Samstag, 11. April 2020

reisen 2 Tadschikistan


1998 war das Jahr meines fünfundzwanzigsten Dienstjubiläums als Lehrer. Ich profitierte noch von einer grosszügigen Regelung, nach der einem die Stadt Basel zu diesem Anlass zwei Monate schenkte, die man entweder als Urlaub oder in Form einer zusätzlichen Lohnauszahlung beziehen konnte. Ich wollte eine Reise machen, am liebsten nicht nur als Tourist, sondern mit einer Funktion oder Aufgabe bei einer Expedition. Ich schrieb deshalb viele Universitäten und Institutionen an, von denen ich meinte, sie könnten interessiert sein an einem vielseitig einsetzbaren Helfer, der nichts oder allenfalls die Reisespesen kostete. Ausser einigen positiven Reaktionen ergabe diese Initiative nichts, und so nahm ich mit Ernst Gabathuler Kontakt auf, den ich 1972 in Kamerun kennengelernt hatte, und der immer noch in der Entwicklungszusammenarbeit tätig war. Er engagierte mich nach nur einem Treffen in Bern für ein Projekt in Madagaskar, bei dem er in zwei Provinzen Lokalradios eingerichtet hatte. Ich sollte in der zweiten Phase der Initiative, in der die Aufgaben weitgehend an lokale Leitungspersonen und Mitarbeiterinnen abgegeben waren, Weiterbildungsseminare anbieten, mit Themen wie Teambildung, Kommunikation und Konfliktklärung. Da sich die Jubiläumsgeschenke alle fünf Jahre wiederholten, konnte ich noch zweimal für EG in ähnlichen Zusammenhängen arbeiten. Ernst hatte in der Zwischenzeit nach Zentralasien gewechselt, wohnte in der kirgisischen Hauptstadt Bishkek und koordinierte von dort aus seine Projekte im Auftrag des Bundes und der Universität Bern. So reiste ich 2003 nach Kirgistan und 2007 nach Tadschikistan. Für die Zeit nach meinen Einsätzen organisierte ich mir jeweils noch eine private Reise durch die Region.

In der NZZ konnte man anfangs April dieses Jahres lesen, dass die Taliban in den ländlichen Regionen Afganistans, die unter ihrer Kontrolle sind, Präventionskampagnen zur Eindämmung der Corona-Epidemie gestartet hätten, parallel zu einer intensivierten Welle von Angriffen auf Regierungstruppen und Beamte. Und etwas später habe ich mir eine dreiteilige Dokumentation über die Geschichte Afganistans seit den 19960er-Jahren bis heute angeschaut, auf Arte. Was für ein schlimmes Schicksal eines so wunderbaren Landes, nicht aus der Spirale von Ideologie, Machtmissbrauch und Gewalt herauszufinden! Seit ich 2007 dem Grenzfluss Pyandzh entlanggefahren bin, durch ein spektakuläres Gebirgstal des Pamir, hat sich leider noch immer kaum etwas zum Besseren verändert.

Tadschikistan, 2. November 2007

Schon zu Hause, bei der Vorbereitung der Reise, hat mich die Vorstellung, mehrere Tage lang der Grenze dieses von endlosem Krieg geschüttelten Landes entlang zu fahren, davon nur durch den Fluss getrennt, fasziniert und auch etwas ängstlich gestimmt. F, der Reiseführer, zeigt für mein ambivalentes Interesse ein feines Gespür und weist schon früh, in Kalaikhumb, auf die Berge am Horizont: There is Afghanistan!

Das Licht am nächsten Morgen, als die Sonne nur knapp über die Gipfel geklettert ist, teilt die steilen Uferhänge in riesige Flächen aus Gold und Blauviolett. Der Fluss wie flüssiges Blei, die Pappeln und Weiden auf dem Schwemmland: Flammen und Feuerbälle. Mehrfach denke ich: Wie besoffen! Ich bin wie besoffen vom Schauen!

Am andern Ufer, manchmal sehr nahe, Dörfer ohne Strassen, ohne Elektrisch. Ein Uferpfad verbindet sie, zwischendurch furchteinflössend mit Balken und Brettern oder über Trockenmauer-Auffüllungen an Steilwände geschmiegt. Immer wieder Menschen unterwegs, mit Eseln und Kühen, oder alleine, zu zweit. Tagesmärsche.

Die Orientierung fällt leicht, wir fahren immer am linken Ufer, auf einer löcherigen Piste, die vielerorts aus dem Fels gesprengt werden musste. Der Fluss Pyandzh, der wegen der Zahl seiner Zuflüsse einfach Fünf heisst, und später zum Amu Daria wird, zieht zuweilen eingeengt zwischen steinernen Wänden dahin, dann wieder sich zu fliessenden Seen ausbreitend im Tal, oft ganz nahe, wenn die Strasse sich zu ihm gesenkt hat, später wieder weit unter uns. Die Ränder der Strasse sind ungesichert, kein Baum, nicht mal ein Busch würde einen Absturz bremsen. Die Höhenangst beschert mir zuweilen feuchte Hände und ein flaues Kribbeln in Bauch und Beinen. Wenn ich zum andern Ufer, nach Afghanistan hinüber schaue, dann sehe ich dort nur einen schmalen Pfad, einladender Spazierweg auf den Kiesterrassen, ein Kletterpfad für Furchtlose dort, wo der Berg den Fluss zu einer Kurve zwingt. Bei einem Halt schauen wir an eine senkrechte Felswand hinüber, darin steckt wie angeklebt eine winzige Brücke aus krummen Balken. Zwei Männer mit einem Maultier sind davor stehen geblieben, das Maultier weigert sich, die Balken zu betreten. Wir warten um zu schauen, wie sie das Problem lösen werden. Einer der Männer geht auf die Brücke und lockt das Tier mit Futter. Nach einer Weile beginnt der andere in aller Ruhe damit, die Last abzuladen, einen Sack nach dem andern. Befreit vom Gewicht stellt das Tier endlich einen Vorderfuss auf den Steg, nimmt ihn wieder zurück, stellt ihn wieder darauf. Ganz langsam verlagert es sein Gewicht in winzigen Schritten, bis es schliesslich auf den Balken steht, unter dem sich ein Abgrund von vierzig Metern oder mehr senkrecht bis zum Wasser öffnet. Wieder spüre ich ein Gramseln in den Beinen, und möchte doch noch weiter zuschauen. Als die Männer in der Felswand sich für uns zu interessieren beginnen, wird F unruhig und drängt zum Aufbruch.
Einmal filme und fotografiere ich ein Dorf von einer Strassenkurve aus, die höher aber ganz nahe liegt. Kinder rufen und winken uns zu. Die kleine Siedlung breitet sich aus auf Schwemmland, auf dem Delta eines Seitenflusses. Es besteht aus denselben Pamirhäusern, die auch auf der tadschikischen Seite stehen: lehmgebaute Quader mit etwa sechzig bis achtzig Quadratmetern Grundfläche. Das Flachdach trägt auf einem sanften Hügelchen ein Oberlicht, das einem kleinen Treibhaus gleicht. Erst später werde ich die kunstvolle Balkenkonstruktion kennenlernen, die sich darunter befindet, und den gleissenden Lichtstrahl, der durch das Halbdunkel des Hausinnern wandert und eckige Sonnen an die blau gestrichenen Wände wirft. Das Dorf ist umgeben von terassierten Obstgärten. Die Bäume tragen noch gelbes und orangefarbenes Laub, ein Teil davon liegt kreisförmig um die Stämme. Es gibt keine Strasse, keine Strom- oder Telefonmasten, keine Schüsseln auf den Dächern. Man sieht ein paar Kühe, einige Esel. Frauen, die in grossen Schüsseln Wäsche waschen, Kinder schauen zu uns herüber und rufen, wir winken zurück. Auf einem Feld ein Mann, der mit zwei Ochsen pflügt. Das nächste Dorf am Fluss ist eine Tagesreise entfernt, zu Fuss, auf dem einzigen Pfad. Ins Innere des Landes führen Wege, die zuerst dem Seitenfluss folgen, dann in Serpentinen die Hänge hinaufziehen, zu den Pässen auf viereinhalb tausend Metern Höhe. Ich will nicht wissen, wie die Schlüsselstellen der Pfade aussehen. Wer einen Bibelfilm drehen wollte, müsste hier nichts verändern.

F provoziert eine Einladung zum Tee bald nach Kalaikhum. Er stellt mich in einem Dorf einer Gruppe von Männern vor, die Backgammon spielen. Einer, ein Geschichtslehrer, lädt uns zum Tee ein. Äpfel, Birnen, Granatäpfel, Feigen, Kandiszucker, Brot, Ayran, Rahm, es kommt immer mehr. Sehr friedlich, freundlich.

Nachts schaue ich mir die Szene auf dem Monitor meiner Kamera an. Während der ganzen Sequenz hört man das Plätschern des Brunnens im Hof. Fs Stimme, die auf englisch erklärt: Ähm - this fruits are all from his own garden. Nahaufnahme der Tassen, die einer der Männer ausgespült hat und zu einem kleinen Turm gestapelt umgekehrt auf die Decke stellt, wobei sich die oberste löst, sich dreht und, Klong!, auf den Tisch purzelt. Ich spule das Band zurück und wiederhole die Stelle zwei drei Mal in Zeitlupe.

Für Alexander den Zweihörnigen war der Fluss Pyandzh, den er Oxos nannte, die äusserste Grenze seines Reiches gegen Nordosten, gegen den Pamir und dessen unheimliche Bewohner Gog und Magog. Er stand auf der anderen Seite des Flusses und blickte unruhig dahin, wo wir heute unsere Nacht verbringen. Nach der Sure im Koran soll er die Völker des Pamir mit einer Mauer aus Eisen und Kupfer eingeschlossen haben bis zum jüngsten Tag.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen