Donnerstag, 15. Oktober 2020

gelungen

An einem der endlosen Nachmittage, an denen ich nicht die Kraft hatte, etwas von dem zu tun, was ich eigentlich hätte tun sollen, was meine Pflicht gewesen wäre, das Zimmer aufzuräumen, oder wenigstens mein Pult. Die Hausaufgaben zu machen, oder mindestens so zu tun als ob. Auf meinem Instrument zu üben, war es die Blockflöte oder schon das Cello?

Ging ich in den Keller, ohne Plan, in der vagen Hoffnung, im Gerümpel der Werkstatt etwas zu finden, was zu bearbeiten sich lohnte, und einen Ausweg versprach aus dem Kopfwehgrau, aus Sinnlosigkeit und Öde des Tages. Ich griff mir ein Rundholz mit Rinde, ein kurzes, krummes Aststück, das im Hobelbank eingespannt wurde, so gut es ging, und begann es mit Sägeschnitten eines Fuchsschwanzes zu traktieren. Erst als ich dem knorrigen Zylinder ein paar Kerben und Flächen zugefügt hatte, sah ich die Möglichkeit, ein Pferdchen daraus zu formen. Am Schwierigsten war es, das Stück Holz so festzuklemmen, dass es den Stössen meiner Säge widerstand und sich nicht immer wieder aus den Backen des Schraubstocks herausdrehte. Ich wusste auch nicht, wie das Material zwischen zwei Einschnitten, zum Beispiel zwischen den Beinen, herauszuholen war. Ich säbelte also kreuz und quer, sägte schräg und meinen Winkel laufend verändernd in der Lücke umher, bis alles Holz im Zwischenraum als Späne, Splitter und Sägemehl meinen Anstrengungen gewichen und heruntergerieselt war. Der Bauch des Pferdchens wurde struppig und zottig, aber es begann mir zu gefallen. Zwar tauchte die Frage auf, was ich denn mit einem hölzernen Tier anfangen sollte, wenn es denn einmal fertig würde, was also der Sinn meines Tuns sein könnte, und fast fiel ich heraus aus dem Fluss des eifrigen Hantierens, aus dem Kampf mit Material und Werkzeug, bedroht durch die vertrautverhasste Frage, was ich denn da mache. Ich verdoppelte darauf den Einsatz, wurde richtig schnell in meinen Entscheidungen und daraus folgenden Eingriffen, die allerdings allesamt unumkehrbar waren. Das Tier wurde kleiner, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich sah vieles zu spät, dass aus einem Knubbel am Hinterteil ein Schwanz zu machen gewesen wäre. So griff ich zum Bohrer, und in das Loch am Ende des Rückens stopfte ich eine dicke Hanfschnur, die ich mit reichlich Leim sicherte und anschliessend zu einem Schweif aufdröselte. Als mir das Holztier fertig erschien, oder ich nicht mehr weiterarbeiten mochte, zum Aufräumen fehlte mir erst recht die Energie, fegte ich mit dem Handrücken eine Fläche auf dem Hobelbank frei und stellte mein Werk darauf. Drehte und wendete es, betrachtete es von allen Seiten. War mir etwas gelungen? Ich hatte dieses Gefühl, ganz bestimmt, aber es bezog sich nicht auf dieses rohe, plumpe und unnütze Ding, das da vor mir stand. Es war mir gelungen, die bleierne Schwere von Langeweile und Melancholie zu durchbrechen. Den drängenden inneren Stimmen, die gemahnt hatten, man könne, solle, müsse etwas tun, hatte ich die Schnauze gestopft, indem ich irgendetwas anfing, etwas Unwahrscheinliches, ausserhalb jeden Zwecks Stehendes. Ich spürte den Impuls, mir diesen Nachmittag und die damit verbundenen Vorgänge zu merken.

Die Ausbildung zum Kunstpädagogen, zum Zeichenlehrer, wie es damals hiess, absolvierte ich an der Kunstgewerbeschule in Basel. Sie war stark geprägt einerseits von akademischen Vorbildern aus dem 19. Jahrhundert, andererseits von der englischen Arts and Crafts-Bewegung sowie von Ideen des Bauhauses. Es gab eine wirkungsmächtige Vorstellung von handwerklichen und theoretischen Grundlagen im Gestalterischen, die es, vom einfach Elementaren, schrittweise hin zum Komplexen, zu durchschreiten galt. Das Modell einer evolutionären, hierarchischen Entwicklung bildete sich ab in einem Curriculum aus Fächern, deren Abfolge, zeitliche Ausstattung und räumliche Verortung genau festgelegt waren. Am augenfälligsten wurde dieser Aufbau in der Stellung des Aktzeichnens. Während der ersten Semester beschäftigte man sich zeichnerischn ausschliesslich mit toten Gegenständen, vom Würfel zum Zylinder, darauf mit einfachen Werkzeugen, Flaschen und Geräten. Dann erst kamen Naturobjekte dazu wie Obst und Gemüse, Wurzeln, Steine. Die Beschäftigung mit der Figur wurde vorbereitet im Völkerkundemuseum, vor stark abstrahierten Holz- und Steinfiguren aus Afrika, Südamerika und der Sepik. Später ging man in die Skulpturenhalle und arbeitete sich vor Gipsabgüssen antiker Statuen zum Naturalismus vor, von den archaischen über die klassischen bis zu den spätantiken Vorbildern. Parallel setzte das Tierzeichnen im Zoo ein, dann das Kopfzeichnen nach lebendigen Modellen, das figürliche Skizzieren in den Trainingsräumen des Balletts, alles in entsprechend bezeichneten Fächern mit festen Stunden und dafür spezialisierten Lehrern, die ausschliesslich Männer waren. Und man wusste, das Aktzeichnen kommt zuletzt, der Aktsaal trohnt auch im obersten Stock über allem, und der Zutritt führt exklusiv über die Abarbeitung all dieser notwendigen Vorstufen.

Als ich zum ersten Mal meine Staffelei im Aktsaal aufstellte, meine Papierbögen, die Kohlen, Wischlappen und den Knetgummi bereitlegte, war ich etwas aufgeregt. Man wusste, dass die Modelle ausschliesslich weiblich waren. Wie würde sich das anfühlen? Als die Frau in einem weissen Morgenrock hereinkam, ihn ablegte und an einem Haken in der Wand aufhängte, sich vom Lehrer kurz die gewünschte stehende Stellung erläutern liess, ohne Berührung, und dann für die nächste Stunde ohne die kleinste Veränderung in dieser Position verharrte, war klar, dass sich das Aktzeichnen nur in Nuancen vom Zeichnen in der Skulpturhalle unterscheiden würde. Das Modell hatte einen durchtrainierten Körper ohne ein sichtbares Gramm an Fett, und die Frau war, wie sich zeigen sollte, eine Yogameisterin, was sich nicht in abenteuerlichen Posen äusserte, sondern darin, dass sie auch Stellungen mit verdrehtem Rückgrat lange durchhalten konnte, ohne sie zu verändern. Sie wirkte auf uns junge Männer absolut unerotisch, fast geschlechtslos. Nichts störte das objektivierende Sehen und Umsetzen, um das es der Institution und ihren Lehrmeistern ging. Es gab keine formulierten Qualitätskriterien, man wurde gelenkt durch knappe Bemerkungen. Durch ironische, manchmal direkt abwertende Umschreibungen dessen, was man aufs Papier gebracht hatte. Bestärkt wurde durch Auslassen von Kritik, durch Versammeln der Studenten vor der Staffelei mit einer in den Augen des Lehrers geglückten Arbeit. Hohes Lob äusserte sich dadurch, dass einem ein gelungenes Blatt abgenommen und der Sammlung guter Beispiele einverleibt wurde. Das höchste, wenn es in einem der Gänge des Hauses, hinter Glas im Wechselrahmen, auftreten durfte.

Eine solche Auszeichnung konnte auch zum Bumerang werden. Als ich mich im zweiten Semester Aktzeichnen auf der Suche nach einer eigenen Form und nach persönlichem Ausdruck in meinen Zeichnungen verheddert hatte, meinte Lehrer Maier, das hätte ich auch schon besser gekonnt. Er verschwand kurz im Nebenraum und kam mit einem meiner Blätter aus dem letzten Semester wieder. Da! Ich war niedergeschmettert. Die Studien auf dem Papier waren gut, das musste ich zugeben. Aber sie waren mir fremd, machten mich unsicher, ob ich je wieder so etwa schaffen könnte. Und führten mir deutlich vor Augen, dass ich das nicht, dass ich etwas anderes wollte. Nur, was?