Donnerstag, 16. April 2020

Pause 2


Niemand kann sich an eine vergleichbare Situation erinnern. Die spanische Grippe verursachte vor hundert Jahren eine Pandemie, und schon damals wurde das öffentliche Leben eingeschränkt, wenn auch nicht im gleichen Mass wie heute. Das Wissen über Viren und deren Verbreitung war noch jung, und man hatte eben den Ersten Weltkrieg überlebt. Wir werden erst nach ein paar Jahren wissen, ob es zu den jetzt verordneten Vorkehrungen bessere Alternativen gegeben hätte.

Unsere Quarantäne in der vertrauten Umgebung, in einem Haus mit Garten, ist keine wirklich schlimme Erfahrung, sollte es jedenfalls nicht sein. Wenn man etwas den Blick hebt über den Zaun, zum Beispiel nach Indien, wo eine riesige Zahl von Wanderarbeitern irgendwo im Land hängen geblieben ist. Weder in der Heimat, noch in der vertrauten städtischen Arbeitsumgebung, an einem Ort, den man sich nicht aussuchte und wo man nicht willkommen ist. Und die spärlichen Geldreserven sind schnell aufgebraucht. Man überlegt sich, ob man besser an Hunger oder am Virus sterben solle, wie einer in der Zeitung zitiert wird.

Meine Grosseltern väterlicherseits erkrankten als junge Eltern zweier Buben 1918 an der spanischen Grippe. Sie wurden so krank, dass beide gleichzeitig ins Spital mussten. Mein Vater war erst wenige Wochen alt, musste notfallmässig abgestillt und bei einer Nachbarin im Haus untergebracht werden. Der zweieinhalbjährige Bruder wurde zu den Verwandten nach Cornol gebracht. Die Grosseltern überlebten, obwohl sie zu der damaligen Risikogruppe der Zwanzig- bis Vierzigjährigen gehörten. Mein Vater hatte bei der freundlichen Nachbarin praktisch jede Nahrung verweigert und war zu einem kleinen Skelettlein abgemagert. Aber auch er überlebte, sonst gäbe es mich nicht.

Meine Mutter ist in einem Pflegeheim in Riehen. Vor der Pandemie ging sie jeden Tag mit ihrer Gehhilfe, dem Roulator, wie sie es nennt, in den Park, manchmal bis zu einer Stunde. Jeweils am Sonntagabend luden wir sie zum Nachtessen ein. Bei schönem Wetter kam sie zu Fuss, sonst nahm sie für beide Wege ein Taxi. Nun ist das alles nicht möglich, und niemand weiss, ob sie eine Aufhebung der Einschränkungen noch erleben wird. Trotzdem ist sie erstaunlich munter, pflegt ihre Blumen und arrangiert immer wieder neu, was dem Verwelken widerstand. Sie hat mir neulich am Telefon erzählt, dass sie als kleines Mädchen einmal wegen Masern für sechs Wochen im Kinderspital in Pflege und Quarantäne war, eine lange Zwangspause für ein Kind. Für mich wäre das sehr schwierig geworden.

Im Kindergarten hatte ich keine Vorstellung davon, was eine Pause sein könnte. Vielleicht wurde ja das gemeinsame Essen der mitgebrachten Äpfel und Brotschnitten als Znünipause bezeichnet, aber für mich war das nur eines unter den Ritualen, die man im Stuhlkreis abhielt, der merkwürdigerweise Stübli genannt wurde. Es gab einen asphaltierten Hof und auch etwas Grünfläche, die wegen der Hanglage des Kindergartens fast nirgendwo eben war. Draussen konnten wir die wilden Spiele machen. Mein liebstes war, in einen Holzreifen zu steigen, ihn mit seitlich ausgebreiteten Armen hochzuheben und dann, als Düsenjäger oder fliegende Untertasse, zwischen den andern herumzurasen. Auf dem Asphaltplatz mussten wir in Zweierkolonnen einstehen vor den Ausflügen. Das waren erzwungene Unterbrüche unserer andauernden Bewegung. Zu einem Fasnachtsumzug sollten wir uns einmal formieren, da waren wir schon kostümiert und hatten die selbstgemalten Masken aufgesetzt. Die Augenlöcher waren vom Fräulein gestanzt worden in einem einheitlichen Anstand und die Larven wurden kaum an die vielen Kindergesichter angepasst, so dass wir nur schlecht sehen konnten, wo wir hintraten. Alle Kinder des Doppelkindergartens sollten sich versammeln, halb blind und, wegen der Vorfreude auf den Umzug, zappelig. Es war schwer für die beiden Lehrerinnen, Disziplin und Ordnung in die Schar zu bekommen, und es dauerte lange. Weil mir die Warterei öd wurde, liess ich mich mit einem andern Bub auf ein Fangenspiel an Ort ein. Wir klatschten uns wechselseitig ab, bis der andere plötzlich davonrannte, und ich reflexartig hintendrein. An dieses Spiel konnte ich mich dann erst Wochen später erinnern. Ich erwachte mit verschleiertem Blick und rasenden Kopfschmerzen auf dem Bänklein in der Garderobe, umgeben von Erwachsenen, die wie Türme um mich aufragten. Ich erkannte die Schulärztin, die ich nicht mochte, und hörte sie sagen, sie werde mich jetzt zum Auto hinuntertragen. Das wollte ich auf keinen Fall und behauptete, ich könne selber gehen. Das heisst, ich meinte, das zu sagen, es kam aber kein Ton heraus. Man erzählte mir später, dass ich, mit der Maske vor dem Gesicht, kopfvoran in eine der Betonsäulen des Vorplatzes gerannt, zusammengebrochen und fast eine Viertelstunde lang bewusstlos gewesen sei. Ich hatte eine schwere Gehirnerschütterung, der Doktor stellte es an den ausbleibenden Reflexen fest. Die Kopfschmerzen waren schlimm und liessen erst nach zwei Tagen nach. Dann aber hatte ich genug davon, ruhig zu liegen. Als am dritten Tag der Hausarzt ins Zimmer trat, war ich gerade im Begriff, meinen Salto von der Kommode aufs Bett zu verbessern. Der Arzt riet meinen Eltern, mich wieder in den Kindergarten gehen zu lassen. Bevor etwas Schlimmes passiere.

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