der gedrechselten Beine ein Astloch sorgfältig mit Kirschholz geflickt habe.