Mittwoch, 27. Januar 2021

Aufbruch

Ausgerechnet über die Eisheiligen war es in jenem Mai, 1907, für mehrere Tage sommerlich warm. Weil die Bauern von Cornol danach mit Gewittern rechneten, brachten die meisten das erste Heu noch vor dem Elften in ihren Schobern unter.

Das Heuen hat Spuren in seinen Handflächen hinterlassen, er hat Blasen wie schon lange nicht mehr. Das Brennen erinnert ihn an die Freude am Ende eines harten Tages, vorgestern, als die letzte Fuhr geschafft war. Einer alten Gewohnheit nachgebend, schliesst er für mehrere Schritte die Augen. Öffnet sie, macht sie wieder zu. Es ist nicht schwer, die Richtung zu halten, er spürt die sanfte Steigung der Dorfstrasse unter den Füssen, solange der Widerstand gleich bleibt, führen sie ihn geradeaus. Wie viele Kopfnüsse hat er einstecken müssen als Bub, weil er das einfach nicht lassen konnte, den aveugle machen. Er liebt die Steigerung der anderen Sinne, des Gehörs und Geruchs, wenn er die Augen schliesst. Die Geräusche. Er würde Cornol immer an seinen Geräuschen wiedererkennen. Man kann sich einbilden, den Klang der gesamten, riesigen, nur ganz leicht schiefen Ebene zwischen Jura und Vogesen zu hören, an deren oberen Rand, am Ausgang des Tals der Coroline, das Dorf liegt. Dessen Geräusche nur einen Teil dieses Klanges ausmachen, eine nahen und lebendigen allerdings. Mit Gegacker von Hühnern, leisem Rauschen und Glucksen des Bachs, Plätschern des Brunnens. Immer klopft, hämmert, dengelt jemand, Menschen locken ihre Tiere mit seltsamen Lauten, unterhalten sich rufend, über mehrere Gärten hinweg auf Patois, im vertrauten Niäniäniä. Ein Hund bellt, ein anderer antwortet ihm aus der Ferne.

Das gilt ihm jetzt.
"Träumst du schon von drüben, vom Schlaraffenland?"
Gelächter von mehreren Seiten, als er die Augen aufschlägt.
"Wann geht's los?"
"Morgen!"
"Alles gepackt? Kommt dich jemand abholen in New York? Marie ist ja noch hier. Die kommt später nach, oder?"
Er bleibt bei Emile und Armand stehen, beide tragen Werkzeug auf den Schultern, eine Heugabel, eine Axt.
"Zuerst muss ich im Havre ankommen, es ist beschwerlich, nicht mehr so wie früher mit den Extrazügen, die durchgefahren sind, sogar durch Paris."
Von der anderen Seite des Strässchens kommt Armands Schwester Célina dazu.
"Du musst sogar einmal übernachten?"
"Ja."
"Wir haben gehört, du gehst mit Henri zusammen. Stimmt es, dass ihr auf diesem schnellen Dampfer der Transatlantique fahrt? Wie heisst er, La Prudence?"
"La Provence!"
"Der ist ganz neu, sagen sie. War sicher teuer, dazu zweite Klasse. Chic, chic, Monsieur Chiquet!"
Er macht sich los von dem Grüppchen.
"Also, bis dann!"
"Ja, bis dann.
"Vergiss uns nicht!" Célina sagt es leise. Sie errötet, als er sie angrinst, noch rückwärts gehend. Dann dreht er sich ganz weg.

Heute hat er nicht weit, die drei Kühe stehen auf einer kleinen Weide fast am Waldrand, beim oberen Dorfeingang. Er ruft sie von weitem, und als er beim Zaun ankommt, stehen sie schon brav bereit, die beiden älteren mit prallem Euter. Er öffnet ihnen das Gatter, und wie immer gibt es ein kurzes Hin und Her, wer zuerst hindurchstaksen darf. Als das geklärt ist, machen sie sich muhend auf den Heimweg. Er trottet ihnen hinterher, muss überlegen, was noch zu tun ist bis zum Schlafengehen.

Ihr Haus steht auf einer dreieckigen Fläche, in der Gabelung zwischen Bach und Dorfstrasse auf der linken Seite, und einem kleinen Weg, mit dem merkwürdigen Namen La Rasse, auf der rechten Seite. Als Jules in der Kurve beim Lion d'Or angekommen ist, sieht er von weitem, dass der Vater die Stalltüre aufgemacht haben muss, denn die Kühe sind nicht mehr zu sehen.

Er tritt ins Halbdunkel, Papa ist schon, den runden Schädel gegen die Flanke der Kuh gedrückt, beim Melken. Jules holt seinen Stuhl vom Haken und setzt sich zum zweiten Tier. Er muss nochmals aufstehen, das widerspenstige Hinterteil gerade rücken und den verdreckten Schwanz mit der vom Balken herunterhängenden Schnur hochbinden.

"Mach vorwärts, dann kannst du die Kanne dem Pierre in die Laiterie mitgeben."
Jules taucht aus seinen Gedanken auf, der Euter seiner Kuh ist auch leer. Er steht auf, schüttet den bläulich schimmernden Inhalt des Kessels in die Kanne. Der Deckel ist schmutzig, also geht er damit in die Küche, um ihn abzuspülen. Maman steht am Herd, und als er hinter ihr vorbeigeht, streift ihn, fast schon wie eine Erinnerung, ihr Geruch. Rauch, Essen, und ganz leise, muguet-Seife. Ohne aufzublicken setzt sie ihre Litanei, die sie am frühen Morgen begonnen und ununterbrochen weitergeführt hat, zur Not und bei fehlenden Zuhörern als inneren Monolog, jetzt, bei seinem Erscheinen wieder als Rezitativ einer Liste, was alles getan wurde, und was noch alles zu tun sei vor seiner Abreise, alles in ihrer einzigen und ureigenen Patois-Sprache, ohne Punkt und Komma.
"und Marie hat dir noch die Hemden geplättet wir haben sie schon eingepackt damit du sie nicht wieder zerknüllst nur das welches du morgen auf die Reise anziehst liegt zuoberst mach die Knöpfe auf wenn"
Er ist schon wieder aus der Küche verschwunden, zu antworten, hätte nichts geändert. Zurück im Stall drückt er den Deckel auf die Kanne, kippt leicht an und rollt sie in Schräglage aus dem Tor ins Helle. Papa ist nicht zu sehen, machte sich wohl nochmals auf und hinüber in den Boeuf, um sich vor dem Abendessen ein Gläschen zu genehmigen, und um die Stimmung im Dorf zu erschnuppern. Er wartet auf Pierres Karren, den er hört, bevor er auftaucht. Davor ein mageres Pferdchen, das den Einachser mit hängendem Hals hinter sich herschleppt, als sei er mit Steinen beladen. Pierre sitzt mit dem Rücken zur Fahrtrichtung am äussersten Rand der schrägen Ladefläche, hüpft, als er auf Jules' Höhe angelangt ist, herunter, was dem Tier das Signal zum Stehenbleiben gibt.

Während sie gemeinsam die Kanne hochheben und zu den andern rücken, druckst Pierre an einer Frage herum.
"Wir, also die Jungen vom unteren Dorf, haben uns gefragt."
Pause.
"Also eigentlich: der Girard-Joseph hat mich gefragt, warum."
Pause.
"Also, warum ihr eigentlich rüber gehen wollt. Ich meine, beim Henri ist es klar, der Hof ist schon in den Händen des Ältesten, und er kann nichts ausser bauern. Aber ihr?"
Er hofft, dass Jules ihn unterbricht, endlich etwas sagt. Aber der schweigt. Also muss er weitermachen, sich auf zweifelhaftes Gelände begeben.
"Die Marie könnte doch auch hier nähen, und du und dein Papa, es ging doch in letzter Zeit eher aufwärts mit den Uhren. Was willst du den anfangen drüben?"
"Ich schaue mal."
"Entschuldige, ich wollte nicht..."
"Ist schon gut, ich weiss es selber noch nicht genau. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Ich gehe zuerst mal mit Henri zu seinem Cousin nach Ohio. Der ist ja auch ein weit entfernter Onkel von mir. Henri will etwas mit Früchten machen, aber ich glaube, das Klima ist dort nicht so mild, wie er meint. Ich habe ein bisschen nachgelesen. Wir werden sehen. Vielleicht gehe ich auch gleich wieder zurück nach New York. Es soll viele Reiche geben dort, die fünf oder zehn Hausangestellte haben. Die Ajolais sind beliebt, und man verdient gut.
"Hausangestellter? Du meinst, Diener? Dann müsstest du..?
"Ja, warum nicht?"
Pierre wiegt den Kopf hin und her, will noch etwas sagen, lässt es dann doch, setzt sich wieder auf seinen Karren. Kaum spürt es den Zug der Deichseln nach oben, setzt sich das Pferdchen in Gang. Während er rittlings davonfährt, hält Pierre seinen Blick nachdenklich auf Jules gerichtet.
"Also, pass auf dich auf!" ruft er, bevor er hinter der Wegbiegung zur Route de la Baroche verschwindet.
"Ja, mach ich", murmelt Jules vor sich hin, und zum zweiten oder dritten Mal heute wird er von einer körperlichen Unruhe überrascht. Sein Magen krampft sich zusammen, die Kehle wird ihm trocken, da kann er schlucken, so oft er will. Es kribbelt ihn in Händen und Füssen, er weiss nicht, wie ihm geschieht. Heute morgen, kurz bevor er richtig wach wurde, hat es ihn so gepackt. Berthe, die einzige, der er davon erzählt hat, lachte nur.
"Du hast das Reisefieber."

Um sich abzulenken, geht er ins Haus zurück und die Treppe hoch, in die kleine Werkstatt. Er setzt sich an seinen Arbeitsplatz, und obwohl schon alles ordentlich weggeräumt und versorgt ist, ein kleiner, handlicher Teil eingepackt in seine Reisekiste, zieht er eine Schublade nach der andern auf, holt sich aus der untersten die kleine Drehbank, mit der er bis vor einem Jahr Zapfen an die Enden winziger Achsen gedreht hat. Er spannt sie in den Schraubstock, holt ein paar der feinen Dreheisen aus einer zweiten Schublade, dann aus der obersten die Schachtel mit Rohlingen, Reste vom letzten derartigen Auftrag. Nimmt seine Uhrmacherlupe vom schmalen Schaft über dem Werktisch und klemmt sie sich ans Auge. Er beginnt zögernd mit dem Einspannen des kleinen Werkstücks, muss sich anstrengen, um sich an den Ablauf der einst mit viel Routine ausgeführten Arbeitsgänge zu erinnern. Aber er spürt, wie die Ruhe in seinen Körper zurückkehrt, und als er die nur mit der Lupe zu sehenden Drehspäne wegpinseln und zum ersten mal nachmessen kann, ist er wieder er selber.

Berthe stürmt herein, mit roten Backen, zieht ihn mitsamt dem Stuhl vom Tisch weg, platscht sich laut lachend auf seinen Schoss, gerade noch kann er die Hand mit dem scharfen Werkzeug von ihr wegstrecken. Er will etwas sagen, doch sie überfährt ihn mit der überschäumenden Kraft ihrer Halbwüchsigkeit.
"Das darfst du jetzt nicht mehr!" Sie imitiert Tonfall und Dialekt der Mutter. Dann weiter, glucksend, mit Überdruck, in der ihr eigentümlichen Weise eines schreienden Flüsterns. Jules fasst die Schwester bei der Taille und schiebt sie von seinem Schoss weg auf Vaters Stuhl. Dabei spürt er unter seinen Fingern die Rundungen der Fünfzehnjährigen und muss seiner Mutter rechtgeben. Das geht nun nicht mehr.
"Ist es wahr, dass in New York der reichste Mann der Welt lebt? Und gibt es auch schon so ein Theater mit Bildern, die sich bewegen? Ist es das grösste und schnellste Schiff, mit dem du fährst?" Sie stösst eine Frage nach der andern aus, so dicht, dass ihm keine Lücke bleibt für Antworten. Sie erwartet auch keine, beendet ihren Frageschwall, indem sie noch einmal tief Luft holt für einen langgezogenen Seufzer. Dann, jedes Wort einzeln ausrufend:
"I – want – to – go – to – America – too!"

In seinem Zimmer überprüft er nochmals sein Gepäck, die Papiere, das Geld, das kleine Wörterbuch. Im fällt nichts mehr ein, was er vergessen haben könnte. Doch, Schreibzeug! In einer Schachtel entdeckt er seine Schulfedern, die Tinte im Fläschchen ist aber eingetrocknet. Er wird Marie fragen, sie hat immer alles. Er findet noch ein halb leeres Schreibheft, das er in einer Aussentasche unterbringen kann. Dann geht er nach unten, zu seiner Familie.

Mutter hat einen Toetché gebacken, dessen Duft sich schon vor dem Nachtessen im ganzen Haus ausbreitete. Nun sitzen sie alle um den runden Tisch, Vater ist sogar rechtzeitig, und ohne dass ihn jemand holen musste, aus dem Boeuf zurückgekehrt. Sie falten die Hände und beten, danken für das abendliche Brot. Als das gewohnte Ritual abgeschlossen ist, fährt Marie mit ruhiger, fester Stimme fort. Sie bittet Gott um den Segen für die Reise ihres Bruders. Amen. Jules hat es wieder die Kehle zurgeschnürt, aber er gibt sich Mühe, vom Sauerrahmkuchen zu essen, den Maman speziell für ihn und zu diesem Anlass des Abschieds gebacken hat. Er taucht ab. Papa muss ihn anstubsen.
"Joseph hat geschrieben, er wünscht dir eine gute Reise."
Jules hat sich schon länger nicht mehr bei seinem älteren Bruder gemeldet. Er überlegt, ob er ein schlechtes Gewissen haben sollte. Maman fügt noch etwas hinzu.
"Er wird im Sommer nach Basel verlegt, an die Burgfelder Grenze. Dann kann er auch einmal nach Augustine schauen. Hast du ihre Adresse?"
"Ja, ja, ich werde ihr schreiben."
Berthe plaudert, ohne sich darum zu kümmern, ob ihr jemand zuhört, Marie und Clara essen schweigend.

Er schläft unruhig, wacht immer wieder auf, zählt die Glockenschläge, die ihm so nah und laut erscheinen, dass er sich wundert, wie er schlafen konnte in all den Jahren bisher. Wenn er aufschreckt, kurz bevor er wieder ganz wach wird, meint er, im Traum noch oder im Halbschlaf, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Er kontrolliert den Wecker, dreht sich hin und her, sinkt schliesslich doch in Tiefschlaf.

Er wird gerüttelt, Vaters Hand legt sich auch auf den Wecker und würgt das wilde Gerassel ab.
"Komm, du musst aufstehen, es ist schon halb vier."
Auch Maman steht da, musste ihrem Sohn wenigestens einen Kaffee kochen. Er verbrennt sich den Gaumen, denn der Wagen des Quincailliste, der sie nach Porrentruy fahren wird, steht schon auf der Dorfstrasse, auf der anderen Seite des Bachs. Zwei Pferde hat er eingespannt, und Henri ist auch schon da. Jetzt stellt sich ihm die Mutter in den Weg, bedeutet ihm mit knapper Geste, den Kopf zu senken. Sie taucht den Daumen ins Weihwasserbecken neben dem Türpfosten und malt ihm, senkrechtwaagrecht, das Kreuzzeichen auf die Stirn. Um ihren Mund zuckt es, und fast wäre er ihr übers Haar gestrichen.
"Gesegnete Reise", murmelt sie. Dann, überraschend: "Sei schlau!" Zögernd hebt Jules seine Hand und berührt sie an der Schulter, und, als sie nicht zurückweicht, drückt er sie ein wenig, streicht ihrem Arm entlang hinunter und dreht sich ab.

Er bringt seine Kiste zum Wagen, der Vater trägt die Tasche und den Koffer, im Marschtritt, den er auf einmal mit nachgeahmtem Bumbabumba der Tuba begleitet. Bricht in Lachen aus. "Wenn es heute keine Musik gibt, mach ich sie halt."
Sie lachen beide. Als Marie vor vier Jahren mit fünf anderen jungen Frauen vom Dorf nach Amerika aufbrach, hat die Dorfmusik gespielt. Vater und Sohn brauchen einen Moment, bevor sie sich umarmen.

Erst als Jules auf den Wagen steigt, bemerkt er, dass doch einige Cornoler zusammengekommen sind, um sich zu verabschieden und wieder zwei davonfahren zu sehen.

Donnerstag, 21. Januar 2021

Die Américains – weitere Sedimente, neue Fragen

Erweiterte Quellen, die Auskünfte geben über Reisedaten und Adressen von Auswanderern, haben sich mir erschlossen dank eines längeren Telefongesprächs und nach regem Mailkontakt mit der Historikerin Marie-Angéle Lovis, die ein Buch über die Emigration aus dem Dorf Cornol in den Jahren zwischen 1815 und 1956 geschrieben hat. Dabei handelt es sich einerseits um die öffentlich zugänglichen Daten der US-amerikanischen Immigrationsbehörden auf Ellis Island, andererseits um Dokumente aus Volkszählungen in den USA, die Frau Lovis bereits ausgewertet hat.

Um das Familiensystem der Cornoler Chiquets besser zu verstehen, wollte ich ausserdem die noch fehlenden Geburts- und Sterbedaten eruieren. Die Familie kommt ursprünglich aus Asuel, einem Dorf, das in einer schattigen Senke der Jurahöhen zwischen Cornol und der Caquerelle liegt. Aus ökonomischen Gründen wurde 2009 die Administration der Gemeinden von Asuel, Charmoille, Fregiécourt, Miécourt und Pleujouse zusammenlegt und, damit sich keines der beteiligten Dörfer benachteiligt fühle, unter dem Flurnamen La Baroche zu einer Kollektivgemeinde zusammengefasst. Die Familienregister von Asuel liegen heute im Gemeindesekretariat, im ehemaligen Primarschulhaus von Charmoille, deshalb fuhren wir dorthin.

Eine drittes Feld, aus dem sich neue Einsichten ergaben, sind Fotos und Postkarten aus dem Nachlass meines Vaters und einer Tante. Beim Durchsehen und Scannen der Fotos wurde mein Blick für Ähnlichkeiten in den Gesichtern geschärft. So wusste ich zum Beispiel bis vor Kurzem nicht, wie die jüngste unter den ausgewanderten Grosstanten, Clara, ausgesehen hat. Nun konnte ich sie auf verschiedenen Fotos entdecken, die in den Vereinigten Staaten aufgenommen wurden, und auf denen sie in Gesellschaft offensichtlich wohlhabender Damen zu sehen ist. Ich lernte, meinen Grossonkel auch ohne den späteren Schnauzbart zu erkennen, bei Unsicherheiten habe ich gelegentlich zwei Fotos transparent übereinandergelegt, um die Übereinstimmung in den Proportionen zu prüfen, genauso wie es in Kriminalfilmen gemacht wird.

Die Ergänzungen der Familiendaten haben bereits wieder zu Korrekturen bisheriger Annahmen geführt. Aufgrund mündlicher Überlieferung ging ich davon aus, dass Longjules 1917 nach Cornol zurückkam, weil sein Vater im Sterben lag oder gestorben war. Dieser ist aber erst am sechsten Januar 1921 gestorben. Wir wissen also nicht, was die Gründe seiner endgültigen Rückkehr nach Cornol waren. Der Vater war vielleicht nicht mehr in der Lage, den kleinen Bauernhof zu führen, weshalb die Begründung, Jules habe seine Mutter unterstützen wollen, nach wie vor Geltung haben kann. Es könnte auch sein, dass der Eintritt Amerikas in den Weltkrieg eine Rolle gespielt hat, wir wissen es nicht. Jedenfalls sind alle seine drei Schwestern in Amerika geblieben.

Ich habe nun auch die Geburts- und Todesdaten der vierten Schwester, Augustine. Sie war die einzige, die nicht in die USA auswanderte. Sie wurde drei Jahre nach Longjules, 1888, geboren, heiratete 1915 einen Zürcher Postbeamten, Alwin Moser, und hatte mit ihm eine Tochter, Elisabeth. Meine Urgrosseltern scheinen sehr stolz gewesen zu sein auf ihre erste Enkelin. Augustine und ihre Tochter sind auf vielen Fotos zu sehen, seltener ihr Mann, da er den Fotoapparat bediente, als Familienfotograf, wie mein Vater erzählt hat.

Die Überlieferung durch meinen Vater ist nicht sehr verlässlich, wie ich auch hier wieder erfahren habe. Es gibt Notizen von ihm, die er als Achtzigjähriger über seinen Vater, meinen Grossvater, aufgeschrieben hat. Dieser, Joseph Babtiste Chiquet, wurde in der Familie von allen Papa genannt. Er war der älteste Bruder meiner Grosstanten und von Longjules, machte seine Ausbildung zum Grenzwächter zuerst im Jura, dann in Basel an der Burgfelder Grenze, wo er seine spätere Frau kennenlernte, Frieda Bitter aus Wallbach, mit der er sieben Kinder hatte. Longjules soll ihm für den Kauf eines Hauses in Riehen ein grosszügiges Darlehen gegeben, dafür aber auch kräftig in die Wahl dreingeredet haben. Später hat Longjules den Schuldschein in einer theatralischen Performance zerrissen.

In einer der erwähnten Notizen schreibt mein Vater: sein dreijähriges Schwesterchen Clara, das an Keuchhusten starb, konnte er (Papa, mein Grossvater) nicht vergessen. Wie wir jetzt im Familienregister von La Baroche nachlesen konnten, sind meinem Vater bei der Erinnerung an diesen frühen Kindstod verschiedene Verwechslungen unterlaufen. Es handelte sich nicht um ein Schwesterchen, sondern um ein Brüderchen, Jules mit Namen, das 1884 mit drei Monaten gestorben ist. Drei Jahre alt war damals der kleine Joseph, mein späterer Grossvater, der getrauert hat. Clara ist der Name der jüngsten meiner Grosstanten, die in die USA ausgewandert ist. Sie verstarb 1958 in Manhattan, wo sie bei ihrer Schwester Berthe und deren Mann wohnte. Im gleichen Jahr, nur gerade zwei Monate später, starb auch Berthes Mann, Louis Dirand. Berthes Trauer, vor allem um ihre Schwester, war unermesslich. Ich kann mich noch daran erinnern, dass sie bei jedem unserer Besuche in Cornol mindestens einmal auf Clara zu sprechen kam, dabei von ihr redend, als lebe sie noch. Wenn sie darauf aufmerksam gemacht wurde, dass Clara gestorben sei, brach sie in Schluchzen und Klagen aus, als erfahre sie zum ersten Mal vom Tod ihrer Schwester. Vielleicht hat deshalb die Erinnerung meines Vaters aus dem kleinen Jules ein Schwesterchen Clara gemacht. Nur ein Jahr nach dem frühen Tod von Jules I. kam Longjules zur Welt. Dass man auf diese Weise, mit der Wiederholung des Namens, den Verlust eines Kindes auszugleichen suchte, war zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich.

Was haben die Daten der Auswanderungsbehörden an neuen Erkenntnissen gebracht? Beginnen wir mit Longjules, dessen Geschichte über seine Dienerschaft bei John D. Rockefeller Junior ja den Ausgangspunkt meiner Recherchen bildete. Longjules reist am 11. Mai 1907 mit dem Transatlantikdampfer Provence von Le Havre aus nach New York, wo er sechs Tage später ankommt. Er hat eine Kabine zweiter Klasse, während ein entfernter Onkel, Henri Schneider aus Cornol, der auf demselben Schiff reist und denselben Zielort angibt, Sterling in Ohio, in der dritten Klasse fährt. Longjules gibt als Beruf watchmaker an, während bei Henri Schneider fruitier, Obsthändler, steht. Ob die beiden tatsächlich nach Sterling, Ohio, weiterreisen, zum Cousin von Henri, respektive zum Onkel von Jules, mit dem Namen Stoquet oder Stöckli, ist nicht bekannt. Wenn Longjules dorthin gefahren ist, kehrt er jedenfalls nach New York zurück. Offenbar will er nicht Landwirtschaft betreiben wie zuhause in Cornol. Seine Schwester Marie kommt im Oktober desselben Jahres mit der La Tourène nach New York, auf dem Zwischendeck, wie schon bei ihrer ersten Reise. Sie ist seit 1903 in New York gewesen und hat offenbar die Heimat besucht.

Es gibt noch keine Hinweise dafür, wo und als was Longjules in der Zeit bis zu seiner zweiten Reise nach New York gearbeitet hat. Bisher haben wir nur die Adresse in Ohio für diesen Zeitabschnitt. Er muss dann vor Ende des Jahres 1910 nach Hause, in den Jura, gekommen sein, denn am vierundzwanzigsten Dezember 1910 besteigt er in Le Havre wieder ein Schiff in Richtung New York, diesmal die La Lorraine, und kommt zu Silvester in New York an. Das Billet zweiter Klasse hat er selber bezahlt, und nicht, wie ich gemutmasst habe, sein Arbeitgeber Rockefeller. Auch gibt er als Adresse in den USA nicht eine der Mansions des Milliardärs in Manhattan an, sondern die Anschrift eines Freundes mit dem Namen Jacquelin in Ho-Ho-Kus, Bergen County, New Jersey. Unter Beruf steht dieses Mal servant. Ob er als Diener in New Jersey arbeitet und wie lange er dort bleibt, ist unbekannt. Jules ist jetzt fünfundzwanzig Jahre alt.

Am siebten November 1911 kommt seine Schwester Marie, die inzwischen achtundzwanzig ist und auch wieder die Heimat besucht hat, zusammen mit der jüngeren, neunzehnjährigen Schwerster Berthe, nach zehntägiger Reise auf der Chicago, in New York an. Für Berthe geben sie ein höheres Alter an, einundzwanzig Jahre, vielleicht in der Hoffnung, sich damit Schwierigkeiten bei der Ankunft zu ersparen. Ihre Adresse ist das Home Jeanne d'Arc, eine katholische Institution in Manhattan, die alleinstehenden Frauen kostengünstig Unterkunft anbietet. Marie bezeichnet sich als couturière, Näherin, und Berthe als modiste, Hutmacherin. Ob sie in diesen Funktionen arbeiten werden, ist nicht bekannt. Immerhin gibt Marie bei allen weiteren Besuchen nun immer diesen Beruf, Näherin, an. Es könnte sein, dass sie längere Zeit in einer Kleiderfabrik oder einem Schneideratelier in New York gearbeitet hat.

Ein drittes Mal reist Longjules am einunddreissigsten Januar 1914 mit der Chicago von Le Havre ab und kommt, offenbar nach einer stürmischen und beschwerlichen Reise, erst am vierzehnten Februar in New York an. Er hat sich das Ticket für die zweite Klasse selbst bezahlt, nennt als Beruf steward, eine Bezeichnung mit ziemlich offener Bedeutung, nach dem Cambridge-Diktionär: a person whose job it is to organize a particular event, or to provide services to particular people, or to take care of a particular place. Diesmal gibt er eine vornehme Adresse in Midtown an, im Herzen von Manhattan, Nr. 39 East 51th Street. Das Haus steht heute noch. Es war eines von drei sechsstöckigen Backsteinhäusern, welche die Architektin und Frau eines Immobilienhändlers, Jenny S. Parker, gebaut hatte. Nach der Fertigstellung wurde das Haus als Spekulationsobjekt mehrfach weiterverkauft, bis es 1906 der Treuhänder Robert Henry McCurdy übernahm und für mehrere Jahre bewohnte. Die McCurdys führten einen grossen, vornehmen Haushalt mit acht Bediensteten, darunter mehrere Iren und eine französische lady's maid.

Da Longjules diese Adresse angegeben hat, könnte man annehmen, dass er bei McCurdy als steward gearbeitet hat. 1910 scheint dies noch nicht der Fall gewesen zu sein, denn laut Marie-Angèle Lovis gibt es für jenes Jahr ein Verzeichnis der Bediensteten der McCurdys. Longjules ist nicht darauf zu finden. Und die Volkszählungen fanden nur alle runden zehn Jahre statt, also gibt es für 1914 keinen konkreten Hinweis auf einen Diener Jules Chiquet. Jedenfalls scheint Longjules auch Ende 1915 noch an dieser Adresse gewohnt zu haben, denn seine Schwestern Berthe und Clara geben sie bei ihren Reisen im November jenes Jahres beide an. Sie reisen auf zwei verschiedenen Schiffen und im Abstand von knapp einem Monat, zu Jules Chiquet, Nr. 39 East 51th Street.

Man kann sicher verstehen, dass mir in der Zwischenzeit Zweifel an der Rockefeller-Geschichte gekommen sind. Woher kamen aber die Kleider und die Schuhe? Ich habe mit einem pensionierten enséminateur aus Cornol gesprochen, einem Monsieur Rondez, den mir Frau Lovis als jemanden empfohlen hat, der sich noch an die Chiquets im Dorf erinnern kann. Er hat noch nie von dieser Geschichte über Longjules sagenhaften Arbeitgeber gehört. Die Kleider könnten auch von Berthe und Clara nach Cornol gebracht worden sein. In seiner Familie habe es ebenfalls vornehme Kleidungsstücke gegeben, welche Verwandte aus den USA mitgebracht hätten. Monsieur Rondez gab mir noch die Telefonnummer einer neunzigjährigen Dorfbewohnerin. Sie wusste nichts von einem Diener bei den Rockefellers.

Berthe und Clara waren dagegen nachweislich über Jahre bei einer sehr reichen Frau angestellt, bei einer gewissen Mrs. Margaret Bailey Deway. Diese hat ihnen Überfahrten auf Luxusdampfern bezahlt, in der ersten Klasse, auf dem Schwesternschiff der Titanic zum Beispiel, auf der Olimpic. Und von Berthe gibt es eine Postkarte aus Paris, vom Luxushotel Majestic an der Rue Kléber, wo sie offenbar 1923, als Begleitung ihrer Arbeitgeberin, logiert hat.

Dazu aber später. Jetzt lassen wir das alles einmal wirken und absinken.

Donnerstag, 14. Januar 2021

Die Américains (auf geht's!)

Gesichert scheint lediglich, dass mein Grossonkel Longjules im Mai 1907, im Dezember 1910 und im Februar 1914 mit dem Schiff von Le Havre nach New York gefahren ist. Mündlich überliefert wurde in der Familie, dass er 1917 "mit einem Kriegsschiff" zurückgekehrt ist, weil sein Vater, Joseph Chiquet, im Sterben lag oder kürzlich gestorben war. Er übernahm darauf den kleinen Bauernbetrieb und sorgte für seine Mutter, Marie Chiquet Crétin, bis zu deren Tod.

Für Longjules Tätigkeit als Kammerdiener (valet) von John D. Rockefeller Junior gibt es nur noch mündliche Zeugnisse. Die Fotos, auf denen er in der herrschaftlichen Umgebung der Milliardärsfamilie zu sehen war, und die er zuweilen Besuchern aus der Familie zeigte, bleiben bis jetzt verschollen. Ebenso gibt es keine Kleidungsstücke und Schuhe von Rockefeller Junior mehr, von denen ihm sein Patron offenbar einige grosszügig überlassen hat.

Es besteht aber kein Zweifel daran, dass es sie gegeben hat, denn mehrere Familienmitglieder erzählen übereinstimmend und detailliert davon. Mein Vater erhielt von Longjules mehere Paare identische, handgefertigte Schuhe, hellbraun, rahmengenäht und im Stil von Golferschuhen mit Lochgirlanden geschmückt. Er trug sie so lange, bis das Leder brach. Longjules hatte berichtet, dass Rockefeller von jedem Schuhtyp immer gleich mehrere Paare anfertigen liess, und dass er dieselbe Schuhgrösse gehabt habe wie er, sein Diener. Mir waren diese Schuhe leider zu klein. Ich durfte als Halbwüchsiger dafür einen halblangen, schwarzen Mantel aus feinem Wollstoff austragen, mit Applikationen aus schwarzer Seide auf dem Kragen. Auf der Innentasche war eine Stoffettikette aufgenäht mit der Aufschrift John D. Rockefeller Jr. Esq.. Der Mantel erregte zu jener Zeit, um 1969, Bewunderung und Neid bei meinen Schulkameraden. Meine damalige Freundin strickte mir dazu einen roten Wollschal, mit dem ich, wie sie fand, Aristide Bruant auf dem Plakat von Toulouse Lautrec glich.

Im Alter ging Longjules nicht zimperlich um mit diesen Erinnerungsstücken. Entweder er verschenkte sie, oder stopfte damit Ritzen im Stall, wie ein Cousin berichtet, der einmal einen dieser Lumpen herauszog und als Smoking von Rockefeller Junior identifizierte.

Das erwähnte Buch von Marie-Angèle Lovis über die Auswanderer von Cornol gibt lediglich die Daten der Einschiffung in Le Havre wieder. Wie schon erwähnt fuhr mein Grossonkel nach 1907 noch zweimal in Richtung New York über den Atlantik: im Winter 1910 und im Februar 1914. Ob er 1910 schon bei Rockefeller angestellt war, und ob er es bis zu seiner endgültigen Rückkehr 1917 blieb, weiss ich nicht. Ich habe dazu eine Mail an das Rockefeller Archive Center in Sleepy Hollow, NY, geschickt mit der Frage, ob sich irgendwelche Belege finden liessen für die Anstellung von Jules Chiquet als valet bei John Rockefeller Junior. Eine Mrs. Beckerman hat mir daraufhin sehr freundlich geantwortet, sie habe in den betreffenden Karteikarten nachgesehen, bisher aber noch keinen Hinweis auf meinen Grossonkel gefunden. Dies könne aber darauf zurückzuführen sein, dass das betreffende Aktensystem damals gerade erst eingeführt worden sei, und dass darin wahrscheinlich nur die geschäftlichen Daten abgelegt wurden. Sie versprach, in weiteren möglichen Quellen zu suchen.

Falls er 1910 und 1914 Diener bei Rockefeller Junior war, könnte es sein, dass dieser ihm die Reise für den Besuch der Eltern und Verwandten in der Heimat bezahlt hat. Lovis schreibt in ihrem Buch, dass dies bei sehr wohlhabenden Arbeitgebern durchaus vorkommen konnte. Wie seine Reisen mit denen seiner Schwestern Marie und Berthe zusammenhingen, und welchen Tätigkeiten diese in New York nachgingen, ist noch völlig unklar.

Marie reiste bereits 1903 ein erstes Mal in die Staaten, zusammen mit fünf anderen unverheirateten Frauen aus Cornol. Laut dem Namensregister in Lovis' Buch hatten vermutlich alle schon Verwandte in Amerika, die in den Jahren davor ausgewandert waren und ihnen beim Ankommen und zum Start ins neue Leben behilflich sein konnten. Lachat, Grillon, Adam, Buchwalder, alles Namen, die mehrfach zu finden und zum Teil durch die Namen ihrer Eltern zusammen zu bringen sind. Auch Marie wurde möglicherweise von einen Onkel erwartet, der den Namen ihrer Mutter trug, Crétin.

Hat sie eine Anstellung gefunden als Hausangestellte, hat sie, vier Jahre später, ihrem Bruder Jules zu seiner Stelle als Kammerdiener bei den Rockefellers verholfen? Von den Auswanderern aus der Ajoie, speziell aus Cornol, scheinen es jedenfalls viele geschafft zu haben, in wohlhabenden oder gar extrem reichen Haushalten eine Anstellung zu finden. Die Schweizer galten als zuverlässig, pünktlich und sauber. Dass sie französisch sprachen, fand man schick. Und das Netzwerk der Cornoler scheint sehr gut funktioniert zu haben, Marie-Angèle Lovis berichtet von mehreren erfolgreichen Vermittlungen und Einführungen von Neuangkömmlingen durch die bereits etablierten Landsleute.

Zwischen 1904 und 1915 gaben sich einige junge Frauen aus Cornol die Adresse des Home Jeanne d'Arc weiter, wo sie gratis oder für ein sehr geringes Entgeld wohnen konnten, bis sie eine Arbeitsstelle fanden. Dieses Wohnheim für junge Mädchen und ledige Frauen wurde 1896 von der katholischen Congregation of Divine Providence of Kentucky gegründet. Es konnte bis 1911 nur zwölf Frauen beherbergen. Danach wurde ein grosses, siebenstöckiges Haus an der vierundzwanzigsten Strasse gebaut, in der Nähe der achten Avenue im Stadtteil Chelsea, das hundertvierzig weibliche Gäste aufnehmen konnte. In der Zeit, als Marie ankam, wurde diese Institution also gerade erst ins Leben gerufen. Die Einrichtung und das Haus gibt es immer noch. Während anfangs vor allem Französisch sprechende Frauen dort wohnten, ist die Kundschaft heute international.

Ein mit dem Home Jeanne d'Arc lose verbundenes und in der Nähe gelegenes Zentrum der Cornoler Gemeinschaft war die römisch-katholische Kirche Saint-Vincent-de-Paul an der dreiundzwanzigsten Strasse. Die Kirchgemeinde wurde 1841 für die französischen Einwanderer gegründet. 1869 baute man dann das Gotteshaus in neoklassizistischem Stil, das heute noch steht, eingeklemmt zwischen Wohnhäusern. Allerdings finden in dem Haus keine Gottesdienste mehr statt. In der Zeit, in der Marie und Longjules, später Berthe, in New York waren, galt Saint-Vincent-de-Paul auch als kulturelles Zentrum für alle frankophonen Einwanderer von New York. Dort wurde geheiratet und getauft, dort verabschiedete man sich von Verstorbenen. Kirchenfeste und Basars boten Gelegenheiten, sich zu treffen. Dabei wurden Erfahrungen ausgetauscht, und Hinweise zu möglichen Arbeitsstellen weitergegeben.

Für Longjules war diese Kirche wohl auch während seiner Zeit als Kammerdiener bei den Rockefellers eine wichtige Adresse. Es könnte sein, dass ihm sein Arbeitgeber jeweils für den Besuch der Sonntagsmesse Urlaub gegeben hat. Rockefeller Junior war frommer Babtist wie sein Vater, aber mit einer modernen, ökumenischen Einstellung, die Menschen anderer Glaubensrichtung ihre eigene Religionspraxis zugestand. Von der Mansion der Rockefellers in der vierundfünfzigsten Strasse war ein nicht allzu weiter Weg bis zur Hochbahnstation in der sechsten Avenue zurückzulegen. Bei der vierten Haltestelle konnte er praktisch vor der Kirche aussteigen.

Es werden sich sicher noch weitere Hinweise ergeben aufgrund meiner Recherchen. Vielleicht findet die freundliche Dame in Sleepy Hollow einen Hinweis auf Longjules Präsenz im Hause Rockefeller. Mit der Autorin des erwähnten Buches habe ich Kontakt aufgenommen. Sie wusste nichts von einer Tätigkeit meines Grossonkels als valet, es könnte aber sein, dass sie zu den Grosstanten noch weitere Informationen beisteuern kann. Wenn ich eine Geschichte, oder mehrere, aus den vielen Puzzleteilen zusammensetzen möchte, sind kürzere oder weitere Ausflüge ins Reich der reinen Imagination unumgänglich.

Es waren wilde Jahre damals, zwischen 1907 und 1917, für die Auswanderer, für die Rockefellers, für die Welt. Springen wir hinein, beginnen wir irgendwo mittendrin. Wenn neue Erkenntnisse Korrekturen erfordern, werden wir sie eben einbauen, oder gröbstenfalls den Grossonkel und die Grosstanten abermals neu erfinden.

Donnerstag, 7. Januar 2021

Die Américains (Anfänge und Korrekturen)

Wie oft hat mein Grossonkel LongJules wohl erleben müssen, dass man seinen Geschichten über die Zeit in Amerika keinen Glauben geschenkt hat. Kammerdiener von Rockefeller junior warst du? Erzähle das jemand anderem! Vor allem, wenn man ihn danach, nach 1917, wieder im kleinen jurassischen Dorf antraf, als Kleinbauer mit zwei drei Kühen, ein paar Obstbäumen. In der eigentümlichen Sprache der Ortsansässigen seine Erlebnisse zum Besten gebend. Alle wussten zwar, dass er Geld besass, seitdem er aus den Staaten zurückgekommen war. Er verteilte es grosszügig, wo er dies für nötig erachtete. Aber dass er es in den Diensten eines der reichsten Männer der Welt verdient haben sollte, dazu in dessen grösster Nähe, das glaubten ihm sicher nicht viele. Er lachte gerne über seine eigenen Worte, was seine Geschichten nicht glaubwürdiger wirken liess. Nie wusste man, ob er sich über den Zuhörer oder über sich selber lustig machte.

Auf mich kamen LongJules Geschichten nur indirekt, bei Besuchen in Cornol, wenn unsere Familie zusammen mit ihm und den beiden Grosstanten am Tisch sass. Obwohl mein Vater nur wenig Patois verstand, und meine Mutter und wir Kinder erst recht kein Wort davon, rutschten die drei alten Leute immer wieder in ihre eigene Mundart. Auch französisch verstand ich damals kaum, war auf die gelegentliche Übersetzung durch meinen Vater angewiesen. So erreichten mich die Geschichten lückenhaft, mit vielen Unterbrüchen. Wir Kinder verdrückten uns meist, sobald wir konnten, nach draussen oder in die Scheune, wo man vom oberen Tenn ins Heu herunterspringen konnte.

Die Fotos aus der Amerikazeit machten mir Eindruck. LongJules war da inmitten sehr vornehmer Leute zu sehen, im schicken Anzug, mit Gilet, gestärktem Kragen und breiter Seidenkrawatte, nur wenig dezenter oder bescheidener gekeidet als sein Herr und Geldgeber. Mein Grossonkel schien sich zwischen den hübschen, offensichtlich reichen Frauen mit ihren geschnürten Taillen im Element zu fühlen. Die Damen trugen enorme Hüte, die Hündchen adrette Schleifen, und die Autos polierte Kühlerfiguren.

Dass LongJules von Cornol nach Amerika auswanderte, war nicht sehr ungewöhnlich, obwohl das Dorf fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch dem Sog über den Atlantik widerstanden hatte. Im Gegensatz übrigens zum Ursprungsort des Chiquetklans, zu Asuel, das sich fast völlig entvölkert hatte. Nun aber zogen in wenigen Jahrzehnten auch aus Cornol über fünfhundert Einwohner aus, um in den Staaten ihr Glück zu versuchen, mitgerissen von einer neuartigen Dynamik aus Propaganda und Aufbruchstimmung, welche die Ajoie ergriffen hatte. Ich stellte mir vor, LongJules sei als Pionier der Familie ausgewandert, mit der Absicht, bei Erfolg die Schwestern Marie und Berte nachkommen lassen. Dass es ganz anders war, erfuhr ich erst vor kurzem. Aber davon später.

Was erhoffte er zu finden in den USA? Wollte er, als Bauernsohn, nach seiner Ankunft weiterziehen in den Mittleren Westen, um dort Landwirtschaft zu betreiben, wie einige seiner Landsleute? Geld, um Land zu erweben wird er keines gehabt haben, also musste er zuerst eine Arbeit finden. Dies erschien ihm in New York einfacher, oder es fehlten ihm schlicht die Mittel zur Weiterreise, so wie den meisten Emigranten aus Europa. Eine grosse Zahl der Einwohner waren zu dieser Zeit, um 1907, Neuankömmlinge und Secondos.

Dass er in den zehn Jahren, die er in den USA verbrachte, Kammerdiener bei John D. Rockefeller junior wurde, und es auch blieb bis zu seiner Rückkehr nach Europa 1917, ist in jeder Hinsicht eine höchst erstaunliche Geschichte. Er wird zu Beginn kaum flüssig, für Amerikaner verständlich, englisch gesprochen haben, und auch sein Französisch war nicht über alle Zweifel erhaben. Von seinem Vater, einem Kleinbauern und Heimarbeiter der Uhrenindustrie, hatte er Grundkenntnisse der Landwirtschaft sowie ein paar feinmechanische Fertigkeiten mitbekommen. Wie fand er Zugang zur Familie Rockefeller? Hat er sich auf eine Stellenausschreibung beworben, konnte er auf ein Netzwerk von Landsleuten zurückgreifen, oder war es eine zufällige, schicksalshafte Begegnung, die ihn, den kleinen Mann aus Cornol, für diese Königsfamilie des wilden Kapitalismus um 1900 nützlich machte?

Ich könnte es bedauern, dass ich meinen Vater nicht noch zu Lebzeiten ausgefragt habe über die Einzelheiten von LongJules Abenteuer. Aben nun ist es so, man weiss wenig bis gar nichts darüber und muss von dem ausgehen, was man hat, und beharrlich nach weiteren Anhaltspunkten suchen. Die in der Familie überlieferten Anekdoten und Legenden haben dabei schon jetzt ein paar Korrekturen erfahren, genauso wie meine Spekulationen, Projektionen und Phantasien.

Erhalten ist zum Beipiel die Passagierliste des Schiffs, mit dem Longjules am 11. Mai 1907 über den Atlantik fuhr. Es handelt sich um ein bedrucktes, wie als Leporello gefaltetes Blatt, stark vergilbt und brüchig, auf dem sein Name, M. J. Chiquet, fein unterstrichen zu finden ist. Wenn man das Dokument genauer untersucht, erkennt man eine Einschränkung. Es handelt sich um die Liste des Passagers de Cabine, was bedeutet, dass hier nur die Passagiere der ersten und zweiten Klasse mit Kabine aufgeführt sind, die einen höheren Preis zahlten und gut einen Drittel der insgesamt zwölfhundert Reisenden ausmachten. Die achthundert Passagiere der dritten Klasse im Zwischendeck sind nicht namentlich aufgeführt, sondern werden nur durch eine dürre Zahl repräsentiert, achthundertsieben.

Die Entdeckung, dass mein Grossonkel mit der zweiten Klasse in die USA gefahren war, hat interessanterweise eine leise Enttäuschung bei mir ausgelöst. Da ich bereits begonnen hatte mich mit Berichten und Bildern über die katastrophalen Bedingungen der Massenauswanderung des ausgehenden neunzehnten und anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts zu befassen, hatte ich mir wildromatisch eingefärbte Phantasien erlaubt darüber, wie mein Grossonkel die Strapazen im dunklen Schiffsbauch überlebt haben könnte. Wie er sich bei seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten zuerst der mühsamen und erniedrigenden Prüfung durch die Einwanderungsbehörden auf Ellis Island hat unterziehen müssen. Das hätte auch eine Geschichte ergeben. Aber.

Koinzidenzen sind etwas Wunderbares. Dieses Mal geschah sie in Gestalt eines Buches, das ganz neu, wegen der Pandemie mit etwas Verzögerung, genau zu dem Zeitpunkt herausgegeben wurde, als meine Phantasie eine Korrektur brauchte. Geschrieben hat es die Pruntruter Historikerin Marie-Angèle Lovis, und es trägt den Titel: Un village émigre – Le cas de Cornol dans le canton du Jura (1815 - 1956). Darin konnte ich nachlesen, dass sich knapp ein Viertel der Auswanderer aus Cornol in den Jahren 1903 bis 1914 Tickets für die zweite Klasse leisteten. Von denen, die beim ersten Mal im Zwischendeck oder in der dritten Klasse gereist waren und nun, nach einem Besuch in der Heimat, sich wieder auf die Reise machten, entschieden sich viele, nach den beschwerlichen Erfahrungen beim ersten Mal, die Mehrkosten für die zweite oder gar die erste Klasse auf sich zu nehmen. Vor allem die Aussicht, bei der Ankunft nur eine kurze Prüfung durch die Behörden, direkt auf dem Schiff, zu durchlaufen, anstatt auf Ellis Island mit einer Nummernettikette versehen, mit Kreidezeichen angeschrieben, tagelang in einer Masse von armen Schluckern und heulenden Kindern ausharren zu müssen, machte die Wahl einfach, sofern man die Mittel aufbringen konnte. So kam es, dass viele Dörfler sich auf dem Schiff in einer Umgebung wiederfanden, die ihnen neu und unglaublich luxuriös vorkam. Die Schiffe hatten Aufzüge, in den Kabinen gab es zwei oder höchstens vier Betten, Waschschüsseln mit fliessendem kalten und warmem Wasser, alles Dinge, die sie in ihren Häusern im Dorf nicht kannten. Das Schiff der Companie Générale Transatlantique, mit der Longjules am 11. Mai 1907 losfuhr, hiess La Provence, und war erst ein Jahr vorher gebaut worden, als grösstes Schiff der Gesellschaft. Es war eines der schnellsten seiner Zeit und brauchte für die 5'665 Kilometer lange Strecke nur sechs Tage.

Am 17. Mai 1907 kam mein Grossonkel in New York an. Diese Angabe fand ich, gegen Ende des genannten Buches, auf einer Liste aller aus Cornol mit dem Schiff ausgereisten Personen zwischen 1819 und 1957. Und zu meiner grossen Verblüffung fand ich den Namen seiner älteren Schwester Marie schon unter den Auswanderern im Jahre 1903. Sie war die Pionierin.

Zusammen mit fünf anderen unverheirateten Frauen aus Cornol kam sie am 31. Oktober 1903 in New York an. Es ist zu vermuten, dass sie von Verwandten oder Bekannten abgeholt worden sind, denn sonst wären sie mit Sicherheit auf Ellis Island gelandet. Zwei der Frauen stammten aus der Familie Grillon, von der schon früher einige Mitglieder in die USA ausgewandert waren, und auch aus der Familie von Marie Chiquets Mutter, die mit Nachnamen Crétin hiess, gab es möglicherweise Verwandte, die sie erwarteten und am Hafen abholen konnten.

Ein Foto aus dem Nachlass meines Vaters zeigt meine Grosstante Marie Joséphine Chiquet, wie sie in dieser Zeit, mit etwa zwanzig Jahren aussah. Das Bild könnte in den USA aufgenommen worden sein. Sie trägt modische schwarze Kleidung, eine Seidenbluse mit Falten und gebauschten Ärmeln, einen langen Rock. Die fülligen Haare sind aufgesteckt, darauf trägt sie selbstbewusst einen voluminösen Hut, ebenfalls schwarz, mit pelzigflauschiger Krempe. Die Hände stecken in schwarzen Handschuhen, die rechte ist locker in der Taille abgestützt, in der linken trägt sie ein winziges Henkeltäschchen. Ihr Gesichtsausdruck ist schwer zu bestimmen. Freundlich, aber ohne ein deutliches Lächeln. Etwas zwischen Abwarten und in sich Ruhen.

Ich habe sie noch erlebt im Alter. In ihren letzten Jahren sass sie nur noch auf dem Sofa in der Stube. Wie sie es dorthin schaffte aus dem kleinen Schlafzimmerchen im ersten Stock, und wie sie wieder die steile Treppe hinaufgelangte, ist mir ein Rätsel. Sie hatte Wasser in den Beinen und konnte sich nur sehr mühsam, schwer auf den Stock aufstützend, vorwärtsbewegen. Sie war fast völlig erblindet, schien Schmerzen zu haben und reagierte oft mürrisch, vor allem auf Äusserungen und Verhalten ihrer jüngeren Schwester Berthe.

1928, mit 45 Jahren, reiste sie zum sechsten und letzten Mal in die USA. Endgültig zurückgekommen ist sie wohl kurz vor oder nach dem zweiten Weltkrieg. Bisher konnte mir noch niemand in der Familie darüber Auskunft geben, was diese Pionierin unter den Chiquets Américains in den Vereinigten Staaten erlebt hat.