Samstag, 24. Juli 2021

Caughs and Sneezes

Es sah nicht so aus, als müsste Mr. Leslie in den Krieg ziehen, wenigstens vorläufig. Julia interessierte sich nicht für die verschiedenen Abteilungen der Armee, also hätte sie nicht zu sagen gewusst, wo der Dienstherr eingeteilt worden war. Er sass in einem Büro eines der Rekrutierungszentren der Stadt, soviel war klar. Und er durfte nur an den Wochenenden nach Hause kommen. Seine Frau hatte längst wieder ihre Einsätze bei Wohltätigkeitsbällen aufgenommen und war häufig ausser Haus. Mitten im harten Winter war die kleine Rhoda von der Muttermilch entwöhnt worden, weil Mrs. Leslie sich zunehmend erschöpft gefühlt hatte. "Sie saugt mich aus! Zuletzt werde ich noch zusammenfallen wie ein leerer Handschuh!", war ihre Klage. Zu Beginn gestaltete sich die Umstellung nicht einfach für Rhoda, und in der Folge auch für Julia, die sie füttern und dabei alle möglichen, von der Dienstherrin gekauften Pulver anrühren musste, formula products nannte sie diese. Erst als sich das Interesse der Mutter vom Problem der Ernährung ihrer Tochter weg zu den Tanzveranstaltungen in der City verschob, konnte Julia, zusammen mit Victoria, der Köchin, selber ausprobieren, was dem kleinen Mädchen schmeckte und, ebenso wichtig, keine Blähungen verursachte. Jetzt, im späten Sommer, waren Rhodas Breie leicht, sie mischten zerdrückte Blaubeeren hinein oder geraffelten Apfel, von der frühen und sehr kleinen Sorte, welche Victoria bei einem Bauer der Umgebung direkt kaufte und als Strawberry Parfait bezeichnete. Die schmeckten ausgezeichnet und erinnerten Julia an die Äpfel aus dem Garten in Cornol. Mittlerweile konnte man Rhoda auch einen Apfelschnitz in die Hand geben ohne Angst zu haben, sie verschlucke sich daran. Sie war ein kleines Mädchen geworden, hatte im Mai zu laufen begonnen und tappte nun schon sehr unternehmenslustig im Garten umher, wenn man sie liess. Ihr Bruder sollte nach der Sommerpause in den "richtigen" Kindergarten kommen, wie er allen erzählte, die es noch nicht wussten. Inzwischen sah er in der kleinen Schwester keine Bedrohung seiner Position in der Familie mehr. Es war ihm erlaubt, die Türe seines Zimmers zu schliessen, wenn er seine Eisenbahn aufgestellt hatte, oder die Soldatenfiguren, mit denen er seine Vorstellungen des Kriegs verarbeitete. Er hing sehr an Rhoda, war rührend um sie besorgt, tröstete sie, wenn sie weinte, und schaute mit ihr geduldig die immer gleichen Bilderbücher an. Für Julia war er manchmal schon eine richtige Hilfe, und ein willkommener Gesprächspartner. Sie redete zu ihm so als würde er alles verstehen, nicht wie seine Mutter, die sich ihm gegenüber übertrieben einfacher Wörter und Sätze bediente und dabei sogar ihre Stimme in die Höhe, in den Kopf, rutschen liess. Die Kosenamen, mit denen George dabei bedacht wurde, konnte sich Julia gar nicht alle merken. Wollte sie auch nicht, seit sie einmal im Wörterbuch nachgeschlagen hatte, was zum Beispiel cuddle bug hiess. Sie fand, den Sohn sollte man nicht Kuschelwanze nennen, auch wenn es lieb gemeint war. Sie ertappte sich auch sonst zuweilen dabei, dass sie etwas besser zu wissen meinte als die leibliche Mutter der Kinder. Das war gefährliches Gelände, dessen war sie sich bewusst und hielt sich zurück, so gut sie konnte.

Meldungen über die Entwicklung einer weiteren Epidemie bereiteten ihnen natürlich allen Sorge. Es war schwierig, sich einen Überblick zu verschaffen, worum es sich bei dieser Krankheit handelte, wo und wie sie sich ausbreitete, und ob für sie, vor allem für die Kinder, eine Gefahr bestünde. Von den ersten Nachrichten in den Zeitungen, die offenbar schon im Frühling aufgetaucht waren, hatten sie gar nichts mitbekommen. Damals war von einer Erkrankung des spanischen Königs an einer besonders aggressiven Form der Grippe berichtet worden. Obwohl es sich bald herausstellte, dass die sich nun so rasant ausbreitende Krankheit ihren Ausgang eher von den Vereinigten Staaten genommen hatte, in Ausbildungszentren der Soldaten in Kansas, von wo sie sich dann mit deren Verlegung an die Küste und von dort nach Europa weiter verteilte, redete man nun fast nur noch von der spanish influenza, der Spanischen Grippe. Jetzt berichteten die Zeitungen täglich davon. Während einige die Ausbreitung der Krankheit nicht sonderlich ernst zu nehmen schienen und sich mit Cartoons über das Tragen von Gesichtsmasken lustig machten, druckten andere Warnungen in fetten Buchstaben – Coughs and Sneezes Spread Diseases – und zeichneten ein düsteres Bild, indem sie von überfüllten Krankenstationen und sogar von Friedhöfen schrieben, die keinen Platz mehr fänden für die Toten. Nach einer ersten Attacke von Panik, die sie in der Erinnerung an die letzte Epidemie ergriffen hatte, beruhigte sich Mrs. Leslie wieder etwas, als man erfuhr, dass nicht wie bei einer normalen Grippe in erster Linie die Kinder und Betagten betroffen seien, sondern die Zwanzig- bis Vierzigjährigen. Dass sie selber in diese Kategorie fiel, schien sie weniger zu beunruhigen als die Sorge um ihre Kinder. Dann kam die Meldung, Georges Kindergarten würde nach der Sommerpause gar nicht eröffnet. Auch andere Schulen blieben geschlossen. In einigen Staaten, vorläufig nicht in New York, mussten Kinos, Tanzlokale, dann sogar Sonntagsschulen ihre Tore schliessen, weil sich immer deutlicher abzeichnete, wie sich die Krankheit ausbreitete, nämlich bei grossen Menschenansammlungen. Mrs. Leslie musste schweren Herzens eine Tanzveranstaltung im Herbst absagen, deren Planung schon weit gediehen war. Als die ersten unter ihren Freundinnen und Bekannten krank wurden, befand ihr Mann, sie solle mit den Kindern für ein paar Wochen nach Long Island fahren. Es gelang ihm, ein Haus in Oyster Bay zu mieten, in dem sie schon einmal die Sommerzeit verbracht hatten, und er bekam auch zwei Tage dienstfrei, um seine Familie und die Hausangestellten dorthin bringen zu können.

Julia freute sich auf einen Ortswechsel, ganz besonders aufs Meer. Sie wollte anlässlich des sonntäglichen Kirchenbesuchs Mathilde und Josephine Bescheid sagen, dass sie wohl mehrere Wochen abwesend sein würde, aber die grosse Sonntagsmesse war abgesagt. Sie mussten sehr früh aufstehen, um die Frühmesse besuchen zu können, alle mit Stoffmasken ausgerüstet, die man zum Glück im Gemeindehaus kaufen konnte. Nur der Priester trug keine, und sie durften sie zur Kommunion auch kurz ausziehen. Sie und Mathilde fanden das alles übertrieben, Josephine aber sagte nichts dazu. Sie schien bedrückt zu sein. Als sie nach der Kirche beim Kaffee sassen, zog sie einen Brief von zuhause aus der Tasche, Célina hatte geschrieben.
"Schlechte Nachrichten, leider", sagte Josephine.
Jean Baptiste und Anna hatte man schwer krank ins Spital bringen müssen, beide mit Lungenentzündung, und man bete, dass sie es überstehen würden. Die Schwestern waren entsetzt.
"Was!? Aber sie haben doch die beiden Kleinen!
"Was ist mit ihnen, wo sind die jetzt?"
Josephine las weiter vor. Der kleine Jean Baptiste, jetzt zwei Jahre alt, war in Cornol untergebracht worden. Pierre, den Anna noch gestillt hatte, musste entwöhnt und bei einer lieben Nachbarin im Haus untergebracht werden, einer Frau Lütholf. Mathilde wollte wissen, wann der Brief geschrieben worden sei. Josephine schaute auf den Stempel.
"Vor zweieinhalb Wochen. Es ist aber kein Telegramm gekommen, ich hoffe, das heisst, dass sie die Krankheit überstehen – schon überstanden haben. Hoffentlich, lieber Gott!"
Julia wollte wissen, ob das jetzt die Spanische Grippe sei, welche den Bruder und die Schwägerin heimsuche. Mathilde meinte, ja.
"Es beginnt wie eine normale Grippe, habe ich gehört, mit Husten, Fieber, Kopfweh und Gliederschmerzen. Irgendwann wird es entweder besser und du bist wieder gesund, oder es gibt eine Lungenentzündung daraus. Und die..."
"Hör auf!", unterbrach sie Julia. Sie wollte sich das nicht vorstellen, plötzlich war die Krankheit so nahe. Sie streckte die Hände nach ihren Schwestern aus und begann zu schluchzen.
"Heilige Mutter Gottes, nicht Jean Baptiste, bitte, nicht ihn!"
Mathilde versuchte sie zu trösten und abzulenken.
"Komm, komm! Jean Baptiste ist zäh, und Anna sicher auch. Er nennt sie ja seine Habsburgerin. Die überstehen das! – Wann fährst du?"
Julia trocknete sich die Augen und sagte:
"Übermorgen. Ich wäre gern mit dem Zug gefahren, aber wir nehmen das Auto wegen dieser blöden Grippe. Ich weiss gar nicht, wie lange man braucht bis Oyster Beach. – Ich werde dich anrufen, vielleicht nächste Woche. Bis dann weiss man hoffentlich, ob es gut ausgegangen ist."

Mrs. Leslie und die Kinder blieben schliesslich bis in den Herbst auf Long Island. Julia konnte ihren Aufenthalt erst geniessen, als sie anfangs Oktober endlich von der Genesung ihres Bruders und der Schwägerin erfuhr. Sie hatte ein langes Telefongespräch mit Mathilde, das freundlicherweise von deren Dienstherrin, Mrs. Bayne, bezahlt wurde. Den beiden kleinen Buben war es unterschiedlich ergangen. Während der ältere, Jean Baptiste Junior, in einer doch einigermassen vertrauten Umgebung in Cornol von den Grosseltern verwöhnt und verhätschelt worden war, fremdelte der kleine Pierre bei der lieben, aber halt sehr beschäftigten Nachbarin und wollte über Wochen fast nichts essen. Dabei sei er bis auf sein winziges Skelett abgemagert und habe erst langsam wieder aufgepäppelt werden können. Nun gehe es aber aufwärts mit der jungen Familie, und Jean Baptiste hoffe, bald wieder seinen Dienst antreten zu können. Sie fragte ihre Schwester, wie es in der Stadt mit der Grippe stehe.
"Tja, man sagt, der Höhepunkt ist noch nicht erreicht. Es scheint aber noch immer besser zu sein als in Boston oder Philadelphia, obwohl sie hier weder die Schulen noch die Theater und Kinos je ganz zugemacht haben. Copeland, das ist der Gesundheitskommissar, von dem jetzt überall gesprochen und geschrieben wird, der fand immer, es sei besser, öffentliche Ansammlungen von Menschen dazu zu benützen, die Hygienevorschriften zu erklären. Und das ist schon verrückt. Du musst dir vor jedem Konzert oder Film diese Vorträge anhören, von irgendwelchen weiss gekleideten Menschen mit Mikrofon. Ob das Wissenschaftler, Ärzte und Krankenschwestern sind, wie sie behaupten, weiss kein Mensch, die tönen eher wie Schauspieler. Viel zu reden gaben die gestaffelten Bürozeiten, die einfach befohlen wurden. Mit denen man das Gedränge in den Zügen, der Metro und den Omnibussen verhindern wollte. Man sagt, es habe nicht so viel gebracht, weil sich manche Unternehmer weigerten, das zu machen. Gut sind die vielen Gesundheitszentren, die sie eingerichtet haben, ich glaube, weit über hundert."
"Was sind das für Zentren, was macht man dort?", wollte Julia wissen.
"Einige sind Kliniken, in denen die Kranken behandelt werden, die keinen Platz in den Spitälern mehr finden. Die meisten sind aber Unterkünfte für Krankenschwestern, die in den Quartieren zu den Familien gehen, wo es Kranke gibt. Seit September muss eigentlich jeder gemeldet werden, der die Spanische Grippe hat, oder bei dem man denkt, er habe sie. Und eigentlich müssen die Kranken isoliert werden, damit sie nicht alle in der Umgebung anstecken. Du kannst dir vorstellen, wie schwierig das ist in den Mietshausvierteln, zum Beispiel in der Lower Eastside.
"Ja, schlimm! Wie geht es denn jetzt weiter? Müssen wir jetzt immer Masken anziehen?"
"Ich weiss es nicht. Seit einer Woche stecken sich wieder viel mehr Menschen an, es ist wie eine neue Welle. Und die Krankheit ist wirklich schlimm, wenn sie ausartet, Julia. Eine aus Cornol, du kennst sie auch, die Alice Gaignat, so alt wie wir etwa, ist letzte Woche gestorben. Ihre Schwester hat mir erzählt, wie das war. Furchtbar! Sie wollte am Schluss nicht mehr liegen, weil sie keine Luft bekam. Hat dauernd Schleim und Blut gespuckt, ihr Gesicht, die Hände und Füsse wurden ganz blau. Und sie hatte so Angst! Es war eine Erlösung, als sie endlich sterben konnte."
Julia schluckte und schluckte. Sie konnte nichts sagen.
"Julia?"
"Ja, ich bin noch da."
"Du ziehst lieber diese Maske an, wenn du nahe bei andern bist. Man gewöhnt sich daran."
"Kann man denn sonst nichts machen gegen die Krankheit? Impfen zum Beispiel?"
"Mr. Bayne kauft immer die Washington Time und liest uns die Artikel vor, die ihn interessieren. Da stand vor kurzem, sie hätten in Boston mehreren Marines einen Orden verliehen, die gar nie im Krieg gewesen waren. Sie hatten sich freiwillig gemeldet für einen Versuch mit Blutserum von Menschen, welche die Grippe überstanden haben. Die haben sich das Zeug einspritzen lassen, stell dir vor! Ohne zu wissen, ob sie nicht sterben davon."
"Und, sind sie gestorben?"
"Nein, offenbar haben sie es überlebt. Und es stand noch, die Ärzte und Wissenschaftler hätten bei dem Versuch viel Neues erfahren über die Krankheit. Wir werden sehen."
Julia hörte Mathilde am Telefon husten und machte sich gleich Sorgen.
"Hast du Husten? Pass bitte auf dich auf! Trink viel Milch!"
Mathilde lachte.
"Ja, Maman, mache ich. Du aber auch!"

Die Miete des Hauses war teuer, wie sie aus den Gesprächen der Herrschaften erfuhr. Es war aber auch grösser als ihr eigenes in Short Hills, sie brauchten längst nicht alle Zimmer. Und weder sie noch die anderen Hausangestellten hatten je so grosse Räume ganz für sich gehabt. Die Aussicht aus ihrem Zimmer, auf die Bucht und einen Teil der Küste, war atemberaubend schön. Morgens um halb sieben, wenn die Kleine aufwachte, schien ihr die aufgehende Sonne direkt aufs Bett. Im Gegenlicht sah man die Farbigkeit der Herbstbäume noch nicht, später aber, wenn sie beim Frühstück sassen und aus dem Fenster schauten, war das Leuchten des Laubs fast unwirklich. Sie war viel draussen mit den Kindern, man hatte seine Route mit dem Kinderwagen von Rhoda. Auf einem kleinen Trittbrett konnte George mitfahren, wenn er nicht mehr laufen mochte. Sie gingen immer zuerst zum kleinen Hafen um den Fischerbooten zuzuschauen, wenn sie vom nächtlichen Fang zurückkamen. Dann ging es einen mit grossen Steinplatten belegten Weg der Uferkante entlang, bis er in einen sandigen, über die Dünen ansteigenden Pfad überging, der mit dem Wagen knapp zu bewältigen war. Aber dahinter war das Paradies für die Kinder, ein endloser Strand mit feinem Sand, mit einem schmalen Streifen aus Tang und allerlei Treibgut, Muscheln und Schneckenhäusern. Am Anfang ihrer Zeit in Oyster Bay hatten sie hier oft gebadet, das Meer war meist ruhig gewesen, das Wasser angenehm warm und das Ufer bis weit draussen flach abfallend. Jetzt gingen sie nur noch mit den Füssen und Waden ins Wasser, morgens und abends brauchte man bereits einen Pullover oder eine Windjacke. Hier am Strand hatte es auch viele andere Kinder gegeben, was vor allem für George wichtig war. Er war oft traurig, dass er nicht in den Kindergarten gehen konnte, vor allem jetzt, wo die Familien aus New York wieder zurückgefahren waren und nur noch wenige übrig blieben. Es war schwierig, ihm die Situation mit der Krankheit so zu erklären, dass er sie verstand. An die Masken tragenden Erwachsenen hatte er sich aber gewöhnt, wie Rhoda, die unbeirrbar fröhlich blieb, solange vertraute Menschen um sie waren. Julia ging es gut hier. Sie kam mit Joseph, seit der kurzen Affäre und der abschliessenden Auseinandersetzung, sehr gut zurecht. Er hatte es tatsächlich geschafft, zu seiner Molly zu stehen und sie, als sie schon einen dicken Bauch herumtrug und zum Gespött zu werden drohte, zu heiraten. Er arbeitete nicht mehr jeden Tag für die Leslies, und war auch jetzt früher nach New York zurückgereist, um bei seiner Frau und dem kleinen Joseph sein zu können. Dadurch war Julia wieder sehr eingespannt, aber sie hatte sich daran gewöhnt, den ganzen Tag auf die Kinder aufzupassen und daneben auch noch aufzuräumen und zu putzen. Aus Mrs. Leslie wurde sie nicht schlau. Jetzt, wo sie nicht Bälle organisieren konnte, war sie wieder hauptsächlich mit dem Anschauen von Katalogen beschäftigt. Sie hatte auch angefangen, sich Dinge aus der Ferne per Post nach Long Island bringen zu lassen, Gartenmöbel, Haushaltgeräte und Geschirr, Kleider und Schuhe. Wenn etwas nicht passte, packte sie es wieder ein und gab es dem Postboten mit. Julia hatte keine Ahnung, ob sie dann etwas anderes dafür erhielt oder ob das Geld zurückbezahlt wurde. Für die Kinder schien sie sich nicht wirklich zu interessieren. Zwar war sie immer besorgt, es könne ihnen etwas zustossen, und sie gurrte und turtelte mit hoher Stimme, wenn sie sich an die Kleinen wandte, erfand dabei immer neue Kosenamen. Aber wenn die Kinder etwas von ihr wollten, ein Kinderbuch erzählt bekommen, ihr etwas zeigen oder erzählen, mit ihr etwas spielen, dann hatte sie oft gerade keine Zeit. Oder sie ging zwar kurz auf den Wunsch ein, man sah aber an ihrem abwesenden Blick und ihrem Verhalten, dass sie woanders war mit den Gedanken. Manchmal lief sie auch einfach davon, ohne sich zu erklären, und liess die Kinder verwirrt zurück. Wenn Mr. Leslie an einem Wochenende frei hatte und es ihm gelang, hierher zu fahren, dann wollte sie sofort und möglichst lange mit ihm ausgehen, und die Kinder hatten auch dann wenig von ihren Eltern. "Es geht ihr nicht gut", dachte Julia, und fragte sich, wozu die Menschen eigentlich Kinder hätten.

Es war denn auch Mrs. Leslie, die Mitte Oktober darauf drängte, wieder nach New Jersey zurückzukehren. Georges Kindergarten hatte angekündigt, seine Türen wieder zu öffnen, obwohl sich die Grippe wieder vermehrt ausbreitete. Man wollte die Kinder in zwei Gruppen einteilen und diese abwechselnd betreuen. Zudem versprach die Leiterin, möglichst viele Aktivitäten ins Freie zu verlegen, wann immer es das Wetter zuliesse. George freute sich unbändig, als er davon erfuhr. Auch Mrs. Leslie schien es auf einmal eilig zu haben, nach Hause zu kommen. Ihr Ehemann war damit sehr einverstanden, wie er telefonisch mitteilte. Er konnte ihnen aus dienstlichen Gründen bei der Rückreise nicht beistehen und wollte sie am kommenden Wochenende in Short Hills empfangen. Zum Schluss teilte er seiner Frau mit, nach seinen Informationen sei der Krieg bald vorbei. Sie wurde so aufgeregt, als sei es bereits eine Tatsache. Es wurde gepackt und zusammen mit Joseph, der zurückgekehrt war, fast schon hastig das Auto beladen. Dann fuhr sie George, der Chauffeur, in Richtung New York City. Auf der Fahrt diskutierten er und der Butler lange darüber, was für und gegen ein schnelles Kriegsende spreche. Julia konnte nicht bei allem folgen, was sie sagten. Sie musste immer wieder überlegen, ob die erwähnten Länder zu den Alliierten oder zu den Andern gehörten. Die Bezeichnungen wechselten ja nicht nur in diesem Gespräch im Auto, sondern überall, wo über den umfassenden Krieg gesprochen wurde. Wir hiess meistens die Alliierten, manchmal auch die Entente, dann die Briten, die Franzosen und wir. Die Andern waren der Hunne, die Teutonen, die Deutschen. Bei den Frankophonen les boches, bei den Cornolern les Allbeutches. Aber diese hatten ja auch Verbündete, mit denen zusammen sie die Mittelmächte genannt wurden, die jetzt offenbar nach und nach auseinanderbrachen, als Ganzes und im Einzelnen, wie Joseph höhnisch bemerkte.
"Die Osmanen haben in Palästina endgültig auf die Nase bekommen. Und Bulgarien bettelt um einen Waffenstillstand ohne Bedingungen!"
George bestätigt das und doppelt nach:
"Auch Österreich-Ungarn bittet um Friedensverhandlungen."
"Ja, und was machen die Deutschen? Die meinen immer noch, Präsident Wilson würde mit einem Kaiser verhandeln. Dabei sind unsere Bedingungen klar seit dem Sommer: Frieden mit den Deutschen gibt es nur, wenn der Kaiser abdankt und Armee und Flotte entwaffnet werden!"
Mrs. Leslie griff mässigend in die Diskussion ein, wenn sich die Männer zu sehr ereiferten.
"Bitte lenken Sie George nicht vom Fahren ab, Hogan. Übrigens meint mein Mann, ein baldiges Ende dieses unsäglichen Krieges sei vor allem auch deshalb in Griffweite, weil unsere Truppen so erfolgreich kämpfen in Frankreich."
Der Butler traute sich einzuwenden:
"Das ist sicher richtig, Mylady. Hoffen wir, dass die Spanische Grippe bei diesen Bemühungen nicht den Spielverderber macht."

Julia hatte nie damit gerechnet, selber krank zu werden. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal länger als einen Tag hatte im Bett bleiben müssen. Und nun fühlte sie sich von einer Stunde zur andern wie gerädert. Die Augen taten ihr weh, ihr Körper reagierte auf Berührung so empfindlich, als ob ihr die Haut abgezogen worden wäre. Pinkeln war eine Tortur, und bald konnte sie nicht mehr gerade gehen, weil ihr so schwindlig war. Dann kam der Husten, und sie begann zu schlottern. Mrs. Leslie verbot ihr sofort jeden Kontakt zu den Kindern, schickte sie ins Bett und liess den Doktor kommen. Dieser zog sich eine Maske über das Gesicht und mass ihr das Fieber.
"Hundertdrei Grad, Sie haben die Grippe keinen Zweifel. Waren Sie in der City an der Parade?"
Julia konnte nur schwach nicken.
"Das ist Pech, aber da sind Sie wohl in breiter Gesellschaft. Die Feiern zum Kriegsende sind nicht gerade das, was wir jetzt brauchen. Wildfremde Leute umarmen einander, schreien sich ihre Freude ins Gesicht, singen lauthals, husten und niesen zwischendurch, ohne Taschentuch! Wir werden die ganze Bescherung sehen in ein zwei Wochen."
Er wandte sich an Mrs. Leslie die, ebenfalls mit Maske, draussen vor Julias Zimmer wartete.
"Man sollte sie von Ihrer Familie fernhalten. Es gibt hier ein Gesundheitszentrum im Distrikt, da werden Zimmer zur Isolation der Kranken vermittelt. Die werden dann von den Krankenschwestern besucht und versorgt. Ich gebe Ihnen die Karte, rufen sie dort an, möglichst gleich."

Von ihrer Verlegung in die Isolation bekam Julia kaum etwas mit. Sie konnte sich später daran erinnern, mit dem Auto gefahren worden zu sein, vom Chauffeur. Dass er sie aus dem Haus ins Auto, und von dort in ihr Krankenzimmer getragen hatte, erfuhr sie erst, etwas peinlich berührt, als sie wieder gesund war. Sie konnte sich an wilde Träume erinnern, in denen sie in gigantische Maschinen geraten war, zwischen stampfende und mahlende Kolben, deren Lärm ihre Gedärme erschütterte und den Kopf zerplatzen liess. In einem Traum, der sich in Varianten wiederholte, wurde sie von einem grimmigen Soldaten, einmal war es ein Gorilla, gepackt und umhergetragen. Er hatte eine Pickelhaube auf dem Kopf, einen riesigen Schnurrbart und stechende Augen. Trotzdem hatte sie keine Angst vor ihm, seine Wut schien sich auf Verfolger zu richten, die aber nie sichtbar wurden. Erst mit der Zeit realisierte sie, dass sie von einer sehr freundlichen älteren Frau versorgt wurde. Diese machte ihr kühlende Wadenwickel, die stechend nach Essig rochen, und wusch sie einmal im Tag sorgfältig von Kopf bis Fuss. Julia fror dabei so, dass ihre Zähne aufeinander schlugen. Die Frau fütterte sie mit heisser Brühe und darin eingeweichtem Brot, sie nötigte sie zum Trinken grosser Mengen von Tee, und half ihr auf den Topf, wenn es nötig war. Als es ihr ein wenig besser ging, wurde sie auf den Bettrand gesetzt und die Frau klopfte ihr geduldig den Rücken und die Brust, bis der Hustenanfall kam und sie Schleim ausspuckte in eine glänzende Schale. Erst jetzt konnte sie erfassen, dass die Frau einen Namen hatte. Yvonne Cardwell hiess sie, war früher Gemeindeschwester gewesen und hatte sich jetzt wegen der Epidemie freiwillig zum Dienst an den Kranken gemeldet. Sie hatte keine Angst, sich anzustecken, meinte sogar, die Grippe in milder Form im Frühsommer gehabt zu haben und daher immun zu sein dagegen.
"Sie sind ein Engel! Meine Rettung. Meine Dienstherrin wollte mich sofort loswerden, als ich mit dem Husten anfing. Ich weiss nicht, ob ich dorthin zurückkehren kann, und ob ich das überhaupt will."
Mrs. Cardwell riet ihr, sich unbedingt ein Arbeitszeugnis ausstellen zu lassen.
"Das ist in dieser Zeit ein grosses Problem. Hausangestellte, die krank werden, sind ganz ungeschützt. Man sieht das jetzt überall, wie sie einfach auf die Strasse gestellt werden, meist ohne sich, wie es in ihrem Fall wenigstens geschah, darum zu kümmern, wo die Kranken dann untergebracht werden. Sie haben nicht die Mittel fürs Spital. Dann gehen sie in irgendeine billige, überfüllte Absteige, stecken dort weitere arme Menschen an, und wenn sie Pech haben, sterben sie elend und allein in diesen Löchern. Ich hab's mit eigenen Augen gesehen!"

Im Januar war Julia wieder auf den Beinen, noch wackelig, aber guter Dinge. Sie hatte die Spanische Grippe überlebt, wie ihr grosser Bruder und seine Frau. Sie waren zäh! Und sie bekam ihr Arbeitszeugnis von Mrs. Leslie, ein von Hand geschriebenes graues Faltblatt, auf dem stand:
Short Hills, 25. Januar 1919
Julia Chiquet war in den letzten drei Jahren bei mir angestellt. Sie wurde krank im Dezember und hat uns deswegen verlassen. Sie ist ehrlich, vernünftig und von gutem Gemüt. Sie hat für meine zwei Kinder gesorgt und war sehr hingebungsvoll und treu. Ich werde gerne jedwede Frage zu ihr beantworten.
Mrs. George Leslie Jr.

Mrs. Cardwell war entrüstet über die Bemerkung zu Julias Krankheit.
"So etwas schreibt man doch nicht in ein Zeugnis! Wahrscheinlich meinte sie es noch gut, wollte damit sagen, dass sie Ihnen nicht gekündigt hat. Das ist dumm!"
Julia wollte die Dienstherrin nicht um ein neues, anders formuliertes Zeugnis bitten. Sie wusste nun, dass sie nicht zu den Leslies zurückkehren wollte. Die Kinder würde sie sehr vermissen, das war ihr klar. Sie waren fast ein wenig zu ihren eigenen geworden, jede kleine Veränderung, jeden ihrer Entwicklungsschritte hatte sie miterlebt in den vergangenen drei Jahren. Sie war zuerst überrascht und erschrocken gewesen über ihre mütterlichen Gefühle, mit der Zeit aber hatte sie die Notwendigkeit eingesehen, sich ganz auf die Kleinen einzulassen, deren leibliche Mutter oft mit anderem beschäftigt und in ihren Gemütsstimmungen schwankend gewesen war. Sie hoffte, Mrs. Leslie würde wieder eine gute Kinderfrau finden und einstellen, und nicht auf die Idee kommen, sich alleine durchzumogeln. Aber das war nun nicht mehr ihre Sache. Julia war zuversichtlich, dass nun alles besser werde, jetzt, wo die Krankheit überwunden und der Krieg endlich vorbei war.

Montag, 19. Juli 2021

I vôs sailue Mairie

Sie kam nicht dahinter, was genau der Grund war für Mr. Leslies Ablehnung des breastfeeding – was für ein Wort! – bei seiner Tochter Rhoda. Er begründete es mit gesundheitlichen Überlegungen zugunsten von Mutter und Kind, die einer näheren Prüfung aber selbst durch sie, die sich ja kaum auskannte, nicht standhielten. Es passte ihm nicht, wie seine Frau sich so exklusiv mit dem Baby befasste, ihm körperlich so viel näher war als ihrem Ehemann in dieser Zeit, so ihre Vermutung. Ausserdem wurde er in seinem Schlaf gestört, wenn die Kleine alle zwei Stunden gefüttert werden musste in der Nacht. Meist waren dabei noch die Windeln zu wechseln. Kam hinzu, dass seine Frau am Anfang nicht in der Lage war, diese mütterlichen Verrichtungen alleine zu bewältigen, was zur Folge hatte, dass sie, Julia, jeweils mit dem frisch gewickelten Baby das elterliche Schlafzimmer betreten und die kleine Rhoda ihrer Mutter an die Brust legen musste. Er empfand dies – wie sie meinte, mit Recht – als Einbruch in seine private Sphäre. Schliesslich lief es auf einen als vorübergehend bezeichneten Versuch mit getrennten Schlafzimmern der Eheleute hinaus, was Mr. Leslie brummend hinnahm. Rhoda hatte man von der Geburt an in Julias Zimmer untergebracht, in einer sehr hübschen, neu angeschafften Wiege. Das kleine Mädchen bestimmte ihren Schlafrhythmus vollkommen, und da sie nur kurze Phasen tiefen Schlafs zuliess, war Julia am Tage immer müde. Wenn George im Kindergarten war, spielte dies keine grosse Rolle. Sobald er aber nachhause kam, brauchte sie alle ihre Kraft, um freundlich und geduldig mit ihm umzugehen, denn auch der junge Herr litt unter der Vorherrschaft des Neuankömmlings, dieses kleinen Monstrums, um das sich auf einmal die ganze Welt drehte. Es nützte nichts, ihm die Vorteile seines Gross-Seins auszumalen, ihm aufzuzählen, zu was er, im Gegensatz zu seiner Schwester, schon alles fähig sei. Er durchschaute das Prinzip, das ihr zu unbegrenzter Macht zu verhelfen schien: Kleinheit und Hilflosigkeit. Also wollte er auch wieder so sein. Man konnte förmlich zusehen, wie er sich rückwärts ins Kleinkinddasein verkroch, Errungenschaften und Fertigkeiten aufgebend, die er schon ganz sicher und selbstverständlich beherrscht hatte. Er machte wieder in die Hosen, sprach wie ein Baby, hatte Angst vor allem und jedem, und verschmähte beim Essen fast alles, was man ihm anbot. Er brachte den Vater zu Tobsuchtsanfällen, und auch Julia fand es manchmal zum Verzweifeln. Sie kam an ihre Grenzen und suchte Trost im Gebet.

Einmal war ihr die Hand ausgerutscht, als sie George schon zweimal frisch hatte anziehen müssen, weil er sich voll gekackt hatte, und dann beim darauf folgenden Essen sein Gemüse ausspuckte, ihr mitten ins Gesicht. Sie hatte nicht fest zugeschlagen, es war eher ein Klaps gewesen, aber er schrie wie am Spiess und hatte eine rote Backe. Zum Glück war niemand in der Nähe gewesen, aber sie war furchtbar erschrocken über sich selbst. Wegen der Plötzlichkeit, mit der die Wut über ihre Ohnmacht sie überwältigt und zu dieser gewalttätigen Aktion getrieben hatte. Und sie machte sich Sorgen über die möglichen Folgen, wenn jemand davon erfahren hätte. Oder erfahren würde, denn das war das Schlimmste an dem Vorfall: sie traute sich selbst nicht mehr. Auch die Beichte, an einem der kommenden Sonntage, brachte nicht die erhoffte Entlastung. Sie war enttäuscht von dem Priester, der hinter seinem Gitter nur gedankenschwer mit dem Kopf gewackelt hatte, als hätte sie ein Verbrechen begangen. Kein Wort des Verständnisses oder gar des Trosts für ihre schwere Aufgabe, mit einem schreienden Baby und einem eifersüchtigen Buben fertig zu werden. Sie kaufte sich im Dorfladen ein paar kleine Blechrahmen mit Gläsern und packte die Sammlung ihrer Heiligenbildchen aus, zum ersten Mal, seit sie in Amerika war. Auf der Waschkommode installierte sie die Bilder um eine kleine Glasflasche in Form der Maria, gefüllt mit Wasser von Lourdes. Das Geschenk einer frommen Tante, Schwester ihrer Mutter, die einmal an den Wallfahrtsort am Fuss der Pyrenäen gepilgert war und ihr das magische Ding von dort mitgebracht hatte. Sie fand zuunterst in ihrem Koffer noch einen kleinen Strauss getrockneter Blumen, den sie in ein ein leeres, gewaschenes Saucenfläschchen aus der Küche steckte. Leider waren Kerzen im Zimmer strengstens verboten, aber der kleine Altar gefiel ihr auch so. Mathilde würde sie auslachen, wenn sie ihn sähe, aber das war ihr gleichgültig. Sie sprach zu Probe den Engelsgruss davor, auf Patois, wie sie ihn von Maman gelernt hatte.
"I vôs sailue Mairie, pieinne de graîce, le Bon Dûe ât daivô vôs.
Vôs étes b'nâchue entre tôtes lés fannes é Djésus, vôt afaint ât b'nâchu."

Und als sie damit fertig war, erzählte sie der Mutter Gottes von ihren Sorgen, nicht genügend Geduld aufzubringen für George den Dritten, der so litt unter dem Zuwachs, den seine Familie bekommen hatte. Sie fragte sich, ob Maria sie verstehen würde, da sie Mutter eines Einzelkindes gewesen war. "Die Mutter Gottes weiss alles und sieht alles", hörte sie die Stimme von Maman aus ihrer Kindheit sagen. Das war beruhigend. Und es gelang ihr tatsächlich besser, mit dem Buben fertig zu werden. Sie konnte ihm klarmachen, dass das Baby sehr oft schlief, und er sie dann ganz alleine für sich hatte. Das schien ihm einzuleuchten. Er lernte zu warten und wurde dadurch belohnt, dass sie ihr Wort hielt. Allmählich verwandelte er sich wieder zum Grossen, der er gewesen war, ja er machte sogar einen richtigen Sprung in seiner Entwicklung, als es endlich wärmer wurde, und man wieder draussen sein konnte.

Es wurde nicht nur warm. Eine Hitzewelle suchte New York und New Jersey heim gegen Ende Juli, anfangs August, mit mehreren Tagen, an denen die Thermometer über hundert Grad Fahrenheit kletterten. Schlimmer war, dass sich die Luft in der Nacht nicht mehr richtig abkühlte. Julia war jetzt froh, nicht in der Stadt zu wohnen und arbeiten zu müssen. Aber auch in Short Hills war es fast unerträglich heiss. Mrs. Leslie war es sehr lästig, dass sie so schwitzte. Sie duschte mehrmals am Tag und wechselte dauernd ihre Kleidung, so dass die Wäscherin nun dreimal in der Woche im Haus war. Der Dienstherr kam abends immer nach Hause, weil es in seiner Stadtwohnung nicht auszuhalten war. Die Kleider klebten ihm am Körper und er roch ungewohnt nach Schweiss, wenn er zur Türe hereinkam, einen Whiskey mit Eis herunterstürzte und dann im Bad verschwand. Er war schlechter Laune. Aus dem Rasen ums Haus, einst sein Stolz, war eine braune, stoppelige Fläche geworden. Da er sich darüber mehr aufregte, als es dem Anlass angemessen war, vermutete Julia, auch die Börse entwickle sich zum Schlechten. Und die Kinder litten unter der Hitze. Nachts wälzten sie sich hin und her und klagten über Durst. George wollte nicht ohne seine Decke schlafen, so dass er mitten in der Nacht völlig verschwitzt aufwachte und Julia ihm nicht nur das Pyjama, sondern gleich die ganze Bettwäsche auswechseln musste. Auch die kleine Rhoda schwitzte tüchtig, vor allem am Köpfchen. Julia kühlte sie nach dem Stillen mit einem feuchten Waschtuch, auf das sie zwei Tropfen Kölnisch Wasser gab, damit das Kind nicht säuerlich roch. Da Mrs. Leslie in dieser Beziehung sehr empfindlich war, musste auch sie vermehrt auf ihre Sauberkeit achten. Sie hatte noch nie so oft geduscht und die Kleider gewechselt wie in diesen Tagen.

Die Strassenkinder der Stadt behalfen sich auf ihre eigene Weise, wie sie miterleben konnte, als sie für ein verlängertes Wochenende frei bekam und bei den Herrschaften ihrer Schwester an der Madison Avenue übernachten durfte. Obwohl es in den Strassenschluchten der City noch um einige Grade heisser war als in der Umgebung der Stadt, durchstreiften sie am Freitag Nachmittag ihre Lieblingsquartiere im unteren Manhattan, Greenwich Village, Soho, die Lower Eastside und die Chinesenstadt. Den Baynes hatten sie versichert, sich dabei vom Butler begleiten zu lassen, aber dieser hatte zum Glück anderes zu tun und liess die beiden Frauen gerne alleine ziehen, als sie bei der doppelstöckigen Station in der Bowery ankamen. Kaum waren sie die vielen Treppen hinuntergestiegen, bekamen sie nassen Füsse. Kinder hatten bei mehreren Hydranten den Hahn voll aufgedreht – weiss der Himmel, wo sie das Werkzeug dafür bekommen oder geklaut hatten – und veranstalteten auf den Trottoirs Wasserschlachten, indem sie die mit grossem Druck austretenden Strahlen mit vielerlei Hilfsmitteln ablenkten, teilten und in alle Richtungen verspritzen liessen. Die mutigsten stemmten ihre eigenen mageren Rippen gegen das Rohr, hielten sich mit beiden Händen am Rumpf des Hydranten fest und lenkten die Fluten durch Verdrehungen des Körpers in die Richtung ihrer kreischenden Kameraden. Viele hatten nichts mehr am Leib als ein Paar ausgeleierte Unterhosen, die Kleinsten waren nackt. Die Haare klebten ihnen im Gesicht, die Augen waren gerötet, die Lippen blau. Aber was für ein Glück, was für eine Ausgelassenheit! In Cornol hatten sie manchmal so gespielt im Dorfbach oder im Brunnen, aber was sie hier sahen, war um einiges wilder. Mathilde wurde zappelig. Die Kinder waren so laut, dass sie schreien musste.
"Ich würde mich am liebsten ausziehen und mitmachen!"
Julia packte ihre Schulter.
"Untersteh dich! Dann tue ich so, als würde ich dich nicht kennen!"
Sie lachten beide aus vollem Hals, die Fröhlichkeit der Kinder war so ansteckend. Sie sahen sich um und bemerkten jetzt, wie viele Schaulustige sich bereits, in sicherem Abstand, um die Wasserstellen versammelt hatten. Inzwischen trafen auch Polizisten und mehrere Feuerwehrleute ein, und man war gespannt, wie sie dem Treiben ein Ende setzen würden. Aber vielleicht hatten sie dazu keine Befehle, oder beschlossen von sich aus, die Kinder hätten bei der ungewöhnlichen Hitze das Recht, sich mit dem städtischen Wasser abzukühlen. Jedenfalls stellten sie sich in die Reihe der Zuschauenden und lachten mit, wenn die Knirpse ihre Kunststücke vollführten und es dabei besonders toll trieben. Als sie weiter gingen, wirkte Mathilde nachdenklich.
"Das fehlt mir, einmal richtig Dampf abzulassen. Ich kenne mich manchmal selbst nicht mehr, so brav bin ich geworden bei den alten Leutchen. Sie sind ja furchtbar lieb, aber so..." sie stockte.
"So ängstlich, so überaus korrekt und vorsichtig. Alles ist gedämpft, jeder Furz wird dreimal überlegt, bevor er hinausdarf. Eine gerunzelte Stirn bedeutet für sie schon, dass man gestritten hat. Wenn etwas zum Brüllen komisch ist, wird gelächelt und gehüstelt. Ha!"
Julia sah sie von der Seite her an.
"Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist für dich!"
"Das ist es ja, es ist nicht richtig schlimm, sie tun mir nichts zuleide, im Gegenteil! Aber manchmal bekomme ich Lust, irgendetwas zu zertrümmern, oder laut herumzuschreien. Oder zu lachen, nur schon zu lachen, wie wir es vorhin taten, warum denn nicht? Herrgott! – Und bei dir, wie läuft es da?"
Julia erzählte ihr von den Nöten der Buben, von Vater und Sohn Georges dem Zweiten und Dritten. Und von ihrer eigenen Müdigkeit, dem Versiegen ihrer Geduld. Obwohl sie meinte, Mathildes Reaktion voraussagen zu können, erzählte sie ihr auch von ihrem kleinen Hausaltar und den Gebeten zur Mutter Gottes von Lourdes. Zu ihrer Überraschung lachte sie die Schwester nicht aus, sondern legte ihr den Arm um die Schultern, schaute ihr in die Augen und zog sie dann zu sich.
"I vôs sailue Mairie...mhm? – Wir müssen aufeinander aufpassen, Julia. Jetzt, wo Alcide nicht mehr da ist. Versprich mir, dass du zu mir kommst, wenn es dir nicht gut geht! Und ich komme zu dir! Versprochen?"
Als Julia nickte, nahm sie ihren Arm zurück.
"So, und jetzt gehen wir zum Chinesen eine Nudelsuppe essen. Darauf freue ich mich seit Tagen!"

Von Mr. Bayne hatte Mathilde erfahren, es werde am Union Square ein grosses Schlachtschiff aus Holz aufgebaut, um Männer für die Kriegsmarine anzuwerben. Das wollten sie sehen, also stiegen sie auf dem Weg nach Hause dort aus. Das Schiff war schon von weitem zu sehen. Es war zwar noch eingerüstet und unzählige Arbeiter in Matrosenanzügen hämmerten und sägten eifrig daran herum. Aber die Kanonen und wuchtige Deckaufbauten verliehen dem Modell schon ein düster aggressives Aussehen. Es stand genau eingemittet auf der inneren Ellipse des Platzes, den Rasen würde man wieder ansähen müssen, er war komplett zertrampelt. Ringsherum am Eisengeländer sammelten sich die zahllosen Zuschauer, und erst als sich die beiden Schwestern dazwischen stellten, merkten sie, dass sie fast die einzigen Frauen waren, die sich für das Spektakel interessierten. Und es ging nicht lange, bis sie die ersten Sprüche zu hören bekamen.
"Na, ihr zwei Süssen, wollt ihr auch in die Navy?"
"Ich weiss nicht, ob es für Ladys passende Matrosenanzüge gibt."
Mathilde war sofort im Element, sie gab zurück, als ob sie beim Dorfbrunnen in Cornol in einen Pulk von Rotzlöffeln geraten wäre.
"Ich sehe hier keine Süssen, Sir, es sei denn, Sie zählen sich selber dazu. Aber ja, wir sind uns am Überlegen, ob wir nicht die Navy verstärken sollten. Ein paar Schweizer Frauen würden sie sicher nicht schwächen!"
Es gab grosses Gelächter um sie herum, und weitere Sprüche hin und her. Julia wurde es zuviel und sie zog Mathilde weiter zu einer Stelle am Geländer, wo weniger Männer standen. Sie wollte noch ein wenig schauen. USS Recruit sollte das Schiff getauft werden, man konnte den Schriftzug schon an verschiedenen Stellen lesen. Sie wusste kaum etwas über die Rekrutierung und Mobilisierung der Soldaten. Sie fragte die Schwester, ob sie Bescheid wisse.
"Ein wenig, ja. Mr. Bayne scheint es sehr zu beschäftigen, obwohl er zu alt ist für den Militärdienst. Mitte Mai wurde das Gesetz erlassen für die Mobilisierung, und anfangs Juni, ich glaube am fünften, war der erste Registration Day. Da mussten sich alle Männer zwischen einundzwanzig und dreissig einschreiben."
"Und alle müssen in den Krieg ziehen?"
"Nein, so viele brauchen sie gar nie, das ist ja ein riesiges Land. Es wird ausgelost, wer gehen muss."
"Was!? Das ist ja furchtbar! Stell dir vor, dein Sohn, oder dein Bruder, kommt ums Leben und es war reiner Zufall, dass er in den Krieg musste!"
"Quatsch! Es ist ja auch bei denen, die sich freiwillig melden und dann umkommen, reiner Zufall! Wenn der Splitter einer Granate genau auf deinen Kopf zufliegt, oder ein Scharfschütze ausgerechnet in dem Moment in deine Richtung schaut, wo du die Nase aus dem Graben streckst, was ist das anderes als das Los? Zufall! Oder eben Schicksal! Oder der Wille Gottes, was weiss ich?
"Melden sich denn viele freiwillig?"
"Ich weiss es nicht. Aber sie machen grosse Anstrengungen zur Anwerbung. Es hängen ja jetzt überall diese Plakate mit dem Unkle Sam, der mit dem Finger auf einen zeigt: I want you for U. S. Army. Mit dem Hinweis, man solle sich bei der nächsten Rekrutierungsstelle melden. Und dies hier wird ja auch einiges kosten. Ich denke schon, dass das seine Wirkung tut. Will sich dein Dienstherr nicht melden?"
"Nein. Er ist dreissig geworden im März und musste sich einschreiben, wurde aber noch nicht aufgeboten bis jetzt. Ich glaube er hat grosse Angst davor. Und erst seine Frau!"
Plötzlich kommt Julia ihr Bruder in den Sinn.
"Muss denn Alcide jetzt ins Militär, wenn er zu Hause ist?"
"Er meinte, nein. Er ist ja bei den Sanitätern, und da wurden nur wenige eingezogen bisher. Er hat die letzten Jahre immer Militärpflichtersatz bezahlt. Und vielleicht wird er nun ja ganz befreit wegen seinem Gehör, wer weiss."
"Und Baptiste?"
"Der steht an der Riehener Grenze, zusammen mit den Grenzsoldaten. Du hast ja die Postkarten gesehen, da ist alles voll Stacheldraht und Strassensperren. Aber ich glaube, dem liegt das. Wachsam sein, Verantwortung tragen. Pflicht halt!"
Sie lachen beide.

Ganz ernst wurde ihnen zumute am nächsten Tag, als sie wieder unterwegs waren in der Stadt und in einen riesigen Umzug der Schwarzen gerieten. Zwar hatten sie schon davon gehört und gelesen, dass die NAACP, zusammen mit den Kirchen und weiteren Organisationen, einen Marsch geplant hatte, mit dem gegen die wieder zunehmende Gewalt von Weissen gegen Schwarze protestiert werden sollte. Aber sie hatten gar nicht mehr daran gedacht, als die Menschen am Samstagmorgen begannen, zusammenzulaufen und sich entlang der Fifth Avenue an die Strassenränder zu stellen, fast wie am Nationalfeiertag oder zum St. Patricks Day. Zuerst hörten sie nur Trommelklänge, die kaum durch den Lärm der fröhlich samstäglich gelaunten Zuschauer zu dringen vermochten. Dann aber sah man in der Ferne den Zug herankommen, schwarz gekleidet die Männer, schneeweiss die Frauen und Kinder. Als die Menschen am Strassenrand, fast alles Weisse, realisierten, wie gigantisch der Umzug war, wurden sie still. Es kamen hunderte, ja tausende die breite Strasse herunter, in exakt ausgerichteten Reihen, sonntäglich gekleidet, und – das war das Verrückteste! – in vollkommenem Schweigen. Unbeweglich die schwarzen Gesichter unter den Schildern, die mitgetragen wurden, und die nun die Zuschauer zu lesen begannen.
ALL MEN ARE CREATED EQUAL
RACE PREJUDICE IS THE OFFSPRING OF IGNORANCE AND THE MOTHER OF LYNCHING
YOUR HANDS ARE FULL OF BLOOD
WE OWN 250'000 FARMS WITH 20'000'000 ACRES OF LAND WORTH § 500'000'000
PRAY FOR THE LADY MACBETHS OF EAST ST. LOUIS

Julia und Mathilde verstanden nicht alle Botschaften, und als sie werweissten, wer die Lady Macbeths sein könnten, wurde es ihnen von einem freundlichen älteren Herrn erklärt, der neben ihnen am Strassenrand stand. Es war so still, dass man fast nur das Füssetrappen der Protestierenden hörte. Also sprach der Mann nur leise.
"In East St. Louis brachen im Mai dieses Jahres Rassenunruhen aus. Der Auslöser war ein Streik der weissen Arbeiter der Aluminium Ore Company, bei dem die Besitzer schwarze Arbeiter anheuerten, um den Streik zu brechen."
Jetzt kam es Julia in den Sinn, dass Mr. Leslie davon gesprochen hatte. Der ältere Herr fuhr fort:
"Ende Mai gab es dann einen ersten Angriff von Weissen auf die Siedlungen der Schwarzen, wo ein paar Häuser angezündet wurden. Dem setzte der Gouverneur ein vorläufiges Ende, indem er die National Guard einsetzte. Bis anfangs Juli blieb es ruhig. Dann fuhren vier Weisse mit einem Ford Model T in die Siedlung der Schwarzen und feuerten wahllos auf Menschen. Ein gleiches Fahrzeug, aber mit anderen Leuten drin, unter anderem zwei Polizisten, kam später in das Quartier. Und weil die Schwarzen meinten, da sässen die Täter drin, begannen sie, auf das Auto zu schiessen, töteten einen der Beamten und verletzten den andern schwer. Dies wiederum löste ein schreckliches Massaker aus, bei dem die Weissen das Quartier der Schwarzen völlig zerstörten und weit über hundert schwarze Menschen umbrachten. Sechstausend wurden obdachlos."
Mathilde wollte wissen, was der Spruch mit den Lady Macbeths bedeute. Das sei doch eine Figur aus einem Theaterstück.
"Ja, das ist die böse Königin aus dem Drama von Shakespeare. Es hiess eben, dass die Frauen der Weissen eine schlimme Rolle gespielt hätten bei dem Morden. Dass sie ihre Männer dazu angestachelt hätten. Ich weiss nicht, ob das stimmt."
In dem Augenblick kam ein grosser Block von Frauen die Strasse herunter, von denen immer zwei ein weisses Plakat zwischen sich trugen. Die Flächen waren leer, kein Wort stand darauf, nichts wurde gezeigt.
"Schau mal, da müssen wir uns die Parolen selber ausdenken", sagte Julia leise zu ihrer Schwester.
"Oder die Bilder", sagte diese, und Julia bekam Gänsehaut.
Jetzt kamen Kinder, Mädchen, die von Kopf bis Fuss weiss gekleidet waren und sich an den Händen hielten. Ihr Schweigen wirkte besonders drückend.
"Ob die wohl alle wissen, worum es hier geht?", fragte sich Mathilde.
"Die ganz Kleinen da sicher nicht. Schau mal, die werden von ihren Lehrerinnen und Gouvernanten an die Hand genommen."
Manche der Umstehenden fanden die Kinder süss, andere meinten, die armen Kleinen würden missbraucht für die Politik der Erwachsenen. Auch sonst gab es Murren bei den Zuschauern, besonders, als eine Reihe von schwarzen Männern vorbeischritt, von denen jeder eine grosse amerikanische Fahne trug.
"Was machen die hier? Die wären besser in Europa drüben, das würde Amerika mehr bringen!", rief einer halblaut.
Julia und Mathilde wurde es unwohl in dieser Umgebung. Sie machten sich auf den Weg zur nächsten Metrostation, schweigend.

Der späte Herbst in Short Hills war Julias Lieblingszeit. Die grosse Hitze des Sommers war schon vergessen, auch die damit verbundenen heftigen Gewitter. Der Übergang zum Herbst erfolgte fast unmerklich, bis im Oktober ein paar Frostnächte die Verfärbung der Blätter auslösten. Dann rollten grosse Massen warmer Luft an aus dem Süden, die Atlantikküste hinauf nach Neuengland, und bildeten ein über Wochen stabiles Hochdruckgebiet. Sie liebte die Farben der Bäume, das blasse Blau des wolkenlosen Himmels, die kühlen Nächte und das Zauberwort, das all dies zusammenfasste: Indian summer. George brachte vom Kindergarten einen auf Papier aufgeklebten Kreis aus Ahornblättern mit, deren Farben sich ringsherum von Grün über Gelb und Orange zu einem intensiven Rot verwandelten. Julia war hingerissen und wollte auch so einen haben. Der Bub half ihr, passende Blätter zu suchen und zusammenzustellen, mit grossem Ernst und stolz darüber, ihr etwas zeigen zu können. Den fertigen Kreis klebte sie auf einen Pappdeckel und stellte ihn auf ihre Waschkommode zu den Heiligenbildchen, der Madonna aus Glas und einem erst neulich dazugekommenen Porträt des Papstes Benedikt, den sie seit seinem Friedensvorschlag vom August mit besonderem Nachdruck in ihre Gebete einschloss. Ihre Bewunderung für Benedikt war mit einem gewissen Trotz gegen ihre Maman verbunden, welche, als Anhängerin des ultramontanisme, dem verstorbenen, antimodernistischen Pius nachtrauerte und nichts vom "Friedenspapst" hielt. Sie stand vor ihrer Andachtsecke, rückte da etwas zurecht, wischte dort mit dem Finger eine Staubfussel weg. Ging, nach einem kurzen Gebet, zu ihrem Nachttischchen, wo ein Umschlag an die Lampe angelehnt stand, mit mehreren Briefen darin. Sie zog den ihres ältesten Bruders heraus, in dem er von der bevorstehenden Geburt seines zweiten Kindes schrieb, und von seinem Dienst an der Grenze. Der Ton des Schreibens war förmlich wie immer, und sie versuchte zwischen den Zeilen herauszulesen, ob es Baptiste und seiner jungen Familie gut gehe.
"Hoffentlich!", sagte sie laut.

Ihr zweiter Neffe, Pierre, kam anfangs November zur Welt. Am siebten Dezember erklärten die Vereinigten Staaten auch noch Österreich-Ungarn den Krieg. Die Friedensvorschläge von Papst Benedikt waren von allen Seiten abgelehnt worden. Julias Gebete hatten nichts genützt. Und es brach der Winter erneut mit eisiger Härte über die Westküste herein. Mr. Leslie konnte mehrere Tage lang nicht in die City zur Arbeit fahren, und in Short Hills kam man am Morgen nur aus dem Haus, nachdem Butler und Chauffeur kräftig Schnee geschaufelt hatten. Der Hafen von New York füllte sich mit Eisschollen, die schliesslich zu einer geschlossenen Decke zusammenfroren und alle Schiffe blockierten. Die Schienenwege des Landes wurden von Schneeverwehungen zugedeckt, so dass in kurzer Zeit die Versorgung mit Kohle und Öl zusammenbrach. Für die Alliierten in Europa spitzte sich die Lage zu, weil auch für sie der Nachschub an Treibstoff aus den USA unterbrochen wurde. Ausserdem hatten die Deutschen einen separaten Frieden mit Russland geschlossen, wodurch sie grosse Mengen an Soldaten, Waffen und Munition für den Kampf an der Westfront frei bekamen. Man las von Streiks in Deutschland und Österreich, die blutig niedergeschlagen wurden, aus Angst, die Revolution könnte sich vom Osten über ganz Europa ausbreiten. Die deutschen und auch die französischen Soldaten waren kriegsmüde und begannen sich gegen das Gemetzel aufzulehnen, es kam zu Trödeleien, Massenbesäufnissen und Befehlsverweigerungen. Wie zum Trotz begannen die Deutschen grosse Offensiven im Frühling und im Sommer, die erst im August von den Alliierten gestoppt werden konnten. Der gewichtige Anteil der amerikanischen Truppen an diesen Erfolgen wurde in den Zeitungen stolz gefeiert. Mr. Leslie schnitt die Artikel aus und sammelte sie in einer Mappe. Als er und seine Frau schon nicht mehr damit rechneten, wurde er in die Armee aufgeboten.

Mittwoch, 14. Juli 2021

Der Konvoi (Heimkehr)

Mit dem Pfeifen in seinem Ohr lernte er zu leben. Es war eigentlich immer da, aber er hörte oft nicht darauf. Wenn er sich bewegte und tätig war, in geräuschvollen Umgebungen, dachte er gar nicht daran und es drängte sich auch nicht in seine Aufmerksamkeit. Richtig laut wurde es, wenn er sich nach der Arbeit zur Ruhe legen wollte. Es war ein hohes Sirren, ähnlich dem Zirpen von Grillen im Sommer, aber ohne jeden Rhythmus, ein gleich bleibender Dauerton. Wenn er sich nicht damit beschäftigte und es ihm gelang, seine Gedanken auf anderes zu richten, vergass er es wieder. Schlimmer waren Anfälle von Druck auf einem Ohr, der sich zu diffusem, manchmal bösartigem Kopfschmerz ausweiten konnte. Und die Schwerhörigkeit setzte ihm zu. Für seine Arbeit als Diener war es fatal, dass sie vor allem menschliche Stimmen zu betreffen schien und sich am stärksten dann bemerkbar machte, wenn es galt, einen geäusserten Wunsch oder Befehl seines Dienstherrn aus einem Durcheinander von Stimmen und Geräuschen herauszuhören. Was oft der Fall war. So kam es immer wieder zu Missverständnissen, und um solchen vorzubeugen, fragte er dann nochmals nach, beides Umstände, die Mr. Rockefeller nicht von ihm gewohnt war und die ihm sicher unangenehm aufgefallen waren. Da Alcide wusste, dass der Dienstherr einen solchen Missstand nicht lange würde anstehen lassen, wollte er einer beschämenden Konfrontation zuvorkommen und meldete sich bei ihm für ein Gespräch an. Er bekam sofort einen Termin für den nächsten Tag.

Er hatte Heimweh nach dem Frühling in Cornol. Jetzt, anfangs April, war es dort sicher schon warm den Tag über. Er stellte sich das frische Grün vor, mit dem die Junggräser und der Winterweizen die Felder und Wiesen überzogen. Zwar kannte man in seiner alten Heimat auch die Enttäuschung später Wintereinbrüche, aber so harsch wie hier, und innerhalb so kurzer Zeit, fielen die Temperaturen im Jura nie. Er stand am Fenster seines Zimmers und schaute hinaus in die frühe Dämmerung. Der Schnee des Sturms in der letzten Nacht war zwar schon wieder verschwunden, aber die wenigen Menschen auf der Strasse hielten ihre Köpfe gesenkt und die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Es war kalt, und wer unterwegs war, bemühte sich, rasch nach Hause zu gelangen. Er würde seinem Dienstherrn die Kündigung anbieten morgen. Zwar fuhr Fiona nun doch nicht schon in den nächsten Tagen nach Irland zurück, weil die Reederei des Schiffs, mit dem sie hatte reisen wollen, sofort alle Überfahrten absagte, als die Deutschen die Wiederaufnahme des unbegrenzten U-Bootkrieges angekündigt hatten. Nun musste sie nach einer anderen Möglichkeit suchen, vielleicht mit einem Truppentransport mitreisen, jetzt, wo die USA in den Krieg eingetreten waren. Dasselbe würde auch für ihn gelten, falls er sich entschliessen sollte, bald nachhause zurückzukehren. Und das wollte er ja, sein Dasein als Diener beenden und wieder Bauer sein. Das Nachlassen seines Gehörs erschien ihm wie ein Wink. Zudem meldete sich die Tuberkulose von Papa wieder mit blutigen Hustenanfällen zurück. Ihm kam eine Stelle aus dem Ecclesiastes in den Sinn, eines der wenigen Bibelzitate seiner Mutter, das er immer gerne gehört hatte:
"Il y a un temps fixé pour tout, un temps pour toute chose sous le ciel..."
Sein Herz zog sich zusammen, wenn er an Fiona dachte. Sie würden beide Trost brauchen in der kommenden Zeit.

Alcide wurde von seinem Dienstherrn in dessen Büro im Erdgeschoss empfangen.
"Nehmen Sie doch bitte Platz, Chiquet", sagte er, während er noch einen Stapel Papiere zur Seite legte, dann die Bügel seiner randlose Brille sorgfältig von den Ohren löste und in einem Lederetui versorgte.
"Worum geht es? Wollen Sie uns verlassen?"
Alcide war auf diese direkte Frage nicht gefasst und musste zuerst überlegen, womit er beginnen sollte. Mr. Rockefeller wartete geduldig, bis er anfing zu sprechen.
"Wie Sie sicher bemerkt haben, Sir, habe ich seit einiger Zeit Mühe, Sie und andere Menschen zu verstehen. Dies liegt nicht an der amerikanischen Sprache, die mir ja längst nicht mehr fremd ist, sondern an meinem Gehör, das sich leider laufend verschlechtert hat in den letzten Monaten. Ich war einmal bei einem Arzt deswegen, einem Spezialisten, der mir empfohlen wurde. Aber er meinte, die Medizin könne hier nicht helfen. Es sei nur zu hoffen, die Schwerhörigkeit stabilisiere sich, oder schreite wenigstens nicht schnell fort."
Mr. Rockefeller hörte aufmerksam zu. In der ihm eigenen Weise hatte er leise mit dem Kopf genickt, während Alcide sprach. Als dieser eine Pause machte, sagte er:
"Das tut mir sehr leid, Chiquet. Ich hatte Ihre Verständnisprobleme bemerkt, ja, habe es aber einer vorübergehenden Zerstreutheit zugeschoben. Ich dachte dabei an persönliche oder familiäre Probleme, die Sie vielleicht beschäftigen. Ich wollte Sie deswegen zur Rede stellen, und ich muss sagen, ich bin sehr froh darüber, dass Sie mir zuvorgekommen sind. Es ist nun einmal so, dass ich bei den Angestellten in meiner nächsten Umgebung auf eine möglichst reibungslose Verständigung angewiesen bin. Das werden Sie sicher verstehen."
Alcide wartete wieder mit seiner Antwort. Natürlich verstand er, aber es kränkte ihn, wie der Dienstherr ihn mit ein paar Worten abschrieb und darauf zielte, die Aufhebung des Dienstverhältnisses von seinem Angestellten vorgeschlagen zu bekommen. Er wollte kündigen, aber seine Schwerhörigkeit war nicht der Grund, jedenfalls nicht der hauptsächliche.
"Ich werde in die Schweiz zurückkehren und bitte deshalb um meine Entlassung, Sir. Meine Eltern brauchen meine Unterstützung. Ich werde wieder als Bauer arbeiten."
Und in einer leisen Anwandlung von Trotz fügte er hinzu:
"Den Menschen im Dorf und den Kühen macht es nichts aus, wenn ich nicht so gut höre, Sir."
Der Dienstherr lachte.
"Na, na, seien Sie nicht gleich eingeschnappt, Chiquet. Schauen Sie, ich war immer sehr zufrieden mit Ihnen, und ich meine auch, es Ihnen, wenn nicht immer gesagt, so doch oft gezeigt zu haben. Ich werde Ihnen Ihre Leistungen auch gerne in einem Arbeitszeugnis bescheinigen. Vielleicht brauchen Sie ein solches Papier aber nicht mehr, wenn Sie wirklich, wie Sie sagen, zurück in die Landwirtschaft wechseln. Sie werden jedenfalls den Lohn für diesen und nächsten Monat bekommen, und ich werde Ihnen Ihre guten Dienste gerne auch durch einen zusätzlichen Bonus verdanken. Wann werden Sie fahren? Und vor allem wie? Der normale transatlantische Verkehr ist ja praktisch zum Erliegen gekommen. Haben Sie schon einen Plan?"
Alcide verneinte. Er erzählte von der Absage der Reederei, mit der Fiona hatte fahren wollen, und davon, dass sie von einer Möglichkeit gehört habe, in einem Verbund von Schiffen mitzureisen, zu dem Truppentransporter, bewaffnete Handelsschiffe und, als schützende Begleitung, Kriegsschiffe gehören sollten.
"Ich frage Sie jetzt nicht, woher Ihre Freundin diese Informationen hat. Soviel ich weiss, sollte dieser Plan, der übrigens von der Bundesregierung vorbereitet wird, nicht öffentlich werden. Ich habe davon erfahren, weil wir, das heisst die Standard Oil Company, angefragt wurden, ob wir die Tanker des Konvois mit Brennstoff versorgen könnten. Es wird nicht viele Plätze geben für zivile Personen, aber ich werde sehen, ob ich etwas für Sie tun kann. Das würde dann eine Überfahrt in etwa zwei Monaten bedeuten. Dann hat meine Frau auch Zeit, Ihnen nochmals ein Paket mit Kleidungsstücken zusammenzustellen."
Alcide bedankte sich höflich für die Angebote. Ein Arbeitszeugnis brauche er nicht. Er werde sich bemühen, bis zum Tag der Abreise seinen Dienst so gut zu erfüllen wie es ihm unter den gegebenen Umständen möglich sei. Mr. Rockefeller machte eine beschwichtigende Handbewegung.
"Ja, ja, aber lassen Sie es ruhig angehen, überanstrengen Sie sich nicht. Die Stiftung, die mein Vater zu Ehren meiner Mutter eingerichtet hat, fördert medizinische Forschung, wie Sie wissen. Ich habe in diesem Zusammenhang vor kurzer Zeit etwas gelesen über sudden hearing loss. Ihr Doktor kann nicht helfen, weil man schlicht nichts darüber weiss bis jetzt. Ausser einem: Sorgen und lang anhaltende Überanstrengung scheinen schlecht zu sein für das Gehör. Und der Krieg, natürlich."
Mr. Rockefeller erhob sich, zum Zeichen, dass damit die Unterredung beendet sei. Auch Alcide stand auf. Auf dem Weg zur Tür entschied er sich zu der Frage, die ihn seit der ersten Begegnung mit Mr. Rockefeller beschäftigt hatte.
"Darf ich Sie noch etwas fragen, Sir?"
"Nur zu!"
"Bevor Sie 1913 über Mr. Jacquelin an mich herantraten mit dem Angebot, bei Ihnen als Kammerdiener zu arbeiten, hatten Sie mich einmal gesehen in Ihrem Büro. Das war ein Treffen mit Mr. McCurdy, damals noch in der Nummer dreizehn, an dieser Strasse."
"Ich erinnere mich, ja. Und?"
"Warum ich, Sir, wenn ich das fragen darf? Was hat Sie dazu bewogen, sich zwei Jahre später an mich zu erinnern, und mir dieses ausserordentliche Angebot zu machen?"
Mr. Rockefeller schaute Alcide forschend in die Augen. Er überlegte, ob er auf die Frage antworten sollte, das war deutlich zu sehen. Schliesslich nannte er einen Namen, den Alcide nicht kannte.
"Harry Moore."
"Verzeihung?"
"Harry Moore, mein Freund in der Kinderzeit. Der Sohn des Gärtners. Sie erinnerten mich an ihn, tun es immer noch."
Er wandte sich unvermittelt um und ging zu seinem Schreibtisch. Ohne nochmals aufzusehen, sagte er:
"Wegen Ihrer Reise werde ich auf Sie zukommen. Wir sehen uns heute Abend."

Am Morgen des 14. Juni musste er mitten in der Nacht aufstehen. Der Kutscher des Pferdewagens, den er am Vorabend bestellt hatte und der ihn zur Fähre bringen sollte, wartete bereits am Strassenrand gegenüber der Stadtvilla. Er musste ihn auffordern, ihm mit den Gepäckstücken zu helfen. Es waren mehr als damals vor zehn Jahren, als er in Manhattan angekommen war. Als er ein letztes Mal zur Haustüre zurückging, um noch eine kleinere Tasche zu holen, stand die Köchin auf der Treppe. Sie breitete die Arme aus und man umarmte sich. Sie roch wie immer nach Küche.
"Pass gut auf dich auf. Und gute Reise! Lasst euch nicht erwischen von den Deutschen!"
Alcide bedankte sich bei ihr für die Gastfreundschaft, mit der sie ihn immer willkommen geheissen hatte in ihrem Reich. Als er auf die Strasse trat, drehte er sich nochmals um und winkte.
"Und grüsse die Kinder nochmals von mir!"
Miss Villeni stand noch in der Tür und winkte, als sie um die Ecke in die Sixth Avenue einbogen. Es war die ruhigste Stunde der Riesenstadt, man sah kaum Menschen auf den Strassen, dafür waren überraschend viele Tiere unterwegs. Katzen vor allem, aber auch ganze Rudel fetter Ratten, und er sah sogar zwei Kojoten, die ihre Nasen in einem Abfallhaufen vergraben hatten und kaum von ihnen Notiz nahmen, als sie vorbeifuhren. Bei der Fährstation bezahlte er den Kutscher und sah sich nach einem Gepäckträger um. Die Fähre zu den Piers von Hoboken war schon da, er hatte aber Zeit, sein Gepäck in Ruhe mit einem Handkarren an Bord bringen zu lassen. Es würde alles anders sein bei dieser Heimreise, deshalb wollte er lieber zu früh bei seinem Schiff sein. Er hatte durch Mr. Rockefellers Vermittlung spezielle Papiere erhalten, mit denen er sich auf der "Antilles" melden sollte, einem zum Truppentransporter umgebauten Dampfer, der ursprünglich auf dem Pazifik unterwegs gewesen war. Soviel er verstanden hatte, war das Schiff mit mehreren Kanonen und einem Tarnanstrich ausgerüstet worden und sollte mit der zweiten von vier Gruppen in dem Konvoi nach Frankreich fahren. Alcide wusste nicht einmal, in welchem Hafen sie landen würden. Auf seinen Papieren stand Brest, aber er hatte gehört, dass diese Zielangabe eine Finte war, um die Deutschen in die Irre zu führen. Die Gruppe, zu der er gehörte, legte aus Platzgründen von Hoboken ab. Es sollten immerhin gegen dreissig Schiffe innerhalb weniger Stunden New York verlassen und sich zu einem sorgfältig gestaffelten Verband zusammenschliessen. Der Hauptzweck der Unternehmung war es, vierzehntausend Soldaten und Marinesoldaten sicher nach Frankreich zu bringen, zur Unterstützung vor allem der französischen Truppen, die den Krieg satt hatten und zu meutern begannen. Für Reisende wie er gab es auf den Transportern nur wenig Platz. Trotzdem war es Fiona noch vor ihm gelungen, in einem der Schiffe des Konvois unterzukommen, in der dritten Gruppe, die zwei Stunden nach der zweiten ablegen sollte. Sie hatten sich vor zwei Tagen voneinander verabschiedet, er versuchte, nicht dauernd daran zu denken.

Als die "Antilles" kurz nach sieben Uhr vom Pier ablegte, sass Alcide eingeklemmt zwischen zwei Soldaten unter einem Kanonenrohr und liess seine Beine über die Bordwand baumeln. Das Schiff war nicht gross, und schien ihm völlig überfüllt. Weil alle nochmals einen Blick auf Manhattan werfen wollten, als sie vorbei glitten, und sich deshalb dicht an dicht alle auf die Backbordseite drängten, hatte das Schiff leichte Schlagseite. Alcide sah hinüber zu einem der Rettungsboote und hoffte, dass sie es nicht brauchen würden. Er war sicher, dass die Boote nicht für alle an Bord ausreichen würden, aber es waren nun einmal besondere Umstände, und so verscheuchte er solche Gedanken. Die jungen Männer in Uniform waren bester Lauen, wie es schien. Viele zogen ihre Filzhüte vom Kopf und schwenkten sie ausgelassen, brüllten dazu Abschiedsworte oder stimmten Soldatenlieder an. Nun hörte man auch Gesang und Rufe von zwei anderen Schiffen, die mit ihnen den Hudson hinunter fuhren. Auf der Höhe der Battery schlossen sich ihnen mehrere Kriegsschiffe an, die vom Navy Yard Basin her kommend die Mündung des East River verliessen. Manche von ihnen waren mit grotesken, zackigen Flächen aus weisser und sehr dunkler blauer Farbe bemalt. Viele strotzten von Kanonenrohren in verschiedenen Dicken und Längen, manche trugen sehr hohe Türme aus feinen Stahlträgern, mit einer Plattform oben drauf.
"Vorn dort oben kann man die Blasenspur der Torpedos rechtzeitig sehen", erklärte ihm einer der Marines neben ihm. "Dann muss man aber blitzartig die Richtung ändern, sonst knallt's".
Es wurde nochmals laut, als die Freiheitsstatue näher kam. Viele der jungen Soldaten standen stramm und salutierten beim Vorbeifahren. Die Sonne stand schon ziemlich hoch über der Silhouette von Brooklyn, es würde ein schöner Tag werden. Alcide stand auf und kletterte über ausgestreckte Beine, Rucksäcke, Feldflaschen und Helme in Richtung eines der Deckaufbauten. Als er durch die schmale Türe trat, fiel es ihm schwer, sich im Halbdunkel zurechtzufinden. Sein Quartier befand sich am Ende eines langen Ganges, ein Schlafraum mit etwa zwanzig Hängematten. Man hatte ihm einen kleinen Spind zugewiesen, in dem er das Nötige unterbringen konnte. Er hoffte, nichts vergessen zu haben, denn an sein Gepäck würde er bis zur Ankunft nicht mehr herankommen. Er war gespannt, wie es sich in der Matte schlafen liess. Am schwierigsten war es, hinein zu kommen ohne gleich wieder abgeworfen zu werden. Ein junger Marinesoldat, der neben ihm seine Sachen ordnete, hielt das störrische Ding fest für ihn. Dann, als er darin lag, erschien es ihm erstaunlich bequem.
"Du wirst sehen, wenn das Schiff schaukelt, sind die hammocks Gold wert. Da liegst du ganz ruhig und kannst schlafen wie ein Baby", erklärte ihm sein Nachbar. "Ich heisse übrigens Robert Willis, oder einfach Bob. Komme aus Wise, Virginia. Bin erst diesen Mai eingezogen worden, und jetzt geht's schon nach Frankreich. Und du, kehrst du in die Heimat zurück?

Den Zickzackkurs der Schiffe bemerkte man nur am Tag, Bob erklärte es ihm. Nach ein paar Tagen mit rauher See hatten sich ihnen mitten auf dem Ozean weitere Kriegsschiffe angeschlossen, flache, bösartig aussehende Zerstörer, die ihnen von Irland aus entgegen gefahren waren. Alle lachten über den Funkspruch, mit dem der Oberkommandierende des Konvois, Admiral Albert Gleaves, die Verstärkung begrüsst hatte: "Meine Herren, Sie sind zehn Minuten zu spät." Nun, auf der zweiten Hälfte der Überfahrt, würde man sich den Gewässern nähern, welche den ganzen Aufwand überhaupt rechtfertigten. Die Wachen auf den Beobachtungsplattformen wurden verstärkt und jede Stunde abgelöst, damit die Aufmerksamkeit lückenlos blieb. In der Nacht herrschte absolutes Verdunkelungsgebot. Auf ihrem Schiff gab es eine spezielle Gruppe von Marinesoldaten, welche vor Sonnenuntergang die Vorhänge jedes einzelnen Bullauges kontrollierten. Erlaubt waren nur Taschenlampen mit einer Blende, man legte sich also am besten alles, was man nachts brauchte, vor dem Eindunkeln zurecht. Der Funkverkehr wurde während der Nacht völlig eingestellt. Und auch am Tag koordinierte man die Manöver des speziellen Kurses, der ab jetzt gefahren wurde, nicht mehr mit Funksignalen, sondern mittels genau synchronisierter Uhren, welche die scharfen Schwenker aller Schiffe der Gruppe auf die Sekunde genau gleichzeitig auslösten. Zu Beginn war das eine grosse Attraktion, die von Deck aus mitverfolgt und bewundernd kommentiert wurde. Die "Antilles" legte sich in den engen Kurven deutlich schräg nach aussen, was man in der Hängematte aber zum Glück nicht spürte. Am Tag konnte man sehen, wie die Kielwasser der Schiffe ein Muster aus Rhomben ins Meer zeichneten. Oft drehten die nachfolgenden Schiffe wieder genau dort ab, wo der Vorgänger einen Winkel in seiner Spur hinterlassen hatte. Das sah schön aus, auch Alcide fand das, obwohl ihm die Reise immer unwirklicher vorkam. Unter der oft ausgelassenen Fröhlichkeit der jungen Soldaten spürte er die Angst, die sie teilten. Und am neunzehnten erfasste diese das ganze Schiff.

Grosses Geschrei vom Ausguck. Das breitet sich aus. Gerenne und Zusammenstösse in den Gängen, stolpernde Männer, die, schon im Lauf, ihre Arme in verdrehte Jackenärmel zu stossen versuchen. Oder auf einem Bein hüpfend mit der Gamasche am andern kämpfen. Helme, die scheppernd zu Boden fallen und, von Stiefeln getreten, weg schlittern. Flüche und Gejammer. Wohin? Was ist passiert? Werden wir torpediert? Draussen werden die Geschütze vom Gerümpel befreit und in Stellung gebracht. Alcide scheucht man zurück ins Quartier. Er habe draussen nichts verloren, stehe nur im Weg herum. Er hat Angst davor, jetzt unter Deck zu gehen und verdrückt sich in einer Nische, in der Nähe eines Rettungsbootes. Er kann von hier aus sehen, wie eines der Geschütze mit einer schweren Granate geladen und aufs Meer gerichtet wird, also hält er sich die Ohren zu. Der Schuss ist noch lauter als er gedacht hat, er spürt deutlich die Erschütterung des Rückstosses. In einiger Entfernung steigt eine Wassersäule hoch, ein dumpfer Knall folgt. Wieder Getrappel von Soldatenstiefeln, kurz gebellte Befehle. Das Schiff lehnt sich aus der Kurve. Dann, langsam, werden die Stimmen ruhiger, die Hektik weicht aus den Bewegungen. Man ruft sich Vermutungen zu, Fragen.
"Das war ein U-Boot!"
"Haben wir es getroffen?
"Nein, das war schon abgetaucht, aber sein Torpedo!"
"Und wenn es nur ein Wal war?"
"Was, spinnt ihr?"
"Doch es war ein Wal, wir haben den Blast gesehen, Torpedos blasen nicht!"
"Besser einmal zuviel geschossen!"
"Gott sei Dank, nichts passiert!"
"Der arme Wal!"
Grosse Erleichterung erfasst die Menschen an Bord, man umarmt sich, man lacht, man redet ohne Pause und Atemholen. Die Angst zieht sich für ein paar Stunden zurück, aber sie wird bald wiederkehren.

Die Reise dauerte. Obwohl die Schiffe jetzt mit Höchstgeschwindigkeit fuhren, war der Weg nach Frankreich wegen dem Zickzack, den sie vollführten, stark verlängert.
"Wie früher bei den Seglern, wenn sie kreuzen und halsen mussten", erklärte Bob.
Sie näherten sich der Küste, trafen da und dort auf Wracks. Am sechsundzwanzigsten hörten sie eine Explosion, die sich noch aus der Entfernung gewaltig anhörte. Eine Wasserbombe sagten die, welche sich auskannten. Am Abend wurde im Esssaal berichtet, was passiert war, von einem Unteroffizier. Ein Sieg! Der Zerstörer "Cummings" aus ihrer Gruppe hatte ein U-Boot gesichtet.
"Einen Wal!", rief einer dazwischen, was grosses Gelächter auslöste. Der junge Vorgesetzte wurde zornig, getraute sich aber vor der Menge im Raum nicht, den Spassvogel zur Rede zu stellen. Also erhob er seine Stimme über den Lärm und schrie: "Ruhe!" Jetzt wollte man doch wissen, was passiert war. Es wurde still und er konnte berichten. Das Periskop sei eindeutig zu sehen gewesen und man habe es auch einem deutschen U-Bootstyp zuordnen können. Die "Cummings" habe den Feind verfolgt und schliesslich eine Wasserbombe über seinem mutmasslichen Standort abgeladen. Der Kommandant habe behauptet, sie hätten danach schwimmende Trümmerteile gefunden, die auf einen Treffer schliessen liessen, aber diese Meldung habe sich nicht bestätigen lassen.

Die gefährlichste Passage der Reise kam zum Schluss, am Morgen des achtundzwanzigsten Juni, als sie ein neulich von einem deutschen U-Boot angelegtes Minenfeld durchqueren mussten. Inzwischen hatte Alcide erfahren, dass der Konvoi in St. Nazaire landen würde. Nachdem die Schiffe während der vergangenen zwei Tage unter Volldampf und in strenger Formation gefahren waren, verlangsamten sie nun vor der weiten Mündung der Loire auf Schritttempo und reihten sich in eine weit auseinander gezogene Einerkolonne ein.
"Ich bin froh, jetzt nicht auf dem vordersten Schiff zu sein", meinte Bob nachdenklich. "Ich hoffe, sie haben schon eine gute Karte der versenkten Minen."
Aber es ging alles gut. Als auf der Backbordseite die Hafenanlage sichtbar wurde, kam es zu ähnlichen Szenen wie bei der Abfahrt in Manhattan. Die Schiffe ihrer Gruppe fuhren nun nahe hintereinander. Auf den dem Ufer zugewandten Seiten drängten sich die Soldaten Kopf an Kopf. Sie sassen und standen in den Rettungsbooten, auf den Dächern der Deckaufbauten, hingen in Masten und Kränen. Arme und Hände, mit und ohne Hüte, wurden geschwenkt. Die Schiffe schienen von einer dicken lebendigen Kruste bedeckt, aus der sich ein vielstimmiges Geheul erhob. Alcide wurde es zu eng, und er verdrückte sich auf die Gegenseite, die sich entleert hatte. Stellte sich an die Reling und liess das weit entfernte Ufer an sich vorbeiziehen, Schilffelder und flache Sanddünen. Er wusste noch nicht, wie er von hier nach Cornol gelangen konnte. Vielleicht würde er einen Umweg über Südfrankreich machen müssen. Er begann sich auf die Heimat zu freuen, als er das Grün des Rietgrases sah. Wie ging es wohl den Pflanzen zuhause? Hatte es genug geregnet? Er sah auf seine Hände, betastete die weiche Haut der Innenflächen und die sauberen Fingernägel. Wie lange würde es gehen, bis sich wieder Schwielen bildeten und er keine Blasen mehr bekam? Er musste an die Hände seines Dienstherrn denken, die kräftiger gewesen waren, als man es auf Grund seiner Tätigkeiten hätte erwarten können. An die Sommersprossen und Pigmentflecken in seinem Gesicht, die auf allen offiziellen Bildern übermalt wurden, um eine glatte Maske zu erzeugen. Wie unwirklich ihm diese Welt vorkam, wie weit entfernt New York, jetzt schon!

Der Hafen und die weiter oben am Ufer der Loire neu gebauten Anlegestellen waren vollkommen in der Hand der amerikanischen Truppen. Einem Zivilisten wie Alcide kam es wie ein unübersehbares Tohuwabohu vor, was sich da abspielte. Die Ankunft der verbündeten Amerikaner hatte Schaulustige in grosse Zahl angelockt und die Armeepolizisten hatten alle Hände voll zu tun, sie hinter die Schranken zu verweisen, die überall aufgestellt waren. Auf den Piers stellten sich die Kompanien nach dem Aussteigen der Soldaten auf in Reih und Glied. Präsenz und persönliche Ausrüstung jedes Einzelnen wurde sorgfältig geprüft, bevor alle in die bereit stehenden Eisenbahnwagen stiegen und nach Nordosten in die neu erstellten Unterkünfte verfrachtet wurden. An diesen, und offenbar auch an den Bahnlinien, wurde noch immer gebaut, denn überall standen Armeelaster mit laufenden Motoren, beladen mit Schienen und Schwellen, mit Holzplatten, Stapeln von Zeltplanen und Stangen. Sie warteten geduldig darauf, sich durch die Menschenmenge einen Weg zu bahnen. Über den Uferstrassen lag ein bläulicher Nebel und es stank beissend nach Kohle und Benzin. Alcide war froh, sich von Fiona bereits in Amerika verabschiedet zu haben. Da sie solche und ähnliche Zustände am Ankunftsort erwartet hatten, war abgemacht, er solle nicht auf sie warten. Er suchte einen Gepäckträger mit Handkarren und liess sich von ihm zum Bahnhof führen. Wie er befürchtet hatte, musste er fürs Erste ein Billett in Richtung Süden, nach Bordeaux, kaufen. Dort solle er weiter schauen, wie er in die Schweiz gelangen könnte.

Richtig zuhause angekommen fühlte er sich, als er den Weg von Pruntrut nach Cornol unter die Füsse nahm. Diesen Marsch hatte er sich auf der endlosen Bahnfahrt durch die südlichen Provinzen Frankreichs vorgenommen. Sein Gepäck wurde einem Pferdelastwagen mitgegeben, der Kalksteine in das Städtchen gebracht und nun, um nicht leer in die Caquerelle zurückfahren zu müssen, allerlei Transportgüter eingesammelt hatte. Alcide schnitt sich einen kräftigen Haselstock, kaufte sich ein Pfund Brot und ein grosses Stück Jurakäse, und machte sich auf den Weg. Da bald Viehmarkt war in Pruntrut, kamen ihm immer wieder Bauern mit Kühen entgegen. Mit manchen kam er ins Gespräch, obwohl sie ihn zuerst schräg ansahen wegen seiner Kleider. Ah, ein Américain? Das erklärte alles, auch warum er manchmal nach einem Dialektwort suchen musste. Dass er etwas von Tieren verstand, merkten sie an seinem Blick und seinen Kommentaren. Das warme Gefühl, dazuzugehören, war überwältigend, viel stärker als bei den Zusammenkünften und Festen der Cornoler in New York. Je näher er dem Dorf kam, desto schneller schritt er aus, obwohl er müde war und schwitzte.

Als er die Hauptstrasse des Dorfes erreicht hatte, wurde er von einigen erkannt und begrüsst.
"Alcide! Bist du zurück?"
"Und die Schwestern?"
"Willkommen zuhause! Dein Gepäck ist schon hier."
"Trinkst du ein Glas mit uns? Ah, du warst noch gar nicht zuhause? Dann geh! Geh!"
Über den Bach hinweg sah er seine Mutter auf dem Bänklein sitzen, in der vertrauten Haltung, wenn sie an etwas herum schnippelte. Er stellte sich ans Geländer und rief hinüber. Sie blickte auf, legte das Messer beiseite. Stand auf, über ihr faltiges Gesicht huschte ein Strahlen. Wischte sich die Hände an der Schürze ab und verschwand in der Küche. Alcide trabte dem Garten entlang bis zur Weggabelung, bog in den Weg ein, der am Haus vorbeiführte. Da standen seine beiden Eltern schon vor der Türe und warteten auf ihn.

Donnerstag, 8. Juli 2021

Spiel und Ernst

Wie Julia vorausgesehen hatte, wurde der kleine George im Verlauf des Herbstes fast völlig ihrer alleinigen Obhut anvertraut. Mrs. Leslie erwartete ihr zweites Kind, ein Umstand, der ihr das Dasein als Ehefrau und Mutter noch schärfer als Gefangenschaft, in erzwungener Ferne zum pulsierenden Leben der Stadt, erscheinen liess. Da die mit der frühen Schwangerschaft verbundene Übelkeit diesmal ausblieb, war sie voller Kampfgeist und setzte es gegen den Willen ihres Mannes durch, sich als Organisatorin eines grossen Wohltätigkeitsballs in New York zu betätigen.
"Bevor ich so rund bin wie eine Wassermelone, und nur noch dasitzen und warten kann", wie sie bemerkte.
Mr. Leslie äusserte Bedenken, sie könnte sich überanstrengen, und stellte die Gefahr von Komplikationen oder gar einer Fehlgeburt dem Nutzen einer Wohltätigkeitsveranstaltung gegenüber. Die Dienstherrin liess das nicht gelten.
"Unsere Unterstützung für das Warren Goddard House ist sehr wichtig, gerade auf den Winter hin. Sie betreiben eine Suppenküche für arme Kinder, die sonst keine warme Mahlzeit bekommen. Und nächstes Jahr soll noch eine Kinderklinik eingerichtet werden. Damit kann man viele Leben retten!"
Mr. Leslie wollte zwar nicht glauben, dass es in New York City so viele arme Kinder gebe, aber dem Hausfrieden zuliebe gab er schliesslich nach.

Julia war beeindruckt. Sie hatte Mrs. Leslie bisher eher ängstlich, oft klagend erlebt. Nun war sie wie verwandelt, ihre Gesichtszüge waren voller, erwachsener. Sogar ihre Stimme schien Julia verändert. Sie sass tiefer und wirkte entschlossen. Julia kannte sich nicht aus mit den Auswirkungen einer Schwangerschaft, aber diese hier waren augenfällig. Nun blieb sie oft mehrere Tage mit George, der Köchin und dem Butler im grossen Haus zurück. Der Bub konnte, mit etwas Glück und Geschick, jeden zweiten Tag in den kindergarten gebracht werden, der, wie sie von Mrs. Leslie belehrt worden war, nach den Methoden einer gewissen Elizabeth Harrison geführt wurde.
"Da wird er gefördert, und er lernt andere Kinder kennen und kann mit ihnen spielen", war die Begründung der Mutter.
"Damit er lernt, sich zu wehren und durchzusetzen. Er soll ein leader werden, wie ich", so der Vater.
Julia wusste nicht, was es bedeuten sollte, als Kind "gefördert" zu werden. Sie hatte zwar in Cornol auch den Kindergarten besucht, aber für sie und Mathilde war diese Einrichtung eine Randerscheinung gewesen, etwas für regnerische und kalte Tage, an denen man nicht im Dorf und seiner Umgebung spielen konnte, in der wilden, unübersichtlichen Herde der Kinder, und unter der meist nachlässigen Aufsicht der Grossen, wenn sie gerade in der Nähe waren. George ging nicht immer gerne hin, manchmal sträubte er sich und weinte. Er war schüchtern, liess sich von anderen Kindern sein Spielzeug wegnehmen ohne Mittel zu finden, dies zu verhindern. Am liebsten spielte er alleine, aber in der Nähe seiner Mutter, oder jetzt vermehrt bei Julia. Er sang und plauderte beim Spielen vor sich hin. Wenn Julia ab und zu einen Laut von sich gab, oder wenn er ihr etwas zeigen und sie zum Staunen bringen konnte, war er glücklich. Auch, wenn sie ihm vorlas, am liebsten immer dasselbe. Peter the Rabbit, oder die Nursery Rhymes mit der Maus.
Appley Dapply
has little sharp eyes
And Appley Dapply
is so fond of pies.
George liebte Reime, also sagte sie ihm auch alle Verse auf, und sang ihm alle Lieder, die sie kannte. Auf Patois. Inzwischen waren die Herrschaften nicht mehr dagegen, vielleicht weil sie festgestellt hatten, dass ihr Kleiner trotz der Kinderfrau aus dem Jura lernte, korrekt amerikanisch zu sprechen. Und sie fanden es süss, wenn er durch die Räume trällerte in dieser seltsamen Sprache:
Tschainte, tschainte, petét l'oûegé!
Am allerliebsten aber half der Bub in der Küche. Die Köchin, Victoria, war leicht zu überreden, ihm ein Plätzchen einzurichten am grossen Tisch, allerdings nur wenn die Hausherrin nicht da war. Diese wäre entsetzt gewesen, wenn sie ein Messer in der Hand ihres Lieblings gesehen hätte, und sei es noch so kurz und stumpf, mit dem er mit grosser Hingabe und Konzentration die Kartoffeln und Möhren zerteilte, die man ihm hinlegte. Julia kannte das von sich und ihren Geschwistern: Kinder haben ein feines Gespür dafür, welches das echte, das richtige Werken ist, das auch den Erwachsenen wichtig und notwendig erscheint, und welches das Kinderspiel, das zwar Freude bereitet, worauf man jedoch jederzeit verzichten kann. Oft fehlen den Tätigkeiten, welche die Erwachsenen für Kinder vorsehen, der Ernst und das Gefährliche. Und Widerstand, den zu überwinden Anstrengung kostet oder auch misslingen kann. Ihre Eltern waren nicht ängstlich gewesen, und hatten sie früh teilnehmen lassen an dem, was sie selber taten. Wenn das, was die Kinder tun durften, zur Erledigung der vielen Aufgaben beitrug, die auf dem Hof, in den Feldern, oder in der Uhrmacherwerkstatt im ersten Stock zu erledigen waren, machte sie das stolz, vor allem wenn die Grossen ihren Beitrag so respektierten, wie er herausgekommen war. Julia stellte fest, dass sie viel über solche Dinge nachdachte als Kindermädchen von George. Sie fragte sich nun oft, ob sie einst Kinder haben werde, und wie sie es als Mutter würde machen wollen. Es brauchte den rechten Mann dazu. Aber wie musste so einer sein?

Jedenfalls musste er anders sein als Joseph, der Butler. Das fand sie aber erst heraus nach einer einige Wochen dauernden Affäre mit ihm. Sie merkte früh, dass er ein Auge auf sie geworfen hatte, dass sie ihm gefiel. Seine Stimme war anders, wenn er mit ihr redete, samtpfotig, tief und warm. Ein wenig unheimlich auch. Und er konnte sie mit seinen hellblauen Augen so unverschämt anschauen, bis sie rot wurde und die Augen niederschlagen musste. Er zwinkerte ihr zu während der Arbeit, suchte die Berührung, wenn er ihr etwas übergeben oder abnehmen musste. Sie war hin und hergerissen gewesen über sein Gebaren. Einerseits war sie stolz, dass für einmal sie gemeint war, und nicht eine ihrer Schwestern oder Freundinnen wie so oft früher. Aber es machte sie auch misstrauisch, wie leicht Joseph sein Balzverhalten zu fallen schien, wie spielerisch und routiniert er um sie warb. Es war nahe liegend sich zu fragen, die wievielte unter seinen sicher zahlreichen Eroberungen sie sein würde. Und was wohl mit ihren Vorgängerinnen passiert war, wenn es dem schönen Mann eingefallen war, weiter zu ziehen. Die letzte hatte er mit einem Kind sitzen lassen, wie sie zum Glück erfuhr, noch bevor es zwischen ihnen zum Äussersten kam. Eine Verkäuferin im Dorfladen, eine Freundin der Unglücklichen, hatte es ihr erzählt. Sie war sehr erschrocken, und mit einem Mal aufgetaucht aus einem Taumel, den sie immer schlechter hatte steuern können. Wenn sie von Joseph im Halbdunkel eines Gangs gepackt, an die Wand gedrückt und leidenschaftlich geküsst worden war, hatte sie sich zu Beginn noch heftig gewehrt, manchmal war es ihr auch gelungen, ihn zu vertrösten. Nicht hier, nicht jetzt, später, vielleicht. Dann wurde sie aber immer öfter überschwemmt von ihrem eigenen Verlangen, vom Trotz auch, gegen die inneren Stimmen, die sie von Lust und Sünde abhalten wollten. Weder beten noch beichten half, sie wollte diesen Mann, auch wenn sie wusste, dass sie sich unaufhaltsam dem Moment näherten, der für sie als Frau eine ganz andere Bedeutung haben würde als für ihn. Aus dem sie im schlimmsten Fall einen dicken Bauch und den Verlust ihrer Integrität davon tragen würde. Als sie erfuhr, dass Joseph vor Kurzem genau dies einer andern Frau angetan hatte, anscheinend ohne sich weiter um sie zu kümmern und ohne sich für sein Verhalten zu schämen und es folglich zu ändern, war sie darum auf einen Schlag wieder nüchtern. Wurde gar, in den Augen des verdutzten Butlers, zur Furie. Im Garten des Anwesens, als die Herrschaften wieder einmal in der Stadt waren, und der Bub im Kindergarten, stellte sie ihn zur Rede. Zuerst war sie so aufgeregt und wütend, dass sie ihn mit einer Schimpftirade in ihrem Dialekt überfiel. Er verstand zwar kein Wort von dem was sie sagte, wusste aber sofort, worum es ging und begann sich zu verteidigen. Es sei bei ihr etwas ganz anderes, dieses Mal meine er es ernst, und natürlich wolle er sich der Verantwortung stellen und sie heiraten. Das brachte für Julia das Fass erst recht zum Überlaufen.
"Was willst du!? Da ist dir etwas in der Reihenfolge verrutscht, mein Lieber! Männer wie du gehen davon aus, sie könnten sich einfach bedienen. Die Früchte pflücken, anbeissen und fallen lassen. Ich habe mich auf deine Zärtlichkeiten eingelassen, seit Wochen. Haben wir uns dabei kennen gelernt? Wurde ich einmal von dir ausgeführt? Hast du mir in dieser Zeit je von dir erzählt? Oder mich gefragt, wer ich bin, woher ich komme und was ich möchte? Wie kannst du behaupten, dass du mich heiraten willst? Weisst du, wie meine Schwester Mathilde zu solchen wie dir sagt? Du bist ein schöner boûeb, aber ein Arsch! Und ich bin ein Dummkopf, dass ich das mit mir machen liess. So, Schluss! Gehen wir arbeiten!"

Sie hatte erwartet, dass es nach diesen Vorkommnissen sehr schwierig würde, weiterhin mit dem Butler im gleichen Haus zu arbeiten, aber es kam anders. Joseph verhielt sich eine Zeit lang sehr förmlich ihr gegenüber, mied auch den Kontakt, so weit es möglich war. Dann aber brachte er es bei einer Gelegenheit, bei der sie zu zweit das Besteck putzen mussten, zu ihrer Überraschung fertig, sich zu entschuldigen. Dabei wirkte er ganz verwandelt, scheu und verdattert. Fast tat er ihr ein wenig leid. Aber dann kam ihr die Frau in den Sinn, die er sitzen gelassen hatte. Sie gab sich einen Ruck und erzählte ihm, was man ihr über ihn berichtet habe. Es schien ihm furchtbar peinlich zu sein, aber er stritt nichts ab. Also hakte sie nach:
"Ist es denn schon zu spät? Vielleicht kannst du das ja wieder gutmachen mit deiner... wie heisst sie?"
"Molly. Molly Ryan."
Es stellte sich heraus, dass Joseph grosse Angst hatte vor Mollys Vater und ihren Brüdern, vor der ganzen irischen Sippe. Und davor, dass er im Falle einer Heirat gezwungen würde, nach Irland zurückzukehren, und dann in die britische Armee eingezogen, vielleicht sogar in den Krieg ziehen müsste.
Das hättest du dir vorher überlegen müssen, dachte Julia, aber weil er da zerknittert und schuldbewusst vor ihr sass und sie sich schon so überlegen vorkam, verzichtete sie darauf, es zu sagen. Ihr genügte, dass für Molly noch nicht alles hoffnungslos schien.

Mrs. Leslies Wohltätigkeitsball war ein grosser Erfolg gewesen. So kurz vor Weihnachten war die New Yorker Gesellschaft in Spendelaune, und zudem hatten einige der angesehensten Familien die Gelegenheit benutzt, ihre Töchter einem ausgesuchten Publikum im besten Licht vorzuführen. Die Dienstherrin war über ihren Erfolg und die damit verbundene Anerkennung wie in einem Rausch. Jedes Detail musste erzählt werden, aber Julia hatte Mühe, sich einen solchen Anlass überhaupt vorzustellen. Offenbar ging es dort zu wie in den süssromantischen Romanen, die sie und ihre Schwestern als Jugendliche gelesen hatten, verbotenerweise. Mit kichernden jungen Mädchen, gehüllt in raschelnde Wolken aus seidenem Taft. Und galanten Jungmännern mit cravates blanches, die sich in den parfümierten carnets de bal Tänze mit ihrer Angebeteten reservieren liessen. Mr. Leslie machte sich noch immer Sorgen, ob das nicht alles zuviel gewesen sei für seine Ehefrau, die sich in Erwartung befand. Wie Julia für sich feststellte, ging es ihm aber auch darum, für das kommende Weihnachtsfest seine Eltern in würdigem Rahmen zu empfangen, wozu er die Hilfe von Mrs. Leslie natürlich brauchte und also hoffte, ihre Energie reiche nun auch noch, ohne ihr und dem ungeborenen Kind zu schaden, für diesen weiteren Anlass. Er versammelte seine Hausangestellten in der Küche und beschwor sie, alles in ihrer Macht stehende zu unternehmen, damit seine Ehefrau geschont, gleichzeitig aber die dem Haus angemessene Noblesse aufgebaut werden könne. Es war offensichtlich, dass er seinen Eltern etwas beweisen wollte, vor allem seiner Mutter, laut Josephs Kommentar. Es musste, wie jedes Jahr, ein riesiger Truthahn bestellt werden. Die Vorhänge wurden herunter genommen und gewaschen, das Silber bis auf das letzte Löffelchen geputzt. Die Tanne liess Mr. Leslie vom Förster, den er persönlich kannte, fällen, auf Mass zurechtstutzen und liefern. Sie musste genau so lang sein, dass sie die Decke der Eingangshalle berührte, wenn sie in ihrem schmiedeeisernen Ständer aufgerichtet und mit der Spitze aus böhmischem Glas versehen war. Für die Arbeit in der Küche wurde eine zusätzliche Hilfe, nur für diesen einen Tag, eingestellt, eine sechzigjährige Witwe aus der Nachbarschaft. Spezialistin für die Füllung des Truthahns, sowie für die Cranberries und die Brotsauce. Julia sollte an dem Abend zuerst schauen, dass der Bub sein Abendessen bekam, ihn dann baden und, wenn die Grosseltern da waren, im Schlafanzug präsentieren. Vielleicht gebe es noch ein paar Geschenke zum Auspacken für ihn, dann solle sie ihn ins Bett bringen und möglichst bald darauf beim Servieren helfen.

Der Abend verlief zufriedenstellend, die ganz grossen Katastrophen blieben aus. Die Herrschaften waren den ganzen Tag mit Vorbereitungen beschäftigt gewesen, unter höchster Anspannung, die Julia auf ein entsprechendes Verhältnis der Eheleute zu seinen Eltern beziehungsweise ihren Schwiegereltern schliessen liess. Der Duft des Truthahns erfüllte das Haus, während noch am Baumschmuck, der auf Mrs. Leslies Anordnung zweimal in seiner Grundfarbe geändert werden musste, letzte Korrekturen vorgenommen wurden. In der Küche werkte Mrs. Wilson, die zugezogene Hilfe, an den Saucen und kommandierte die junge Hausköchin solange herum, bis sie heulte. Danach versöhnten sie sich wieder bei ein paar Gläschen Madeira, der als spezielle und streng geheime Zutat für den Bratensaft angeschafft worden war. Auch Julia bekam eine goutte davon, was ihr half, die Anfälle trotzigen Zorns von George dem Dritten gelassen zu überstehen. Der Kleine spürte, wie hektisch überdreht seine Eltern dem Abend entgegenfieberten, und legte sich quer, wo es nur möglich war. Als Mr. und Mrs. Leslie Senior endlich vor der Haustüre standen und klingelten, war es gerade besonders schlimm. Mrs. Leslie bedeutete Julia, sie solle den tobenden Buben packen und mit ihm im Kinderzimmer verschwinden, und obwohl sie diese Massnahme unpassend fand, gehorchte sie. George war schwer geworden, und wenn er sich wehrte, war er eine für den Rücken gefährliche Last. Als sie ihn in seinem Zimmer auf das kleine Tischchen stellen wollte, dessen Höhe sie ideal fand, um den Kleinen an- und auszukleiden, zwickte sie die Hexe ins Kreuz. Sie fasste sich an den Rücken und stöhnte.
"Ah non, médje! É te, tchervôte de gosse!"
Augenblicklich hörte George auf mit seinem Gebrüll und sah sie mit grossen Augen an.
"Hast du Aua gemacht, Julia?"
Als sie nickte, klammerte er sich an sie und bohrte sein Gesicht in ihren Schoss.
Steif und ganz vorsichtig setzte sie sich neben ihn.
"Das war kein guter Tag für dich, ich weiss. Aber Mommy und Daddy ist es nun mal ganz, ganz wichtig, dass Grandma und Grandpa ein schönes Weihnachtsessen bekommen. Wenn die Grossen sich so etwas vornehmen, dann haben sie nicht noch die Kraft, sich mit einem zornigen George zu streiten. Aber ich bin ja auch noch da. Jetzt gehen wir baden, du darfst alle deine Enten mitnehmen. Dann ziehen wir das Pyjama an und gehen deinen Grosseltern ganz brav Gute Nacht sagen. Hilfst du mir? Bitte, mein Rücken tut so weh!"

In der Küche assen sie noch tagelang Truthahn, als kalten Salat, im Sandwich, oder gezupft zu allen möglichen Resten der herrschaftlichen Mahlzeiten. Das Weihnachtsessen und der damit verbundene Auftritt der Senioren wurden ausführlich besprochen, kommentiert und mit früheren Familienessen verglichen.
"Die Eltern der Lady waren erst einmal hier, jedenfalls soweit ich es erlebt habe", erzählte der Butler. "Sie wohnen in Florida. Mit ihnen war es viel entspannter. Mr. und Mrs. Hoyt sind sehr freundliche, lockere Menschen."
"Nun, die Leslie Seniors kann man sicher nicht als locker bezeichnen", meinte darauf die Köchin. "Sie meckert einfach an allem und jedem herum. Der Truthahn war ihr zu trocken, die Füllung zu fett, das Dessert fand sie unpassend, ebenso den Wein. Ich finde, man kann ja solche Meinungen haben, aber dass man das auch laut bemerkt, wenn man eingeladen ist! Wenn man zudem blind sein muss um die Anstrengungen der Jungen nicht zu sehen, die es einem hinten und vorne recht machen wollen. Ich finde das respektlos. Mrs. Leslie hat so gelitten, und ihr Mann lässt sich von seiner Mutter herumschubsen wie ein kleiner Junge, man kann fast nicht zusehen!"
Julia hatte nicht viel mitbekommen von den schwierigen Gästen. Als sie mit dem frisch gebadeten und ordentlich gekämmten George das Esszimmer betreten hatte, wurde dieser von Mr. Leslie Senior mit dröhnender Stimme begrüsst. Der Bub verhielt sich seinen Grosseltern gegenüber scheu und fremdelnd. Erst als er zwei Pakete überreicht bekam, lächelte er wieder, setzte sich mitten auf den Teppich und begann die Geschenke auszupacken. Einen weiteren Teddybären und eine hölzerne Eisenbahn, die es mit dem mechanischen Blechspielzeug, das er von seinem Vater bekommen hatte, nicht aufnehmen konnte. Trotzdem bedankte er sich artig, liess sich von der Grossmutter in die Wangen kneifen und hörte sich mindestens dreimal an, wie gross er geworden sei. Als er herzhaft gähnte, durfte ihn Julia wieder in Empfang nehmen. Bei dieser Gelegenheit wurde sie vom Hausherrn vorgestellt.
"Dies ist Julia Chiquet, unsere neue nurse aus der Schweiz."
Mrs. Leslie Senior würdigte sie keines Blickes. Sie hatte die von George verstreuten Weihnachtspapiere eingesammelt und faltete sie mit energischen Kniffen zusammen. Julia nahm den Buben bei der Hand und führte ihn hinaus. Ihr Kreuz schmerzte bei der kleinsten Bewegung.

Sie hoffte, sich bis zum Silvester wieder normal bewegen zu können, denn es stand ein Fest mit den Cornolern bevor, das alle Geschwister gemeinsam feiern wollten. Alcides Freundin Fiona sollte auch dabei sein, für sie würde es ein Abschiedsfest werden, vielleicht ein endgültiges. Julia war voller Bewunderung für ihren Bruder, der trotz aller Traurigkeit seine Geliebte loslassen wollte, weil sie beide zuhause gebraucht wurden. Sie hoffte, sich nie auf diese Weise entscheiden zu müssen in ihrem Leben. Sie war oft traurig in diesen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr. Gerne hätte sie die Festtage mit den Eltern verbracht, und mit ihrer kleinen Nichte und dem Neffen, die im vergangenen Jahr zur Welt gekommen waren. Sie hätte viel lieber zu diesen kleinen Kindern aus ihrer eigenen Familie geschaut, vielleicht brauchten deren Eltern auch nötiger Hilfe als die Leslies mit ihrem schönen Haus, ihren Angestellten und dem vielen Geld. Aber dann hätte sie nichts verdient, und nichts abgeben können, um ihre Eltern zu unterstützen. Die Aussicht, Alcide einige Dollars mitzugeben, wenn er im kommenden Jahr heimfahren würde, tröstete sie ein wenig. Und mit ihrem Rücken wurde es täglich besser dank einer Salbe, die sie auf Rat von Mr. Follis, dem Chauffeur, in der Apotheke gekauft hatte. Er bekam oft Rückenschmerzen, wenn er lange fahren musste, vor allem auf den holperigen Strassen von New Jersey, und seit er dieses Heilmittel entdeckt habe, ginge es ihm jeweils rasch besser. Sie solle sich vor dem Schlafengehen einreiben, weil die Herrschaften sonst die Nase rümpfen würden wegen dem strengen Mentholgeruch. Julia war es im Moment egal, was die Herrschaften dachten, und Mrs. Leslie schien sich nicht an dem Duft zu stören. Sie war auch sonst sehr mitfühlend und verschonte Julia mit Arbeiten, die ihr Kreuz hätten belasten können. Sie selber durfte auch nicht mehr schwer tragen, der Umfang ihres Bauches hatte sichtbar zugenommen und sie watschelte mit immer kürzeren Schritten im Haus herum, gerade so, als müsste das Kind jederzeit zur Welt kommen. Dabei sollte es erst im April so weit sein.

Das Silvesterfest fand nicht wie üblich in der Gemeinde von St. Vincent de Paul statt, weil deren Saal dieses Jahr den Obdachlosen des Quartiers für ihre Feier zur Verfügung gestellt wurde. Man hatte eine Lagerhalle gefunden, die wegen Besitzerwechsel vorübergehend leer stand. Sie wurde gründlich geputzt und festlich hergerichtet. Der Raum war sehr geräumig, eine Schaustellerfirma von Coney Island rüstete ihn mit reichlich Tischen und Bänken aus und baute sogar eine erhöhte Tanzbühne ein. Freiwillige Helfer gab es genug unter den Cornoler Auswanderern, und so wurden Bühne, Wände und Tische aufwändig dekoriert mit allerlei bäuerlichem Gerät. Mit Garben von Weizen und Roggen, mit Trockenblumen, Bandschlaufen, Fahnen und Kokarden. Und wie immer kochte man in zahllosen Haushalten das Essen vor, schleppte es an und hielt es warm in geeigneten Behältern. Mit dem Vorrat an Wein und Schnaps hätte man eine Armee versorgen können. Die Musikkapelle umfasste dieses Mal auch einige Bläser, und ein Chor hatte sich formiert und fleissig geübt.

Es wurde ein schönes Fest. Ausgelassen fröhlich und abgrundtief traurig. Nicht nur Alcide, Fiona und die mitfühlenden Schwestern wurden von sich widersprechenden Gefühlen geschüttelt. Bei ihnen schien wenigstens der Grund klar zu sein mit der bevorstehenden Trennung der zwei Liebenden. Aber auch bei den feiernden Landsleuten bahnte sich eine unmittelbar unter der Festlaune lauernde Traurigkeit immer wieder Bahn an die Oberfläche. Es kam vom Krieg, von den schrecklichen Bildern und Berichten in den Zeitungen während des auslaufenden Jahres, den geschilderten Sorgen in Briefen. Niemand wusste, wie lange das Schlachten noch andauern, wie weit es sich noch ausbreiten würde. Immer unwahrscheinlicher wurde die Hoffnung, die neue Heimat könne ihre Neutralität bewahren, und damit wuchs die Angst, das alte, so kleine und verletzliche Heimatland könne auch zwischen die Fronten geraten. Man konnte nicht einmal mehr damit rechnen, mit einem Schiff nach Europa zu fahren, weil deutsche Unterseeboote jederzeit auftauchen und ihre Torpedos abfeuern konnten. Die Redner an dem Abend sprachen von Hoffnungen für das neue Jahr, ohne recht daran zu glauben. Die Stimmen schwankten und in den Augen glitzerte es. Wer jetzt Witze erzählte und laut herauslachte, konnte im nächsten Augenblick in Schluchzen ausbrechen und sich hilflos an seinen Tischnachbarn klammern. Lebhaft tanzende Paare verlangsamten plötzlich ihre Bewegungen, fielen sich in die Arme und verharrten minutenlang bewegungslos auf der Bühne, um schliesslich still, Hand in Hand, an ihre Plätze zurückzukehren. Manche tranken zu viel Schnaps, legten ihren Kopf auf die Arme und schliefen am Tisch ein.

Julia merkte, wie schwer es für Alcide war, die andern zu verstehen im Lärm des Festes. Sein Gehör machte es ihm fast unmöglich, einzelne Stimmen herauszuhören aus dem Gewirr von Musik und menschlichen Stimmen, dem Klappern von Geschirr und Scharren von Stühlen. Nachdem er eine Weile still geblieben war – er sass zusammengesunken und hatte seinen Kopf auf Fionas Schulter gelegt – stand er plötzlich auf und begann eine Rede, ohne sich darum zu kümmern, ob man ihn verstand.
"Geliebte Fiona, liebe Schwestern, zehn Jahre habe ich nun in den Vereinigten Staaten verbracht. Als Bauer-Uhrmacher bin ich gekommen, dann servierte ich in einem Club, zuletzt war ich Kammerdiener bei Rockefeller Junior. Ich habe schönes Geld verdient, das ich nun nach Hause bringen und damit uns und unsere Eltern versorgen kann. Ich habe die schönste, klügste und beste Freundin gefunden, dich, Fiona Walsh aus Ballingarry. Du kehrst nun auch in deine Heimat zurückkehrt, um die Eltern zu unterstützen. Der Krieg hat ihnen einen Sohn, deinen Bruder, geraubt und den anderen schwer versehrt zurückgegeben. Was für Zeiten sind das, in die wir hineingeboren wurden! Was kann man Sinnvolles tun? "Diener sein ist nichts Dummes", hat mir einst Alice, die Frau eines Onkels in Ohio, gesagt. Auch ihr seid alle Dienerinnen. Es ist nicht immer einfach, in diesem Beruf seinen Stolz und seine Würde zu bewahren. Aber seht uns an, wir können das! Und auch wenn ihr hier in der Fremde, für fremde Leute arbeitet, tragt ihr alle bei..."
Weil jetzt wieder die Musik aufspielte, verstand Julia nicht mehr, was ihr Bruder sagte. Aber es war deutlich, dass er zum Abschluss dieser für ihn so ungewöhnlichen Rede gelangen wollte. Seine Augen füllten sich mit Tränen, während er weiterhin die Lippen bewegte. Er stellte sich hinter Fiona, klammerte sich an ihre Schultern und küsste sie auf den Scheitel. Suchte und fand sein halbvolles Glas, und wollte es in Richtung seiner Schwestern erheben. Aber diese waren alle aufgesprungen und drängten sich zu ihm vor. Jede wollte ihn umarmen, es bildete sich ein dichter Knäuel aus Leibern, Armen, Händen und Köpfen. Gegen Mitternacht wurden alle Fenster und die Eingangstüre geöffnet. Man füllte die Gläser, während die Kirchenglocken der Umgebung läuteten. Als sie verstummten, verharrten auch die Festgäste still und stumm. Das sonst übliche laute Mitzählen der zwölf Schläge blieb aus. Das neue Jahr, 1917, löste das alte ab, und die Cornoler hörten nicht mehr auf mit Umarmen und sich gegenseitig Mut zusprechen.
"Bouénne annèe, bouénne annèe, bouénne annèe!"

Julia fand nicht, dass es gut anfing, dieses neue Jahr. Schlechte Nachrichten folgten sich Schlag auf Schlag, und da Mr. Leslie sich nicht getraute, die politische Lage mit seiner hochschwangeren Frau zu besprechen, wandte er sich mit seinen diesbezüglichen Sorgen an sein Hauspersonal. Im Februar verkündete der deutsche Kaiser, seine U-Bootflotte würde wieder jede Schonung ziviler Schiffe fallen lassen, was Präsident Wilson zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Deutschland bewog. Kurz darauf brach in Russland die Revolution aus, der Zar musste abdanken und es bildete sich eine provisorische Regierung, die mit dem Parlament sowie den streikenden Arbeitern und Soldaten zusammenarbeiten wollte. Anfangs März schliesslich veröffentlichte die New York Times den Inhalt eines Telegramms vom deutschen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes an den deutschen Gesandten in Mexiko. Das verschlüsselte Schreiben war vom britischen Geheimdienst entziffert worden und schockierte die amerikanische Öffentlichkeit durch seine Dreistheit. Deutschland rechnete, unter anderem wegen seines unbeschränkten U-Bootkrieges, mit dem sicheren Eintritt der USA in den Krieg. Man bat Mexiko um Unterstützung bei einem kommenden Krieg mit den Vereinigten Staaten, und versprach als Gegenleistung die Unterstützung bei der Rückeroberung der an Nordamerika verlorenen Gebiete in Neumexiko, Texas und Arizona.
"Unverschämt! Das ist ein Kriegsgrund!", rief Mrs. Leslie aus. Und so war es auch. Am sechsten April erklärten die USA Deutschland den Krieg. Was das bedeutete, konnte Julia genauso wenig einschätzen wie alle die Menschen, die sie danach fragte.

Anfangs April kam es zu einem fürchterlichen Temeratursturz an der Ostküste Nordamerikas. Eine Kaltfront drückte, vom nordöstlichen Atlantik her kommend, die warme Luft vom Boden weg nach oben und liess die Thermometer um fast vierzig Grad Fahrenheit abstürzen. Es kam zu Gewittern, und am Neunten blieb nach einem Blizzard eine Schneedecke von einem halben Fuss über New York und New Jersey liegen. Am Tag darauf gab es Nachwuchs im Hause Leslie. Rhoda Leslie kam als kerngesundes Mädchen zur Welt. Sie war zwanzig Zoll lang und sechseinhalb Pfund schwer, völlig normal nach Julias Umrechnung. Was es bedeutete, für zwei kleine Kinder verantwortlich zu sein, sollte sie bald erfahren.