Sonntag, 5. April 2020

Brachen 2


Mit M H, der später ein in der Schweiz bekannter Höhlenforscher wurde, erlebte ich während der Kindergartenzeit begeisterte, ja rauschhafte Zustände des Forschens. Es ging um Astronomie. Wir hatten einen Schulaltlas zuhause, in dessen hinterem Teil die damals bekannten, für Kinder und Jugendliche vereinfachten Zusammenhänge des Sonnensystems auf Schautafeln dargestellt waren. Mein Bruder hat mir immer gleich alles ausführlich erklärt, was er frisch erfahren hatte. Er bekam jeweils zu Weihnachten das neue universum von seiner Gotte, ein Jahrbuch des Wissens und Fortschritts, wie es im Untertitel hiess. Darin wurden neuste Erkenntnisse und Entwicklungen aus Technik und Naturwissenschaft mit vielen Bildern vorgestellt. Es gab im Universum, wie wir es nannten, immer auch fiktionale Texte und oft reisserische Sciencefiction-Bilder, die mir besonders gut gefielen. Lesen und anschauen durfte ich den neusten Band immer erst dann, wenn mein Bruder damit fertig war, die Geschichten kamen also zuerst in der Form seiner Erzählung auf mich zu. Ich nehme an, dass er mir auch die astronomischen Bilder des Schulatlasses erläutert und mit Bedeutung gefüllt hat. Von den Begegnungen mit M H ist mir vor allem eine Situation in Erinnerung geblieben. Ich war bei ihm zu Hause zu Besuch gewesen und hatte den Schulatlas mitgenommen. Mithilfe unserer Bücher hatten wir uns mit den Sternen beschäftigt, uns dabei vorgestellt, wir seien Forscher, die im Minutentakt neue, aufregende Dinge herausfänden. Wir flogen, einander in einem wilden Erzählstrang gegenseitig anstachelnd, immer weiter hinaus in einen atemberaubend aufregenden Weltraum. Irgendwann gegen Abend musste ich nach Hause, und da wir nicht abbrechen wollten und konnten, durfte M mich noch ein Stück weit begleiten. Es war bereits dunkel und am klaren Himmel waren viele Sterne zu sehen. Was für eine Steigerung unserer Erregung, als wir nun auch noch Sternbilder entdeckten, die wir vorher auf den Schaubildern gesehen hatten. Wir bestätigten uns feierlich, dass wir ab sofort Forscher seien und schwuren, es für immer zu bleiben.

Auch mit meinem Bruder zusammen gab es ähnliche Momente selbstvergessener Begeisterung, allerdings eher in der Fiktion als in den Zusammenhängen von Technik und Wissenschaften. Dort war ich Zuhörer und Nachfragender, solange es um die durch das Wissen meines Bruders gesicherte Realität ging. Zu Spekulationen aber konnte ich durchaus hilfreich und steigernd beitragen, was uns manchmal zu ebenso aufregenden Geschichten führte, wie ich sie mit M H erlebt hatte. Solche Gespräche, oder eher Erzählungen, in denen wir uns gegenseitig die Bälle zuwarfen, fanden oft vor dem Einschlafen im Bett statt. Einmal entwickelte sich eine Dynamik, die unserer Kontrolle entglitt, uns ängstigte und mich, heftiger als meinen älteren Bruder, so verstörte, dass ich zuletzt in Panik zusammengeschnürt auf dem Bett sass und weinte. Mein Bruder hatte mir erzählt, wahrscheinlich auf Grund eines Artikels im Universum, dass das Sonnensystem irgendeinmal explodieren und damit der Weltuntergang mit Sicherheit eintreten werde. Ich weiss nicht mehr, ob er auch noch von Meteoriten berichtete, die auf die Erde prallen und so deren Untergang besiegeln könnten. Jedenfalls kam uns, oder jedenfalls mir, im Verlaufe der Erzählung jede Vorstellung von Wahrscheinlichkeit und Zeiträumen derart abhanden, dass ich meinte, der Weltuntergang stünde unmittelbar bevor. Ich stellte mir darunter ein alles verschlingendes Feuer vor und zitterte vor Angst. Wie ich es damals schaffte, mich zu beruhigen und einzuschlafen, weiss ich nicht mehr.

Mein Vater hatte, schon als ich sehr klein war, einen Töff, eine DKW Hummel. Dieses Fahrzeug hat ihm daneben, dass es ihn von zuhause zu seinem Arbeitsplatz in der Stadt brachte, kleine Fluchten erlaubt. Als ich später in Yersins Film den Knecht Pipe auf seinem Moped in die Freiheit entfliegen sah, kam mir sofort mein Vater in den Sinn. Die Hummel hatte einen Kindersitz hinten auf dem Gepäckträger, mit Fussstützen aus Aluminium. Darauf setzte er mich manchmal, um mit mir zum Schrottplatz oder zum Altwarenhändler zu fahren. Ich hatte damals keine Worte für die Stimmung von Freiheit und Abenteuer, die ihn, und damit auch mich, erfasste, wenn er zwischen den Zementmauern nach Metallteilen, alten Werkzeugen, weggeworfenem Blechspielzeug und ausgedienten Küchengeräten stöberte. Dabei vergass er mich völlig. Ich bekam es zwar manchmal mit der Angst zu tun, wenn ich ihn aus den Augen verlor, genoss aber auch die Selbstständigkeit, die er mir zumutete. Einmal, das wurde mir später erzählt, habe er mich plötzlich über sich auf einer der Trennwände zwischen den Schrotthaufen entdeckt, wie ich auf dem schmalen Pfad hoch über den spitzen und scharfkantigen Abfällen ins Freie hinaus balancierte. Nach dem ersten Schock musste er schauen, wie er mich, ohne mich zu erschrecken, möglichst schnell von dort wieder zurück- und hinunterlotsen konnte. Das war auch klettertechnisch nicht einfach, denn es gab auf der Mauer kaum Platz für erwachsene Füsse. Das Kunststück gelang ihm, und auch, seinem kleinen Verbündeten die Grösse der Gefahr zu verheimlichen, der er gerade entronnen war. So erinnerte ich mich zuhause und auch später nicht an diesen heiklen Moment, und er konnte seine Pflichtvergessenheit meiner Mutter viel später beichten, zu einem Zeitpunkt, wo der Schrecken durch die zeitliche Distanz abstrakt geworden war und sie nur noch halbherzig schimpfen konnte. Auf solchen Abenteuern entwickelte ich einen starken Hang, irgendeine Trophäe zu suchen, die ich als Beleg, gar als Fetisch der Erinnerung, nach Hause nehmen konnte. Auf dem Schrottplatz fand ich einmal einen kleinen Blechhelikopter, der über eine Art Kabel mit einem Steuerinstrument verbunden war, ein archaischer Vorläufer der heutigen Drohnen. Er funktionierte nicht mehr, und es blieb unklar, wie er einmal funktioniert hatte, nicht einmal mein Vater konnte es mir erklären. Aber ich durfte ihn nach zähen Verhandlungen mitnehmen. Spielen konnte ich nicht damit, aber darum ging es nicht, ich musste ihn einfach haben. Wie die meisten Objekte, die ich auf diese Weise an mich nahm, verlor der Helikopter ausserhalb der abenteuerlichen Umgebung seine Ausstrahlung so schnell wie der Glanz eines Fischs an Land ermattet. Ich nehme an, dass ihn mein Vater bei einer seiner nächsten Fahrten zum Schrottplatz zurückgebracht hat. Gut erinnern kann ich mich auch an Besuche bei einem Altglashändler. Dessen Lager war für mich ebenso eine Fundgrube wie für meinen Vater. Ich durfte mir eine Sammlung von kleinen Glasfläschchen in allen Farben zwischen Weiss und dunkelstem Ultramarin, und dann zwischen Weiss und dunkelstem Braun, schliesslich zwischen Weiss und dunkelstem Grün anlegen. Die kleinen Flaschen kosteten praktisch nichts und brauchten wenig Platz, deshalb liess mich mein Vater grosszügig gewähren. Er stiess in diesem Geschäft immer wieder auf sehr schöne, manchmal wirklich alte, mundgeblasene Flaschen. Die Kunst bestand darin, den Händler nicht merken zu lassen, was für einen Schatz man in seinem Durcheinander gefunden hatte und wie sehr man es begehrte. Wenn er es merkte, und das war mit der Zeit immer öfter, weil er nicht dumm war und begann, in der Aufmerksamkeit meines Vaters Muster zu erkennen, wenn er es also merkte, drückte er den Preis sofort um ein Vielfaches in die Höhe, so dass eine längere Feilscherei begann mit Hin- und Herstellen von Flaschen, mit Austausch und Zusammenstellen neuer Gruppen, mit Nennen von Preisen, mit echter und gespielter Entrüstung, solange, bis schliesslich beide zufrieden waren und mein Vater sein Kistchen füllen konnte.

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