Mittwoch, 20. Juli 2022

Rheingeschichten 4

Es ist kein Wunder, dass mir die Geschichte von Gerold Spät hier auf dem Untersee in den Sinn kommt. Die Wirbel, die ich vom hölzernen Heck weg in die öligglatte Fläche schiebe, haben einen schönen Abstand. Mehr als das Boot lang ist. Es läuft. Und ist so unbeirrbar im Gleichgewicht, dass man sich in aller Ruhe die Dinge vornehmen kann, die dieses Dahingleiten befördern. Die Arme zu strecken zum Beispiel, und das Wasser ganz vorne zu packen. Die Schultern dabei locker hängen zu lassen – weg von den Ohren! –, so dass die Blätter mit einem Blop! im See einrasten. Oder man kann sich – warum nicht? – an diese Geschichte erinnern. Spielt auf dem oberen Zürichsee, bei Verhältnissen wie hier. Spiegelglattes Wasser. Kaum zu sehen die sehr flachen, riesig weit ausgedehnten Täler. Und Hügel, auf deren Kuppe das Boot zur einen oder andern Seite abschmiert, dabei seine Richtung verliert und mit einseitigem Zug wieder eingerenkt werden muss. Stehen also bei solchem Wasser ein paar Buben am Ufer. Es ist heiss, der See verglitzert und verschwimmt unter der Sonne. Bildet sich plötzlich ein ungeheurer Buckel ganz weit draussen. Der zieht seitwärts weg, als ob etwas unter der Oberfläche dahinschiessen würde. Etwas unvorstellbar Grosses, Unheimliches. Was? Wohin? Die Buben rufen aus, zeigen auf den See. Werweissen. Da haut ihnen der Fischer Unschlecht die zeigenden Finger herunter. «Nicht hinschauen! Nicht einmal irionieren!» Er sagt irionieren, sie verstehen, was er meint. Dann bricht die Geschichte ab und eine nächste folgt.
Wiffen heissen die Dinger, die sie hier, und nur hier, in den See- und Flussgrund rammen, zwischen Seeausgang und dem grossen Laufen, wie der Rheinfall früher hiess. Pfosten, eigentlich Baumstämme, die im See die Untiefen in Ufernähe anzeigen und im Rhein dann die Fahrrinne für die Schiffe. Die im stehenden Gewässer sind Skulpturen. Tragen noch die Signale aus alten Tagen: grosse, flaschenbauchförmige Körbe, von Sonne und Regen schwarzgrau verfärbt. Ich sollte wieder mal den Kopf drehen, aus dem Augenwinkel nach dem andern Einer schauen, mit dem Matthias den Wiffen entlang in Richtung Seeausgang zieht. Bald werde ich froh sein, dass er die Führung übernimmt, denn als endlich auch das andere Ufer näherkommt, nimmt die Strömung Fahrt auf. Wir sind auf dem Rhein. Hier tragen die Pfosten rhombusförmige Blechtafeln, grün auf der Seite, wo die Kursschiffe fahren. Auf der weissen Seite sollten wir bleiben. Jetzt ist es aus mit dem gemütlichen nach hinten Schauen alle zwanzig Schläge. Ich zähle: eins, zwei, drei, schauen! Eins, zwei, drei, vier, schauen! Es kann sein, dass du an drei, vier Markierungen auf der weissen Seite vorbeigerauscht bist, zwischen dem nahen Ufer und den Pfosten, die vor sich einen imponierenden Wellenwulst aufstauen und hinter sich das Wasser zerquirlen zu einer sich ausbreitenden Bahn von Wirbeln. Dann kommt plötzlich keiner mehr. Aber als du richtig hinter dich schaust, siehst du das Führungsboot mit kräftigen Schlägen hinüberziehen. Weiss hat abrupt die Seite gewechselt, und du musst schauen, dass du hinüberkommst. Dich rechtzeitig vor dem Hindernis parallel zum Fluss stellst, denn was passieren würde, wenn du seitlich erwischt würdest, willst du nicht wissen. Den Film mit dem in der Mitte zerteilten Weidling schaue ich mir erst nach unserer Reise an.
Manche Strecken sind unwirklich schön. Im Wald um die Thurmündung, zwischen schwarzgrünen Wänden aus Bäumen, in deren Schatten sich Fische tummeln, so gross und zahlreich, wie ich es noch nie gesehen habe im Rhein. Wo der Gesang der Amseln widerhallt übers Wasser, laut und klar wie Stimmen in einem Kirchenraum. Da traue ich mir zwischendurch auch zu, vorauszufahren. Matthias schräg hinter mir. Manchmal können wir auch – das ist am schönsten! – nebeneinander rudern, dabei dem doppelten Rhythmus der Boote lauschen. Kulissen wie aus dem Bilderbuch ziehen vorbei: die alte Holzbrücke von Diessenhofen, das Kloster Rheinau. Müssen fotografiert werden. Die Rennstrecke vor Eglisau ist kaum zur Deckung zu bringen mit den Bildern, die ich vom Winter im Kopf habe. Wo mir der Westwind das eisige Wasser an den Rücken klatschte und ich den Riemen kaum mehr halten konnte. Jetzt: Strandbäder mit lachenden und kreischenden Kindern links und rechts.
Der Wind ist vier Tage lang unser Verbündeter! Wenn er bläst, dann vom Heck her. Ich rudere längere Stücke mit aufgestellten Blättern, um den Schub zu nutzen. Käme er von vorne, von Westen, müssten wir unsere Übernachtungen neu organisieren. Auch sonst meint es das Wetter gut mit uns, ausser an einem Nachmittag, an dem wir eine Kaltfront mit dichtem Regen und ruppigen Böen in einer Kneipe vorbeiziehen lassen. Die Boote schlummern derweil unter einer Brücke wie die Landstreicher. Dort, im Trockenen, machen wir auch meinen Einer mit Klebeband wieder halbwegs heil, nachdem ich ihn unterhalb des Koblenzer Laufens auf einen Stein gesetzt habe. Matthias wechselte an einer turbulenten Stelle überraschend die Seite, weil er eine günstigere Fahrrinne entdeckt hatte. Mir reichte es nicht mehr, aus einem weiss rauschenden, sehr niedrigen Wasser herauszufahren, da krachte es unter mir. Ich stand still, sass hinter meinem Rollsitz. Versuchte, mich loszuschaukeln, aber das Boot antwortete mit laut knackenden Geräuschen. Ich dachte: «Mist, so endet das!» Musste hinaus in die knietiefe Strömung, das Boot vom Stein herunterholen und ein paar Meter flussabwärts in tieferes Wasser ziehen. Jetzt aber gurgelte und riss es um mich herum, das Boot stand zu hoch zum Einsteigen, und schräg in der Strömung. Bockig wie ein Esel. Das erzählt sich so leicht, aber ich war nicht ruhig dabei, habe geflucht und nach Matthias gerufen, von dem ich nur noch sah, dass er zu landen versuchte, bevor er hinter der nächsten Biegung verschwand. Ich brauchte alle meine Kräfte, um das Boot gerade zu halten und mich hinaufzuhieven. Es zog Wasser, aber nicht sprudelnd, wie ich befürchtet hatte. Und liess sich eben flicken mit Tape.