Dienstag, 21. April 2020

Zolligeschichten 1


Als Zolligeschichten bezeichnete meine Frau früher Erzählungen von mir, über Dinge und Begebenheiten, die nach ihrer Meinung vor allem mich interessierten, weniger die Zuhörer. Vor allem in den Augenblicken, in denen ich zu solchen Geschichten anhob, wo ein persönliches Gespräch unter den Anwesenden möglich oder gerade am Entstehen gewesen wäre, das ich nun aber mit der ausführlichen Schilderung eines zwar an sich interessanten, aber im Moment eher peripheren Gegenstandes abgewürgt, wenn nicht für die verbleibende Zeit der Begegnung verunmöglicht hätte. Die mitschwingende Unterstellung, ich weiche auf diese Weise, oder gar generell, einem Austausch mit meinen Gesprächspartnern aus, sagen wir, über unsere aktuelle Befindlichkeit, über die Beziehungen, oder über die Dinge, welche die andern wirklich interessierten, musste ich natürlich zurückweisen, auch wenn sie vielleicht da und dort zutreffen mochten. Ich empfand meine Zolligeschichten nicht als Ausweichmanöver. Mich interessieren einfach sehr viele Dinge, unter anderem Geschichten von und mit Tieren.

Als ich in der dritten Primarklasse war, brachte unser Lehrer drei junge Kätzchen mit ins Klassenzimmer. Aus umgekippten Turnbänken hatte er ein Gehege gebaut, ein paar Kartonschachteln und -röhren hineingelegt, auch ein zwei alte Kissen, und in diese Installation die Katzenbabys hineingesetzt. Wir durften ringsherum Platz nehmen, in der ersten Reihe knieend, dahinter auf Stühlen, wir waren über dreissig Schüler, es war also eng. Was wir zu sehen bekamen, war für die meisten neu. Die Kätzchen waren zuerst sehr eingeschüchtert und versteckten sich in den Schachteln, dicht aneinandergedrängt. Bald aber begannen sie, die neue Umgebung zu erkunden, dabei in der ihnen eigenen drolligen Weise sich von allem und jedem sekundenweise ablenken zu lassen, von einem Staubfussel, der angefallen werden musste, vom eigenen Schwanz, der im Augenwinkel auftauchte und, weil er nicht zu erhaschen war, zu einem wilden Wirbeltanz verleitete. Wenn eines in einer Röhre verschwand, musste ein anderes von der Gegenseite nach dem Rechten schauen, die Begegnung in der Mitte konnten wir nicht sehen, aber dass sie zu einer wilden Balgerei in grosser Enge führte, konnte man an der Bewegung der Kartonhülse erkennen. Unser Gelächter und die vielen Jöööh's erschreckten die Tiere nur am Anfang.

Der Lehrer eröffnete uns schliesslich den tieferen Zweck seiner Vorführung. Er musste die Kätzchen loswerden, wir sollten also zu Hause fragen, ob wir vielleicht eines bei uns aufnehmen dürften. Ich habe nicht gefragt, wie mir später immer wieder unter die Nase gerieben wurde, sondern meine Mutter beschworen. Mami, ich muss unbedingt so ein Kätzchen haben, bitte, bitte, bitte. Und so durfte ich eines haben, einen fast ganz weissen Kater mit getigertem Schwanz, und ein paar dunkeln Tupfen über den Ohren und auf dem unteren Rücken. Er hatte keinen richtigen Namen, wir riefen ihn einfach Busi, worauf er nach kurzer Zeit sehr gut hörte. Ich erinnere mich noch an die erste Nacht, als er bei uns war. Meine Eltern waren nicht zu Hause. Ich nahm den kleinen Kater zuerst zu mir ins Bett und spielte noch eine Weile mit ihm. Als ich dann schlafen wollte, wurde es schwierig, weil er sich entweder möglichst auf mich oder ganz nahe an mich legen wollte und dabei unglaublich laut schnurrte und mich mit den Vorderpfötchen tretend bearbeitete. Oder aber er ging wieder auf die Jagd nach allem, was sich bewegte. Wenn ich einen Zeh auch nur um einen Millimeter rührte, sprang er ihn mit voller Wucht seines kleinen Körpers an und stach mich mit seinen scharfen Krallen durch alle Stoffschichten hindurch empfindlich. So trug ich ihn schliesslich schweren Herzens hinaus. Weil er meine Absicht durchschaute und immer von neuem versuchte, zwischen meinen Beinen hindurch ins Zimmer zurück zu wischen, musste ich ihn schliesslich überlisten, indem ich ihn auf meinen Pullover bettete. Den traktierte er schnurrend mit seinem Milchtritt, und geriet dabei so in Extase, dass ich mich davonstehlen und die Türe zumachen konnte.

Der Kater wurde nie kastriert, er durfte die pelzigen Marmeln unter seinem hocherhobenen Schwanz das ganze Leben lang spazieren führen, mit allen Konsequenzen. Wir stellten fest, dass es nach ein paar Jahren in der Umgebung immer mehr weisse Katzen mit getigertem Schwanz gab. Mani Matters Lied vom Ferdinand und den vielen Ferdinändli im Quartier war daher für mich klar ein Lied auf unseren Kater. So friedlich wie Matters Ferdinand war er aber nicht. Er kämpfte zur Verteidigung seines riesigen Reviers, wir bekamen Berichte von Sichtungen unseres Katers bis hinauf an den Rand des Hörnliwaldes. Und seine Ohren wurden zuerst gefranst, dann durch die sich alljährlich wiederholten Verletzungen etwas kürzer und unregelmässig gerundet. Sein mächtiger Kopf wurde dadurch noch imposanter. Manchmal kam er mehrere Tage nicht nach Hause. War er schwer verwundet, hörte man das an seinem Ruf, wenn er unten zur Küchentür hereinkam. Meine Mutter sagte, wenn sie diesen lang gezogenen Klagelaut vernahm, immer schnell, ich solle gehen und schauen. Sie wolle das gar nicht sehen. Wir waren mit dem Kater nie beim Tierarzt, soweit ich mich erinnern kann. Ich wusch seine Wunden mit Kamillentee, er legte sich für mehrere Tage auf den Fenstersims und schlief durch, so lange, bis es ihm wieder besser ging. Die Narben unter dem Fell waren deutlich spürbar, wenn man ihn streichelte.

Der Kater lebte immer noch, als ich aus dem Elternhaus auszog, da war er schon dreizehn oder mehr Jahre alt. Mein Vater und seine zweite Frau kümmerten sich weiter um ihn. Kurz vor seinem Tod, oder besser, vor seinem letzten Verschwinden, tauchte ein junges, ausgehungertes Kätzchen auf, das sich an seinen Futternapf heranschlich und daraus frass. Natürlich kam unser Maudi, als er es merkte, angerauscht und wollte den Futterdieb verdreschen. Das Kätzchen aber duckte sich auf den Boden und hob auffordernd sein Hinterteil in die Höhe, ein einfaches Angebot, sex for food. Der Alte liess sich nicht lange bitten, besprang sie, und erlaubte ihr zu fressen. So ging das einige Tage lang, bis sich Leute aus der Nachbarschaft bei meinem Vater und seiner Frau meldeten. Ihnen sei ein kleiner Kater entlaufen, und jemand habe gesagt, er sei in ihrem Garten gesehen worden. Man wies auf den Umstand hin, dass es sich bei dem Besuch um eine Katze handle, und nicht um einen Kater, aber man machte ab, das Tier mit einem Trick zu fangen und zu schauen. Die kleine Katze war sehr scheu und liess sich nicht anfassen, also musste man sie mit Futter in die Küche locken und die Türe hinter ihr mit einer Schnur zuziehen. Als sie gefangen war und er sie auf den Arm nehmen konnte, stellte mein Vater fest, dass es sich tatsächlich um einen Kater handelte!

Mein alter Kater kam eines Tages einfach nicht mehr zurück von seinen Wanderungen. Ein würdiger Abgang,fanden wir.











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