Donnerstag, 7. Januar 2021

Die Américains (Anfänge und Korrekturen)

Wie oft hat mein Grossonkel LongJules wohl erleben müssen, dass man seinen Geschichten über die Zeit in Amerika keinen Glauben geschenkt hat. Kammerdiener von Rockefeller junior warst du? Erzähle das jemand anderem! Vor allem, wenn man ihn danach, nach 1917, wieder im kleinen jurassischen Dorf antraf, als Kleinbauer mit zwei drei Kühen, ein paar Obstbäumen. In der eigentümlichen Sprache der Ortsansässigen seine Erlebnisse zum Besten gebend. Alle wussten zwar, dass er Geld besass, seitdem er aus den Staaten zurückgekommen war. Er verteilte es grosszügig, wo er dies für nötig erachtete. Aber dass er es in den Diensten eines der reichsten Männer der Welt verdient haben sollte, dazu in dessen grösster Nähe, das glaubten ihm sicher nicht viele. Er lachte gerne über seine eigenen Worte, was seine Geschichten nicht glaubwürdiger wirken liess. Nie wusste man, ob er sich über den Zuhörer oder über sich selber lustig machte.

Auf mich kamen LongJules Geschichten nur indirekt, bei Besuchen in Cornol, wenn unsere Familie zusammen mit ihm und den beiden Grosstanten am Tisch sass. Obwohl mein Vater nur wenig Patois verstand, und meine Mutter und wir Kinder erst recht kein Wort davon, rutschten die drei alten Leute immer wieder in ihre eigene Mundart. Auch französisch verstand ich damals kaum, war auf die gelegentliche Übersetzung durch meinen Vater angewiesen. So erreichten mich die Geschichten lückenhaft, mit vielen Unterbrüchen. Wir Kinder verdrückten uns meist, sobald wir konnten, nach draussen oder in die Scheune, wo man vom oberen Tenn ins Heu herunterspringen konnte.

Die Fotos aus der Amerikazeit machten mir Eindruck. LongJules war da inmitten sehr vornehmer Leute zu sehen, im schicken Anzug, mit Gilet, gestärktem Kragen und breiter Seidenkrawatte, nur wenig dezenter oder bescheidener gekeidet als sein Herr und Geldgeber. Mein Grossonkel schien sich zwischen den hübschen, offensichtlich reichen Frauen mit ihren geschnürten Taillen im Element zu fühlen. Die Damen trugen enorme Hüte, die Hündchen adrette Schleifen, und die Autos polierte Kühlerfiguren.

Dass LongJules von Cornol nach Amerika auswanderte, war nicht sehr ungewöhnlich, obwohl das Dorf fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch dem Sog über den Atlantik widerstanden hatte. Im Gegensatz übrigens zum Ursprungsort des Chiquetklans, zu Asuel, das sich fast völlig entvölkert hatte. Nun aber zogen in wenigen Jahrzehnten auch aus Cornol über fünfhundert Einwohner aus, um in den Staaten ihr Glück zu versuchen, mitgerissen von einer neuartigen Dynamik aus Propaganda und Aufbruchstimmung, welche die Ajoie ergriffen hatte. Ich stellte mir vor, LongJules sei als Pionier der Familie ausgewandert, mit der Absicht, bei Erfolg die Schwestern Marie und Berte nachkommen lassen. Dass es ganz anders war, erfuhr ich erst vor kurzem. Aber davon später.

Was erhoffte er zu finden in den USA? Wollte er, als Bauernsohn, nach seiner Ankunft weiterziehen in den Mittleren Westen, um dort Landwirtschaft zu betreiben, wie einige seiner Landsleute? Geld, um Land zu erweben wird er keines gehabt haben, also musste er zuerst eine Arbeit finden. Dies erschien ihm in New York einfacher, oder es fehlten ihm schlicht die Mittel zur Weiterreise, so wie den meisten Emigranten aus Europa. Eine grosse Zahl der Einwohner waren zu dieser Zeit, um 1907, Neuankömmlinge und Secondos.

Dass er in den zehn Jahren, die er in den USA verbrachte, Kammerdiener bei John D. Rockefeller junior wurde, und es auch blieb bis zu seiner Rückkehr nach Europa 1917, ist in jeder Hinsicht eine höchst erstaunliche Geschichte. Er wird zu Beginn kaum flüssig, für Amerikaner verständlich, englisch gesprochen haben, und auch sein Französisch war nicht über alle Zweifel erhaben. Von seinem Vater, einem Kleinbauern und Heimarbeiter der Uhrenindustrie, hatte er Grundkenntnisse der Landwirtschaft sowie ein paar feinmechanische Fertigkeiten mitbekommen. Wie fand er Zugang zur Familie Rockefeller? Hat er sich auf eine Stellenausschreibung beworben, konnte er auf ein Netzwerk von Landsleuten zurückgreifen, oder war es eine zufällige, schicksalshafte Begegnung, die ihn, den kleinen Mann aus Cornol, für diese Königsfamilie des wilden Kapitalismus um 1900 nützlich machte?

Ich könnte es bedauern, dass ich meinen Vater nicht noch zu Lebzeiten ausgefragt habe über die Einzelheiten von LongJules Abenteuer. Aben nun ist es so, man weiss wenig bis gar nichts darüber und muss von dem ausgehen, was man hat, und beharrlich nach weiteren Anhaltspunkten suchen. Die in der Familie überlieferten Anekdoten und Legenden haben dabei schon jetzt ein paar Korrekturen erfahren, genauso wie meine Spekulationen, Projektionen und Phantasien.

Erhalten ist zum Beipiel die Passagierliste des Schiffs, mit dem Longjules am 11. Mai 1907 über den Atlantik fuhr. Es handelt sich um ein bedrucktes, wie als Leporello gefaltetes Blatt, stark vergilbt und brüchig, auf dem sein Name, M. J. Chiquet, fein unterstrichen zu finden ist. Wenn man das Dokument genauer untersucht, erkennt man eine Einschränkung. Es handelt sich um die Liste des Passagers de Cabine, was bedeutet, dass hier nur die Passagiere der ersten und zweiten Klasse mit Kabine aufgeführt sind, die einen höheren Preis zahlten und gut einen Drittel der insgesamt zwölfhundert Reisenden ausmachten. Die achthundert Passagiere der dritten Klasse im Zwischendeck sind nicht namentlich aufgeführt, sondern werden nur durch eine dürre Zahl repräsentiert, achthundertsieben.

Die Entdeckung, dass mein Grossonkel mit der zweiten Klasse in die USA gefahren war, hat interessanterweise eine leise Enttäuschung bei mir ausgelöst. Da ich bereits begonnen hatte mich mit Berichten und Bildern über die katastrophalen Bedingungen der Massenauswanderung des ausgehenden neunzehnten und anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts zu befassen, hatte ich mir wildromatisch eingefärbte Phantasien erlaubt darüber, wie mein Grossonkel die Strapazen im dunklen Schiffsbauch überlebt haben könnte. Wie er sich bei seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten zuerst der mühsamen und erniedrigenden Prüfung durch die Einwanderungsbehörden auf Ellis Island hat unterziehen müssen. Das hätte auch eine Geschichte ergeben. Aber.

Koinzidenzen sind etwas Wunderbares. Dieses Mal geschah sie in Gestalt eines Buches, das ganz neu, wegen der Pandemie mit etwas Verzögerung, genau zu dem Zeitpunkt herausgegeben wurde, als meine Phantasie eine Korrektur brauchte. Geschrieben hat es die Pruntruter Historikerin Marie-Angèle Lovis, und es trägt den Titel: Un village émigre – Le cas de Cornol dans le canton du Jura (1815 - 1956). Darin konnte ich nachlesen, dass sich knapp ein Viertel der Auswanderer aus Cornol in den Jahren 1903 bis 1914 Tickets für die zweite Klasse leisteten. Von denen, die beim ersten Mal im Zwischendeck oder in der dritten Klasse gereist waren und nun, nach einem Besuch in der Heimat, sich wieder auf die Reise machten, entschieden sich viele, nach den beschwerlichen Erfahrungen beim ersten Mal, die Mehrkosten für die zweite oder gar die erste Klasse auf sich zu nehmen. Vor allem die Aussicht, bei der Ankunft nur eine kurze Prüfung durch die Behörden, direkt auf dem Schiff, zu durchlaufen, anstatt auf Ellis Island mit einer Nummernettikette versehen, mit Kreidezeichen angeschrieben, tagelang in einer Masse von armen Schluckern und heulenden Kindern ausharren zu müssen, machte die Wahl einfach, sofern man die Mittel aufbringen konnte. So kam es, dass viele Dörfler sich auf dem Schiff in einer Umgebung wiederfanden, die ihnen neu und unglaublich luxuriös vorkam. Die Schiffe hatten Aufzüge, in den Kabinen gab es zwei oder höchstens vier Betten, Waschschüsseln mit fliessendem kalten und warmem Wasser, alles Dinge, die sie in ihren Häusern im Dorf nicht kannten. Das Schiff der Companie Générale Transatlantique, mit der Longjules am 11. Mai 1907 losfuhr, hiess La Provence, und war erst ein Jahr vorher gebaut worden, als grösstes Schiff der Gesellschaft. Es war eines der schnellsten seiner Zeit und brauchte für die 5'665 Kilometer lange Strecke nur sechs Tage.

Am 17. Mai 1907 kam mein Grossonkel in New York an. Diese Angabe fand ich, gegen Ende des genannten Buches, auf einer Liste aller aus Cornol mit dem Schiff ausgereisten Personen zwischen 1819 und 1957. Und zu meiner grossen Verblüffung fand ich den Namen seiner älteren Schwester Marie schon unter den Auswanderern im Jahre 1903. Sie war die Pionierin.

Zusammen mit fünf anderen unverheirateten Frauen aus Cornol kam sie am 31. Oktober 1903 in New York an. Es ist zu vermuten, dass sie von Verwandten oder Bekannten abgeholt worden sind, denn sonst wären sie mit Sicherheit auf Ellis Island gelandet. Zwei der Frauen stammten aus der Familie Grillon, von der schon früher einige Mitglieder in die USA ausgewandert waren, und auch aus der Familie von Marie Chiquets Mutter, die mit Nachnamen Crétin hiess, gab es möglicherweise Verwandte, die sie erwarteten und am Hafen abholen konnten.

Ein Foto aus dem Nachlass meines Vaters zeigt meine Grosstante Marie Joséphine Chiquet, wie sie in dieser Zeit, mit etwa zwanzig Jahren aussah. Das Bild könnte in den USA aufgenommen worden sein. Sie trägt modische schwarze Kleidung, eine Seidenbluse mit Falten und gebauschten Ärmeln, einen langen Rock. Die fülligen Haare sind aufgesteckt, darauf trägt sie selbstbewusst einen voluminösen Hut, ebenfalls schwarz, mit pelzigflauschiger Krempe. Die Hände stecken in schwarzen Handschuhen, die rechte ist locker in der Taille abgestützt, in der linken trägt sie ein winziges Henkeltäschchen. Ihr Gesichtsausdruck ist schwer zu bestimmen. Freundlich, aber ohne ein deutliches Lächeln. Etwas zwischen Abwarten und in sich Ruhen.

Ich habe sie noch erlebt im Alter. In ihren letzten Jahren sass sie nur noch auf dem Sofa in der Stube. Wie sie es dorthin schaffte aus dem kleinen Schlafzimmerchen im ersten Stock, und wie sie wieder die steile Treppe hinaufgelangte, ist mir ein Rätsel. Sie hatte Wasser in den Beinen und konnte sich nur sehr mühsam, schwer auf den Stock aufstützend, vorwärtsbewegen. Sie war fast völlig erblindet, schien Schmerzen zu haben und reagierte oft mürrisch, vor allem auf Äusserungen und Verhalten ihrer jüngeren Schwester Berthe.

1928, mit 45 Jahren, reiste sie zum sechsten und letzten Mal in die USA. Endgültig zurückgekommen ist sie wohl kurz vor oder nach dem zweiten Weltkrieg. Bisher konnte mir noch niemand in der Familie darüber Auskunft geben, was diese Pionierin unter den Chiquets Américains in den Vereinigten Staaten erlebt hat.

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