Mittwoch, 27. Januar 2021

Aufbruch

Ausgerechnet über die Eisheiligen war es in jenem Mai, 1907, für mehrere Tage sommerlich warm. Weil die Bauern von Cornol danach mit Gewittern rechneten, brachten die meisten das erste Heu noch vor dem Elften in ihren Schobern unter.

Das Heuen hat Spuren in seinen Handflächen hinterlassen, er hat Blasen wie schon lange nicht mehr. Das Brennen erinnert ihn an die Freude am Ende eines harten Tages, vorgestern, als die letzte Fuhr geschafft war. Einer alten Gewohnheit nachgebend, schliesst er für mehrere Schritte die Augen. Öffnet sie, macht sie wieder zu. Es ist nicht schwer, die Richtung zu halten, er spürt die sanfte Steigung der Dorfstrasse unter den Füssen, solange der Widerstand gleich bleibt, führen sie ihn geradeaus. Wie viele Kopfnüsse hat er einstecken müssen als Bub, weil er das einfach nicht lassen konnte, den aveugle machen. Er liebt die Steigerung der anderen Sinne, des Gehörs und Geruchs, wenn er die Augen schliesst. Die Geräusche. Er würde Cornol immer an seinen Geräuschen wiedererkennen. Man kann sich einbilden, den Klang der gesamten, riesigen, nur ganz leicht schiefen Ebene zwischen Jura und Vogesen zu hören, an deren oberen Rand, am Ausgang des Tals der Coroline, das Dorf liegt. Dessen Geräusche nur einen Teil dieses Klanges ausmachen, eine nahen und lebendigen allerdings. Mit Gegacker von Hühnern, leisem Rauschen und Glucksen des Bachs, Plätschern des Brunnens. Immer klopft, hämmert, dengelt jemand, Menschen locken ihre Tiere mit seltsamen Lauten, unterhalten sich rufend, über mehrere Gärten hinweg auf Patois, im vertrauten Niäniäniä. Ein Hund bellt, ein anderer antwortet ihm aus der Ferne.

Das gilt ihm jetzt.
"Träumst du schon von drüben, vom Schlaraffenland?"
Gelächter von mehreren Seiten, als er die Augen aufschlägt.
"Wann geht's los?"
"Morgen!"
"Alles gepackt? Kommt dich jemand abholen in New York? Marie ist ja noch hier. Die kommt später nach, oder?"
Er bleibt bei Emile und Armand stehen, beide tragen Werkzeug auf den Schultern, eine Heugabel, eine Axt.
"Zuerst muss ich im Havre ankommen, es ist beschwerlich, nicht mehr so wie früher mit den Extrazügen, die durchgefahren sind, sogar durch Paris."
Von der anderen Seite des Strässchens kommt Armands Schwester Célina dazu.
"Du musst sogar einmal übernachten?"
"Ja."
"Wir haben gehört, du gehst mit Henri zusammen. Stimmt es, dass ihr auf diesem schnellen Dampfer der Transatlantique fahrt? Wie heisst er, La Prudence?"
"La Provence!"
"Der ist ganz neu, sagen sie. War sicher teuer, dazu zweite Klasse. Chic, chic, Monsieur Chiquet!"
Er macht sich los von dem Grüppchen.
"Also, bis dann!"
"Ja, bis dann.
"Vergiss uns nicht!" Célina sagt es leise. Sie errötet, als er sie angrinst, noch rückwärts gehend. Dann dreht er sich ganz weg.

Heute hat er nicht weit, die drei Kühe stehen auf einer kleinen Weide fast am Waldrand, beim oberen Dorfeingang. Er ruft sie von weitem, und als er beim Zaun ankommt, stehen sie schon brav bereit, die beiden älteren mit prallem Euter. Er öffnet ihnen das Gatter, und wie immer gibt es ein kurzes Hin und Her, wer zuerst hindurchstaksen darf. Als das geklärt ist, machen sie sich muhend auf den Heimweg. Er trottet ihnen hinterher, muss überlegen, was noch zu tun ist bis zum Schlafengehen.

Ihr Haus steht auf einer dreieckigen Fläche, in der Gabelung zwischen Bach und Dorfstrasse auf der linken Seite, und einem kleinen Weg, mit dem merkwürdigen Namen La Rasse, auf der rechten Seite. Als Jules in der Kurve beim Lion d'Or angekommen ist, sieht er von weitem, dass der Vater die Stalltüre aufgemacht haben muss, denn die Kühe sind nicht mehr zu sehen.

Er tritt ins Halbdunkel, Papa ist schon, den runden Schädel gegen die Flanke der Kuh gedrückt, beim Melken. Jules holt seinen Stuhl vom Haken und setzt sich zum zweiten Tier. Er muss nochmals aufstehen, das widerspenstige Hinterteil gerade rücken und den verdreckten Schwanz mit der vom Balken herunterhängenden Schnur hochbinden.

"Mach vorwärts, dann kannst du die Kanne dem Pierre in die Laiterie mitgeben."
Jules taucht aus seinen Gedanken auf, der Euter seiner Kuh ist auch leer. Er steht auf, schüttet den bläulich schimmernden Inhalt des Kessels in die Kanne. Der Deckel ist schmutzig, also geht er damit in die Küche, um ihn abzuspülen. Maman steht am Herd, und als er hinter ihr vorbeigeht, streift ihn, fast schon wie eine Erinnerung, ihr Geruch. Rauch, Essen, und ganz leise, muguet-Seife. Ohne aufzublicken setzt sie ihre Litanei, die sie am frühen Morgen begonnen und ununterbrochen weitergeführt hat, zur Not und bei fehlenden Zuhörern als inneren Monolog, jetzt, bei seinem Erscheinen wieder als Rezitativ einer Liste, was alles getan wurde, und was noch alles zu tun sei vor seiner Abreise, alles in ihrer einzigen und ureigenen Patois-Sprache, ohne Punkt und Komma.
"und Marie hat dir noch die Hemden geplättet wir haben sie schon eingepackt damit du sie nicht wieder zerknüllst nur das welches du morgen auf die Reise anziehst liegt zuoberst mach die Knöpfe auf wenn"
Er ist schon wieder aus der Küche verschwunden, zu antworten, hätte nichts geändert. Zurück im Stall drückt er den Deckel auf die Kanne, kippt leicht an und rollt sie in Schräglage aus dem Tor ins Helle. Papa ist nicht zu sehen, machte sich wohl nochmals auf und hinüber in den Boeuf, um sich vor dem Abendessen ein Gläschen zu genehmigen, und um die Stimmung im Dorf zu erschnuppern. Er wartet auf Pierres Karren, den er hört, bevor er auftaucht. Davor ein mageres Pferdchen, das den Einachser mit hängendem Hals hinter sich herschleppt, als sei er mit Steinen beladen. Pierre sitzt mit dem Rücken zur Fahrtrichtung am äussersten Rand der schrägen Ladefläche, hüpft, als er auf Jules' Höhe angelangt ist, herunter, was dem Tier das Signal zum Stehenbleiben gibt.

Während sie gemeinsam die Kanne hochheben und zu den andern rücken, druckst Pierre an einer Frage herum.
"Wir, also die Jungen vom unteren Dorf, haben uns gefragt."
Pause.
"Also eigentlich: der Girard-Joseph hat mich gefragt, warum."
Pause.
"Also, warum ihr eigentlich rüber gehen wollt. Ich meine, beim Henri ist es klar, der Hof ist schon in den Händen des Ältesten, und er kann nichts ausser bauern. Aber ihr?"
Er hofft, dass Jules ihn unterbricht, endlich etwas sagt. Aber der schweigt. Also muss er weitermachen, sich auf zweifelhaftes Gelände begeben.
"Die Marie könnte doch auch hier nähen, und du und dein Papa, es ging doch in letzter Zeit eher aufwärts mit den Uhren. Was willst du den anfangen drüben?"
"Ich schaue mal."
"Entschuldige, ich wollte nicht..."
"Ist schon gut, ich weiss es selber noch nicht genau. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Ich gehe zuerst mal mit Henri zu seinem Cousin nach Ohio. Der ist ja auch ein weit entfernter Onkel von mir. Henri will etwas mit Früchten machen, aber ich glaube, das Klima ist dort nicht so mild, wie er meint. Ich habe ein bisschen nachgelesen. Wir werden sehen. Vielleicht gehe ich auch gleich wieder zurück nach New York. Es soll viele Reiche geben dort, die fünf oder zehn Hausangestellte haben. Die Ajolais sind beliebt, und man verdient gut.
"Hausangestellter? Du meinst, Diener? Dann müsstest du..?
"Ja, warum nicht?"
Pierre wiegt den Kopf hin und her, will noch etwas sagen, lässt es dann doch, setzt sich wieder auf seinen Karren. Kaum spürt es den Zug der Deichseln nach oben, setzt sich das Pferdchen in Gang. Während er rittlings davonfährt, hält Pierre seinen Blick nachdenklich auf Jules gerichtet.
"Also, pass auf dich auf!" ruft er, bevor er hinter der Wegbiegung zur Route de la Baroche verschwindet.
"Ja, mach ich", murmelt Jules vor sich hin, und zum zweiten oder dritten Mal heute wird er von einer körperlichen Unruhe überrascht. Sein Magen krampft sich zusammen, die Kehle wird ihm trocken, da kann er schlucken, so oft er will. Es kribbelt ihn in Händen und Füssen, er weiss nicht, wie ihm geschieht. Heute morgen, kurz bevor er richtig wach wurde, hat es ihn so gepackt. Berthe, die einzige, der er davon erzählt hat, lachte nur.
"Du hast das Reisefieber."

Um sich abzulenken, geht er ins Haus zurück und die Treppe hoch, in die kleine Werkstatt. Er setzt sich an seinen Arbeitsplatz, und obwohl schon alles ordentlich weggeräumt und versorgt ist, ein kleiner, handlicher Teil eingepackt in seine Reisekiste, zieht er eine Schublade nach der andern auf, holt sich aus der untersten die kleine Drehbank, mit der er bis vor einem Jahr Zapfen an die Enden winziger Achsen gedreht hat. Er spannt sie in den Schraubstock, holt ein paar der feinen Dreheisen aus einer zweiten Schublade, dann aus der obersten die Schachtel mit Rohlingen, Reste vom letzten derartigen Auftrag. Nimmt seine Uhrmacherlupe vom schmalen Schaft über dem Werktisch und klemmt sie sich ans Auge. Er beginnt zögernd mit dem Einspannen des kleinen Werkstücks, muss sich anstrengen, um sich an den Ablauf der einst mit viel Routine ausgeführten Arbeitsgänge zu erinnern. Aber er spürt, wie die Ruhe in seinen Körper zurückkehrt, und als er die nur mit der Lupe zu sehenden Drehspäne wegpinseln und zum ersten mal nachmessen kann, ist er wieder er selber.

Berthe stürmt herein, mit roten Backen, zieht ihn mitsamt dem Stuhl vom Tisch weg, platscht sich laut lachend auf seinen Schoss, gerade noch kann er die Hand mit dem scharfen Werkzeug von ihr wegstrecken. Er will etwas sagen, doch sie überfährt ihn mit der überschäumenden Kraft ihrer Halbwüchsigkeit.
"Das darfst du jetzt nicht mehr!" Sie imitiert Tonfall und Dialekt der Mutter. Dann weiter, glucksend, mit Überdruck, in der ihr eigentümlichen Weise eines schreienden Flüsterns. Jules fasst die Schwester bei der Taille und schiebt sie von seinem Schoss weg auf Vaters Stuhl. Dabei spürt er unter seinen Fingern die Rundungen der Fünfzehnjährigen und muss seiner Mutter rechtgeben. Das geht nun nicht mehr.
"Ist es wahr, dass in New York der reichste Mann der Welt lebt? Und gibt es auch schon so ein Theater mit Bildern, die sich bewegen? Ist es das grösste und schnellste Schiff, mit dem du fährst?" Sie stösst eine Frage nach der andern aus, so dicht, dass ihm keine Lücke bleibt für Antworten. Sie erwartet auch keine, beendet ihren Frageschwall, indem sie noch einmal tief Luft holt für einen langgezogenen Seufzer. Dann, jedes Wort einzeln ausrufend:
"I – want – to – go – to – America – too!"

In seinem Zimmer überprüft er nochmals sein Gepäck, die Papiere, das Geld, das kleine Wörterbuch. Im fällt nichts mehr ein, was er vergessen haben könnte. Doch, Schreibzeug! In einer Schachtel entdeckt er seine Schulfedern, die Tinte im Fläschchen ist aber eingetrocknet. Er wird Marie fragen, sie hat immer alles. Er findet noch ein halb leeres Schreibheft, das er in einer Aussentasche unterbringen kann. Dann geht er nach unten, zu seiner Familie.

Mutter hat einen Toetché gebacken, dessen Duft sich schon vor dem Nachtessen im ganzen Haus ausbreitete. Nun sitzen sie alle um den runden Tisch, Vater ist sogar rechtzeitig, und ohne dass ihn jemand holen musste, aus dem Boeuf zurückgekehrt. Sie falten die Hände und beten, danken für das abendliche Brot. Als das gewohnte Ritual abgeschlossen ist, fährt Marie mit ruhiger, fester Stimme fort. Sie bittet Gott um den Segen für die Reise ihres Bruders. Amen. Jules hat es wieder die Kehle zurgeschnürt, aber er gibt sich Mühe, vom Sauerrahmkuchen zu essen, den Maman speziell für ihn und zu diesem Anlass des Abschieds gebacken hat. Er taucht ab. Papa muss ihn anstubsen.
"Joseph hat geschrieben, er wünscht dir eine gute Reise."
Jules hat sich schon länger nicht mehr bei seinem älteren Bruder gemeldet. Er überlegt, ob er ein schlechtes Gewissen haben sollte. Maman fügt noch etwas hinzu.
"Er wird im Sommer nach Basel verlegt, an die Burgfelder Grenze. Dann kann er auch einmal nach Augustine schauen. Hast du ihre Adresse?"
"Ja, ja, ich werde ihr schreiben."
Berthe plaudert, ohne sich darum zu kümmern, ob ihr jemand zuhört, Marie und Clara essen schweigend.

Er schläft unruhig, wacht immer wieder auf, zählt die Glockenschläge, die ihm so nah und laut erscheinen, dass er sich wundert, wie er schlafen konnte in all den Jahren bisher. Wenn er aufschreckt, kurz bevor er wieder ganz wach wird, meint er, im Traum noch oder im Halbschlaf, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Er kontrolliert den Wecker, dreht sich hin und her, sinkt schliesslich doch in Tiefschlaf.

Er wird gerüttelt, Vaters Hand legt sich auch auf den Wecker und würgt das wilde Gerassel ab.
"Komm, du musst aufstehen, es ist schon halb vier."
Auch Maman steht da, musste ihrem Sohn wenigestens einen Kaffee kochen. Er verbrennt sich den Gaumen, denn der Wagen des Quincailliste, der sie nach Porrentruy fahren wird, steht schon auf der Dorfstrasse, auf der anderen Seite des Bachs. Zwei Pferde hat er eingespannt, und Henri ist auch schon da. Jetzt stellt sich ihm die Mutter in den Weg, bedeutet ihm mit knapper Geste, den Kopf zu senken. Sie taucht den Daumen ins Weihwasserbecken neben dem Türpfosten und malt ihm, senkrechtwaagrecht, das Kreuzzeichen auf die Stirn. Um ihren Mund zuckt es, und fast wäre er ihr übers Haar gestrichen.
"Gesegnete Reise", murmelt sie. Dann, überraschend: "Sei schlau!" Zögernd hebt Jules seine Hand und berührt sie an der Schulter, und, als sie nicht zurückweicht, drückt er sie ein wenig, streicht ihrem Arm entlang hinunter und dreht sich ab.

Er bringt seine Kiste zum Wagen, der Vater trägt die Tasche und den Koffer, im Marschtritt, den er auf einmal mit nachgeahmtem Bumbabumba der Tuba begleitet. Bricht in Lachen aus. "Wenn es heute keine Musik gibt, mach ich sie halt."
Sie lachen beide. Als Marie vor vier Jahren mit fünf anderen jungen Frauen vom Dorf nach Amerika aufbrach, hat die Dorfmusik gespielt. Vater und Sohn brauchen einen Moment, bevor sie sich umarmen.

Erst als Jules auf den Wagen steigt, bemerkt er, dass doch einige Cornoler zusammengekommen sind, um sich zu verabschieden und wieder zwei davonfahren zu sehen.

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