Donnerstag, 21. Januar 2021

Die Américains – weitere Sedimente, neue Fragen

Erweiterte Quellen, die Auskünfte geben über Reisedaten und Adressen von Auswanderern, haben sich mir erschlossen dank eines längeren Telefongesprächs und nach regem Mailkontakt mit der Historikerin Marie-Angéle Lovis, die ein Buch über die Emigration aus dem Dorf Cornol in den Jahren zwischen 1815 und 1956 geschrieben hat. Dabei handelt es sich einerseits um die öffentlich zugänglichen Daten der US-amerikanischen Immigrationsbehörden auf Ellis Island, andererseits um Dokumente aus Volkszählungen in den USA, die Frau Lovis bereits ausgewertet hat.

Um das Familiensystem der Cornoler Chiquets besser zu verstehen, wollte ich ausserdem die noch fehlenden Geburts- und Sterbedaten eruieren. Die Familie kommt ursprünglich aus Asuel, einem Dorf, das in einer schattigen Senke der Jurahöhen zwischen Cornol und der Caquerelle liegt. Aus ökonomischen Gründen wurde 2009 die Administration der Gemeinden von Asuel, Charmoille, Fregiécourt, Miécourt und Pleujouse zusammenlegt und, damit sich keines der beteiligten Dörfer benachteiligt fühle, unter dem Flurnamen La Baroche zu einer Kollektivgemeinde zusammengefasst. Die Familienregister von Asuel liegen heute im Gemeindesekretariat, im ehemaligen Primarschulhaus von Charmoille, deshalb fuhren wir dorthin.

Eine drittes Feld, aus dem sich neue Einsichten ergaben, sind Fotos und Postkarten aus dem Nachlass meines Vaters und einer Tante. Beim Durchsehen und Scannen der Fotos wurde mein Blick für Ähnlichkeiten in den Gesichtern geschärft. So wusste ich zum Beispiel bis vor Kurzem nicht, wie die jüngste unter den ausgewanderten Grosstanten, Clara, ausgesehen hat. Nun konnte ich sie auf verschiedenen Fotos entdecken, die in den Vereinigten Staaten aufgenommen wurden, und auf denen sie in Gesellschaft offensichtlich wohlhabender Damen zu sehen ist. Ich lernte, meinen Grossonkel auch ohne den späteren Schnauzbart zu erkennen, bei Unsicherheiten habe ich gelegentlich zwei Fotos transparent übereinandergelegt, um die Übereinstimmung in den Proportionen zu prüfen, genauso wie es in Kriminalfilmen gemacht wird.

Die Ergänzungen der Familiendaten haben bereits wieder zu Korrekturen bisheriger Annahmen geführt. Aufgrund mündlicher Überlieferung ging ich davon aus, dass Longjules 1917 nach Cornol zurückkam, weil sein Vater im Sterben lag oder gestorben war. Dieser ist aber erst am sechsten Januar 1921 gestorben. Wir wissen also nicht, was die Gründe seiner endgültigen Rückkehr nach Cornol waren. Der Vater war vielleicht nicht mehr in der Lage, den kleinen Bauernhof zu führen, weshalb die Begründung, Jules habe seine Mutter unterstützen wollen, nach wie vor Geltung haben kann. Es könnte auch sein, dass der Eintritt Amerikas in den Weltkrieg eine Rolle gespielt hat, wir wissen es nicht. Jedenfalls sind alle seine drei Schwestern in Amerika geblieben.

Ich habe nun auch die Geburts- und Todesdaten der vierten Schwester, Augustine. Sie war die einzige, die nicht in die USA auswanderte. Sie wurde drei Jahre nach Longjules, 1888, geboren, heiratete 1915 einen Zürcher Postbeamten, Alwin Moser, und hatte mit ihm eine Tochter, Elisabeth. Meine Urgrosseltern scheinen sehr stolz gewesen zu sein auf ihre erste Enkelin. Augustine und ihre Tochter sind auf vielen Fotos zu sehen, seltener ihr Mann, da er den Fotoapparat bediente, als Familienfotograf, wie mein Vater erzählt hat.

Die Überlieferung durch meinen Vater ist nicht sehr verlässlich, wie ich auch hier wieder erfahren habe. Es gibt Notizen von ihm, die er als Achtzigjähriger über seinen Vater, meinen Grossvater, aufgeschrieben hat. Dieser, Joseph Babtiste Chiquet, wurde in der Familie von allen Papa genannt. Er war der älteste Bruder meiner Grosstanten und von Longjules, machte seine Ausbildung zum Grenzwächter zuerst im Jura, dann in Basel an der Burgfelder Grenze, wo er seine spätere Frau kennenlernte, Frieda Bitter aus Wallbach, mit der er sieben Kinder hatte. Longjules soll ihm für den Kauf eines Hauses in Riehen ein grosszügiges Darlehen gegeben, dafür aber auch kräftig in die Wahl dreingeredet haben. Später hat Longjules den Schuldschein in einer theatralischen Performance zerrissen.

In einer der erwähnten Notizen schreibt mein Vater: sein dreijähriges Schwesterchen Clara, das an Keuchhusten starb, konnte er (Papa, mein Grossvater) nicht vergessen. Wie wir jetzt im Familienregister von La Baroche nachlesen konnten, sind meinem Vater bei der Erinnerung an diesen frühen Kindstod verschiedene Verwechslungen unterlaufen. Es handelte sich nicht um ein Schwesterchen, sondern um ein Brüderchen, Jules mit Namen, das 1884 mit drei Monaten gestorben ist. Drei Jahre alt war damals der kleine Joseph, mein späterer Grossvater, der getrauert hat. Clara ist der Name der jüngsten meiner Grosstanten, die in die USA ausgewandert ist. Sie verstarb 1958 in Manhattan, wo sie bei ihrer Schwester Berthe und deren Mann wohnte. Im gleichen Jahr, nur gerade zwei Monate später, starb auch Berthes Mann, Louis Dirand. Berthes Trauer, vor allem um ihre Schwester, war unermesslich. Ich kann mich noch daran erinnern, dass sie bei jedem unserer Besuche in Cornol mindestens einmal auf Clara zu sprechen kam, dabei von ihr redend, als lebe sie noch. Wenn sie darauf aufmerksam gemacht wurde, dass Clara gestorben sei, brach sie in Schluchzen und Klagen aus, als erfahre sie zum ersten Mal vom Tod ihrer Schwester. Vielleicht hat deshalb die Erinnerung meines Vaters aus dem kleinen Jules ein Schwesterchen Clara gemacht. Nur ein Jahr nach dem frühen Tod von Jules I. kam Longjules zur Welt. Dass man auf diese Weise, mit der Wiederholung des Namens, den Verlust eines Kindes auszugleichen suchte, war zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich.

Was haben die Daten der Auswanderungsbehörden an neuen Erkenntnissen gebracht? Beginnen wir mit Longjules, dessen Geschichte über seine Dienerschaft bei John D. Rockefeller Junior ja den Ausgangspunkt meiner Recherchen bildete. Longjules reist am 11. Mai 1907 mit dem Transatlantikdampfer Provence von Le Havre aus nach New York, wo er sechs Tage später ankommt. Er hat eine Kabine zweiter Klasse, während ein entfernter Onkel, Henri Schneider aus Cornol, der auf demselben Schiff reist und denselben Zielort angibt, Sterling in Ohio, in der dritten Klasse fährt. Longjules gibt als Beruf watchmaker an, während bei Henri Schneider fruitier, Obsthändler, steht. Ob die beiden tatsächlich nach Sterling, Ohio, weiterreisen, zum Cousin von Henri, respektive zum Onkel von Jules, mit dem Namen Stoquet oder Stöckli, ist nicht bekannt. Wenn Longjules dorthin gefahren ist, kehrt er jedenfalls nach New York zurück. Offenbar will er nicht Landwirtschaft betreiben wie zuhause in Cornol. Seine Schwester Marie kommt im Oktober desselben Jahres mit der La Tourène nach New York, auf dem Zwischendeck, wie schon bei ihrer ersten Reise. Sie ist seit 1903 in New York gewesen und hat offenbar die Heimat besucht.

Es gibt noch keine Hinweise dafür, wo und als was Longjules in der Zeit bis zu seiner zweiten Reise nach New York gearbeitet hat. Bisher haben wir nur die Adresse in Ohio für diesen Zeitabschnitt. Er muss dann vor Ende des Jahres 1910 nach Hause, in den Jura, gekommen sein, denn am vierundzwanzigsten Dezember 1910 besteigt er in Le Havre wieder ein Schiff in Richtung New York, diesmal die La Lorraine, und kommt zu Silvester in New York an. Das Billet zweiter Klasse hat er selber bezahlt, und nicht, wie ich gemutmasst habe, sein Arbeitgeber Rockefeller. Auch gibt er als Adresse in den USA nicht eine der Mansions des Milliardärs in Manhattan an, sondern die Anschrift eines Freundes mit dem Namen Jacquelin in Ho-Ho-Kus, Bergen County, New Jersey. Unter Beruf steht dieses Mal servant. Ob er als Diener in New Jersey arbeitet und wie lange er dort bleibt, ist unbekannt. Jules ist jetzt fünfundzwanzig Jahre alt.

Am siebten November 1911 kommt seine Schwester Marie, die inzwischen achtundzwanzig ist und auch wieder die Heimat besucht hat, zusammen mit der jüngeren, neunzehnjährigen Schwerster Berthe, nach zehntägiger Reise auf der Chicago, in New York an. Für Berthe geben sie ein höheres Alter an, einundzwanzig Jahre, vielleicht in der Hoffnung, sich damit Schwierigkeiten bei der Ankunft zu ersparen. Ihre Adresse ist das Home Jeanne d'Arc, eine katholische Institution in Manhattan, die alleinstehenden Frauen kostengünstig Unterkunft anbietet. Marie bezeichnet sich als couturière, Näherin, und Berthe als modiste, Hutmacherin. Ob sie in diesen Funktionen arbeiten werden, ist nicht bekannt. Immerhin gibt Marie bei allen weiteren Besuchen nun immer diesen Beruf, Näherin, an. Es könnte sein, dass sie längere Zeit in einer Kleiderfabrik oder einem Schneideratelier in New York gearbeitet hat.

Ein drittes Mal reist Longjules am einunddreissigsten Januar 1914 mit der Chicago von Le Havre ab und kommt, offenbar nach einer stürmischen und beschwerlichen Reise, erst am vierzehnten Februar in New York an. Er hat sich das Ticket für die zweite Klasse selbst bezahlt, nennt als Beruf steward, eine Bezeichnung mit ziemlich offener Bedeutung, nach dem Cambridge-Diktionär: a person whose job it is to organize a particular event, or to provide services to particular people, or to take care of a particular place. Diesmal gibt er eine vornehme Adresse in Midtown an, im Herzen von Manhattan, Nr. 39 East 51th Street. Das Haus steht heute noch. Es war eines von drei sechsstöckigen Backsteinhäusern, welche die Architektin und Frau eines Immobilienhändlers, Jenny S. Parker, gebaut hatte. Nach der Fertigstellung wurde das Haus als Spekulationsobjekt mehrfach weiterverkauft, bis es 1906 der Treuhänder Robert Henry McCurdy übernahm und für mehrere Jahre bewohnte. Die McCurdys führten einen grossen, vornehmen Haushalt mit acht Bediensteten, darunter mehrere Iren und eine französische lady's maid.

Da Longjules diese Adresse angegeben hat, könnte man annehmen, dass er bei McCurdy als steward gearbeitet hat. 1910 scheint dies noch nicht der Fall gewesen zu sein, denn laut Marie-Angèle Lovis gibt es für jenes Jahr ein Verzeichnis der Bediensteten der McCurdys. Longjules ist nicht darauf zu finden. Und die Volkszählungen fanden nur alle runden zehn Jahre statt, also gibt es für 1914 keinen konkreten Hinweis auf einen Diener Jules Chiquet. Jedenfalls scheint Longjules auch Ende 1915 noch an dieser Adresse gewohnt zu haben, denn seine Schwestern Berthe und Clara geben sie bei ihren Reisen im November jenes Jahres beide an. Sie reisen auf zwei verschiedenen Schiffen und im Abstand von knapp einem Monat, zu Jules Chiquet, Nr. 39 East 51th Street.

Man kann sicher verstehen, dass mir in der Zwischenzeit Zweifel an der Rockefeller-Geschichte gekommen sind. Woher kamen aber die Kleider und die Schuhe? Ich habe mit einem pensionierten enséminateur aus Cornol gesprochen, einem Monsieur Rondez, den mir Frau Lovis als jemanden empfohlen hat, der sich noch an die Chiquets im Dorf erinnern kann. Er hat noch nie von dieser Geschichte über Longjules sagenhaften Arbeitgeber gehört. Die Kleider könnten auch von Berthe und Clara nach Cornol gebracht worden sein. In seiner Familie habe es ebenfalls vornehme Kleidungsstücke gegeben, welche Verwandte aus den USA mitgebracht hätten. Monsieur Rondez gab mir noch die Telefonnummer einer neunzigjährigen Dorfbewohnerin. Sie wusste nichts von einem Diener bei den Rockefellers.

Berthe und Clara waren dagegen nachweislich über Jahre bei einer sehr reichen Frau angestellt, bei einer gewissen Mrs. Margaret Bailey Deway. Diese hat ihnen Überfahrten auf Luxusdampfern bezahlt, in der ersten Klasse, auf dem Schwesternschiff der Titanic zum Beispiel, auf der Olimpic. Und von Berthe gibt es eine Postkarte aus Paris, vom Luxushotel Majestic an der Rue Kléber, wo sie offenbar 1923, als Begleitung ihrer Arbeitgeberin, logiert hat.

Dazu aber später. Jetzt lassen wir das alles einmal wirken und absinken.

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