Samstag, 24. Juli 2021

Caughs and Sneezes

Es sah nicht so aus, als müsste Mr. Leslie in den Krieg ziehen, wenigstens vorläufig. Julia interessierte sich nicht für die verschiedenen Abteilungen der Armee, also hätte sie nicht zu sagen gewusst, wo der Dienstherr eingeteilt worden war. Er sass in einem Büro eines der Rekrutierungszentren der Stadt, soviel war klar. Und er durfte nur an den Wochenenden nach Hause kommen. Seine Frau hatte längst wieder ihre Einsätze bei Wohltätigkeitsbällen aufgenommen und war häufig ausser Haus. Mitten im harten Winter war die kleine Rhoda von der Muttermilch entwöhnt worden, weil Mrs. Leslie sich zunehmend erschöpft gefühlt hatte. "Sie saugt mich aus! Zuletzt werde ich noch zusammenfallen wie ein leerer Handschuh!", war ihre Klage. Zu Beginn gestaltete sich die Umstellung nicht einfach für Rhoda, und in der Folge auch für Julia, die sie füttern und dabei alle möglichen, von der Dienstherrin gekauften Pulver anrühren musste, formula products nannte sie diese. Erst als sich das Interesse der Mutter vom Problem der Ernährung ihrer Tochter weg zu den Tanzveranstaltungen in der City verschob, konnte Julia, zusammen mit Victoria, der Köchin, selber ausprobieren, was dem kleinen Mädchen schmeckte und, ebenso wichtig, keine Blähungen verursachte. Jetzt, im späten Sommer, waren Rhodas Breie leicht, sie mischten zerdrückte Blaubeeren hinein oder geraffelten Apfel, von der frühen und sehr kleinen Sorte, welche Victoria bei einem Bauer der Umgebung direkt kaufte und als Strawberry Parfait bezeichnete. Die schmeckten ausgezeichnet und erinnerten Julia an die Äpfel aus dem Garten in Cornol. Mittlerweile konnte man Rhoda auch einen Apfelschnitz in die Hand geben ohne Angst zu haben, sie verschlucke sich daran. Sie war ein kleines Mädchen geworden, hatte im Mai zu laufen begonnen und tappte nun schon sehr unternehmenslustig im Garten umher, wenn man sie liess. Ihr Bruder sollte nach der Sommerpause in den "richtigen" Kindergarten kommen, wie er allen erzählte, die es noch nicht wussten. Inzwischen sah er in der kleinen Schwester keine Bedrohung seiner Position in der Familie mehr. Es war ihm erlaubt, die Türe seines Zimmers zu schliessen, wenn er seine Eisenbahn aufgestellt hatte, oder die Soldatenfiguren, mit denen er seine Vorstellungen des Kriegs verarbeitete. Er hing sehr an Rhoda, war rührend um sie besorgt, tröstete sie, wenn sie weinte, und schaute mit ihr geduldig die immer gleichen Bilderbücher an. Für Julia war er manchmal schon eine richtige Hilfe, und ein willkommener Gesprächspartner. Sie redete zu ihm so als würde er alles verstehen, nicht wie seine Mutter, die sich ihm gegenüber übertrieben einfacher Wörter und Sätze bediente und dabei sogar ihre Stimme in die Höhe, in den Kopf, rutschen liess. Die Kosenamen, mit denen George dabei bedacht wurde, konnte sich Julia gar nicht alle merken. Wollte sie auch nicht, seit sie einmal im Wörterbuch nachgeschlagen hatte, was zum Beispiel cuddle bug hiess. Sie fand, den Sohn sollte man nicht Kuschelwanze nennen, auch wenn es lieb gemeint war. Sie ertappte sich auch sonst zuweilen dabei, dass sie etwas besser zu wissen meinte als die leibliche Mutter der Kinder. Das war gefährliches Gelände, dessen war sie sich bewusst und hielt sich zurück, so gut sie konnte.

Meldungen über die Entwicklung einer weiteren Epidemie bereiteten ihnen natürlich allen Sorge. Es war schwierig, sich einen Überblick zu verschaffen, worum es sich bei dieser Krankheit handelte, wo und wie sie sich ausbreitete, und ob für sie, vor allem für die Kinder, eine Gefahr bestünde. Von den ersten Nachrichten in den Zeitungen, die offenbar schon im Frühling aufgetaucht waren, hatten sie gar nichts mitbekommen. Damals war von einer Erkrankung des spanischen Königs an einer besonders aggressiven Form der Grippe berichtet worden. Obwohl es sich bald herausstellte, dass die sich nun so rasant ausbreitende Krankheit ihren Ausgang eher von den Vereinigten Staaten genommen hatte, in Ausbildungszentren der Soldaten in Kansas, von wo sie sich dann mit deren Verlegung an die Küste und von dort nach Europa weiter verteilte, redete man nun fast nur noch von der spanish influenza, der Spanischen Grippe. Jetzt berichteten die Zeitungen täglich davon. Während einige die Ausbreitung der Krankheit nicht sonderlich ernst zu nehmen schienen und sich mit Cartoons über das Tragen von Gesichtsmasken lustig machten, druckten andere Warnungen in fetten Buchstaben – Coughs and Sneezes Spread Diseases – und zeichneten ein düsteres Bild, indem sie von überfüllten Krankenstationen und sogar von Friedhöfen schrieben, die keinen Platz mehr fänden für die Toten. Nach einer ersten Attacke von Panik, die sie in der Erinnerung an die letzte Epidemie ergriffen hatte, beruhigte sich Mrs. Leslie wieder etwas, als man erfuhr, dass nicht wie bei einer normalen Grippe in erster Linie die Kinder und Betagten betroffen seien, sondern die Zwanzig- bis Vierzigjährigen. Dass sie selber in diese Kategorie fiel, schien sie weniger zu beunruhigen als die Sorge um ihre Kinder. Dann kam die Meldung, Georges Kindergarten würde nach der Sommerpause gar nicht eröffnet. Auch andere Schulen blieben geschlossen. In einigen Staaten, vorläufig nicht in New York, mussten Kinos, Tanzlokale, dann sogar Sonntagsschulen ihre Tore schliessen, weil sich immer deutlicher abzeichnete, wie sich die Krankheit ausbreitete, nämlich bei grossen Menschenansammlungen. Mrs. Leslie musste schweren Herzens eine Tanzveranstaltung im Herbst absagen, deren Planung schon weit gediehen war. Als die ersten unter ihren Freundinnen und Bekannten krank wurden, befand ihr Mann, sie solle mit den Kindern für ein paar Wochen nach Long Island fahren. Es gelang ihm, ein Haus in Oyster Bay zu mieten, in dem sie schon einmal die Sommerzeit verbracht hatten, und er bekam auch zwei Tage dienstfrei, um seine Familie und die Hausangestellten dorthin bringen zu können.

Julia freute sich auf einen Ortswechsel, ganz besonders aufs Meer. Sie wollte anlässlich des sonntäglichen Kirchenbesuchs Mathilde und Josephine Bescheid sagen, dass sie wohl mehrere Wochen abwesend sein würde, aber die grosse Sonntagsmesse war abgesagt. Sie mussten sehr früh aufstehen, um die Frühmesse besuchen zu können, alle mit Stoffmasken ausgerüstet, die man zum Glück im Gemeindehaus kaufen konnte. Nur der Priester trug keine, und sie durften sie zur Kommunion auch kurz ausziehen. Sie und Mathilde fanden das alles übertrieben, Josephine aber sagte nichts dazu. Sie schien bedrückt zu sein. Als sie nach der Kirche beim Kaffee sassen, zog sie einen Brief von zuhause aus der Tasche, Célina hatte geschrieben.
"Schlechte Nachrichten, leider", sagte Josephine.
Jean Baptiste und Anna hatte man schwer krank ins Spital bringen müssen, beide mit Lungenentzündung, und man bete, dass sie es überstehen würden. Die Schwestern waren entsetzt.
"Was!? Aber sie haben doch die beiden Kleinen!
"Was ist mit ihnen, wo sind die jetzt?"
Josephine las weiter vor. Der kleine Jean Baptiste, jetzt zwei Jahre alt, war in Cornol untergebracht worden. Pierre, den Anna noch gestillt hatte, musste entwöhnt und bei einer lieben Nachbarin im Haus untergebracht werden, einer Frau Lütholf. Mathilde wollte wissen, wann der Brief geschrieben worden sei. Josephine schaute auf den Stempel.
"Vor zweieinhalb Wochen. Es ist aber kein Telegramm gekommen, ich hoffe, das heisst, dass sie die Krankheit überstehen – schon überstanden haben. Hoffentlich, lieber Gott!"
Julia wollte wissen, ob das jetzt die Spanische Grippe sei, welche den Bruder und die Schwägerin heimsuche. Mathilde meinte, ja.
"Es beginnt wie eine normale Grippe, habe ich gehört, mit Husten, Fieber, Kopfweh und Gliederschmerzen. Irgendwann wird es entweder besser und du bist wieder gesund, oder es gibt eine Lungenentzündung daraus. Und die..."
"Hör auf!", unterbrach sie Julia. Sie wollte sich das nicht vorstellen, plötzlich war die Krankheit so nahe. Sie streckte die Hände nach ihren Schwestern aus und begann zu schluchzen.
"Heilige Mutter Gottes, nicht Jean Baptiste, bitte, nicht ihn!"
Mathilde versuchte sie zu trösten und abzulenken.
"Komm, komm! Jean Baptiste ist zäh, und Anna sicher auch. Er nennt sie ja seine Habsburgerin. Die überstehen das! – Wann fährst du?"
Julia trocknete sich die Augen und sagte:
"Übermorgen. Ich wäre gern mit dem Zug gefahren, aber wir nehmen das Auto wegen dieser blöden Grippe. Ich weiss gar nicht, wie lange man braucht bis Oyster Beach. – Ich werde dich anrufen, vielleicht nächste Woche. Bis dann weiss man hoffentlich, ob es gut ausgegangen ist."

Mrs. Leslie und die Kinder blieben schliesslich bis in den Herbst auf Long Island. Julia konnte ihren Aufenthalt erst geniessen, als sie anfangs Oktober endlich von der Genesung ihres Bruders und der Schwägerin erfuhr. Sie hatte ein langes Telefongespräch mit Mathilde, das freundlicherweise von deren Dienstherrin, Mrs. Bayne, bezahlt wurde. Den beiden kleinen Buben war es unterschiedlich ergangen. Während der ältere, Jean Baptiste Junior, in einer doch einigermassen vertrauten Umgebung in Cornol von den Grosseltern verwöhnt und verhätschelt worden war, fremdelte der kleine Pierre bei der lieben, aber halt sehr beschäftigten Nachbarin und wollte über Wochen fast nichts essen. Dabei sei er bis auf sein winziges Skelett abgemagert und habe erst langsam wieder aufgepäppelt werden können. Nun gehe es aber aufwärts mit der jungen Familie, und Jean Baptiste hoffe, bald wieder seinen Dienst antreten zu können. Sie fragte ihre Schwester, wie es in der Stadt mit der Grippe stehe.
"Tja, man sagt, der Höhepunkt ist noch nicht erreicht. Es scheint aber noch immer besser zu sein als in Boston oder Philadelphia, obwohl sie hier weder die Schulen noch die Theater und Kinos je ganz zugemacht haben. Copeland, das ist der Gesundheitskommissar, von dem jetzt überall gesprochen und geschrieben wird, der fand immer, es sei besser, öffentliche Ansammlungen von Menschen dazu zu benützen, die Hygienevorschriften zu erklären. Und das ist schon verrückt. Du musst dir vor jedem Konzert oder Film diese Vorträge anhören, von irgendwelchen weiss gekleideten Menschen mit Mikrofon. Ob das Wissenschaftler, Ärzte und Krankenschwestern sind, wie sie behaupten, weiss kein Mensch, die tönen eher wie Schauspieler. Viel zu reden gaben die gestaffelten Bürozeiten, die einfach befohlen wurden. Mit denen man das Gedränge in den Zügen, der Metro und den Omnibussen verhindern wollte. Man sagt, es habe nicht so viel gebracht, weil sich manche Unternehmer weigerten, das zu machen. Gut sind die vielen Gesundheitszentren, die sie eingerichtet haben, ich glaube, weit über hundert."
"Was sind das für Zentren, was macht man dort?", wollte Julia wissen.
"Einige sind Kliniken, in denen die Kranken behandelt werden, die keinen Platz in den Spitälern mehr finden. Die meisten sind aber Unterkünfte für Krankenschwestern, die in den Quartieren zu den Familien gehen, wo es Kranke gibt. Seit September muss eigentlich jeder gemeldet werden, der die Spanische Grippe hat, oder bei dem man denkt, er habe sie. Und eigentlich müssen die Kranken isoliert werden, damit sie nicht alle in der Umgebung anstecken. Du kannst dir vorstellen, wie schwierig das ist in den Mietshausvierteln, zum Beispiel in der Lower Eastside.
"Ja, schlimm! Wie geht es denn jetzt weiter? Müssen wir jetzt immer Masken anziehen?"
"Ich weiss es nicht. Seit einer Woche stecken sich wieder viel mehr Menschen an, es ist wie eine neue Welle. Und die Krankheit ist wirklich schlimm, wenn sie ausartet, Julia. Eine aus Cornol, du kennst sie auch, die Alice Gaignat, so alt wie wir etwa, ist letzte Woche gestorben. Ihre Schwester hat mir erzählt, wie das war. Furchtbar! Sie wollte am Schluss nicht mehr liegen, weil sie keine Luft bekam. Hat dauernd Schleim und Blut gespuckt, ihr Gesicht, die Hände und Füsse wurden ganz blau. Und sie hatte so Angst! Es war eine Erlösung, als sie endlich sterben konnte."
Julia schluckte und schluckte. Sie konnte nichts sagen.
"Julia?"
"Ja, ich bin noch da."
"Du ziehst lieber diese Maske an, wenn du nahe bei andern bist. Man gewöhnt sich daran."
"Kann man denn sonst nichts machen gegen die Krankheit? Impfen zum Beispiel?"
"Mr. Bayne kauft immer die Washington Time und liest uns die Artikel vor, die ihn interessieren. Da stand vor kurzem, sie hätten in Boston mehreren Marines einen Orden verliehen, die gar nie im Krieg gewesen waren. Sie hatten sich freiwillig gemeldet für einen Versuch mit Blutserum von Menschen, welche die Grippe überstanden haben. Die haben sich das Zeug einspritzen lassen, stell dir vor! Ohne zu wissen, ob sie nicht sterben davon."
"Und, sind sie gestorben?"
"Nein, offenbar haben sie es überlebt. Und es stand noch, die Ärzte und Wissenschaftler hätten bei dem Versuch viel Neues erfahren über die Krankheit. Wir werden sehen."
Julia hörte Mathilde am Telefon husten und machte sich gleich Sorgen.
"Hast du Husten? Pass bitte auf dich auf! Trink viel Milch!"
Mathilde lachte.
"Ja, Maman, mache ich. Du aber auch!"

Die Miete des Hauses war teuer, wie sie aus den Gesprächen der Herrschaften erfuhr. Es war aber auch grösser als ihr eigenes in Short Hills, sie brauchten längst nicht alle Zimmer. Und weder sie noch die anderen Hausangestellten hatten je so grosse Räume ganz für sich gehabt. Die Aussicht aus ihrem Zimmer, auf die Bucht und einen Teil der Küste, war atemberaubend schön. Morgens um halb sieben, wenn die Kleine aufwachte, schien ihr die aufgehende Sonne direkt aufs Bett. Im Gegenlicht sah man die Farbigkeit der Herbstbäume noch nicht, später aber, wenn sie beim Frühstück sassen und aus dem Fenster schauten, war das Leuchten des Laubs fast unwirklich. Sie war viel draussen mit den Kindern, man hatte seine Route mit dem Kinderwagen von Rhoda. Auf einem kleinen Trittbrett konnte George mitfahren, wenn er nicht mehr laufen mochte. Sie gingen immer zuerst zum kleinen Hafen um den Fischerbooten zuzuschauen, wenn sie vom nächtlichen Fang zurückkamen. Dann ging es einen mit grossen Steinplatten belegten Weg der Uferkante entlang, bis er in einen sandigen, über die Dünen ansteigenden Pfad überging, der mit dem Wagen knapp zu bewältigen war. Aber dahinter war das Paradies für die Kinder, ein endloser Strand mit feinem Sand, mit einem schmalen Streifen aus Tang und allerlei Treibgut, Muscheln und Schneckenhäusern. Am Anfang ihrer Zeit in Oyster Bay hatten sie hier oft gebadet, das Meer war meist ruhig gewesen, das Wasser angenehm warm und das Ufer bis weit draussen flach abfallend. Jetzt gingen sie nur noch mit den Füssen und Waden ins Wasser, morgens und abends brauchte man bereits einen Pullover oder eine Windjacke. Hier am Strand hatte es auch viele andere Kinder gegeben, was vor allem für George wichtig war. Er war oft traurig, dass er nicht in den Kindergarten gehen konnte, vor allem jetzt, wo die Familien aus New York wieder zurückgefahren waren und nur noch wenige übrig blieben. Es war schwierig, ihm die Situation mit der Krankheit so zu erklären, dass er sie verstand. An die Masken tragenden Erwachsenen hatte er sich aber gewöhnt, wie Rhoda, die unbeirrbar fröhlich blieb, solange vertraute Menschen um sie waren. Julia ging es gut hier. Sie kam mit Joseph, seit der kurzen Affäre und der abschliessenden Auseinandersetzung, sehr gut zurecht. Er hatte es tatsächlich geschafft, zu seiner Molly zu stehen und sie, als sie schon einen dicken Bauch herumtrug und zum Gespött zu werden drohte, zu heiraten. Er arbeitete nicht mehr jeden Tag für die Leslies, und war auch jetzt früher nach New York zurückgereist, um bei seiner Frau und dem kleinen Joseph sein zu können. Dadurch war Julia wieder sehr eingespannt, aber sie hatte sich daran gewöhnt, den ganzen Tag auf die Kinder aufzupassen und daneben auch noch aufzuräumen und zu putzen. Aus Mrs. Leslie wurde sie nicht schlau. Jetzt, wo sie nicht Bälle organisieren konnte, war sie wieder hauptsächlich mit dem Anschauen von Katalogen beschäftigt. Sie hatte auch angefangen, sich Dinge aus der Ferne per Post nach Long Island bringen zu lassen, Gartenmöbel, Haushaltgeräte und Geschirr, Kleider und Schuhe. Wenn etwas nicht passte, packte sie es wieder ein und gab es dem Postboten mit. Julia hatte keine Ahnung, ob sie dann etwas anderes dafür erhielt oder ob das Geld zurückbezahlt wurde. Für die Kinder schien sie sich nicht wirklich zu interessieren. Zwar war sie immer besorgt, es könne ihnen etwas zustossen, und sie gurrte und turtelte mit hoher Stimme, wenn sie sich an die Kleinen wandte, erfand dabei immer neue Kosenamen. Aber wenn die Kinder etwas von ihr wollten, ein Kinderbuch erzählt bekommen, ihr etwas zeigen oder erzählen, mit ihr etwas spielen, dann hatte sie oft gerade keine Zeit. Oder sie ging zwar kurz auf den Wunsch ein, man sah aber an ihrem abwesenden Blick und ihrem Verhalten, dass sie woanders war mit den Gedanken. Manchmal lief sie auch einfach davon, ohne sich zu erklären, und liess die Kinder verwirrt zurück. Wenn Mr. Leslie an einem Wochenende frei hatte und es ihm gelang, hierher zu fahren, dann wollte sie sofort und möglichst lange mit ihm ausgehen, und die Kinder hatten auch dann wenig von ihren Eltern. "Es geht ihr nicht gut", dachte Julia, und fragte sich, wozu die Menschen eigentlich Kinder hätten.

Es war denn auch Mrs. Leslie, die Mitte Oktober darauf drängte, wieder nach New Jersey zurückzukehren. Georges Kindergarten hatte angekündigt, seine Türen wieder zu öffnen, obwohl sich die Grippe wieder vermehrt ausbreitete. Man wollte die Kinder in zwei Gruppen einteilen und diese abwechselnd betreuen. Zudem versprach die Leiterin, möglichst viele Aktivitäten ins Freie zu verlegen, wann immer es das Wetter zuliesse. George freute sich unbändig, als er davon erfuhr. Auch Mrs. Leslie schien es auf einmal eilig zu haben, nach Hause zu kommen. Ihr Ehemann war damit sehr einverstanden, wie er telefonisch mitteilte. Er konnte ihnen aus dienstlichen Gründen bei der Rückreise nicht beistehen und wollte sie am kommenden Wochenende in Short Hills empfangen. Zum Schluss teilte er seiner Frau mit, nach seinen Informationen sei der Krieg bald vorbei. Sie wurde so aufgeregt, als sei es bereits eine Tatsache. Es wurde gepackt und zusammen mit Joseph, der zurückgekehrt war, fast schon hastig das Auto beladen. Dann fuhr sie George, der Chauffeur, in Richtung New York City. Auf der Fahrt diskutierten er und der Butler lange darüber, was für und gegen ein schnelles Kriegsende spreche. Julia konnte nicht bei allem folgen, was sie sagten. Sie musste immer wieder überlegen, ob die erwähnten Länder zu den Alliierten oder zu den Andern gehörten. Die Bezeichnungen wechselten ja nicht nur in diesem Gespräch im Auto, sondern überall, wo über den umfassenden Krieg gesprochen wurde. Wir hiess meistens die Alliierten, manchmal auch die Entente, dann die Briten, die Franzosen und wir. Die Andern waren der Hunne, die Teutonen, die Deutschen. Bei den Frankophonen les boches, bei den Cornolern les Allbeutches. Aber diese hatten ja auch Verbündete, mit denen zusammen sie die Mittelmächte genannt wurden, die jetzt offenbar nach und nach auseinanderbrachen, als Ganzes und im Einzelnen, wie Joseph höhnisch bemerkte.
"Die Osmanen haben in Palästina endgültig auf die Nase bekommen. Und Bulgarien bettelt um einen Waffenstillstand ohne Bedingungen!"
George bestätigt das und doppelt nach:
"Auch Österreich-Ungarn bittet um Friedensverhandlungen."
"Ja, und was machen die Deutschen? Die meinen immer noch, Präsident Wilson würde mit einem Kaiser verhandeln. Dabei sind unsere Bedingungen klar seit dem Sommer: Frieden mit den Deutschen gibt es nur, wenn der Kaiser abdankt und Armee und Flotte entwaffnet werden!"
Mrs. Leslie griff mässigend in die Diskussion ein, wenn sich die Männer zu sehr ereiferten.
"Bitte lenken Sie George nicht vom Fahren ab, Hogan. Übrigens meint mein Mann, ein baldiges Ende dieses unsäglichen Krieges sei vor allem auch deshalb in Griffweite, weil unsere Truppen so erfolgreich kämpfen in Frankreich."
Der Butler traute sich einzuwenden:
"Das ist sicher richtig, Mylady. Hoffen wir, dass die Spanische Grippe bei diesen Bemühungen nicht den Spielverderber macht."

Julia hatte nie damit gerechnet, selber krank zu werden. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal länger als einen Tag hatte im Bett bleiben müssen. Und nun fühlte sie sich von einer Stunde zur andern wie gerädert. Die Augen taten ihr weh, ihr Körper reagierte auf Berührung so empfindlich, als ob ihr die Haut abgezogen worden wäre. Pinkeln war eine Tortur, und bald konnte sie nicht mehr gerade gehen, weil ihr so schwindlig war. Dann kam der Husten, und sie begann zu schlottern. Mrs. Leslie verbot ihr sofort jeden Kontakt zu den Kindern, schickte sie ins Bett und liess den Doktor kommen. Dieser zog sich eine Maske über das Gesicht und mass ihr das Fieber.
"Hundertdrei Grad, Sie haben die Grippe keinen Zweifel. Waren Sie in der City an der Parade?"
Julia konnte nur schwach nicken.
"Das ist Pech, aber da sind Sie wohl in breiter Gesellschaft. Die Feiern zum Kriegsende sind nicht gerade das, was wir jetzt brauchen. Wildfremde Leute umarmen einander, schreien sich ihre Freude ins Gesicht, singen lauthals, husten und niesen zwischendurch, ohne Taschentuch! Wir werden die ganze Bescherung sehen in ein zwei Wochen."
Er wandte sich an Mrs. Leslie die, ebenfalls mit Maske, draussen vor Julias Zimmer wartete.
"Man sollte sie von Ihrer Familie fernhalten. Es gibt hier ein Gesundheitszentrum im Distrikt, da werden Zimmer zur Isolation der Kranken vermittelt. Die werden dann von den Krankenschwestern besucht und versorgt. Ich gebe Ihnen die Karte, rufen sie dort an, möglichst gleich."

Von ihrer Verlegung in die Isolation bekam Julia kaum etwas mit. Sie konnte sich später daran erinnern, mit dem Auto gefahren worden zu sein, vom Chauffeur. Dass er sie aus dem Haus ins Auto, und von dort in ihr Krankenzimmer getragen hatte, erfuhr sie erst, etwas peinlich berührt, als sie wieder gesund war. Sie konnte sich an wilde Träume erinnern, in denen sie in gigantische Maschinen geraten war, zwischen stampfende und mahlende Kolben, deren Lärm ihre Gedärme erschütterte und den Kopf zerplatzen liess. In einem Traum, der sich in Varianten wiederholte, wurde sie von einem grimmigen Soldaten, einmal war es ein Gorilla, gepackt und umhergetragen. Er hatte eine Pickelhaube auf dem Kopf, einen riesigen Schnurrbart und stechende Augen. Trotzdem hatte sie keine Angst vor ihm, seine Wut schien sich auf Verfolger zu richten, die aber nie sichtbar wurden. Erst mit der Zeit realisierte sie, dass sie von einer sehr freundlichen älteren Frau versorgt wurde. Diese machte ihr kühlende Wadenwickel, die stechend nach Essig rochen, und wusch sie einmal im Tag sorgfältig von Kopf bis Fuss. Julia fror dabei so, dass ihre Zähne aufeinander schlugen. Die Frau fütterte sie mit heisser Brühe und darin eingeweichtem Brot, sie nötigte sie zum Trinken grosser Mengen von Tee, und half ihr auf den Topf, wenn es nötig war. Als es ihr ein wenig besser ging, wurde sie auf den Bettrand gesetzt und die Frau klopfte ihr geduldig den Rücken und die Brust, bis der Hustenanfall kam und sie Schleim ausspuckte in eine glänzende Schale. Erst jetzt konnte sie erfassen, dass die Frau einen Namen hatte. Yvonne Cardwell hiess sie, war früher Gemeindeschwester gewesen und hatte sich jetzt wegen der Epidemie freiwillig zum Dienst an den Kranken gemeldet. Sie hatte keine Angst, sich anzustecken, meinte sogar, die Grippe in milder Form im Frühsommer gehabt zu haben und daher immun zu sein dagegen.
"Sie sind ein Engel! Meine Rettung. Meine Dienstherrin wollte mich sofort loswerden, als ich mit dem Husten anfing. Ich weiss nicht, ob ich dorthin zurückkehren kann, und ob ich das überhaupt will."
Mrs. Cardwell riet ihr, sich unbedingt ein Arbeitszeugnis ausstellen zu lassen.
"Das ist in dieser Zeit ein grosses Problem. Hausangestellte, die krank werden, sind ganz ungeschützt. Man sieht das jetzt überall, wie sie einfach auf die Strasse gestellt werden, meist ohne sich, wie es in ihrem Fall wenigstens geschah, darum zu kümmern, wo die Kranken dann untergebracht werden. Sie haben nicht die Mittel fürs Spital. Dann gehen sie in irgendeine billige, überfüllte Absteige, stecken dort weitere arme Menschen an, und wenn sie Pech haben, sterben sie elend und allein in diesen Löchern. Ich hab's mit eigenen Augen gesehen!"

Im Januar war Julia wieder auf den Beinen, noch wackelig, aber guter Dinge. Sie hatte die Spanische Grippe überlebt, wie ihr grosser Bruder und seine Frau. Sie waren zäh! Und sie bekam ihr Arbeitszeugnis von Mrs. Leslie, ein von Hand geschriebenes graues Faltblatt, auf dem stand:
Short Hills, 25. Januar 1919
Julia Chiquet war in den letzten drei Jahren bei mir angestellt. Sie wurde krank im Dezember und hat uns deswegen verlassen. Sie ist ehrlich, vernünftig und von gutem Gemüt. Sie hat für meine zwei Kinder gesorgt und war sehr hingebungsvoll und treu. Ich werde gerne jedwede Frage zu ihr beantworten.
Mrs. George Leslie Jr.

Mrs. Cardwell war entrüstet über die Bemerkung zu Julias Krankheit.
"So etwas schreibt man doch nicht in ein Zeugnis! Wahrscheinlich meinte sie es noch gut, wollte damit sagen, dass sie Ihnen nicht gekündigt hat. Das ist dumm!"
Julia wollte die Dienstherrin nicht um ein neues, anders formuliertes Zeugnis bitten. Sie wusste nun, dass sie nicht zu den Leslies zurückkehren wollte. Die Kinder würde sie sehr vermissen, das war ihr klar. Sie waren fast ein wenig zu ihren eigenen geworden, jede kleine Veränderung, jeden ihrer Entwicklungsschritte hatte sie miterlebt in den vergangenen drei Jahren. Sie war zuerst überrascht und erschrocken gewesen über ihre mütterlichen Gefühle, mit der Zeit aber hatte sie die Notwendigkeit eingesehen, sich ganz auf die Kleinen einzulassen, deren leibliche Mutter oft mit anderem beschäftigt und in ihren Gemütsstimmungen schwankend gewesen war. Sie hoffte, Mrs. Leslie würde wieder eine gute Kinderfrau finden und einstellen, und nicht auf die Idee kommen, sich alleine durchzumogeln. Aber das war nun nicht mehr ihre Sache. Julia war zuversichtlich, dass nun alles besser werde, jetzt, wo die Krankheit überwunden und der Krieg endlich vorbei war.

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