Donnerstag, 14. Januar 2021

Die Américains (auf geht's!)

Gesichert scheint lediglich, dass mein Grossonkel Longjules im Mai 1907, im Dezember 1910 und im Februar 1914 mit dem Schiff von Le Havre nach New York gefahren ist. Mündlich überliefert wurde in der Familie, dass er 1917 "mit einem Kriegsschiff" zurückgekehrt ist, weil sein Vater, Joseph Chiquet, im Sterben lag oder kürzlich gestorben war. Er übernahm darauf den kleinen Bauernbetrieb und sorgte für seine Mutter, Marie Chiquet Crétin, bis zu deren Tod.

Für Longjules Tätigkeit als Kammerdiener (valet) von John D. Rockefeller Junior gibt es nur noch mündliche Zeugnisse. Die Fotos, auf denen er in der herrschaftlichen Umgebung der Milliardärsfamilie zu sehen war, und die er zuweilen Besuchern aus der Familie zeigte, bleiben bis jetzt verschollen. Ebenso gibt es keine Kleidungsstücke und Schuhe von Rockefeller Junior mehr, von denen ihm sein Patron offenbar einige grosszügig überlassen hat.

Es besteht aber kein Zweifel daran, dass es sie gegeben hat, denn mehrere Familienmitglieder erzählen übereinstimmend und detailliert davon. Mein Vater erhielt von Longjules mehere Paare identische, handgefertigte Schuhe, hellbraun, rahmengenäht und im Stil von Golferschuhen mit Lochgirlanden geschmückt. Er trug sie so lange, bis das Leder brach. Longjules hatte berichtet, dass Rockefeller von jedem Schuhtyp immer gleich mehrere Paare anfertigen liess, und dass er dieselbe Schuhgrösse gehabt habe wie er, sein Diener. Mir waren diese Schuhe leider zu klein. Ich durfte als Halbwüchsiger dafür einen halblangen, schwarzen Mantel aus feinem Wollstoff austragen, mit Applikationen aus schwarzer Seide auf dem Kragen. Auf der Innentasche war eine Stoffettikette aufgenäht mit der Aufschrift John D. Rockefeller Jr. Esq.. Der Mantel erregte zu jener Zeit, um 1969, Bewunderung und Neid bei meinen Schulkameraden. Meine damalige Freundin strickte mir dazu einen roten Wollschal, mit dem ich, wie sie fand, Aristide Bruant auf dem Plakat von Toulouse Lautrec glich.

Im Alter ging Longjules nicht zimperlich um mit diesen Erinnerungsstücken. Entweder er verschenkte sie, oder stopfte damit Ritzen im Stall, wie ein Cousin berichtet, der einmal einen dieser Lumpen herauszog und als Smoking von Rockefeller Junior identifizierte.

Das erwähnte Buch von Marie-Angèle Lovis über die Auswanderer von Cornol gibt lediglich die Daten der Einschiffung in Le Havre wieder. Wie schon erwähnt fuhr mein Grossonkel nach 1907 noch zweimal in Richtung New York über den Atlantik: im Winter 1910 und im Februar 1914. Ob er 1910 schon bei Rockefeller angestellt war, und ob er es bis zu seiner endgültigen Rückkehr 1917 blieb, weiss ich nicht. Ich habe dazu eine Mail an das Rockefeller Archive Center in Sleepy Hollow, NY, geschickt mit der Frage, ob sich irgendwelche Belege finden liessen für die Anstellung von Jules Chiquet als valet bei John Rockefeller Junior. Eine Mrs. Beckerman hat mir daraufhin sehr freundlich geantwortet, sie habe in den betreffenden Karteikarten nachgesehen, bisher aber noch keinen Hinweis auf meinen Grossonkel gefunden. Dies könne aber darauf zurückzuführen sein, dass das betreffende Aktensystem damals gerade erst eingeführt worden sei, und dass darin wahrscheinlich nur die geschäftlichen Daten abgelegt wurden. Sie versprach, in weiteren möglichen Quellen zu suchen.

Falls er 1910 und 1914 Diener bei Rockefeller Junior war, könnte es sein, dass dieser ihm die Reise für den Besuch der Eltern und Verwandten in der Heimat bezahlt hat. Lovis schreibt in ihrem Buch, dass dies bei sehr wohlhabenden Arbeitgebern durchaus vorkommen konnte. Wie seine Reisen mit denen seiner Schwestern Marie und Berthe zusammenhingen, und welchen Tätigkeiten diese in New York nachgingen, ist noch völlig unklar.

Marie reiste bereits 1903 ein erstes Mal in die Staaten, zusammen mit fünf anderen unverheirateten Frauen aus Cornol. Laut dem Namensregister in Lovis' Buch hatten vermutlich alle schon Verwandte in Amerika, die in den Jahren davor ausgewandert waren und ihnen beim Ankommen und zum Start ins neue Leben behilflich sein konnten. Lachat, Grillon, Adam, Buchwalder, alles Namen, die mehrfach zu finden und zum Teil durch die Namen ihrer Eltern zusammen zu bringen sind. Auch Marie wurde möglicherweise von einen Onkel erwartet, der den Namen ihrer Mutter trug, Crétin.

Hat sie eine Anstellung gefunden als Hausangestellte, hat sie, vier Jahre später, ihrem Bruder Jules zu seiner Stelle als Kammerdiener bei den Rockefellers verholfen? Von den Auswanderern aus der Ajoie, speziell aus Cornol, scheinen es jedenfalls viele geschafft zu haben, in wohlhabenden oder gar extrem reichen Haushalten eine Anstellung zu finden. Die Schweizer galten als zuverlässig, pünktlich und sauber. Dass sie französisch sprachen, fand man schick. Und das Netzwerk der Cornoler scheint sehr gut funktioniert zu haben, Marie-Angèle Lovis berichtet von mehreren erfolgreichen Vermittlungen und Einführungen von Neuangkömmlingen durch die bereits etablierten Landsleute.

Zwischen 1904 und 1915 gaben sich einige junge Frauen aus Cornol die Adresse des Home Jeanne d'Arc weiter, wo sie gratis oder für ein sehr geringes Entgeld wohnen konnten, bis sie eine Arbeitsstelle fanden. Dieses Wohnheim für junge Mädchen und ledige Frauen wurde 1896 von der katholischen Congregation of Divine Providence of Kentucky gegründet. Es konnte bis 1911 nur zwölf Frauen beherbergen. Danach wurde ein grosses, siebenstöckiges Haus an der vierundzwanzigsten Strasse gebaut, in der Nähe der achten Avenue im Stadtteil Chelsea, das hundertvierzig weibliche Gäste aufnehmen konnte. In der Zeit, als Marie ankam, wurde diese Institution also gerade erst ins Leben gerufen. Die Einrichtung und das Haus gibt es immer noch. Während anfangs vor allem Französisch sprechende Frauen dort wohnten, ist die Kundschaft heute international.

Ein mit dem Home Jeanne d'Arc lose verbundenes und in der Nähe gelegenes Zentrum der Cornoler Gemeinschaft war die römisch-katholische Kirche Saint-Vincent-de-Paul an der dreiundzwanzigsten Strasse. Die Kirchgemeinde wurde 1841 für die französischen Einwanderer gegründet. 1869 baute man dann das Gotteshaus in neoklassizistischem Stil, das heute noch steht, eingeklemmt zwischen Wohnhäusern. Allerdings finden in dem Haus keine Gottesdienste mehr statt. In der Zeit, in der Marie und Longjules, später Berthe, in New York waren, galt Saint-Vincent-de-Paul auch als kulturelles Zentrum für alle frankophonen Einwanderer von New York. Dort wurde geheiratet und getauft, dort verabschiedete man sich von Verstorbenen. Kirchenfeste und Basars boten Gelegenheiten, sich zu treffen. Dabei wurden Erfahrungen ausgetauscht, und Hinweise zu möglichen Arbeitsstellen weitergegeben.

Für Longjules war diese Kirche wohl auch während seiner Zeit als Kammerdiener bei den Rockefellers eine wichtige Adresse. Es könnte sein, dass ihm sein Arbeitgeber jeweils für den Besuch der Sonntagsmesse Urlaub gegeben hat. Rockefeller Junior war frommer Babtist wie sein Vater, aber mit einer modernen, ökumenischen Einstellung, die Menschen anderer Glaubensrichtung ihre eigene Religionspraxis zugestand. Von der Mansion der Rockefellers in der vierundfünfzigsten Strasse war ein nicht allzu weiter Weg bis zur Hochbahnstation in der sechsten Avenue zurückzulegen. Bei der vierten Haltestelle konnte er praktisch vor der Kirche aussteigen.

Es werden sich sicher noch weitere Hinweise ergeben aufgrund meiner Recherchen. Vielleicht findet die freundliche Dame in Sleepy Hollow einen Hinweis auf Longjules Präsenz im Hause Rockefeller. Mit der Autorin des erwähnten Buches habe ich Kontakt aufgenommen. Sie wusste nichts von einer Tätigkeit meines Grossonkels als valet, es könnte aber sein, dass sie zu den Grosstanten noch weitere Informationen beisteuern kann. Wenn ich eine Geschichte, oder mehrere, aus den vielen Puzzleteilen zusammensetzen möchte, sind kürzere oder weitere Ausflüge ins Reich der reinen Imagination unumgänglich.

Es waren wilde Jahre damals, zwischen 1907 und 1917, für die Auswanderer, für die Rockefellers, für die Welt. Springen wir hinein, beginnen wir irgendwo mittendrin. Wenn neue Erkenntnisse Korrekturen erfordern, werden wir sie eben einbauen, oder gröbstenfalls den Grossonkel und die Grosstanten abermals neu erfinden.

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