Montag, 21. November 2022

Zeitmesser-Dinge

Als ich sah, dass meine Mutter zwei nicht funktionierende Armbanduhren an ihrem abgemagerten Handgelenk trug, beschloss ich, ihr eine neue zu kaufen. Ich fragte sie, ob sie das wolle. Sie meinte, ja, ich müsse ja nicht viel Geld dafür ausgeben. Die eine der kaputten Uhren hatte ich schon einmal zum Flicken gebracht, zum Uhrmacher, den es in der MANOR noch immer gibt. Er hat sie auseinandergenommen, geputzt, einen Dichtungsring ersetzt und die Batterie ausgewechselt. Zehn Minuten konzentrierter Arbeit mit der Lupenbrille, bei der ich ihm zusehen durfte. Es kostete knapp zwanzig Franken. Ich bedankte mich und sagte ihm, es sei schön, dass es ihn noch gebe. Die Uhr lief aber nicht lange, ging zuerst viel zu schnell, dann gar nicht mehr. Nun habe ich im gleichen Geschäft eine SWATCH gekauft, in Pastellfarben, von denen ich dachte, sie könnten der Mutter gefallen. Die Verkäuferin sagte, ich hätte zwei Jahre Garantie auf die Uhr. Gerade noch konnte ich mich zurückhalten zu sagen, dass meine Mutter vielleicht nicht mehr so lange lebe.
Ich zog ihr die SWATCH an bei unserem letzten sonntäglichen Treffen. Sie hatte wie immer sehr kalte Hände, die gleich gross und lang sind – wir habe wieder einmal verglichen – wie meine und wie die meines Bruders. Sie war zufrieden mit der Uhr, fand sie sogar schön. Wieder einmal einen funktionierenden Sekundenzeiger zu sehen, freute sie. Ihre letzten Uhren hatten keinen gehabt. Ob sie im Pflegeheim viel darauf schauen wird, weiss ich nicht. Ihr Zeitgefühl ist schwankend. Aber das ist ja auch schon meines, seit ich pensioniert bin.
Ich kann mich nicht mehr an alle Armbanduhren erinnern, die ich im Leben hatte. Die erste bekam ich zu dem seltsamen Anlass geschenkt, den die Katholiken «Firmung» nennen, was von den Protestanten dann als Konfirmation übernommen worden war, im Sinne von «stark» (lateinisch «firmus») machen der Schäfchen im Glauben. Wer genau mir die Uhr geschenkt hat, weiss ich nicht mehr. Vielleicht hatte die Mutter den Götti dazu gedrängt, der sich selten genug bei uns zeigte. Ich glaube, es war eine OMEGA, eine ziemlich zierliche, aber mit den damals üblichen, später als gesundheitlich bedenklich eingestuften Leuchtziffern. Die strahlten wirklich überirdisch im Dunkeln.
Erst mit Blick auf ein altes Foto von 1968 – damals war ich fünfzehn – kam mir wieder der Uhrbändel-Hype jener Zeit in den Sinn. Plötzlich waren breite Armbänder Mode, am besten so breit wie die Uhr selbst, die dann mit Schnallen darauf befestigt war. Das schaute man den Stars der Musikbranche ab und fand es poppig. Sie saugten sich im Sommer mit Schweiss voll und rochen bald käsig.
Bevor ich mit neunzehn nach Afrika auf Reise ging, kaufte ich mir mit eigenem Geld und einem Zustupf der Mutter eine «sportliche» Uhr, so ein Outdoor-Ding, von dem ich dachte, dass es zu Freiheit und Abenteuer gut passe. Dazu habe ich auch ein Bild gefunden aus der Zeit nach der Afrikareise. Da trage ich an der gleichen Hand die zwei je achtzig Gramm schweren Silberringe, die ich mir in Nordkamerun hatte machen lassen. Das Foto ist ein Selfie aus einem Automaten-Kabäuschen, entstanden am Tag meiner Hochzeit 1979. Die Hand hält den Kopf meiner Frau, die ich gerade küsse. Aber das ist privat.
Eine richtig teure Uhr – so wie meine Söhne, die aber auch ihre Uhren als «noch nicht so richtig teuer» bezeichnen – hatte ich nie. Einmal leibäugelte ich mit einer Taschenuhr von IWC. Das war in der Zeit, als ich eine Weiterbildung machte im Bereich Kommunikationcoachingmanagment blablabla, wo manche der coolen Dozenten eine Taschenuhr auf dem Tisch liegen hatten und ihre Seminare zur grossen Verwunderung der Teilnehmenden auf die Minute genau zu takten wussten. Das wollte ich auch können, aber zum Kauf der Uhr, die gut siebentausend Franken gekostet hätte, konnte ich mich dann doch nicht entschliessen. Vor allem, weil ich befürchtete, sie bald irgendwo liegen zu lassen und zu verlieren. Aber schön war sie, finde ich heute noch.
Jetzt habe ich seit einigen Jahren eine schwarze SWATCH für fünfzig Franken. Seit man ein Handy hat, braucht man ja eigentlich keine Armbanduhr mehr. Aber bei den Ruderregatten war es nötig, dass einer im Boot eine dabeihatte, denn pünktlich fünf Minuten vor dem Rennen muss man sich im Startraum einfinden, sonst gibt es eine Verwarnung. Und wenn man zu spät kommt, wird nicht gewartet. Jetzt fahre ich keine Rennen mehr, aber ich habe die Uhr noch immer und ich schaue auch recht oft nach der Zeit, die sie angibt. Den ursprünglichen Bändel aus weichem Silikonkautschuk habe ich ersetzen müssen durch ein Band aus Leder. Die Weichmacher im Kunststoff hatten mich zum Verrücktwerden gejuckt.