Montag, 29. August 2022

Beim Beschlagen eines Pferdes (magische Dinge 3)

Es gibt eine kolorierte Tuschezeichnung meines Vaters, welche die Beschlagung eines Pferdes zeigt. Es steht nach links, das mächtige Hinterteil im Zentrum des Bildes. Die Ohren lauschen nach hinten, unter mächtigen Wimpern bleiben die Augen ergeben geschlossen. Ein hemdsämliger Mann mit Hut hält einen Hinterhuf mit beiden Händen in die Höhe. Wie er genau zum Pferdehintern steht, wird nicht klar. Mein Vater musste da improvisieren, weil sich die Gruppe von Körpern immer wieder bewegt hat. Trotz der verwirrenden Überschneidungen wird aber deutlich, dass der Helfer des Hufschmieds seine Sache gut macht, indem er das kräftige Bein des Pferdes blockiert und damit ein ruhiges Arbeiten an dem nach oben gedrehten Huf ermöglicht. Mit welchem Schritt der Beschlagung der Schmied gerade beschäftigt ist, kann man nicht erkennen. Zu skizzenhaft hingeworfen sind seine Arme und Hände, und man kann auch kein Werkzeug wie zum Beispiel einen Hammer oder eine Kneifzange ausmachen. Klar und deutlich ist aber zu sehen, wie er sich für die Arbeit hingekniet hat, und auch seine konzentrierte Aufmerksamkeit kommt überzeugend zum Ausdruck. Höchst konzentriert erscheint auch ein kleiner Junge in kurzen Hosen, der dem Geschehen aus nächster Nähe zuschaut.
Der Bub bin ich. Ich brauche, um mich an die Szene zu erinnern, nicht auf den in schöner Blockschrift hingeschriebenen Untertitel zu schauen:
POSCIAVO . BÄRNI BEIM BESCHLAGEN EINES PFERDES 1961?
Natürlich habe nicht ich das Pferd mit einem neuen Eisen ausgestattet, wie mein Vater suggeriert, aber vielleicht hatte er beim Schreiben wie schon zuvor beim Zeichnen das selbstvergessene Verschmelzen seines Buben mit dem Geschehen im Sinn. Der Kleine steht von uns weggedreht im Vordergrund. Ein Restchen seines Profils lässt erahnen, wie er gebannt auf den Huf schaut. Den rechten Arm hält er auf dem Rücken, die Hand am Hosenboden. Vielleicht knetet er gedankenverloren den Stoff.

Der Hufschmied hat eine tragbare Holzkiste mit Lederriemen und ein paar Schubladen. Aus der untersten nimmt er die Hufeisen heraus, sucht eines aus und hält es auf den Huf. Passt nicht, also nimmt er ein nächstes. Findet schliesslich eines, das ihm richtig erscheint. Aber auch dieses muss noch ein paar Mal in die Kohlen. Er geht dazu ins Dunkel der Werkstatt, deren Tore zum Vorplatz weit offenstehen. Zieht ein- zweimal an der Kette des riesigen Blasbalgs an der Decke. Unten sprühen die Funken im Rhythmus des fauchenden Atems. Als das Eisen rot ist, wird es auf dem unförmigen Ding geschlagen, das mein Vater Amboss nennt. Die Schläge tönen dumpf, trocken und nicht nach Metall. Immer wieder geht der Schmied zum Pferd um zu schauen, ob es passt. Für den Bauer wird es schwer, das Bein solange hochzuheben, weil das Tier langsam die Geduld verliert. Plötzlich hält der Schmied das Eisen nicht mehr über den Huf, sondern drückt es darauf. Es zischt und brutzelt, sofort ist alles in bläulichen Dunst getaucht. Und wie das riecht, ein bisschen wie damals, als ich mir an einer Kerze die Haare verbrannte, aber viel strenger. Etwas zwischen gut und eklig. Dem Pferd tut es nicht weh, es ist nicht zusammengezuckt bei der Berührung, aber der Rauch macht es unruhig. Also muss der Schmied vorwärtsmachen. Er nimmt das Eisen nochmals vom Huf, kühlt es im Wasserkessel und beginnt dann, es anzunageln. Der erste Nagel geht daneben, ich sehe genau, wie er seitlich aus dem Huf herausschiesst. Dann merke ich, dass man es so machen muss. Die Spitze des vorstehenden Nagels wird mit der Zange abgezwackt bis auf einen halben Zentimeter, dann umgeklappt und mit dem Hammer im weichen Horn versenkt. Viele Nägel braucht es, ein paar fallen auf den Boden, als der Schmied im Karton kramt. Ich setze den Fuss auf einen in meiner Nähe, damit ich ihn später heimlich mitnehmen kann. Noch lange bleibt er unter meinen Schätzen. Der Kopf sieht aus wie ein geschliffener Edelstein.

Donnerstag, 25. August 2022

zum Beispiel ein Tisch (kurz)

Dinge, auch unscheinbare, können einen um Generationen überleben. Es gibt in unserem Atelierhaushalt einen kleinen Tisch aus Kirschholz, den wir beim Kauf des Hauses als eines von ganz wenigen Dingen übernommen und behalten haben. Es könnte sein, dass das kleine Möbelstück noch aus der Zeit des Architekten stammt, der das Haus für sich und seine Familie 1907 gebaut hat.
Das Tischchen sah ich zum ersten Mal als Kind, und zwar in der Mansarde des Hauses, das dann nicht mehr der Familie Gfeller gehörte, sondern einer Frau D, die darin als Witwe wohnte, zusammen mit ihrem jüngsten, geistig behinderten Sohn. Frau D war die Grossmutter eines meiner Spielkameraden, dem jüngsten Kind der Familie H, mit der meine Eltern auf eine etwas komplizierte Weise befreundet waren. Ich wurde einmal mitgenommen ins Haus der Grossmutter, und wir durften auf dem Estrich spielen, der sich, aufregend und etwas gruselig dunkel, um die Mansarde zog wie der Gang einer Geisterbahn. In einer Pause unseres Spiels führte mich mein Kamerad zu Werni. Dieser sass im schwachen Schein einer Lampe an einem kleinen Tisch und arbeitete an seinen Musikkatalogen. Aus den Broschüren eines Musikhauses schrieb er Titel um Titel akkurat ab in ein Heft, in Grossbuchstaben, auf jeder Zeile in einer anderen Farbe, und er zeigte uns sein Werk mit würdevollem Stolz. Dass diese Tätigkeit als bizarr angesehen wurde, merkte ich erst am Verhalten und an den Äusserungen der Familienmitglieder, die sich, zwar nicht lieblos, aber doch recht ungeniert, über ihren Webstübeler lustig machten.

Wernis Tischchen aus Kirschenholz ist nun ein Werktisch, an dem ich handwerkliche Arbeiten für meine Kunstprojekte ausführe. Es steht immer noch, oder wieder, auf demselben Estrich, in deren Mansarde Werni seine farbigen Listen malte. In meiner letzten Ausstellung wurde es in eine grosse Installation eingebaut. Ich habe die unaufgeräumte Situation, die ich beim Modellieren darauf angerichtet hatte, fotografiert, und in der Ausstellung mit allen Dingen, mit allen Tonbröseln und mitsamt dem Staub, wieder aufgebaut. Es hat mich erstaunt, wie sehr sich das kleine Möbel durch die Verschiebung des Kontextes in meinen Augen veränderte, und wie vollständig es sich danach wieder in das ganz normale Werktischchen zurück verwandelt hat. Ich habe Drachen darauf gebaut, für ein nächstes Vorhaben und im Moment ist es belegt mit Schachteln voller Bilder und Dokumente, die ich für meinen Roman brauchte. Mir gefällt der Gedanke, dass das Tischchen noch viel länger leben könnte als ich. Auch wenn, oder gerade weil dann niemand mehr wissen wird, wie einst Werni daran gearbeitet hat, und dass ich an einem der gedrechselten Beine ein Astloch sorgfältig mit Kirschholz geflickt habe.

Montag, 22. August 2022

Weisse und schwarze Schwäne

Es waren die von den meisten nicht vorhergesehenen Ereignisse der letzten Jahre, die den Begriff des «schwarzen Schwans» («black swan») erneut zur Diskussion stellten. Der Publizist und ehemalige Optionshändler Nassim Nicholas Taleb hatte 2007 ein Buch mit dem Titel «Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse» publiziert und darin eine Metapher des römischen Satirikers Juvenal aufgegriffen, der – als typischer Macho – die Seltenheit einer treuen Ehefrau mit diesem Tier verglichen hatte, von dem er allerdings annahm, dass es ganz und gar inexistent sei. Erst nach seiner Entdeckung in Westaustralien durch niederländische Eroberer wurde der schwarze Schwan dann zur Metapher für ein sehr unwahrscheinliches, aber eben mögliches Ereignis.
Als im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie der Vergleich vielfach in den Zeitungen auftauchte, habe ich das Buch von Taleb gelesen, das spannend beginnt, dann aber durch zu viele Wiederholungen seinen Schwung verliert. Störend sind auch die dauernden Seitenhiebe gegenüber den früheren Berufskollegen, die er als betriebsblind und der Macht der Gaussschen Kurve erlegen bezeichnet. Nach zwei Beispielen hätte man es als Leser verstanden.
Ich habe dann begonnen, mich mit dem schwarzen Schwan ganz direkt – als Bild oder Objekt – zu beschäftigen. Ich baute zum Beispiel Drachen in dieser Gestalt. Oder ich erstellte von einem kleinen Fundobjekt in der Gestalt eines Schwans eine Gussform, mit der ich dutzendfach weisse und schwarze Schwäne aus Parafin und aus Pech giessen konnte. Ich hatte die Absicht, diese irgendwann einmal im öffentlichen städtischen Raum ‘auszusetzen’.
Nun haben sich die kleinen schwarzen Schwäne ihrem Ruf entsprechend verhalten und ihre Form in nicht vorhersehbarer Weise verändert. Pech ist ein Stoff, der aus organischem Material (z. B. Holz oder Erdöl) mit dem Verfahren der Pyrolyse gewonnen wird. Dazu setzt man das Ausgangsmaterial längere Zeit hohen Temperaturen aus, aber unter Luftabschluss. Dies verhindert die Verbrennung und führt zu einer chemischen Spaltung, deren eines Produkt das Pech ist. Es fällt zunächst als Flüssigkeit aus und kann dann durch Kochen verdickt werden, bis es fest wird. Das Pech, welches ich für meine Güsse verwendet habe, bezog ich von einer Firma, die Bedarf für Silber- und Goldschmiede herstellt. In jenem Zusammenhang wird es zum Beispiel verwendet als zähplastische Unterlage von Blechen, die man durch Schläge oder Druck verformen will.
Nach dem Abkühlen wurden die schwarzen Schwäne hart. Das Material bricht sogar sehr leicht und glasig. Bei längerem Aufbewahren in Zimmertemperatur zeigte sich jedoch, dass das Pech eine Flüssigkeit geblieben ist. Die Schwäne legten alle ihren Kopf zur Seite, dann sogar auf ihren Körper, was recht anmutig aussieht. Auch der Körper fliesst, wenn auch viel unscheinbarer, in die Breite, und man ahnt, dass die Schwäne irgendwann ineinander zerfliessen würden.