Donnerstag, 9. April 2020

durch die Nase


Ich habe mich kürzlich dabei ertrappt, wie ich den Atem angehalten habe, als mir jemand näher als zwei Meter kam. Ich weiss nicht, was mich dazu bewogen hat, ob es die Überlegungen anderer war, die darüber gesprochen und sich überlegt hatten, ob dies einen Schutz gegen die Virusinfektion durch Tröpfchen biete. Oder hat es einen alten Reflex bei mir aktiviert, die Luft anzuhalten, oder nur durch die Nase zu atmen, wenn mir der Geruch eines andern Menschen zu viel war? Bei Parfüms bin ich sehr heikel, es gibt nur ganz wenig Dürfte, die mir zusagen, und wenn jemand in eine Wolke eingehüllt dahersegelt, macht mich das richtig hässig. Vor ein paar Jahren überholte ich auf der Finnenbahn eine Frau, die eine dicksüssliche Spur hinter sich herzog. Leider hatte ich nur kurze Zeit Ruhe, weil sie, wie ich, mehrere Runden lief und ihr Duft bald, als Schlange, die sich in den Schwanz biss, über dem ganzen Rundlauf hing. Ich brach mein Programm ab und rannte in den Wald.

Du hattest früher eine sehr feine Nase, sagte meine Frau kürzlich zu mir, und meinte damit, mein Geruchssinn habe nachgelassen. Ich reagierte abweisend, weil es stimmt. Und weil es mich schmerzt. Als Kind habe ich auf Gerüche überempfindlich reagiert, mit ausgeprägten Vorlieben und Aversionen. Es war für mich ein Drama, wenn der Bär gewaschen wurde. Bananen, die es noch selten gab, liebte ich, aber wenn sie überreif wurden, konnte ich sie wegen ihres strengen Geruchs nicht mehr essen. Überhaupt hatte ich eine Abneigung gegenüber allem, was fermentiert war, ertrug nur den mildesten Käse, Emmentaler, Edamer. Auch bei Butter und Milch war ich heikel, wie meine Mutter auch. Gegenüber Parfüms und leise darunter dampfenden Körpergerüchen reagierte ich sehr heftig. Viele Menschen, vor allem Erwachsene, waren mir wegen ihres Geruchs sympathisch, oder aber ich hasste sie, unbelehrbar. Wenn mir nicht klar war, woher ein Geruch kam, neigte ich dazu, ihn an Personen oder einem Ort festzumachen. In einer Wolke des Wohlgeruchs oder des Gestanks wurden mir wildfremde Menschen zu Freunden oder Feinden. In meiner Kindheit rochen oft ganze Quartiere intensiv, je nach Wetterlage und Windrichtung. Thomy und Frank überzogen ganz Kleinbasel und Riehen mit dem Geruch gerösteter Zichorie, wenn sie ihren Kaffeeersatz Incarom produzierten. Ich verband diesen intensiven Duft mit angenehmen Gefühlen, wahrscheinlich mit dem Sonnenschein und der Wärme bei Südwestwind, und mit der Möglichkeit, draussen zu spielen. Den süsslichen Geruch der Bierbrauerei Warteck, der sich beim Maischen entwickelte und über das ganze Wettsteinquartier stülpte, hasste ich dagegen. Ich roch ihn, wenn ich um zwölf Uhr hungrig und vom Schulmorgen frustriert auf dem Platz stand zum Umsteigen. Es gab auch Gerüche, die mich durch ihre Ambivalenz plagten, wie zum Beispiel der Weihrauch in der Kirche, den ich widerlich anziehend empfand. Ich merkte früh, dass Erinnerungen an Gerüche bei mir starke Gefühle auslösten. Einmal spielte ich mit kleinen Holzschiffchen in einem Waschzuber im Garten. Sie waren bemalt und lackiert gewesen, wovon man aber nur noch Reste erkennen konnte, so dass sich das Holz mit Wasser vollsog. Es stupfte mich etwas, und ich roch daran. Und wurde fortgerissen in einem Strudel von vagen Bildern, Erinnerungen an Ferien vor ein zwei Jahren irgendwo am Wasser, in der Wärme der Sonne und der geliebten Grosstante. Die Gerüche des feuchten Holzes und des alten Lacks waren harzig, und ich habe später immer wieder an nassen Holzstücken gerochen im Versuch, das Erlebnis zu wiederholen. Ich begegnete dem Geruch nur noch einmal, in der Werkstatt eines Bootsbauers, aber der Zauber hat sich nicht mehr eingestellt.

Meine Nasengänge sind im Laufe des Alterns immer schmäler geworden. Schon bei leichter Anstrengung atme ich nur durch den Mund. Und ich neige zu chronischen Entzündungen der Atemwege, was früh begann und sich in den letzten Jahren verstärkt hat. Zudem gibt es eine Veranlagung für den abnehmenden Geruchssinn, bei meinem Vater und seiner Schwester war das so, dass sie im Alter nichts mehr rochen. Vielleicht bleibe ich davon verschont.

Es gibt sicher ein Dutzend Holzarten, die ich, wenn sie gesägt oder geschliffen werden, blind am Geruch erkennen könnte. Erkennen kann, denn jetzt musste ich ausprobieren, ob es noch geht. Wie riecht Lindenholz, wenn es gedrechselt wird. Eben wie Lindenholz. Das ist die Crux bei der Beschreibung von Gerüchen, man kann nur mit Vergleichen arbeiten, indem man das ganze Bouquet oder Komponenten davon mit einem allgemein bekannten Geruch zusammenbringt. So riecht Linde süsslich, und ein bisschen wie frisch gebackenes Brot. Buchsbaum erinnert dagegen an Getreide, bei Eiche kann man einen Hauch von Vanille ausmachen. Buche riecht frisch, säuerlich, und ist fast nur mit sich selbst identisch. Es riecht nach den Klötzen in den Baukästen. Eibe erscheint im Geruch nicht giftig, sondern würzig, wie Weihrauchkörner, während Olivenholz nach süsslichem Pfeifentabak riecht. Und endlich weiss ich jetzt, warum mich die Hagebuche so irritiert hat beim Sägen und Drechseln. Das fast weisse Holz ist nicht nur hart wie Knochen, es riecht auch so. Wenn wir in der Werkstatt der Schule Knochen sägten, was selten einmal für ein spezielles Projekt nötig wurde, dann verliess die Hälfte der Schüler fluchtartig den Raum. Manche wollte lange nicht zurückkehren, weil ihnen schlecht geworden war. Eine archaische Abneigung, denkt man.
Ich habe schon als Kind sehr stark auf Gerüche angesprochen. Kamerun war in dieser Beziehung eine grosse Herausforderung. Ich erlebte neue Geruchswelten, die mich faszinierten und manchmal auch überwältigten. Begeisternd, die Gerüche von Garküchen und kleinen Grillbuden, von exotischen Gewürzen und Parfüms, vom dampfenden Regenwald nach einem Gewitter. Irritierend, der fast allgegenwärtige Geruch vergorener Früchte, vor allem von Mangos. Oder von Fleisch und Blut an den Ständen der Metzger, und von Schweiss, ungewaschenen Körpern und billigen Zigaretten in den Buschtaxis. Ekelerregend, die Ausdünstungen eines Betrunkenen, der in einen kleinen R4-Taxi zusteigt und nach saurem Palmwein und Pisse stinkt. Das war sogar dem einheimischen Fahrer zu viel.

Anders als visuelle Eindrücke, ähnlicher den akustischen, gehen die olfaktorischen direkt ins Gehirn. Von einer speziellen Schleimhaut in der obersten Nasenhöhle, in welche die empfangenden Nervenzellen ihre fadenförmigen Tentakel ausstrecken, und sich nach oben, durch die Löchlein eines feinen Knochensiebs, direkt mit dem riechenden Kolben verbinden, einer Ausstülpung des Gehirns, führt der Weg von aussen nach innen, von den herumfliegenden Molekülen zum Mischpult, wo der Charakter des Dufts in einen singulären Code übersetzt wird. Die weitere Verarbeitung dient der schnellen Einordnung eines Geruchs in Bedeutungszusammenhänge, die für das Überleben wichtig sind. Ist es essbar oder nicht, ist es gefährlich oder nicht, soll man sich damit paaren oder nicht. Kein Wunder, fand man die primären Orte solcher Auswertung in Gehirnregionen, die entwicklungsgeschichtlich alt sind, im limbischen System, in dem unsere Gefühle ihre Wurzeln haben, und wo Erlebtes mit Bedeutung und Wert versehen wird, der Erinnerung oder dem Vergessen anheimgegeben wird. Von dort an wird es komplex, kreuz und quer gewitternd durch das Netzwerk, sich verbindend mit Begriffen und Namen, Stimmen und Melodien, Bildern und Körperemfindungen, Erinnerungen und aktuellem Erleben. Wer soll sich da auskennen, wo man für kleine Schrittchen des Erkenntnisgewinns den Nobelpreis bekommt.

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