Montag, 27. April 2020

viele Dinge


Die Regalbretter waren eine Station; wenn Dinge dort landeten, waren sie aus dem Kreislauf herausgefallen und blieben liegen.
Karl Ove Knausgård, Kämpfen, S. 295

Das Buch von Knausgård hat mich nun über Wochen begleitet und beschäftigt. Ich hatte es auf Rat eines Freundes im Zusammenhang mit meinem autobiografischen Schreiben zu lesen begonnen. Nach meiner Meinung halten die verschiedenen Teile nicht zusammen, aber es gab viele Aspekte, die mich sehr beeindruckt haben, vor allem seine sehr ehrliche, trockene Art, über den Alltag zu schreiben, über die verschiedenen Ebenen der inneren und äusseren Realität, die sich im ganz normalen Leben parallel oder vermischt abwickeln, über die gleichzeitige Existenz der Körper, Seelen und Dinge, die zu all den Komplikationen führen, die wir jeden Tag erleben.

Um den Satz von den Landestationen in einem Haushalt, auf dem die Dinge aus dem Kreislauf herausfallen und liegenbleiben, beneide ich Knausgård. Auf norwegisch ist er womöglich noch trockener.

Ich bin in einem Haushalt aufgewachsen, in dem die Ordnung der Dinge sich wie Ebbe und Flut verhielt, naturhaft an- und abschwellend. Auf Fotos aus meiner frühen Kindheit sind die unteren Räume, das Ess- und das Wohnzimmer, noch relativ karg eingerichtet. Es gibt schöne Gegenstände, die genügend Raum um sich haben, einen alten Kasten und einen kasachischen Teppich, den die Eltern auf die Hochzeit geschenkt bekamen. Moderne Designstücke wie die schwarzen Ameisenstühle von Eames, eine Stehlampe, das modernistische Clubtischchen mit einem Steinmosaik, das der Vater gemacht hatte. Über die ganze Fensterfornt des Esszimmers zog sich die Werkbank, die auf drei Schubladenmöbeln ruhte. In den kleineren lagen die Goldschmiedewerkzeuge meines Vaters, die für uns Kinder lange Zeit tabu waren. In den breiten, flachen Schubladen hatte er Zeichnungen und Bilder versorgt. In zwei Regalmöbeln, die der Werkbank aufgesetzt waren, wurden Kunstbände und die Hefte der Kulturzeitschrift Du aufbewahrt. Darunter stand die Bernina-Nähmaschine in ihrem schweren Gehäuse. Wenn meine Mutter nähte, stellte sie die Maschine auf den Esstisch, und der leere Koffer wurde mir zu einem Parkhaus für die Dinky Toys-Autos. Als meine Mutter mit den Gesangsstunden begann, musste ein Klavier angeschafft und im Wohnzimmer untergebracht werden. Die neue Enge erforderte einen mehr pragmatische als ästhetische Aufstellung der Dinge, es kam das Cello dazu, das eine Zimmerecke besetzte. Die Sammelbegeisterung beider Eltern füllte die Regale über den Fenstern, Sammlungen brauchten Vitrinen, immer mehr Bilder zwangen zu unkonventionellen Hängungen. Meine Mutter hatte immer wieder Haushalthilfen, junge Frauen, welche eine Haushaltlehre machten und ihr Praktikum bei uns absolvierten. Oder eine Frau, die gegen Bezahlung die Wäsche bügelte. Sie war das so gewohnt aus ihrer Kindheit, und als sie wieder ausserhalb des Hauses zu arbeiten begann, ging es wohl nicht anders.

Manchmal wurde ein Teil unseres Hauses zum Atelier der Eltern. Im Keller hatte der Vater seine Werkstatt, in der er zum Beispiel seine Mosaiken machte. Oder die Treibhalbkugel mit dem Pech vorbereitete. Das Treiben und Zisellieren setzte er dann an der Werkbank fort, im Esszimmer. Einmal übernahm er vom Schwiegervater, der Zunftmeister bei den Webern war, einen grösseren Auftrag. Er sollte eine Silberplatte mit dem Wappentier der Zunft, mit dem Vogel Gryff, verzieren. Abend für Abend hörten wir vor dem Einschlafen das rhythmische Picken des Ziselierhammers, bis er einmal abrupt aufhörte und laut zu fluchen begann. Die Katastrophe war eingetreten, er hatte das Silber überstrapaziert und den Punzen hindurchgehauen. Es zeigte sich, dass er ein zu reines Silberblech gekauft hatte, und er musste von vorne beginnen. Der Schwiegervater bezahlte zum Glück das zweite Blech. Auch die Mutter nahm einmal das Esszimmer vollkommen in Beschlag wegen einem Auftrag. Für die St. Christophoruskirche in Kleinhüningen entwarf und gestaltete sie einen grossen textilen Wandbehang für das Weihnachtsfest. Den Entwurf vergrösserte sie mit einem Raster auf Papierbahnen, die auf dem Boden ausgelegt werden mussten und das ganze Zimmer füllten. Der Esstisch wurde vorübergehend ins Wohnzimmer verlegt, die entstehende Enge und die provisorische Lage aller Dinge im Haushalt liess die Ordnung schnell gänzlich erodieren. Wir lernten, uns im Chaos der Gegenstände und Abläufe einzurichten.

Wir hatte in unserem jetzigen Haus, das 1907 gebaut wurde, sehr lange Zeit nur eine Toilette, im ersten Stock. Im Parterre gab es links neben dem Eingang einen kleinen Durchgang zu Küche, einen winzigen Raum, der ursprünglich zwei Türen hatte, die wir aber sofort aushängten. Ich installierte in dem Raum ein sehr einfaches Regal, mit drei an einem Balken befestigten, quadratischen Regalbrettern. Wir nutzten den Raum und die Installation zur Unterbringung von Vorräten und Putzgeräten. Bald wurde es auch zu einer Station im Sinne des Satzes von Knausgård. Für Aussenstehende war die Ordnung, die wir in dem Sammelsurium durchaus noch sahen, unmöglich zu durchschauen. Aber es wurde auch uns manchmal zuviel, und bei Lebensmitteln wird das Vergessen bestraft durch Insekten, die sich einnisten und von der Station ausbreiten können. Immer wieder aufräumen, reduzieren, neu strukturieren half auf die Dauer nicht. Im Zuge einer Renovation der Küche wurden in den kleinen Raum eine Toilette und eine Dusche eingebaut. Ein Teil der vorher dort versorgten Dinge ist nun in der neu strukturierten Küche untergebracht, der selten gebrauchte Teil musste in den Keller umziehen. Wenn ich heute Fotos der Station anschaue, staune ich, wie wir mit dieser bunten, unübersichtlichen Fülle im Alltag klar kamen. Ein bisschen wehmütig macht es mich auch, denn es strahlt eine eigene, sehr menschliche Ästhetik aus.


Samstag, 25. April 2020

magische Dinge


Als kleiner Bub waren mir Trophäen wichtig, Dinge, die ich von meinen Abenteuern zurück in die vertraute Umgebung meines Zimmers mitnehmen und, zur Erinnerung oder als Beleg für das Erlebte, aufbewahren musste. Ich inszenierte die Objekte gerne auch zu kleinen Ausstellungen, zum Beispiel auf dem Nachttischchen in einer Ferienpension. Ein solches Bild habe ich noch vor Augen, ich weiss aber nicht mehr, wo und wann das gewesen ist. Dass ich nicht ganz alles auf diese Weise zeigen konnte, daran erinnere ich mich. Der Grund war, dass ich mich bei meiner Trophäenjagd auch zu verbotenen Aktionen hinreissen liess. Auf meinem Nachttisch damals fehlte das kurze Stück einer goldenen Kordel, das ich heimlich in einer Kapelle von einer Fahne abgerissen hatte. In diesem aggressiven Akt drückte sich vielleicht mein stiller Protest gegen die vielen Kirchenbesuche mit meinen Eltern aus, sei es, um bestimmte Kapellen und Kirchen aus kunsthistorischem Interesse zu besichtigen, sei es auch, um die katholische Pflicht des sonntäglichen Messebesuchs noch an den entlegensten Ferienorten zu erfüllen. Die goldene Schnur musste also in meinem Hosensack bleiben und wurde nur im Versteckten angeschaut.

Den Hang, zu sammeln und auszustellen, zeigten beide Eltern. Eine der ersten Sammlungen, die eine eigene Vitrine bekam, betraf kleine Modelle historischer Autos. Das war erstaunlich, denn weder mein Vater noch meine Mutter interessierten sich sonderlich für Autos. Aber diese kleinen, oft sehr zierlichen Nachbildungen von Oldtimern aus der Geschichte des Automobils, Pennen, wie wir sie komischerweise nannten, hatten es ihnen angetan. Ich meine, dass der befreundete Fotograf dabei eine Rolle spielte, der zuerst so eine Sammlung besass, und vielleicht meinen Eltern die ersten Modelle schenkte. Eine Zeit lang hing die Vitrine in unserem Esszimmer, dann, als sich das Interesse, vor allem meiner Mutter, auf neue Gebiete verschob, zog die Ausstellung ins Bubenimmer um. Wir sammelten noch eine Weile weiter, wobei mein Bruder sich dank seiner Kenntnisse gezielt besonders wichtige und berühmte Modelle wünschte und schenken liess. An den Itala des italienischen Fürsten Scipione Borghese kann ich mich gut erinnern, ein Riesenauto, mit dem 1907 das Rennen von Paris nach Peking gewonnen wurde, und das wir in zwei verschiedenen Zuständen seiner damaligen Ausstattung hatten. Irgendwann erlahmte auch unser Interesse an den kleinen Autos, die Sammlung verstaubte, einzelne Modelle gingen kaputt, obwohl die ursprüngliche Abmachung das Spiel mit ihnen ausgeschlossen hatte. Die Vitrine verschwand schliesslich, als unser Zimmer bei meinem Eintritt ins Gymnasium renoviert und für Schularbeiten tauglicher gemacht wurde.

Ab wie vielen ähnlichen Objekten, Dingen mit der gleichen Funktion, aus demselben Material, mit ähnlicher Bedeutung und so weiter, spricht man von einer Sammlung? Ab fünf, ab zehn, ab fünfzig? Nach dem letzten Kriterium habe ich drei Sammlungen. Eine mit Schneckenhäusern, eine mit Messern und eine mit kleinen Köpfen und Figuren. Die ersten beiden, die Schnecken und die Messer, haben mehrere hundert meiner Studentinnen kennengelernt. Ich habe an den Schneckenhäusern gezeigt, wie sich die Regeln des Bauplans analysieren, dann variieren und wieder anwenden lassen. Bei der Beschäftigung mit den Messern ging es um die Prüfung und Bewertung von Artefakten, sowohl auf ihre Funktion hin, als auch in Bezug auf die Ästhetik. Beide Sammlungen haben ihre Wurzeln in meiner Kindheit und Jugend, weshalb sie sich dazu eigneten, ein Gespräch über das Sammeln bei Kindern und Jugendlichen, als ästhetische Praxis, zu eröffnen. Die erste Gruppe von Köpfchen schliesslich habe ich gezielt zusammengetragen, um das Projekt 'têtes de moules' in Gang zu setzen. Später wurde meine Sammlung von den Teilnehmern um ein Vielfaches erweitert und schliesslich in einer grossen Installation ausgestellt. Auch darin waren Objekte enthalten, die ich schon in meiner Kindheit um mich hatte, Figuren und Köpfe, die meine Eltern auf Flohmärkten und in Antiquitätenläden gekauft und im Haus aufgestellt hatten. Man kann sich vorstellen, dass die Räumung dieses Haushalts eine Riesenaufgabe war, welche die zweite Frau meines Vaters fast alleine geschultert hat.


Donnerstag, 23. April 2020

Zolligeschichten 2


Die Bezeichnung Zolligeschichten, für Erzählungen von mir, die meine Frau zwar interessant, aber im Moment nicht passend fand, hatte einen Grund. Es gab eine Zeit, da ich einen Morgen pro Woche im Zoo verbrachte und Tiere zeichnete. Dabei konnte man einiges erleben.

Während unserer Ausbildung an der Kunstgewerbeschule hatte wir jeweils am Montagmorgen Tierzeichnen im Zoologischen Garten, beim Basler Maler Gusti Stettler. Er hatte eine klare Vorstellung davon, mit welchen Tieren man als Anfänger zu beginnen hatte. Rinder, Hirsche, Ziegen. Keine Vögel, und schon gar keine Bären oder Raubkatzen, die seien für uns zu schwierig. Ich begann mit den afrikanischen Zwerggeissen, ich glaube, mein allererstes Blatt aus diesem Unterricht habe ich noch. Da die Modelle nie lange stillhielten, musste ich eine Strategie lernen. Man beginnt mit einer Stellung, und wenn das Tier wegläuft, sich dreht oder hinlegt, fängt man ein eine zweite Zeichnung an, und so weiter, bis man drei vier Skizzen auf dem Papier hat. An diesen zeichnet man abwechselnd dann weiter, wenn die Ziege, oder was auch immer, wieder ungefähr in einer der Stellungen verharrt. Da wir vom Lehrer angehalten wurden, mehrere Montage beim gleichen Tier zu bleiben, stellte ich bald fest, dass sich gewisse seiner Eigenheiten, Formen, Silhouetten, Proportionen, aber auch Bewegungsabläufe und typische Haltungen, ins Gedächtnis einprägen. So kann man begonnene Zeichnungen auswendig ergänzen oder gar fertigstellen. Stettler klopfte einem aber auf die Finger, wenn man zu sehr aus der Routine schöpfte und seiner Meinung nach nicht mehr richtig hinschaute. Nach einer Weile durfte man sich die Tiere frei aussuchen. Ich spezialisierte mich während kürzerer oder längerer Phasen auf Menschenaffen, dann auf Vögel, und schliesslich auf die Raubkatzen.

Der Montagmorgen war eine interessante Zeit, um im Zolli zu sein. Die grossen Raubkatzen zum Beispiel bekamen an diesem Tag nichts zu essen, und waren in dieser verordneten Fastenzeit viel lebendiger als sonst. Oder sie wurden auf eine Weise gefüttert, die man lieber vor spärlichem Publikum ausprobierte, mit ganzen Ratten für die schwarzen Panther, die bald aussahen wie geteert und gefedert, über und über verklebt waren mit Blut und weissen Haaren. Es gab nur sehr wenige Besucher, meist ältere Leute, Rentnerinnen und Rentner, welche die Tiere persönlich kannten, sie begrüssten und manchmal sogar umgekehrt erkannt und begrüsst wurden. Bei den Menschenaffen setzten sich in jener Zeit neue Methoden durch, wie man die zootypische Langeweile und Schwermut der Primaten vermindern könne durch abwechslungsreiche Spielangebote. Sie bekamen jeweils am Montag Nachschub, und immer etwas Neues. Jutesäcke für die Orang Utan. Holzwolle in Hülle und Fülle für die Schimpansen und Gorillas. Wir vergassen zwischendurch ob des Spektakels das Zeichnen. Es ergaben sich aber auch witzige Motive, ein junger Orang zum Beispiel, der sich einen Kapuzenmantel aus den Säcken zurechtriss und sich immer wieder neu damit verkleidete, die andern provozierte und erschreckte. Ich habe mehrere Blätter mit diesem Clown gefüllt. Wir legten unsere Zeichenutensilien auf dem Betonsims vor den grossen Glasfronten der Käfige ab. Vor allem die Schimpansen zeigten sich sehr interessiert, wenn wir in unseren Kästchen und Tüten nach dem Knetgummi oder den Kohlen kramten. Bei den Gorillas fanden wir heraus, dank unseres Halbwissens aus Artikeln und Filmen über Dian Fossey, wie man mit ihnen in Kontakt kommen kann. Wenn man sie direkt fixiert, wenden sie sich ab. Dreht man sich aber umgekehrt von ihnen ab und schaut nur ab und zu, quasi verschämt und über die Schulter, durch das Glas zu ihnen, nehmen sie das Spiel auf, und es ergibt sich eine Art Flirt über die Artgrenze hinweg. Sehr aufregend!

Mit uns künftigen Zeichenlehrern war ein Lehrling im Tierzeichnen, der Tierpräparator werden wollte. Wir kannten ihn schon aus dem dreidimensionalen Gestalten, das er auch mit uns zusammen absolvierte. Wegen seines Plappermauls und der Ausrüstung, die er dort trug, erhielt er von einem von uns einen Übernamen. Der Edi mit der Gärtnerschürze. Hatte er uns schon in der Werkstatt dauernd mit seinen Ratschlägen traktiert, so war er nun im Zoo erst recht in seinem Element. Er wusste alles und kannte alle. Immer um zehn Uhr durften wir im Zollirestaurant Pause machen. Als wir einmal von dort wieder zu unseren Feldstühlen zurückkehrten, kamen wir mit Edi, der links und rechts alles kommentierte, am Gehege der Fischotter vorbei. Eine niedere Betonmauer, dahinter der Wassergraben, dann die Pseudolandschaft mit Betonfelsen, darauf verteilt ein paar Fischotter. Edi beugt sich weit über das Mäuerchen und streckt einem der Tiere, mit dem er persönlich befreundet ist, seine Hand entgegen. Wusch! Wir konnten gar nicht so schnell gucken, wie der Otter Edis Hand ansprang und sich mit seinen breiten Kiefern in seinen Daumenballen festbiss. Die Hand zurückzuziehen nützte dem armen Kerl auch nichts, weil ein fauchender, ziemlich schwerer Pelzknäuel daran hing. Edi hatte grosses Glück, dass der Fischotter sich nach ein paar Sekunden ins Wasser platschen liess, ohne ihm den ganzen Daumenmuskel wegzureissen. Er hatte aber nach diesem Vorfall mehrere Wochen lang den Arm in der Schlinge. Und uns schien, dass er etwas weniger schwatzte.






Dienstag, 21. April 2020

Zolligeschichten 1


Als Zolligeschichten bezeichnete meine Frau früher Erzählungen von mir, über Dinge und Begebenheiten, die nach ihrer Meinung vor allem mich interessierten, weniger die Zuhörer. Vor allem in den Augenblicken, in denen ich zu solchen Geschichten anhob, wo ein persönliches Gespräch unter den Anwesenden möglich oder gerade am Entstehen gewesen wäre, das ich nun aber mit der ausführlichen Schilderung eines zwar an sich interessanten, aber im Moment eher peripheren Gegenstandes abgewürgt, wenn nicht für die verbleibende Zeit der Begegnung verunmöglicht hätte. Die mitschwingende Unterstellung, ich weiche auf diese Weise, oder gar generell, einem Austausch mit meinen Gesprächspartnern aus, sagen wir, über unsere aktuelle Befindlichkeit, über die Beziehungen, oder über die Dinge, welche die andern wirklich interessierten, musste ich natürlich zurückweisen, auch wenn sie vielleicht da und dort zutreffen mochten. Ich empfand meine Zolligeschichten nicht als Ausweichmanöver. Mich interessieren einfach sehr viele Dinge, unter anderem Geschichten von und mit Tieren.

Als ich in der dritten Primarklasse war, brachte unser Lehrer drei junge Kätzchen mit ins Klassenzimmer. Aus umgekippten Turnbänken hatte er ein Gehege gebaut, ein paar Kartonschachteln und -röhren hineingelegt, auch ein zwei alte Kissen, und in diese Installation die Katzenbabys hineingesetzt. Wir durften ringsherum Platz nehmen, in der ersten Reihe knieend, dahinter auf Stühlen, wir waren über dreissig Schüler, es war also eng. Was wir zu sehen bekamen, war für die meisten neu. Die Kätzchen waren zuerst sehr eingeschüchtert und versteckten sich in den Schachteln, dicht aneinandergedrängt. Bald aber begannen sie, die neue Umgebung zu erkunden, dabei in der ihnen eigenen drolligen Weise sich von allem und jedem sekundenweise ablenken zu lassen, von einem Staubfussel, der angefallen werden musste, vom eigenen Schwanz, der im Augenwinkel auftauchte und, weil er nicht zu erhaschen war, zu einem wilden Wirbeltanz verleitete. Wenn eines in einer Röhre verschwand, musste ein anderes von der Gegenseite nach dem Rechten schauen, die Begegnung in der Mitte konnten wir nicht sehen, aber dass sie zu einer wilden Balgerei in grosser Enge führte, konnte man an der Bewegung der Kartonhülse erkennen. Unser Gelächter und die vielen Jöööh's erschreckten die Tiere nur am Anfang.

Der Lehrer eröffnete uns schliesslich den tieferen Zweck seiner Vorführung. Er musste die Kätzchen loswerden, wir sollten also zu Hause fragen, ob wir vielleicht eines bei uns aufnehmen dürften. Ich habe nicht gefragt, wie mir später immer wieder unter die Nase gerieben wurde, sondern meine Mutter beschworen. Mami, ich muss unbedingt so ein Kätzchen haben, bitte, bitte, bitte. Und so durfte ich eines haben, einen fast ganz weissen Kater mit getigertem Schwanz, und ein paar dunkeln Tupfen über den Ohren und auf dem unteren Rücken. Er hatte keinen richtigen Namen, wir riefen ihn einfach Busi, worauf er nach kurzer Zeit sehr gut hörte. Ich erinnere mich noch an die erste Nacht, als er bei uns war. Meine Eltern waren nicht zu Hause. Ich nahm den kleinen Kater zuerst zu mir ins Bett und spielte noch eine Weile mit ihm. Als ich dann schlafen wollte, wurde es schwierig, weil er sich entweder möglichst auf mich oder ganz nahe an mich legen wollte und dabei unglaublich laut schnurrte und mich mit den Vorderpfötchen tretend bearbeitete. Oder aber er ging wieder auf die Jagd nach allem, was sich bewegte. Wenn ich einen Zeh auch nur um einen Millimeter rührte, sprang er ihn mit voller Wucht seines kleinen Körpers an und stach mich mit seinen scharfen Krallen durch alle Stoffschichten hindurch empfindlich. So trug ich ihn schliesslich schweren Herzens hinaus. Weil er meine Absicht durchschaute und immer von neuem versuchte, zwischen meinen Beinen hindurch ins Zimmer zurück zu wischen, musste ich ihn schliesslich überlisten, indem ich ihn auf meinen Pullover bettete. Den traktierte er schnurrend mit seinem Milchtritt, und geriet dabei so in Extase, dass ich mich davonstehlen und die Türe zumachen konnte.

Der Kater wurde nie kastriert, er durfte die pelzigen Marmeln unter seinem hocherhobenen Schwanz das ganze Leben lang spazieren führen, mit allen Konsequenzen. Wir stellten fest, dass es nach ein paar Jahren in der Umgebung immer mehr weisse Katzen mit getigertem Schwanz gab. Mani Matters Lied vom Ferdinand und den vielen Ferdinändli im Quartier war daher für mich klar ein Lied auf unseren Kater. So friedlich wie Matters Ferdinand war er aber nicht. Er kämpfte zur Verteidigung seines riesigen Reviers, wir bekamen Berichte von Sichtungen unseres Katers bis hinauf an den Rand des Hörnliwaldes. Und seine Ohren wurden zuerst gefranst, dann durch die sich alljährlich wiederholten Verletzungen etwas kürzer und unregelmässig gerundet. Sein mächtiger Kopf wurde dadurch noch imposanter. Manchmal kam er mehrere Tage nicht nach Hause. War er schwer verwundet, hörte man das an seinem Ruf, wenn er unten zur Küchentür hereinkam. Meine Mutter sagte, wenn sie diesen lang gezogenen Klagelaut vernahm, immer schnell, ich solle gehen und schauen. Sie wolle das gar nicht sehen. Wir waren mit dem Kater nie beim Tierarzt, soweit ich mich erinnern kann. Ich wusch seine Wunden mit Kamillentee, er legte sich für mehrere Tage auf den Fenstersims und schlief durch, so lange, bis es ihm wieder besser ging. Die Narben unter dem Fell waren deutlich spürbar, wenn man ihn streichelte.

Der Kater lebte immer noch, als ich aus dem Elternhaus auszog, da war er schon dreizehn oder mehr Jahre alt. Mein Vater und seine zweite Frau kümmerten sich weiter um ihn. Kurz vor seinem Tod, oder besser, vor seinem letzten Verschwinden, tauchte ein junges, ausgehungertes Kätzchen auf, das sich an seinen Futternapf heranschlich und daraus frass. Natürlich kam unser Maudi, als er es merkte, angerauscht und wollte den Futterdieb verdreschen. Das Kätzchen aber duckte sich auf den Boden und hob auffordernd sein Hinterteil in die Höhe, ein einfaches Angebot, sex for food. Der Alte liess sich nicht lange bitten, besprang sie, und erlaubte ihr zu fressen. So ging das einige Tage lang, bis sich Leute aus der Nachbarschaft bei meinem Vater und seiner Frau meldeten. Ihnen sei ein kleiner Kater entlaufen, und jemand habe gesagt, er sei in ihrem Garten gesehen worden. Man wies auf den Umstand hin, dass es sich bei dem Besuch um eine Katze handle, und nicht um einen Kater, aber man machte ab, das Tier mit einem Trick zu fangen und zu schauen. Die kleine Katze war sehr scheu und liess sich nicht anfassen, also musste man sie mit Futter in die Küche locken und die Türe hinter ihr mit einer Schnur zuziehen. Als sie gefangen war und er sie auf den Arm nehmen konnte, stellte mein Vater fest, dass es sich tatsächlich um einen Kater handelte!

Mein alter Kater kam eines Tages einfach nicht mehr zurück von seinen Wanderungen. Ein würdiger Abgang,fanden wir.











Sonntag, 19. April 2020

Forschungen - Buebezüg


Die DKW-Hummel meines Vaters hatte ihre Macken. Er war, als Werk- und Zeichenlehrer, kunsthandwerklich sehr versiert, zeigte sich Motoren und elektrischen Einrichtungen gegenüber aber erstaunlich ungeduldig und unbeholfen. Wenn er sich also draussen auf dem Trottoir an seinem Töff zu schaffen machte, endete es oft in einem Gemurkse, begleitet von Flüchen und um den Preis ölverschmierter, aufgerissener Hände. Meist stotterte die Maschine nach ihrer schweisstreibenden Wiederzusammensetzung immer noch, und er musste sie schliesslich doch zum 'Cenci' bringen, was auch bedeutete, dass er zwei Tage mit dem Tram zur Schule fahren musste. Schmach und Zeitverlust!

Ich interessierte mich als Kind und Jugendlicher, im Gegensatz zu meinem Bruder, kaum für Maschinen, hatte deshalb keine Ahnung von einem Töffmotor, als ich mit 18 Jahren von meinem Cousin C. eine defekte Lambretta geschenkt bekam, begleitet vom Versprechen, er würde sie mit mir zusammen instand stellen. Ich fand den Gedanken interessant und wollte gerne einen Roller fahren, glaubte jedoch keinen Moment daran, dass wir es schaffen würden. Mein Cousin, der die Lehre als Maschinenbauer abgeschlossen hatte und schon ein richtiger Selfmademann war, ging die Sache rasch und beherzt an, und wir bugsierten die Maschine mit vereinten Kräften die Aussentreppe hinunter in den Keller. Die abgeschraubten Blech- und Gussteile dienten als Gefässe für die Schrauben, mit denen sie befestigt gewesen waren, und bald waren alle Abstellflächen und Ecken des Kellerraums bedeckt mit Schälchen und Schalen. Allzu Öliges durfte auf Kartonstücken auslaufen, und es roch bald intensiv nach Getriebeöl, Schmierfett und Russ. Ich versuchte gar nicht erst, die Übersicht zu behalten und vertraute ganz auf meinen Cousin.

Und ich lernte schnell, zum Beispiel, dass man für die Ablösung gewisser Teile eine Abziehvorrichtung braucht, mit viel Phantasie und Improvisationsgabe aber auch ohne eine solche auskommen kann. Oder wie man einem rostenden Benzintank eine Handvoll Schraubenmuttern und Petrol einverleibt, ihn eine Weile im Kreis herumschwenkt und so inwendig putzt. Grossen Wert legte meine Cousin aus eigener Erfahrung auf die Verhütung von Unfällen durch abrutschendes Werkzeug, worüber ich sehr froh war, denn es gab eigentlich nur wenige Schrauben, die sich leicht lösen liessen. Zudem waren unsere Schlüssel zum Teil alt, ihre Wangen nicht mehr sauber parallel, und es legte sich immer gleich ein Ölfilm über alle zu behandelnden Teile, obwohl wir dauernd rieben, putzten und dabei Unmengen von Lappen verbrauchten. Die wenigen Schrammen, die ich mir trotzdem holte, waren schmerzhaft genug und heilten schlecht. Einige Teile waren auch kaputt, innerste Teile wie die Kolbenringe, von denen ich vor dieser Unternehmung weder den Namen noch die Funktion gekannt hatte. Zum Glück gab es in Birsfelden einen Töffladen, der für die Marke Lambretta spezialisiert war. Wir fuhren zu Beginn zu zweit dorthin, wenn wir etwas ersetzen mussten, denn ich traute mir noch nicht zu, die richtigen Angaben für eine Suche nach dem gewünschten Ersatzteil liefern zu können.

Mit der Zeit konnte mich mein Cousin alleine in den Laden schicken. Wichtig war immer, dass man den Jahrgang der Maschine mehrmals und nachdrücklich nannte, denn die Firma hatte die Dimensionen auch sehr wichtiger Maschinenteile manchmal im Jahrestakt geändert. Ich habe nie erlebt, dass der Verkäufer über einen Wunsch die Stirne runzelte oder abwehrte: das haben wir nicht! Er holte eine Trittleiter und stellte sie zielsicher vor eine grosse Wand mit Holzschubladen, die bis unter die Decke reichten. Dann begann er, Schubladen und Schublädchen herauszuziehen, kramte herum, dabei immer wieder nachfragend: 1967 haben Sie gesagt? Dann zog er ein paar kleine Umschläge aus Ölpapier heraus und kam zur Theke. Ich meine, 1964 bis 65 haben sie da den gleichen Durchmesser gehabt, 1967 habe ich nicht mehr. Dann überprüfte er seine Vermutung mit der Schieblehre, unterbrochen von Kontrollblicken in einen alten Katalog, um schliesslich den Verkauf abzuschliessen. Der Preis war meist so niedrig, dass man sich fragte, woran das Geschäft etwas verdiente. Wir konnten den Töff schliesslich wieder zusammensetzen, nur einige wenige Schrauben blieben übrig. Als wir ihn wieder die Treppe hinauf in den Garten geschoben hatten, füllten wir etwas Benzin in den Tank, und mein Cousin trat ein paarmal kräftig den Starthebel. Schon nach dem dritten Mal sprang der Motor zu meiner grössten Überraschung an. Wir standen zwar in einer dicken Qualmwolke, und bei Betätigung des Gasgriffs soff die Maschine ab, aber sie war einmal gelaufen und liess sich auch wieder starten.

Es brauchte noch viele Anstrengungen, die ich nun weitgehend selber bewältigen konnte, bis ich den Töff fahren konnte. Lange hatte ich ihn dann nicht. Ich bestand die Fahrprüfung nicht, und der Motor machte immer wieder Schwierigkeiten, so dass ich bald die Lust verlor und eine Zeit lang kein Kontrollschild mehr hatte. Die Lambretta auf diese Weise, ohne Nummer, auf dem Trottoir stehen zu lassen, war keine gute Idee, denn sie wurde eines Tages von der Sperrgutabfuhr mitgenommen. Halbherzig, telefonisch, versuchte ich noch, ihre Spur aufzunehmen, liess es dann aber, indem ich mir einredete, es habe halt nicht sein sollen.


Donnerstag, 16. April 2020

Pause 2


Niemand kann sich an eine vergleichbare Situation erinnern. Die spanische Grippe verursachte vor hundert Jahren eine Pandemie, und schon damals wurde das öffentliche Leben eingeschränkt, wenn auch nicht im gleichen Mass wie heute. Das Wissen über Viren und deren Verbreitung war noch jung, und man hatte eben den Ersten Weltkrieg überlebt. Wir werden erst nach ein paar Jahren wissen, ob es zu den jetzt verordneten Vorkehrungen bessere Alternativen gegeben hätte.

Unsere Quarantäne in der vertrauten Umgebung, in einem Haus mit Garten, ist keine wirklich schlimme Erfahrung, sollte es jedenfalls nicht sein. Wenn man etwas den Blick hebt über den Zaun, zum Beispiel nach Indien, wo eine riesige Zahl von Wanderarbeitern irgendwo im Land hängen geblieben ist. Weder in der Heimat, noch in der vertrauten städtischen Arbeitsumgebung, an einem Ort, den man sich nicht aussuchte und wo man nicht willkommen ist. Und die spärlichen Geldreserven sind schnell aufgebraucht. Man überlegt sich, ob man besser an Hunger oder am Virus sterben solle, wie einer in der Zeitung zitiert wird.

Meine Grosseltern väterlicherseits erkrankten als junge Eltern zweier Buben 1918 an der spanischen Grippe. Sie wurden so krank, dass beide gleichzeitig ins Spital mussten. Mein Vater war erst wenige Wochen alt, musste notfallmässig abgestillt und bei einer Nachbarin im Haus untergebracht werden. Der zweieinhalbjährige Bruder wurde zu den Verwandten nach Cornol gebracht. Die Grosseltern überlebten, obwohl sie zu der damaligen Risikogruppe der Zwanzig- bis Vierzigjährigen gehörten. Mein Vater hatte bei der freundlichen Nachbarin praktisch jede Nahrung verweigert und war zu einem kleinen Skelettlein abgemagert. Aber auch er überlebte, sonst gäbe es mich nicht.

Meine Mutter ist in einem Pflegeheim in Riehen. Vor der Pandemie ging sie jeden Tag mit ihrer Gehhilfe, dem Roulator, wie sie es nennt, in den Park, manchmal bis zu einer Stunde. Jeweils am Sonntagabend luden wir sie zum Nachtessen ein. Bei schönem Wetter kam sie zu Fuss, sonst nahm sie für beide Wege ein Taxi. Nun ist das alles nicht möglich, und niemand weiss, ob sie eine Aufhebung der Einschränkungen noch erleben wird. Trotzdem ist sie erstaunlich munter, pflegt ihre Blumen und arrangiert immer wieder neu, was dem Verwelken widerstand. Sie hat mir neulich am Telefon erzählt, dass sie als kleines Mädchen einmal wegen Masern für sechs Wochen im Kinderspital in Pflege und Quarantäne war, eine lange Zwangspause für ein Kind. Für mich wäre das sehr schwierig geworden.

Im Kindergarten hatte ich keine Vorstellung davon, was eine Pause sein könnte. Vielleicht wurde ja das gemeinsame Essen der mitgebrachten Äpfel und Brotschnitten als Znünipause bezeichnet, aber für mich war das nur eines unter den Ritualen, die man im Stuhlkreis abhielt, der merkwürdigerweise Stübli genannt wurde. Es gab einen asphaltierten Hof und auch etwas Grünfläche, die wegen der Hanglage des Kindergartens fast nirgendwo eben war. Draussen konnten wir die wilden Spiele machen. Mein liebstes war, in einen Holzreifen zu steigen, ihn mit seitlich ausgebreiteten Armen hochzuheben und dann, als Düsenjäger oder fliegende Untertasse, zwischen den andern herumzurasen. Auf dem Asphaltplatz mussten wir in Zweierkolonnen einstehen vor den Ausflügen. Das waren erzwungene Unterbrüche unserer andauernden Bewegung. Zu einem Fasnachtsumzug sollten wir uns einmal formieren, da waren wir schon kostümiert und hatten die selbstgemalten Masken aufgesetzt. Die Augenlöcher waren vom Fräulein gestanzt worden in einem einheitlichen Anstand und die Larven wurden kaum an die vielen Kindergesichter angepasst, so dass wir nur schlecht sehen konnten, wo wir hintraten. Alle Kinder des Doppelkindergartens sollten sich versammeln, halb blind und, wegen der Vorfreude auf den Umzug, zappelig. Es war schwer für die beiden Lehrerinnen, Disziplin und Ordnung in die Schar zu bekommen, und es dauerte lange. Weil mir die Warterei öd wurde, liess ich mich mit einem andern Bub auf ein Fangenspiel an Ort ein. Wir klatschten uns wechselseitig ab, bis der andere plötzlich davonrannte, und ich reflexartig hintendrein. An dieses Spiel konnte ich mich dann erst Wochen später erinnern. Ich erwachte mit verschleiertem Blick und rasenden Kopfschmerzen auf dem Bänklein in der Garderobe, umgeben von Erwachsenen, die wie Türme um mich aufragten. Ich erkannte die Schulärztin, die ich nicht mochte, und hörte sie sagen, sie werde mich jetzt zum Auto hinuntertragen. Das wollte ich auf keinen Fall und behauptete, ich könne selber gehen. Das heisst, ich meinte, das zu sagen, es kam aber kein Ton heraus. Man erzählte mir später, dass ich, mit der Maske vor dem Gesicht, kopfvoran in eine der Betonsäulen des Vorplatzes gerannt, zusammengebrochen und fast eine Viertelstunde lang bewusstlos gewesen sei. Ich hatte eine schwere Gehirnerschütterung, der Doktor stellte es an den ausbleibenden Reflexen fest. Die Kopfschmerzen waren schlimm und liessen erst nach zwei Tagen nach. Dann aber hatte ich genug davon, ruhig zu liegen. Als am dritten Tag der Hausarzt ins Zimmer trat, war ich gerade im Begriff, meinen Salto von der Kommode aufs Bett zu verbessern. Der Arzt riet meinen Eltern, mich wieder in den Kindergarten gehen zu lassen. Bevor etwas Schlimmes passiere.

Montag, 13. April 2020

Geschichten vom Rhein 3



Simon Starling, Shedboatshed, Gegenwartsmuseum Basel, 2005

Als der Lehrer ihnen in der Schule von dem englischen Künstler erzählt hatte zur Vorbereitung, und von dessen Projekt, das mit Holzbau zu tun habe, ahnte sie schon, dass es sich um Simon handeln könnte, den sympathischen Verrückten, der vor einem Jahr mit seinem alten Göppel angefahren war und sie fast beim Umziehen im Hüttlein überrascht hatte, oben beim Verein. Meistens zog sie sich ja zu Hause um, weil es im Clubhaus weder Garderobe noch Dusche gab für Frauen. Sie war die erste Aktive und musste selber schauen. Damals stand er also vor ihr, entschuldigte sich knapp, auf englisch. War komisch aufgeregt, so dass sie sich überlegte, ob sie abhauen sollte. Er starrte aber die ganze Zeit das Hüttlein an, redete vor sich hin. I can't believe it. It's perfect, just perfect. Rannte rundherum, machte Fotos mit einem kleinen Apparat. Stellte sich wieder vor sie. Do you speak english? Ja, war zufällig ihre zweite Muttersprache, falsch, die Vatersprache. Er lachte: What a coincidence. Ob das Hüttlein ihr sei, er meine natürlich, ob das ihrem Verein gehöre. Er hatte offenbar das Ruder gesehen, das über dem Holzstoss an der Wand hing. Sie erklärte ihm, dass es dem Wasserfahrerverein gehöre, und ja, dass sie da ihren Sport ausübe. Nun wollte er unbedingt mit jemandem von der Vereinsleitung reden, er suche genau so einen Schopf, er benutzte das Wort shed. Für ein Kunstprojekt. Er heisse Simon Starling und würde nächstes Jahr in Basel ausstellen, im Museum. Sie glaubte ihm nicht, führte ihn aber zum Clubhaus, wo er sich Telefonnummern aufschrieb und weitere Fotos machte. Sie hatte noch immer ihre nassen Klamotten an und wollte nach Hause.

An der Generalversammlung des Vereins damals, als der Präsident zum erstem Mal davon berichtet hat, dass ein englischer Künstler, zusammen mit einem Basler Museum, das Hüttlein haben wolle, da gab es grosses Gelächter. Einerseits, weil die Mannen eine solche Idee, aus einer alten Hütte einen Weidling zu bauen, völlig birnenweich fanden, typisch Künstler halt. Der werde sowieso gleich absaufen. Andererseits war es aber auch witzig, dass ihnen Arbeit und Kosten für Abriss und Entsorgung abgenommen werden sollten, ausgerechnet von so siebengescheiten Kunstkennern aus der Stadt. Man stimmte grossmehrheitlich dafür, wollte sehen. Der Präsident betonte, wie sympathisch ihm und dem Vizepräsident der Künstler und die Leute des Museums begegnet seien. Sie hatte den Künstler ja schon kennengelernt, der war wirklich sehr sympathisch gewesen, nach ihrem ersten Schreck und Misstrauen. Gegen Ende des Sommers, als ihre Wettkampfsaison schon zu Ende war und man die Weidlinge fürs Überwintern vorzubereiten begann, kamen zwei Männer, die den Schuppen zuerst fotografierten von allen Seiten, und dann mit dem Abriss begannen. Sie schaute ihnen einmal zu, zusammen mit ein paar der Jungs aus dem Verein. Der eine der Bootsbauer hiess Tilo, ein dunkelhaariger mit einer grossen, schwarzrandigen Brille, der war der Chef. Sie zerlegten die Hütte sehr sorgfältig, sie war ja damals schon in der Lehre als Zimmerin, konnte das beurteilen. Sie hatten das richtige Werkzeug, Nageleisen und Hämmer mit Kuhfüssen, um die vielen Nägel zu ziehen. Alle Einzelteile schrieben sie mit Kreide an und schichteten sie auf, wie die Treppenmacher. Den Künstler sah sie in dieser Zeit nur einmal kurz, der war offenbar nicht immer da. Dann versorgten sie alles Material und alle Werkzeuge in zwei Containern. Es hiess, sie würden das Boot später unter dem grossen Dach bauen, dort wo der Verein die Weidlinge unterstellt im Winter, und wo im Sommer auch Feste gefeiert werden. Eine Art grosse Halle ohne Wände. Dort hängt auch ein alter Weidling aus Holz, ganz oben an den Balken. Als der Verein im Frühling die Boote wieder einwasserte und die Halle frei wurde, kamen die zwei Männer zurück, der Tilo, und Johannes hiess der andere, und begannen zu bauen. Und das ging unglaublich schnell, zwei Wochen etwa, Mitte April war dann schon die Taufe mit Einwassern und das Fest. Die Männer im Verein, von denen die meisten ja auch Handwerker waren, staunten nicht schlecht. Sie kam manchmal nach der Arbeit oder nach der Berufsschule noch vorbei mit dem Velo, um zu schauen, wie das Boot Form annahm. Es interessierte sie beruflich, und die beiden waren freundlich, und lustig. Und sie kamen draus, das war deutlich. Sie hatten zwei Balken auf stabile Böcke gelegt, darauf montierten sie zuerst den Boden zusammen. Passten Bretter des Holzschopfs sorgfältig zu einer genügend grossen Fläche zusammen und verklebten sie mit einem wasserfesten Leim, den sie im Betrieb auch manchmal verwendeten. Klebrig wie Honig, macht die Hände rabenschwarz. Füllt aber Lücken selber, weil er aufschäumt. Für die Form hatten sie Papierschablonen gemacht. Die legten sie auf und sägten die Silhouette nach mit der Stichsäge.

Ein paar Tage später waren bereits die Spanten aufgeschraubt, die den Seitenwänden die Krümmung verleihen sollten. Sie hatte sich schon gefragt, wie sie die Stabilität hinbekommen würden, denn an der alten Hütte gab es keine Eichenbalken, alles nur weiches Nadelholz. Sie durfte es sich aus der Nähe anschauen. Tilo hatte Flacheisen besorgt, schon in die richtigen Winkel gebracht und verschweisst. Damit konnten sie schmale Balken zu Spanten verschrauben, die wiederum auf den Boden geklebt wurden. Dafür, und auch später für die Montage der Seitenwände, war nun das Dach sehr praktisch. Tilo und Johannes setzten Spriesse zwischen die Teile, die sie niederdrücken wollten, und die Dachbalken über ihren Köpfen, bauten Hilfskontruktionen, die zeitweise wie Fachwerk aussahen. Das gefiel ihr, das wollte sie sich merken. Simon Starling war auch in dieser Bauphase nur einmal da. Er schien sehr zufrieden mit dem, was er sah, bedauerte nur, dass er nicht mittun konnte. Aber er war im Stress, er hatte sein erstes Kind bekommen und musste zu Hause sein, sie meinte, in Berlin, nicht in England.

Die Einwasserung des Weidling sollte im Verein gefeiert werden, das wurde bekannt gegeben durch ein kleines Plakat und einen Hinweis auf der Website. Ein Spanferkel sollte es geben, offeriert und gebraten von Tilo, das fanden ihre männlichen Kollegen gut. Und einige ältere Männer im Verein wollten es nicht verpassen, wenn das Dinge absoff. Es kamen also viele Leute an dem Nachmittag, obwohl das Wetter nicht besonders schön war. Jetzt war natürlich auch der Künstler da, der Simon, wie ihn alle schon nannten. Zuerst wurde das Boot getauft, auf den Namen EVE, wobei das zweite E seitenverkehrt aufgemalt war. Sie fand das schön, dieses symmetrische Zeichen, das der Künstler entworfen hatte. Sie glaubt, es war auch der Name seiner Frau, eine Widmung. Und in seiner Rede kam er auf dieses Zeichen zu sprechen. Erklärte, dass es nochmals, wie der Name des Projekts, Shedboatshed, diese Verwandlung symbolisiere. Darüber musste sie lange nachdenken. Das Boot wurde dann beim Bödeli unten über eine Rolle ins Wasser gelassen. Alle waren gespannt, die Sprücheklopfer freuten sich schon. Dann, ein sanftes Schaukeln, der Weidling schwamm wie ein Schwan. Ein paar rannten nach unten, wollten sehen, wie das Wasser hineinströmt. Dann Rufe. Er bleibt trocken, das gibts ja nicht. Er schwimmt! Ein Mann, der auch zu den Kunstleuten gehörte und zum ersten Mal hier war, einer mit Tattoos und Ohrringen, band es fest und stieg hinein, drehte sich grinsend um und schaukelte das Boot extra fest. Grosser Applaus. Das Spanferkel war wirklich gut, mit einer knusprigen Haut. Sie ass das zum ersten Mal.

Was sie gerne wissen würde, und sich nie getraut hat zu fragen, ob der Künstler die Idee schon gehabt hatte, als er nach Basel kam, und dann mit dem Velo nach Muttenz. Ob er es auch so sehe, dass er unglaubliches Glück gehabt habe, wie alles so zusammenpasste. Und, was denn eigentlich sein Kunstwerk sei bei dem Ganzen, wo der ganze Bau, hin und zurück, ja von andern gemacht worden sei. Von Leuten wie sie, die Zimmerin. Oder fast wie sie. Der Tilo war ja auch so etwas wie ein Künstler, so wie der redete. Aber wenn sie ihm zuschaute, war er wie ihr Lehrmeister. Ruhig, zielstrebig. Gut organisiert. Hatte die richtigen Werkzeuge und das Material bereit. Fluchte höchstens leise, wenn etwas nicht klappte, begann einfach wieder, machte es besser. So wollte sie eigentlich auch werden als Handwerkerin. Oder als, sie stockt. Ihre Freundin hat den Vorkurs begonnen, an der Gestaltungsschule in Basel. Fragt sie immer wieder, ob sie nicht auch Lust habe, erzählt vom Zeichnen und Malen. Vom Fotografieren, das machen ja alle, aber wie sie davon spricht, wird es zu etwas Besonderem. Sie haben lange über Shedbaotshed gesprochen, und auch gestritten. Die Freundin fand, das sei keine Kunst, und obwohl Helen ja die Handwerkerin war, mit Eltern, die noch nie in einem Museum gewesen waren, für die der Guiness-Tukan aus Gips, der auf ihrem Clubtischchen stand, Kunst war, wollte sie dagegen halten. Immer wenn sie seither in den Weidling stieg, musste sie an diese Verwandlung denken, obwohl ihre Fahrzeuge längst aus Kunstsstoff waren. Sie fand den Gedanken daran irgendwie schön, es war schwer zu erklären. Ein Bild halt. Wenn man so etwas denken und machen konnte, dann war alles möglich, einfach alles. Sogar der Freundin gegenüber nachgeben, ihrer offensichtlichen Werbung, die weit mehr will, als sie nur beruflich auf ihre Seite zu ziehen. Sich outen. Die Eltern würden flippen, wenn sie sagen würde, dass sie den Beruf wechseln möchte, oder schon nur, eine andere Richtung auf die Ausbildung draufpacken. Und dann noch, dass sie auf Frauen steht, so eine ist. Der Vater würde nach dem ersten Schock zu ihr halten, da war sie sicher. Blöd nur, dass alle Machos im Verein und im Betrieb, die immer schon gesagt hatten, dieser Sport und dieser Beruf seien nichts für Mädchen, triumphieren würden. Denn so eine ist für die ja keine richtige Frau.

Samstag, 11. April 2020

reisen 2 Tadschikistan


1998 war das Jahr meines fünfundzwanzigsten Dienstjubiläums als Lehrer. Ich profitierte noch von einer grosszügigen Regelung, nach der einem die Stadt Basel zu diesem Anlass zwei Monate schenkte, die man entweder als Urlaub oder in Form einer zusätzlichen Lohnauszahlung beziehen konnte. Ich wollte eine Reise machen, am liebsten nicht nur als Tourist, sondern mit einer Funktion oder Aufgabe bei einer Expedition. Ich schrieb deshalb viele Universitäten und Institutionen an, von denen ich meinte, sie könnten interessiert sein an einem vielseitig einsetzbaren Helfer, der nichts oder allenfalls die Reisespesen kostete. Ausser einigen positiven Reaktionen ergabe diese Initiative nichts, und so nahm ich mit Ernst Gabathuler Kontakt auf, den ich 1972 in Kamerun kennengelernt hatte, und der immer noch in der Entwicklungszusammenarbeit tätig war. Er engagierte mich nach nur einem Treffen in Bern für ein Projekt in Madagaskar, bei dem er in zwei Provinzen Lokalradios eingerichtet hatte. Ich sollte in der zweiten Phase der Initiative, in der die Aufgaben weitgehend an lokale Leitungspersonen und Mitarbeiterinnen abgegeben waren, Weiterbildungsseminare anbieten, mit Themen wie Teambildung, Kommunikation und Konfliktklärung. Da sich die Jubiläumsgeschenke alle fünf Jahre wiederholten, konnte ich noch zweimal für EG in ähnlichen Zusammenhängen arbeiten. Ernst hatte in der Zwischenzeit nach Zentralasien gewechselt, wohnte in der kirgisischen Hauptstadt Bishkek und koordinierte von dort aus seine Projekte im Auftrag des Bundes und der Universität Bern. So reiste ich 2003 nach Kirgistan und 2007 nach Tadschikistan. Für die Zeit nach meinen Einsätzen organisierte ich mir jeweils noch eine private Reise durch die Region.

In der NZZ konnte man anfangs April dieses Jahres lesen, dass die Taliban in den ländlichen Regionen Afganistans, die unter ihrer Kontrolle sind, Präventionskampagnen zur Eindämmung der Corona-Epidemie gestartet hätten, parallel zu einer intensivierten Welle von Angriffen auf Regierungstruppen und Beamte. Und etwas später habe ich mir eine dreiteilige Dokumentation über die Geschichte Afganistans seit den 19960er-Jahren bis heute angeschaut, auf Arte. Was für ein schlimmes Schicksal eines so wunderbaren Landes, nicht aus der Spirale von Ideologie, Machtmissbrauch und Gewalt herauszufinden! Seit ich 2007 dem Grenzfluss Pyandzh entlanggefahren bin, durch ein spektakuläres Gebirgstal des Pamir, hat sich leider noch immer kaum etwas zum Besseren verändert.

Tadschikistan, 2. November 2007

Schon zu Hause, bei der Vorbereitung der Reise, hat mich die Vorstellung, mehrere Tage lang der Grenze dieses von endlosem Krieg geschüttelten Landes entlang zu fahren, davon nur durch den Fluss getrennt, fasziniert und auch etwas ängstlich gestimmt. F, der Reiseführer, zeigt für mein ambivalentes Interesse ein feines Gespür und weist schon früh, in Kalaikhumb, auf die Berge am Horizont: There is Afghanistan!

Das Licht am nächsten Morgen, als die Sonne nur knapp über die Gipfel geklettert ist, teilt die steilen Uferhänge in riesige Flächen aus Gold und Blauviolett. Der Fluss wie flüssiges Blei, die Pappeln und Weiden auf dem Schwemmland: Flammen und Feuerbälle. Mehrfach denke ich: Wie besoffen! Ich bin wie besoffen vom Schauen!

Am andern Ufer, manchmal sehr nahe, Dörfer ohne Strassen, ohne Elektrisch. Ein Uferpfad verbindet sie, zwischendurch furchteinflössend mit Balken und Brettern oder über Trockenmauer-Auffüllungen an Steilwände geschmiegt. Immer wieder Menschen unterwegs, mit Eseln und Kühen, oder alleine, zu zweit. Tagesmärsche.

Die Orientierung fällt leicht, wir fahren immer am linken Ufer, auf einer löcherigen Piste, die vielerorts aus dem Fels gesprengt werden musste. Der Fluss Pyandzh, der wegen der Zahl seiner Zuflüsse einfach Fünf heisst, und später zum Amu Daria wird, zieht zuweilen eingeengt zwischen steinernen Wänden dahin, dann wieder sich zu fliessenden Seen ausbreitend im Tal, oft ganz nahe, wenn die Strasse sich zu ihm gesenkt hat, später wieder weit unter uns. Die Ränder der Strasse sind ungesichert, kein Baum, nicht mal ein Busch würde einen Absturz bremsen. Die Höhenangst beschert mir zuweilen feuchte Hände und ein flaues Kribbeln in Bauch und Beinen. Wenn ich zum andern Ufer, nach Afghanistan hinüber schaue, dann sehe ich dort nur einen schmalen Pfad, einladender Spazierweg auf den Kiesterrassen, ein Kletterpfad für Furchtlose dort, wo der Berg den Fluss zu einer Kurve zwingt. Bei einem Halt schauen wir an eine senkrechte Felswand hinüber, darin steckt wie angeklebt eine winzige Brücke aus krummen Balken. Zwei Männer mit einem Maultier sind davor stehen geblieben, das Maultier weigert sich, die Balken zu betreten. Wir warten um zu schauen, wie sie das Problem lösen werden. Einer der Männer geht auf die Brücke und lockt das Tier mit Futter. Nach einer Weile beginnt der andere in aller Ruhe damit, die Last abzuladen, einen Sack nach dem andern. Befreit vom Gewicht stellt das Tier endlich einen Vorderfuss auf den Steg, nimmt ihn wieder zurück, stellt ihn wieder darauf. Ganz langsam verlagert es sein Gewicht in winzigen Schritten, bis es schliesslich auf den Balken steht, unter dem sich ein Abgrund von vierzig Metern oder mehr senkrecht bis zum Wasser öffnet. Wieder spüre ich ein Gramseln in den Beinen, und möchte doch noch weiter zuschauen. Als die Männer in der Felswand sich für uns zu interessieren beginnen, wird F unruhig und drängt zum Aufbruch.
Einmal filme und fotografiere ich ein Dorf von einer Strassenkurve aus, die höher aber ganz nahe liegt. Kinder rufen und winken uns zu. Die kleine Siedlung breitet sich aus auf Schwemmland, auf dem Delta eines Seitenflusses. Es besteht aus denselben Pamirhäusern, die auch auf der tadschikischen Seite stehen: lehmgebaute Quader mit etwa sechzig bis achtzig Quadratmetern Grundfläche. Das Flachdach trägt auf einem sanften Hügelchen ein Oberlicht, das einem kleinen Treibhaus gleicht. Erst später werde ich die kunstvolle Balkenkonstruktion kennenlernen, die sich darunter befindet, und den gleissenden Lichtstrahl, der durch das Halbdunkel des Hausinnern wandert und eckige Sonnen an die blau gestrichenen Wände wirft. Das Dorf ist umgeben von terassierten Obstgärten. Die Bäume tragen noch gelbes und orangefarbenes Laub, ein Teil davon liegt kreisförmig um die Stämme. Es gibt keine Strasse, keine Strom- oder Telefonmasten, keine Schüsseln auf den Dächern. Man sieht ein paar Kühe, einige Esel. Frauen, die in grossen Schüsseln Wäsche waschen, Kinder schauen zu uns herüber und rufen, wir winken zurück. Auf einem Feld ein Mann, der mit zwei Ochsen pflügt. Das nächste Dorf am Fluss ist eine Tagesreise entfernt, zu Fuss, auf dem einzigen Pfad. Ins Innere des Landes führen Wege, die zuerst dem Seitenfluss folgen, dann in Serpentinen die Hänge hinaufziehen, zu den Pässen auf viereinhalb tausend Metern Höhe. Ich will nicht wissen, wie die Schlüsselstellen der Pfade aussehen. Wer einen Bibelfilm drehen wollte, müsste hier nichts verändern.

F provoziert eine Einladung zum Tee bald nach Kalaikhum. Er stellt mich in einem Dorf einer Gruppe von Männern vor, die Backgammon spielen. Einer, ein Geschichtslehrer, lädt uns zum Tee ein. Äpfel, Birnen, Granatäpfel, Feigen, Kandiszucker, Brot, Ayran, Rahm, es kommt immer mehr. Sehr friedlich, freundlich.

Nachts schaue ich mir die Szene auf dem Monitor meiner Kamera an. Während der ganzen Sequenz hört man das Plätschern des Brunnens im Hof. Fs Stimme, die auf englisch erklärt: Ähm - this fruits are all from his own garden. Nahaufnahme der Tassen, die einer der Männer ausgespült hat und zu einem kleinen Turm gestapelt umgekehrt auf die Decke stellt, wobei sich die oberste löst, sich dreht und, Klong!, auf den Tisch purzelt. Ich spule das Band zurück und wiederhole die Stelle zwei drei Mal in Zeitlupe.

Für Alexander den Zweihörnigen war der Fluss Pyandzh, den er Oxos nannte, die äusserste Grenze seines Reiches gegen Nordosten, gegen den Pamir und dessen unheimliche Bewohner Gog und Magog. Er stand auf der anderen Seite des Flusses und blickte unruhig dahin, wo wir heute unsere Nacht verbringen. Nach der Sure im Koran soll er die Völker des Pamir mit einer Mauer aus Eisen und Kupfer eingeschlossen haben bis zum jüngsten Tag.

Donnerstag, 9. April 2020

durch die Nase


Ich habe mich kürzlich dabei ertrappt, wie ich den Atem angehalten habe, als mir jemand näher als zwei Meter kam. Ich weiss nicht, was mich dazu bewogen hat, ob es die Überlegungen anderer war, die darüber gesprochen und sich überlegt hatten, ob dies einen Schutz gegen die Virusinfektion durch Tröpfchen biete. Oder hat es einen alten Reflex bei mir aktiviert, die Luft anzuhalten, oder nur durch die Nase zu atmen, wenn mir der Geruch eines andern Menschen zu viel war? Bei Parfüms bin ich sehr heikel, es gibt nur ganz wenig Dürfte, die mir zusagen, und wenn jemand in eine Wolke eingehüllt dahersegelt, macht mich das richtig hässig. Vor ein paar Jahren überholte ich auf der Finnenbahn eine Frau, die eine dicksüssliche Spur hinter sich herzog. Leider hatte ich nur kurze Zeit Ruhe, weil sie, wie ich, mehrere Runden lief und ihr Duft bald, als Schlange, die sich in den Schwanz biss, über dem ganzen Rundlauf hing. Ich brach mein Programm ab und rannte in den Wald.

Du hattest früher eine sehr feine Nase, sagte meine Frau kürzlich zu mir, und meinte damit, mein Geruchssinn habe nachgelassen. Ich reagierte abweisend, weil es stimmt. Und weil es mich schmerzt. Als Kind habe ich auf Gerüche überempfindlich reagiert, mit ausgeprägten Vorlieben und Aversionen. Es war für mich ein Drama, wenn der Bär gewaschen wurde. Bananen, die es noch selten gab, liebte ich, aber wenn sie überreif wurden, konnte ich sie wegen ihres strengen Geruchs nicht mehr essen. Überhaupt hatte ich eine Abneigung gegenüber allem, was fermentiert war, ertrug nur den mildesten Käse, Emmentaler, Edamer. Auch bei Butter und Milch war ich heikel, wie meine Mutter auch. Gegenüber Parfüms und leise darunter dampfenden Körpergerüchen reagierte ich sehr heftig. Viele Menschen, vor allem Erwachsene, waren mir wegen ihres Geruchs sympathisch, oder aber ich hasste sie, unbelehrbar. Wenn mir nicht klar war, woher ein Geruch kam, neigte ich dazu, ihn an Personen oder einem Ort festzumachen. In einer Wolke des Wohlgeruchs oder des Gestanks wurden mir wildfremde Menschen zu Freunden oder Feinden. In meiner Kindheit rochen oft ganze Quartiere intensiv, je nach Wetterlage und Windrichtung. Thomy und Frank überzogen ganz Kleinbasel und Riehen mit dem Geruch gerösteter Zichorie, wenn sie ihren Kaffeeersatz Incarom produzierten. Ich verband diesen intensiven Duft mit angenehmen Gefühlen, wahrscheinlich mit dem Sonnenschein und der Wärme bei Südwestwind, und mit der Möglichkeit, draussen zu spielen. Den süsslichen Geruch der Bierbrauerei Warteck, der sich beim Maischen entwickelte und über das ganze Wettsteinquartier stülpte, hasste ich dagegen. Ich roch ihn, wenn ich um zwölf Uhr hungrig und vom Schulmorgen frustriert auf dem Platz stand zum Umsteigen. Es gab auch Gerüche, die mich durch ihre Ambivalenz plagten, wie zum Beispiel der Weihrauch in der Kirche, den ich widerlich anziehend empfand. Ich merkte früh, dass Erinnerungen an Gerüche bei mir starke Gefühle auslösten. Einmal spielte ich mit kleinen Holzschiffchen in einem Waschzuber im Garten. Sie waren bemalt und lackiert gewesen, wovon man aber nur noch Reste erkennen konnte, so dass sich das Holz mit Wasser vollsog. Es stupfte mich etwas, und ich roch daran. Und wurde fortgerissen in einem Strudel von vagen Bildern, Erinnerungen an Ferien vor ein zwei Jahren irgendwo am Wasser, in der Wärme der Sonne und der geliebten Grosstante. Die Gerüche des feuchten Holzes und des alten Lacks waren harzig, und ich habe später immer wieder an nassen Holzstücken gerochen im Versuch, das Erlebnis zu wiederholen. Ich begegnete dem Geruch nur noch einmal, in der Werkstatt eines Bootsbauers, aber der Zauber hat sich nicht mehr eingestellt.

Meine Nasengänge sind im Laufe des Alterns immer schmäler geworden. Schon bei leichter Anstrengung atme ich nur durch den Mund. Und ich neige zu chronischen Entzündungen der Atemwege, was früh begann und sich in den letzten Jahren verstärkt hat. Zudem gibt es eine Veranlagung für den abnehmenden Geruchssinn, bei meinem Vater und seiner Schwester war das so, dass sie im Alter nichts mehr rochen. Vielleicht bleibe ich davon verschont.

Es gibt sicher ein Dutzend Holzarten, die ich, wenn sie gesägt oder geschliffen werden, blind am Geruch erkennen könnte. Erkennen kann, denn jetzt musste ich ausprobieren, ob es noch geht. Wie riecht Lindenholz, wenn es gedrechselt wird. Eben wie Lindenholz. Das ist die Crux bei der Beschreibung von Gerüchen, man kann nur mit Vergleichen arbeiten, indem man das ganze Bouquet oder Komponenten davon mit einem allgemein bekannten Geruch zusammenbringt. So riecht Linde süsslich, und ein bisschen wie frisch gebackenes Brot. Buchsbaum erinnert dagegen an Getreide, bei Eiche kann man einen Hauch von Vanille ausmachen. Buche riecht frisch, säuerlich, und ist fast nur mit sich selbst identisch. Es riecht nach den Klötzen in den Baukästen. Eibe erscheint im Geruch nicht giftig, sondern würzig, wie Weihrauchkörner, während Olivenholz nach süsslichem Pfeifentabak riecht. Und endlich weiss ich jetzt, warum mich die Hagebuche so irritiert hat beim Sägen und Drechseln. Das fast weisse Holz ist nicht nur hart wie Knochen, es riecht auch so. Wenn wir in der Werkstatt der Schule Knochen sägten, was selten einmal für ein spezielles Projekt nötig wurde, dann verliess die Hälfte der Schüler fluchtartig den Raum. Manche wollte lange nicht zurückkehren, weil ihnen schlecht geworden war. Eine archaische Abneigung, denkt man.
Ich habe schon als Kind sehr stark auf Gerüche angesprochen. Kamerun war in dieser Beziehung eine grosse Herausforderung. Ich erlebte neue Geruchswelten, die mich faszinierten und manchmal auch überwältigten. Begeisternd, die Gerüche von Garküchen und kleinen Grillbuden, von exotischen Gewürzen und Parfüms, vom dampfenden Regenwald nach einem Gewitter. Irritierend, der fast allgegenwärtige Geruch vergorener Früchte, vor allem von Mangos. Oder von Fleisch und Blut an den Ständen der Metzger, und von Schweiss, ungewaschenen Körpern und billigen Zigaretten in den Buschtaxis. Ekelerregend, die Ausdünstungen eines Betrunkenen, der in einen kleinen R4-Taxi zusteigt und nach saurem Palmwein und Pisse stinkt. Das war sogar dem einheimischen Fahrer zu viel.

Anders als visuelle Eindrücke, ähnlicher den akustischen, gehen die olfaktorischen direkt ins Gehirn. Von einer speziellen Schleimhaut in der obersten Nasenhöhle, in welche die empfangenden Nervenzellen ihre fadenförmigen Tentakel ausstrecken, und sich nach oben, durch die Löchlein eines feinen Knochensiebs, direkt mit dem riechenden Kolben verbinden, einer Ausstülpung des Gehirns, führt der Weg von aussen nach innen, von den herumfliegenden Molekülen zum Mischpult, wo der Charakter des Dufts in einen singulären Code übersetzt wird. Die weitere Verarbeitung dient der schnellen Einordnung eines Geruchs in Bedeutungszusammenhänge, die für das Überleben wichtig sind. Ist es essbar oder nicht, ist es gefährlich oder nicht, soll man sich damit paaren oder nicht. Kein Wunder, fand man die primären Orte solcher Auswertung in Gehirnregionen, die entwicklungsgeschichtlich alt sind, im limbischen System, in dem unsere Gefühle ihre Wurzeln haben, und wo Erlebtes mit Bedeutung und Wert versehen wird, der Erinnerung oder dem Vergessen anheimgegeben wird. Von dort an wird es komplex, kreuz und quer gewitternd durch das Netzwerk, sich verbindend mit Begriffen und Namen, Stimmen und Melodien, Bildern und Körperemfindungen, Erinnerungen und aktuellem Erleben. Wer soll sich da auskennen, wo man für kleine Schrittchen des Erkenntnisgewinns den Nobelpreis bekommt.

Dienstag, 7. April 2020

Kamerun, 1972



Das Flugticket nach Yaoundé und zurück kostete damals viertausend Franken, was heute gut zehntausend wären. Der Flug dorthin ist auch heute noch vergleichsweise teuer und umständlich. 1972, genau in der Zeit, als ich in Kamerun ankam, wurde die Bundesrepublik mittels eines Referendums in einen Einheitsstaat umgewandelt. Das bedeutete, dass der englischsprachige Westen, und damit eine Minderheit der Bevölkerung, von der Mehrheit überstimmt und weitgehend ihrer Autonomie beraubt wurde. Der Konflikt gab damals viel zu reden, schwelte bis vor einigen Jahren und ist heute so eskaliert, dass die Separatisten im Westen ihre Schulen geschlossen haben. Lieber keinen Unterricht für unsere Kinder als auf Französisch. Der Norden wird terrorisiert von Boko Haram und anderen islamistischen Gruppierungen. Herumreisen im Land, wie ich das damals konnte, alleine, als junger weisser Europäer, wäre heute ausgeschlossen. Das Risiko einer Entführung ist in allen Regionen, die ich besucht habe, sehr gross, und das Eidgenössische Amt für auswärtige Angelegenheiten rät von Reisen in den Norden grundsätzlich ab. Die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz mit Kamerun beschränkt sich 2019 auf die Unterstützung von dezentralen Projekten, von NGO's und kirchlichen Akteuren. Kameruns Präsident Biya logiert gerne und häufig im Genfer Luxushotel Intercontinental, zusammen mit einer fünfzigköpfigen Entourage. Von dort aus hat er 2018 auch seine Wiederwahl verfolgt, als fünfundachzigjähriger Autokrat, der die Amtszeitbeschränkung abschaffen liess. Es gibt Schätzungen, dass er seit seiner ersten Wahl 1983 mehr als hundert Millionen aus Steuergeldern für seine Privatreisen ausgegeben hat.

Ich liess mir in den knapp drei Monaten in Afrika einen Bart wachsen. Auch meine Haare trug ich wieder ziemlich lang.

Meine Mutter hatte sich diese Reise für mich ausgedacht, sie auch eingefädelt und organisiert. Ihr Bruder lebte und arbeitete mit seiner Familie in der Hauptstadt Kameruns als Koordinator für alle schweizerischen Entwicklungshilfe-Projekte der Schweiz, in einer neu vom Bund geschaffenen Funktion.

Mein Onkel und seine Frau waren jünger als meine Eltern. Sie hatten drei adoptierte Kinder. Die Tante langweilte sich in Yaoundé. Zwar engagierte sie sich in einem kleinen Projekt für einheimische Frauen, es wurmte sie aber, dass diese Arbeit quasi nur ein Anhängsel der Aufgaben ihres Mannes war. Die beiden Buben waren tagsüber im Kindergarten und in der Primarschule, die Kleinste gab nicht übermässig viel zu tun, und für den Haushalt hatte sie mehrere Hausangestellte. Das wirkte auf mich merkwürdig, kolonialistisch. Aber man erklärte mir, von ausländischen Entwicklungshelfern in leitender Position werde erwartet, dass sie innerhalb ihrer Möglichkeiten ein paar Einheimische einstellten und ihnen Arbeit und ein regelmässiges Einkommen garantierten. Einen Nachtwächter zu haben, war in Yaoundé für Ausländer auch schlicht eine Sicherheitsfrage.

Es war vor allem meine Tante, die mich zu eigenen Erkundungen innerhalb Kameruns drängte. Nach einer ersten gemeinsamen Reise ins Grasland im Westen wurde ich allein auf Reisen geschickt, ausgestattet mit einer Liste von Namen und Adressen, von Personen aus dem Netzwerk seines Onkels, bei denen er jeweils um Unterkunft nachfragen konnte.

Vor der ersten Reise hatte ich starkes Reisefieber, die Aussicht, alleine unterwegs zu sein in dem fremden Land, machte mir Angst.

Das war im Norden, in Maroua. Ich war dort sehr freundlich aufgenommen worden von der Frau eines Entwicklungshelfers, der auf Reisen war. Wir mochten uns, ich durfte einige Tage bleiben. Einmal gingen wir gemeinsam auf den Markt, meine Gastgeberin nahm ihre kleine Tochter mit, und die Köchin. Bei dieser sah ich die Silberringe, massiv und schwer geschmiedet, mit einem gestempelten Ornament an der dicksten Stelle. Sie trug sie beide an einem Finger ihrer langgliedrigen, fast bläulich schwarzen Finger. Solche musste ich unbedingt haben. Wir fragten sie aus, wo der Schmuck hergestellt worden sei, und wie man vorgehen müsse, um sie zu erwerben. Ich musste zuerst das nötige Silber auf dem Markt kaufen, der Silberschmied hatte keine eigenen Metallvorräte. Ich war sehr aufgeregt, denn es war genau so, wie ich es aus den Büchern von René Gardi kannte. Wir kauften acht silberne Maria-Theresien-Taler, je drei für einen Ring, den vierten als Lohn für die Arbeit. Damit gingen wir zum Silberschmied, der in einer kleinen Handwerkerhütte am Rande der Stadt wohnte. Als wir in die Hütte eintraten, war ich elektrisiert. Ich hatte schon so viele Bilder verschlungen von afrikanischen Handwerkern und ihren Werkstätten, und nun war ich mittendrin. Der Boden war aus sauber gerechtem, grobem Sand, man musste sich die Schuhe ausziehen und vor dem Eingang abstellen. Der Silberschmied, ein auf einige wenige traditionelle Schmuckstücke spezialisierter Meister, sass schon vor seiner Esse, einer Grube mit Holzkohleglut, zu der zwei lange Wülste aus Lehm führten. Sie bildeten ein schmales V und endeten in zwei topfartigen Gefässen, die je mit einem Ledersack bedeckt waren. Am oberen, zusammengeschnürten Ende der Säcke waren zwei Schlägel aus Hartholz befestigt. Die Blasebälge. Sie wurden bedient vom jüngsten Sohn des Schmieds, der schon an seinem Platz sass, wie ein Trommler hinter seinen Instrumenten, und auf seinen Einsatz wartete. Der Vater nahm die Taler entgegen, und es zeigte sich, dass er fast blind war. Alle Werkzeuge hatte er sorgfältig um sich in den Sand gesteckt, und alle kamen während der Arbeit sofort wieder an ihren Platz, wenn sie nicht gebraucht wurden. Er legte sechs der Taler nacheinander auf einen quadratischen Stiftamboss, der ebenfalls im Sandboden steckte, und teilte sie mit Meissel und Hammer in je vier Teile. Die Hälfte des Metalls kam anschliessend in einen Schmelztiegel, den er in die Glut stellte und mit glühenden Kohlen bedeckte. Dann kam der Bub an die Reihe. Er begann, die Schlägel in rasantem Rhythmus auf die Säcke zu schlagen, der Luftstrom aus den tönernen Pfeifen fauchte in die Glut und weckte sie auf. Schon nach kurzer Zeit gab der Meister ein Signal, und der Bub reduzierte seine Bewegungen zu einem lockeren Tanz der Arme und Schultern. Der Tiegel wurde ausgegraben, mit der Zange hochgehoben, dann geschwenkt. In einem grossen Holzstück, dessen Funktion ich bis dahin nicht begriffen hatte, war eine kleine, längliche Vertiefung angebracht, die aussah, als sei sie mit Wasser oder Öl angefeuchtet. Die Mulde wurde nun mit dem flüssigen Silber gefüllt, in einer einzigen, präzisen Bewegung des Tiegels. Einfach angesetzt und ausgeleert. Wie machst du das, wenn du fast nichts siehst? Als das Silber eine runzlige Haut gebildet hatte, dann grau, dann schwarz geworden war, wurde der kleine Barren mit der Zange herausgelöst und in einer Kalebassenschale abgeschreckt. Dann kam die Schmiedearbeit, mit zwei verschieden grossen Hämmern, in einer Schnelligkeit und Präzision, die mich sprachlos machte. Der Barren musste zuerst zu einem länglichen Doppelkegel geschmiedet werden. Der Meister hielt das Werkstück mit der Zange in der linken Hand und drehte es unmittelbar vor dem nächsten Schlag des Hammers in der Rechten, die so regelmässig zuschlug wie eine Maschine. Zwischendurch legte er das Stück auf den Amboss, um es zu drehen und neu zu packen. Als ihm die Form richtig erschien, wurde der Rohling in ein Säurebad gelegt, das der Bub in der Zwischenzeit angesetzt hatte. In eine Emailschale hatte er zwei halbierte Limonen gegeben, dazu ein paar Brocken Steinsalz, hatte Wasser aus einem Krug dazu geschüttet und die Schale in die Glut gestellt. Das Werkstück lag nun in der kochenden Säure und wurde weiss gesotten. Als ihm die Farbe passte, nahm es der Schmied mit der Zange heraus und legte es in die Glut. Der Bub nahm wieder seinen schnellen Rhythmus auf.

Am erstaunlichsten war für mich, wie er die Rundung der Ringe hinbekommen hat, so perfekt, dass die äussere Silhouette des Rings einen Kreis bildet, darin, exzentrisch versetzt, die Öffnung für den Finger ebenfalls einen Kreis umschliesst. Dabei ist der Querschnitt der dicksten Stelle mehr als zehnmal grösser als derjenige der dünnsten. Wie kann man das biegen? Mit ein paar wuchtigen Schlägen der Finne seines grossen Hammers hat er das gemacht, den widerspenstig molligen Leib des Doppelkegels in die Krümmung gezwungen. Dann jedem Abschnitt die genau abgestimmte Dosierung von Schlägen, in Anzahl und Kraft, zukommen lassen. Zum Schluss wollen die dünnen Enden, schon eingekrümmt, dem Hammer keinen Platz mehr zwischen sich lassen, die letzten Schläge folgen von aussen, auf den schon fast fertigen Ring, und schliessen ihn so fest, dass man kein Papier mehr dazwischen bringt. Jetzt bin ich noch gespannt darauf, wie er das Ornament anbringen wird. Mit zwei Punzen, die auf ihrer Unterseite so bearbeitet sind, dass sie bei einem Schlag einen Kreis stempeln. Das Werkzeug für den kleineren Kreis ist allerdings vor Kurzem gebrochen, und dem Meister blieb nur der vorderste Stummel. Diesen muss er mit der Zange halten, so kurz ist er, und bei jedem Schlag saust er davon, irgendwohin in den Sand. Der Bub kennt das schon, und bringt ihn zuverlässig zurück, sechsmal insgesamt. Einmal muss er länger suchen. So, und das Ganze jetzt natürlich noch einmal, es sind ja zwei Ringe. Aber ihr wisst jetzt, wie es geht.

Sonntag, 5. April 2020

Brachen 2


Mit M H, der später ein in der Schweiz bekannter Höhlenforscher wurde, erlebte ich während der Kindergartenzeit begeisterte, ja rauschhafte Zustände des Forschens. Es ging um Astronomie. Wir hatten einen Schulaltlas zuhause, in dessen hinterem Teil die damals bekannten, für Kinder und Jugendliche vereinfachten Zusammenhänge des Sonnensystems auf Schautafeln dargestellt waren. Mein Bruder hat mir immer gleich alles ausführlich erklärt, was er frisch erfahren hatte. Er bekam jeweils zu Weihnachten das neue universum von seiner Gotte, ein Jahrbuch des Wissens und Fortschritts, wie es im Untertitel hiess. Darin wurden neuste Erkenntnisse und Entwicklungen aus Technik und Naturwissenschaft mit vielen Bildern vorgestellt. Es gab im Universum, wie wir es nannten, immer auch fiktionale Texte und oft reisserische Sciencefiction-Bilder, die mir besonders gut gefielen. Lesen und anschauen durfte ich den neusten Band immer erst dann, wenn mein Bruder damit fertig war, die Geschichten kamen also zuerst in der Form seiner Erzählung auf mich zu. Ich nehme an, dass er mir auch die astronomischen Bilder des Schulatlasses erläutert und mit Bedeutung gefüllt hat. Von den Begegnungen mit M H ist mir vor allem eine Situation in Erinnerung geblieben. Ich war bei ihm zu Hause zu Besuch gewesen und hatte den Schulatlas mitgenommen. Mithilfe unserer Bücher hatten wir uns mit den Sternen beschäftigt, uns dabei vorgestellt, wir seien Forscher, die im Minutentakt neue, aufregende Dinge herausfänden. Wir flogen, einander in einem wilden Erzählstrang gegenseitig anstachelnd, immer weiter hinaus in einen atemberaubend aufregenden Weltraum. Irgendwann gegen Abend musste ich nach Hause, und da wir nicht abbrechen wollten und konnten, durfte M mich noch ein Stück weit begleiten. Es war bereits dunkel und am klaren Himmel waren viele Sterne zu sehen. Was für eine Steigerung unserer Erregung, als wir nun auch noch Sternbilder entdeckten, die wir vorher auf den Schaubildern gesehen hatten. Wir bestätigten uns feierlich, dass wir ab sofort Forscher seien und schwuren, es für immer zu bleiben.

Auch mit meinem Bruder zusammen gab es ähnliche Momente selbstvergessener Begeisterung, allerdings eher in der Fiktion als in den Zusammenhängen von Technik und Wissenschaften. Dort war ich Zuhörer und Nachfragender, solange es um die durch das Wissen meines Bruders gesicherte Realität ging. Zu Spekulationen aber konnte ich durchaus hilfreich und steigernd beitragen, was uns manchmal zu ebenso aufregenden Geschichten führte, wie ich sie mit M H erlebt hatte. Solche Gespräche, oder eher Erzählungen, in denen wir uns gegenseitig die Bälle zuwarfen, fanden oft vor dem Einschlafen im Bett statt. Einmal entwickelte sich eine Dynamik, die unserer Kontrolle entglitt, uns ängstigte und mich, heftiger als meinen älteren Bruder, so verstörte, dass ich zuletzt in Panik zusammengeschnürt auf dem Bett sass und weinte. Mein Bruder hatte mir erzählt, wahrscheinlich auf Grund eines Artikels im Universum, dass das Sonnensystem irgendeinmal explodieren und damit der Weltuntergang mit Sicherheit eintreten werde. Ich weiss nicht mehr, ob er auch noch von Meteoriten berichtete, die auf die Erde prallen und so deren Untergang besiegeln könnten. Jedenfalls kam uns, oder jedenfalls mir, im Verlaufe der Erzählung jede Vorstellung von Wahrscheinlichkeit und Zeiträumen derart abhanden, dass ich meinte, der Weltuntergang stünde unmittelbar bevor. Ich stellte mir darunter ein alles verschlingendes Feuer vor und zitterte vor Angst. Wie ich es damals schaffte, mich zu beruhigen und einzuschlafen, weiss ich nicht mehr.

Mein Vater hatte, schon als ich sehr klein war, einen Töff, eine DKW Hummel. Dieses Fahrzeug hat ihm daneben, dass es ihn von zuhause zu seinem Arbeitsplatz in der Stadt brachte, kleine Fluchten erlaubt. Als ich später in Yersins Film den Knecht Pipe auf seinem Moped in die Freiheit entfliegen sah, kam mir sofort mein Vater in den Sinn. Die Hummel hatte einen Kindersitz hinten auf dem Gepäckträger, mit Fussstützen aus Aluminium. Darauf setzte er mich manchmal, um mit mir zum Schrottplatz oder zum Altwarenhändler zu fahren. Ich hatte damals keine Worte für die Stimmung von Freiheit und Abenteuer, die ihn, und damit auch mich, erfasste, wenn er zwischen den Zementmauern nach Metallteilen, alten Werkzeugen, weggeworfenem Blechspielzeug und ausgedienten Küchengeräten stöberte. Dabei vergass er mich völlig. Ich bekam es zwar manchmal mit der Angst zu tun, wenn ich ihn aus den Augen verlor, genoss aber auch die Selbstständigkeit, die er mir zumutete. Einmal, das wurde mir später erzählt, habe er mich plötzlich über sich auf einer der Trennwände zwischen den Schrotthaufen entdeckt, wie ich auf dem schmalen Pfad hoch über den spitzen und scharfkantigen Abfällen ins Freie hinaus balancierte. Nach dem ersten Schock musste er schauen, wie er mich, ohne mich zu erschrecken, möglichst schnell von dort wieder zurück- und hinunterlotsen konnte. Das war auch klettertechnisch nicht einfach, denn es gab auf der Mauer kaum Platz für erwachsene Füsse. Das Kunststück gelang ihm, und auch, seinem kleinen Verbündeten die Grösse der Gefahr zu verheimlichen, der er gerade entronnen war. So erinnerte ich mich zuhause und auch später nicht an diesen heiklen Moment, und er konnte seine Pflichtvergessenheit meiner Mutter viel später beichten, zu einem Zeitpunkt, wo der Schrecken durch die zeitliche Distanz abstrakt geworden war und sie nur noch halbherzig schimpfen konnte. Auf solchen Abenteuern entwickelte ich einen starken Hang, irgendeine Trophäe zu suchen, die ich als Beleg, gar als Fetisch der Erinnerung, nach Hause nehmen konnte. Auf dem Schrottplatz fand ich einmal einen kleinen Blechhelikopter, der über eine Art Kabel mit einem Steuerinstrument verbunden war, ein archaischer Vorläufer der heutigen Drohnen. Er funktionierte nicht mehr, und es blieb unklar, wie er einmal funktioniert hatte, nicht einmal mein Vater konnte es mir erklären. Aber ich durfte ihn nach zähen Verhandlungen mitnehmen. Spielen konnte ich nicht damit, aber darum ging es nicht, ich musste ihn einfach haben. Wie die meisten Objekte, die ich auf diese Weise an mich nahm, verlor der Helikopter ausserhalb der abenteuerlichen Umgebung seine Ausstrahlung so schnell wie der Glanz eines Fischs an Land ermattet. Ich nehme an, dass ihn mein Vater bei einer seiner nächsten Fahrten zum Schrottplatz zurückgebracht hat. Gut erinnern kann ich mich auch an Besuche bei einem Altglashändler. Dessen Lager war für mich ebenso eine Fundgrube wie für meinen Vater. Ich durfte mir eine Sammlung von kleinen Glasfläschchen in allen Farben zwischen Weiss und dunkelstem Ultramarin, und dann zwischen Weiss und dunkelstem Braun, schliesslich zwischen Weiss und dunkelstem Grün anlegen. Die kleinen Flaschen kosteten praktisch nichts und brauchten wenig Platz, deshalb liess mich mein Vater grosszügig gewähren. Er stiess in diesem Geschäft immer wieder auf sehr schöne, manchmal wirklich alte, mundgeblasene Flaschen. Die Kunst bestand darin, den Händler nicht merken zu lassen, was für einen Schatz man in seinem Durcheinander gefunden hatte und wie sehr man es begehrte. Wenn er es merkte, und das war mit der Zeit immer öfter, weil er nicht dumm war und begann, in der Aufmerksamkeit meines Vaters Muster zu erkennen, wenn er es also merkte, drückte er den Preis sofort um ein Vielfaches in die Höhe, so dass eine längere Feilscherei begann mit Hin- und Herstellen von Flaschen, mit Austausch und Zusammenstellen neuer Gruppen, mit Nennen von Preisen, mit echter und gespielter Entrüstung, solange, bis schliesslich beide zufrieden waren und mein Vater sein Kistchen füllen konnte.

Freitag, 3. April 2020

Geschichten vom Rhein 2


Gewild

Als Jörg Sigenmüller erwachte, wird der Esel, wie er seinen Weidling nannte, schon wild getanzt haben.

Obwohl ich dazu nochmals die Füsse in die festgeschraubten Schuhe schieben und mich mit schmerzenden Bauchmuskeln hochziehen muss, setze ich mich aufrecht und drehe den Kopf nach allen Seiten. Der Fluss glitzert in der Sonne des späten Mainachmittags, die Kräne bewegen sich nicht mehr. Keines der Schiffe an den Anlegestellen scheint sich zu einem Wendemanöver bereitmachen zu wollen. Ich nehme die Gummigriffe wieder in die linke Hand, um mich beim Hinlegen mit der rechten abstützen zu können.

Der wird wohl nicht einfach so schlafend auf den Laufen zugetrieben sein. Vielleicht wollte er sich etwas ausruhen im Uferschilf. Möglicherweise hat er zuvor sein Arbeitsgerät nach einem früh begonnenen Tag als Fährmann, Fischer, Flösserknecht und Lastenschlepper an eine der Kopfweiden oben am Giessen festgebunden, aus einem schmuddeligen Tuchfetzen ein halbes Brot und ein Stück Käse oder Speck gewickelt und sich den hungrigen Mund gestopft, dazu Wasser aus dem kleinen Fass am Bug getrunken. Zwei feurige Schlucke aus dem Tonfläschchen wurden bis zuletzt aufgespart. Dann konnte er sich gerade noch im Durcheinander aus Netzhaufen, Seilen, Lumpen und Weidenruten mit ein paar Fusstritten ein Nest wühlen, bevor er sich darauf warf und sogleich zu schnarchen begann.

Von Weitem schien der Weidling leer. Das zog zwei Jünglinge an, zwei Rotzlöffel von elf und dreizehn Jahren, die vom Rummelplatz beim Giessen kamen, auf der Suche nach etwas Essbarem. Als sie Jörgs Schnarchen hören, erkennen sie kichernd die Gelegenheit. Blitzschnell räumen sie die Reste des bescheidenen Mittagessens auf, lassen zwei Aale und einige Trüschen in die umgehängten Säcke gleiten, reissen sich prustend und hustend die Schnapsflasche aus den Fingern. Da jetzt Sigenmüller aus seinem Bleischlaf halb auftaucht und sich grunzend herumwirft, springen die zwei mit grossen Sätzen in verschiedene Richtungen davon, nur um bald wieder unter Geflüster zurückzukehren. Der Jüngere zieht den Weidling am Seil gegen das Ufer, worauf der Grössere die Schlinge mit einem Zwick über die Kopfweide schnellen lässt. Mit vereinter Kraft stemmen sie sich gegen den breiten Bug und beginnen ihn aus dem Schilf hinauszuschieben. Als ihm das Wasser bis zu den Rippen reicht, greift der Kleinere nach dem Ruder und wirft es hinaus in den Fluss. Sie geben dem trägen Fahrzeug einen Stoss und machen sich dann schnell aus dem Staub.

Ein Kind schlägt zuerst Alarm, und daraufhin legen mehrere Boote in wilder Hast vom Giessen ab. Man hat nicht viel Zeit, denn von hier aus kann man den Laufen schon wie ein fernes Gewitter hören. Es entsteht ein Geschrei, dass ein Mensch im Weidling liege. Für kurze Zeit gleicht das Ganze der Wettfahrt zum Maigericht, dann allerdings, als die Erlen am Ende der Schifflände erreicht sind, kehren die Ersten unverrichteter Dinge zum Ufer zurück. Einzig Kunz Regesser ist es gelungen, einen Punkt schräg unterhalb des Unglücksraben zu erreichen. Vom Ufer aus ist deutlich zu sehen, wie er die eiserne Fangkralle schwingt und Jörgs Weidling trifft. Mit einem kurzen Ruck stellt er sicher, dass sich die spitzen Widerhaken festbeissen, legt dann das Seil in seinem Bug zurecht, damit es sich beim Abhaspeln nicht verheddern kann. Er dreht bei und hält sofort mit kräftigen Ruderstössen auf einen Baum am Ufer zu. Dabei wird er von den inzwischen zahlreich zusammengeströmten Zuschauern lautstark angefeuert.

Da erwacht Jörg. Die Schreie der Leute am Ufer dringen durch das Gebrüll des näherkommenden Wildwassers an sein Ohr, in sein Gehirn. Er setzt sich auf und erfasst wie im Traum seine Lage: der nie gesehene Blickwinkel auf die Habsburg, das wilde Bocken des Esels, die Kralle in den splitternden Planken, die schreienden und winkenden Menschen auf der davongleitenden Rampe des Giessen. Jetzt rennen sie auch auf der Brücke hin und her. Er riecht schon die Gischt, hörte das drohend nahende Donnern und Rauschen. Er will fliehen, nicht den Nepomuk von unten sehen. Stemmt sich hoch, steht dann breit im Rumpf, die wilden Sprünge ausbalancierend. Als er begreift, dass sein Ruder verschwunden ist, packt ihn die Todesangst. Mit aufgerissenen Augen sieht er das Seil spritzend aus dem Wasser schnellen, ein gleissender Blitz schiesst von der Uferpappel aus geradewegs auf ihn zu. Er greift beidseitig nach den Bordwänden und lässt sich auf den Hosenboden fallen. Haut dazu einen Stiefel auf die Eisenkralle, drückt die Augen zu und erwartet den Ruck.

Von unten springts mich an. Die Augen, in die Augen grellhell, Schachtelteufel aus dem Bauch, die linke Hand am Gummi festgeschweisst. Nur Nachbilder auf der Retina. Regina, Rhenania, Realp. Schwägalp macht solche Wellen, noch im Hochrappeln bekomme ich nasse Schultern und Waden. Bilde mir ein, etwas gegen diesen Tanz tun zu müssen. Atme für zwei. Ich pumpe wie verrückt, obwohl dazu längst nicht so berechtigt wie der nachgeträumte Jörg damals, am 8. Mai 1549.

durch den louffen geflossen, einmal underganggen, danach als uff dem Weidling fürnider gerunnen, und im Gewild in der Netzy 2 mal underganggen und beyde mal lang unterm Wasser gewesen...Ist aber wider herfür khommen und hernach zuo Schäffigen gsund ohne alle Verletzung gelendet worden, und keine Stund darüber nie krank gewesen.

Die Wellen haben mich gegen die Uferböschung gespült, Heck und linkes Ruder sind unter die hängenden Zweige eines Baumes geraten. Ich befreie mich mit kleinen, vorsichtigen Bewegungen, bis die Strömung das Boot langsam hinausdreht.

Und nochmals konzentrieren jetzt, bald ist die Biegung vorbei, die Korrigiererei auch. Nochmals auf die Beine jetzt, tack, gleichzeitig packen das Wasser, sofort den Druck suchen. Suchen, finden ist schon zu langsam, explodieren im Einsatz, ein Satz, weg. Höhere Schlagzahl heisst Häufchen rechnen, immer zehn von sich weg schieben, sieben weg, acht. Und nochmals zehn, Steuermänner wollten immer nochmals zehn. Eins weg, zwei, und auf die Beine jetzt, und weg mit den Händen, den Schlag bis, sechs weg, sieben weg, bis zu den Knien denken, aber die sind auch schon. Weg, und tack weg. Blick zur Seite, sind wir schon, nein noch nicht, einfach durchatmen, es geht nicht mehr auf. Zurückschauen, aber nur mit halber Kopfdrehung, das reicht. Jetzt. Der Mohlenspitz. Nochmals zehn auf das Brett stemmen, jetzt läuft er, im Vorrollen etwas wie entspannen, um dann. Noch zehn Schläge, wie wenns um etwas ginge.







Mittwoch, 1. April 2020

musikalisch


Es gab eine Parallelwelt zur klassischen Musikerziehung in unserem Haus. In unserer Schallplattensammlung fanden sich mehrere Alben von Georges Brassens, den mein Vater sehr gerne mochte. Oft sang er die Lieder mit. Une jolie fleur dans une peau d'vache, une jolie vache déguisée en fleur. Ich liebte das, denn es war ein Zeichen seiner ausgezeichneter Laune. Dann gab es auch Platten mit Gospelliedern, von Mahalia Jackson und dem Golden Gate Quartet. Etwas Jazz von Louis Armstrong.

Ich war vielleicht zehn und mein Bruder zwölf, als in der Nachbarschaft ein neues Spiel auftauchte. Ein paar Buben, darunter auch mein Bruder, bastelten sich aus Kosmos-Baukästen einfache Radios. Mit Kabeln, die zwischen Nachbarshäusern von Fenster zu Fenster aufgespannt wurden, konnte so ein kleines Netzwerk aufgebaut werden, in dem bald Schlagermusik und ein bisschen Rock'n Roll gemeinsam gehört wurde. Rote Lippen soll man küssen, Surfin' USA. Das war natürlich aufregend, besonders wenn man spürte, dass die Eltern diese Musik nicht gut fanden. In dieser Zeit schenkte mir meine Ersatzgotte meine erste Beatlesplatte. Wir nannten sie so, weil die richtige Gotte in den USA war. Die kinderlose Fotografin mochte mich gut, auf eine für mich ungewohnte Weise, die ich nicht recht einordnen konnte. Mir so eine Yeahyeah-Platte zu schenken war jedenfalls typisch für sie. Es war die EP mit Twist and Shout und drei weiteren Titeln. Das Titelbild, auf dem die vier von der Etage eines Treppenhauses heruntergrinsen, habe ich immer wieder ansehen müssen, dazu die Songs abgespielt, am liebsten, wenn sonst niemand zu Hause war. Die Eltern hörten sich das Geschrei nur einmal an, aus Höflichkeit, weil es ja schliesslich das Geschenk einer Freundin an ihren Sohn war. Ebenso halb heimlich begann ich die damals einzige zugängliche Popsendung Salut les copins zu hören, auf Europe 1. Ich war von meinem Tischnachbar in der ersten Klasse des Gymnasiums darauf aufmerksam gemacht worden, der sich sogar das Magazin kaufen durfte und sehr gut Bescheid wusste über die französischen Stars, und über Rock n' Roll. Ich liebte die Wochentage, an denen um fünf Uhr meine Eltern noch nicht zu Hause waren. Dann setzte ich mich vor das Familienradio. SLC - Salut les Copains!, ein akkustisches Logo hatten die, wie ein Vogelruf. Und dann die Beatles, unter den ersten zu sein, die einen neuen Song von ihnen hörten. No reply. Eine tragische Liebesgeschichte, mit Harmoniewechseln, die mich verfolgten.

Nach Beendigung des Cellospiels habe ich mich noch an der Klarinette versucht. Dieses Instrument versprach eine grössere Vielfalt an Musikstilen, was sicher zu seiner Wahl beitrug. Der Lehrer war allerdings ein Vollblutmusiker aus dem klassischen Bereich, der sich auf Neue Musik zu spezialisieren begann. Er hatte einen wunderbar samtigen Ton dank seiner durchtrainierten Wangen- und Zungenmuskulatur, mit der er knochenharte Plättchen spielen konnte. Mir kamen meine Bambusdinger schon sehr widerständig vor, so dass ich zu Beginn furchtbaren Muskelkater bekam und nicht lange am Stück üben konnte. Überhaubt die Überei. Der Lehrer bestand auf dem flüssigen Spiel chromatischer Leitern in allen Tonarten, und ich kann mich nicht an eine Melodie erinnern, die ich während der paar Monate in seinen Stunden gespielt hätte. Zudem fiel das ganze Experiment mit meiner unseligen Rückengeschichte zusammen, und irgendwann hatte ich die Nase voll, brach wieder ab.

Ich stelle mir vor, der Klarinettenschüler kommt, gedemütigt, traurig. Dann zornig, den säuerlichen Mief der Musikschule hinter sich bringend, abschüttelnd die verächtliche Strenge des Bläserlehrers. Das muss alles ein Ende nehmen, alles. Kommt ans Ende der Strasse, die in den ehemaligen Stadtgraben mündet, auch eine Strasse jetzt zwischen hohen Mauern, jäh abfallend zum Barfüsserplatz. Und zwischen dem aufragenden Lohnhofgefängnis und dem efeubewachsenen Kohleberg hört er auf einmal Trost, ein wummerndes Intro. Was ist es? Bombomm, bababaaa bababaaa, bababa bommbomm. Jumpin' Jack Flash. Es knetet ihn, hebt ihn hoch, leicht wird sein Schritt. Das gibt es ja, die andere Musik, von der die Erwachsenen ihre Finger noch so gerne lassen. Er geht, jetzt ist alles offen, zum Platz und weiter zur Bühne, vor der sich die Menschen zu sammeln beginnen, junge Menschen wie er, und schon tanzend und ihre Köpfe werfend. Dabei ist, was sie hören, eine Kopie, aber das stört sie nicht. Rollende Steine sind rollende Steine, in unserer Stadt. Und er weiss nun, dass er zum letzten Mal in der Musikschule gewesen ist. Wenige Tage später ruft er den Lehrer an und teilt es ihm mit. Die Mutter stellt er vor vollendete Tatsachen, und kommt sich erwachsen vor. Sie nimmt es gelassen.

In der Oberstufe kam ein Neuer in die Klasse, ein grosser, phlegmatischer Kerl, sehr freundlich, mit langen, gewellten Haaren und einer grossen, markanten Nase. Er war etwas älter, rauchte Françaises mit Maispapier, und hatte eine enorme Plattensammlung. Bei ihm machte ich Entdeckungen, Hendrix, Cream. Zappa war mir zu schräg, und ich verstand seine Texte nicht, die offensichtlich wichtig waren. Ich durfte sogar Platten ausleihen, ein Privileg, und so konnte ich mich an Sperriges herantasten. An die Falsettstimmen von Jack Bruce und Eric Clapton, die mir zuerst affektiert, weibisch vorkamen. An die Länge der Stücke musste ich mich auch gewöhnen, an die zuweilen chaotischen Improvisationen zwischen den Teilen mit dem eigentlichen musikalischen Thema, dem Song. Bald begann ich selber nach Musik zu suchen, fand Musiker und Stile, die auch den andern neu waren. Otis Redding. Vanilla Fudge, Colosseum. Oder die Savage Rose aus Dänemark. Als mein Bruder in Zürich zu studieren begann, und ich das Zimmer für mich alleine hatte, stellte ich einen kleinen Plattenspieler neben das Bett. Es gibt Stücke, die ich so oft beim Einschlafen gehört habe, dass sie sich mit jedem Ton, jedem Geräusch und jeder Pause in mein Gehirn eingeschrieben haben. Rainy Day von Jimmi Hendrix, zum Beispiel, auf der zweiten Platte des Doppelalbums Electric Ladyland, das erste Stück. Beginnt mit einer winzigen Spielerei seiner Gitarre, die er ein paar Töne von sich geben lässt, wie eine quitschende Türe. Hustet dann zweimal, zieht die Nase hoch. Dann das jazzige Intro des Saxophonisten, für den ich mich nie interessierte. Er hiess Freddy Smith, und war mit seiner Soulband zufällig im gleichen Studio am Aufnehmen wie Hendrix, und man half sich gegenseitig aus. Dann ein einfacher Rhythmus von Schlagzeug und Congas, darüber ein spielerischer Dialog der Hammondorgel mit dem Saxophon, zuletzt mit der Gitarre. Dazu, mal dahinter, mal im Vordergrund, Jimmis Sprechgesang, cool, schwarz.
Hey man, take a look out the window 'n' see what's happenin'
Hey man, it's rainin'
It's rainin' outside man
Sie werfen sich Töne und kurze Tonfolgen zu, hin und her, dann Break. Leichtfüssige Überleitung zum Song, den er in typischer Weise halb spricht, halb singt.
Rainy day, dream away
Ah let the sun take a holiday
Flowers bathe an' ah see the children play
Lay back and groove on a rainy day
Nochmals ein Rhythmuswechsel, dann, wenn ich hier am Einnicken war, werde ich wieder wach. Die Wah-wah-Gitarre ruft. Wioau. WaeWoau. Ghiuhuageddiwua, und noch ein kurzes Solo, nochmals seine Stimme, langsam ausgeblendet. Von Jimmis Texten habe ich fast nichts mitbekommen, Englischunterricht war freiwillig im altsprachigen Gymnasium, und es ging mir vor allem um die Musik. Vielleicht bin ich auch der Düsternis aus dem Weg gegangen, bei den Doors bin ich mir sogar sicher. Mit dem Freund, der so viele Platten besass, hätte ich Erfahrungen mit LSD machen können, wenn ich es gewollt und ihm gesagt hätte. Davor hatte ich aber zu viel Respekt. Und es gab ja solche, die den Rückweg aus ihren Trips nie mehr fanden, einer in meiner Klasse, der sich später aus dem Fenster einer Anstalt geworfen hat. 1970 und 1971 waren traurige Jahre, unsere musikalischen Idole starben wie die Fliegen.

Ein paar Popkonzerte habe ich besucht, die besten gab es im alten Stadttheater. Tolle Akkustik. Rockendes, tanzendes Publikum auf den Plüschlogen, die vollgestopft waren bis in die obersten Ränge, viele junge Männer bald mit nacktem Oberkörper, weil es so heiss wurde. Colosseum. Emerson, Lake & Palmer. Rory Gallagher mit Taste, John Mayall. Im grossen Saal der Mustermesse war der Sound dagegen miserabel. Deep Purple habe ich dort gehört. Sie spielten alle Stücke ihres Albums Deep Purple in Rock, die ich in und auswendig kannte. Trotzdem erfasste ich die meisten Stücke erst nach einigen Takten, weil es so breiig laut war und einem fast die Ohren abriss. Ich hatte danach eine Woche lang Tinnitus, und war noch stolz darauf. Auch Jack Bruce und Lifetime hörte ich in der grossen Halle. Von der Musik hat man zu wenig mitbekommen, es war einfach laut, aber man war dabei gewesen.