Samstag, 7. August 2021

Bei den Baileys

Gegen Ende des ersten Jahres nach dem Grossen Krieg war sie wieder als Kinderfrau angestellt. Ganz ohne den älteren Bruder, auch ohne dessen Vermittler Edmond Jacquelin, den sie öd fand, war es ihr zusammen mit Mathilde gelungen, eine Anstellung wie aus einem Traum zu finden, dazu noch in der Nähe ihrer Schwester. Sie konnte ihr Glück nicht fassen. Nach ihrer Genesung hatte Mathilde ihre Herrschaften dazu bewegen können, Julia für eine Weile als zahlenden Gast im Hause aufzunehmen. Der Preis für die Miete war eher symbolisch und wurde auch nur für den ersten Monat erhoben, weil sie bald kräftig im Haushalt anpackte. Noch besser aber waren die Bemühungen der Hausherrin, der Ältesten unter den Geschwistern, für sie eine Arbeitsstelle zu finden im weiten Kreis ihrer Bekanntschaften. Miss Ruth Bayne bekam Kenntnis davon, dass Mr. und Mrs. Dewey C. Bailey Junior, ebenfalls wohnhaft in der Nachbarschaft von Lennox Hill, in der Upper Eastside von Manhattan, eine Kinderfrau für ihre fünfjährige Tochter Elsie Adell suchten. Die Eltern kamen beide aus Denver, Colorado. Mr. Bailey war Anwalt in einer Kanzlei an der Wall Street, Sohn des eben gewählten Bürgermeisters von Denver, Mayor Dewey Crossman Bailey, der davor US Marshall gewesen war. Mrs. Bailey kümmere sich neben dem Haushalt und ihren Mutterpflichten um vielerlei kulturelle und wohltätige Organisationen. Sie reise oft und gerne und begeistere sich für Kultur, Kunst und Mode, so die zusammenfassende Schilderung von Miss Bayne. Die Baileys bewohnten ein ganzes Stockwerk in einem der grossen Stadthäuser an der oberen Park Avenue, eine ausgezeichnete Adresse.

Wenn Julia jetzt an ihre erste Begegnung mit der neuen Dienstherrin zurückdachte, freute sie das immer noch. Sie war sehr aufgeregt gewesen an jenem Morgen, bevor sie sich zu Fuss aufgemacht hatte zu den Baileys. Ihr Weg auf dem Trottoir der breiten Strasse zog sich dahin, sie hatte eine Viertelstunde Zeit um sich ein weiteres Mal zu überlegen, wie sie einen guten Eindruck hinterlassen könnte, welche ihrer Eigenschaften, Fähigkeiten und Erfahrungen sie in den Vordergrund rücken sollte. Sie malte sich aus, wie sie vor Mrs. Bailey stünde, in ihrer Vorstellung eine imponierende, deutlich ältere patronne, die ihr von einem bequemen Sessel aus zuhören und sie dabei kritisch mustern würde. Sie nahm sich vor, nicht einfach weiter zu plappern, wenn sie eine Frage der Dienstherrin beantwortet hätte und diese danach schwiege, eine Schwäche von ihr. Aber es kam ganz anders. Als sie mit dem Lift zur Wohnung hoch gefahren war und auf den Klingelknopf drückte, hörte sie hinter der Tür eine helle Kinderstimme, die eifrig rief:
"Ich, ich!"
Das Schloss klackerte ein paar Mal, bis sich die Türe langsam öffnete. Dahinter stand ein kleines Mädchen, ganz in Weiss, das sie mit gerunzelter Stirn musterte. Als Julia sagte: "Du musst Miss Elsie sein. Hallo, ich bin Julia", drehte sich die Kleine suchend um. Da kam aus dem halbdunkel des Flurs eine junge Frau, die, nach Julias nicht sehr weit reichenden Kenntnissen, überaus elegant und nach der neusten Mode gekleidet, geschminkt und frisiert war. Sie lachte entschuldigend und streckte Julia energisch ihre Hand entgegen.
"Julia, bitte entschuldigen Sie. Elsie wollte Ihnen unbedingt selber aufmachen. Das ist, wie Sie bald bemerken werden, ihr Lieblingsausdruck in letzter Zeit: "ich selber!""
Ein Zimmermädchen nahm Julia den Mantel ab und sie folgte Mrs. Bailey, wobei sie deren sehr tiefes Rückendecolletée bewundern konnte. Sie kamen in ein geräumiges Studierzimmer, dessen Wände weiss gestrichen waren und sich in der Höhe über mehrere scharfe Rippen nach innen zu einer rechteckigen Kuppel wölbten. Der riesige Schreibtisch sah aus wie eine moderne Brücke, ein Schrank dahinter wie ein Wolkenkratzer. Bei beiden waren die senkrechten Flächen mit tiefen, schmalen Rillen verziert, was die Möbelstücke aussehen liess, als seien sie aus Eisen gemacht. Als die Dienstherrin Julias Staunen bemerkte, sagte sie:
"Wir lieben den Modern Style, wie Sie sehen. Es wandelt sich gerade alles, wir werden das bald wieder verändern müssen, fürchte ich. Aber bitte nehmen Sie doch Platz. Wollen Sie etwas trinken? Tee, Zitronenwasser?
Und zu ihrer Tochter, die ihnen gefolgt war, sagte sie:
"Elsie Schatz, du kannst nur hier bei uns bleiben, wenn du ganz still bist und dein Büchlein anschaust. Julia und ich haben Wichtiges zu besprechen."
Julia erwartete nicht, dass das kleine Mädchen diese Bitte erfüllen würde. Aber Elsie sass die ganze Zeit still an ihrem Platz. Auch als sie das Buch durchgeblättert hatte, blieb sie sitzen. Sie verstand wohl kaum etwas von dem, was besprochen wurde, dennoch schien sie zuzuhören und liess die grossen Augen zwischen ihrer Mutter und der neuen nurse hin und her wandern. Mrs. Bailey nahm sich viel Zeit für das Gespräch, das eher zu einem Monolog ihrerseits wurde. Julia musste sich sehr konzentrieren, um nichts von dem zu verpassen, was unmittelbar ihren zukünftigen Auftrag betraf, denn die Dienstherrin kam von einem zum andern, plauderte über Musik und Theaterstücke, über die bevorstehende Präsidentschaftswahl, bei der die Frauen nun endlich auch mittun durften. Über moderne Möbel, Kindererziehung, die Sorgen ihres Mannes wegen den Schwierigkeiten seines Vaters als Bürgermeister von Denver, über das Sommerhaus in Maine, die Macken des neuen Autos und noch vieles andere mehr. Die Besichtigung der Wohnung wurde dadurch eingeleitet, dass Elsie Julia die Zimmer zeigen durfte.

Dabei kam es Julia so vor, als sei sie selber dieses Persönchen, das da auf einem Bein, dann wieder auf dem andern, vor ihnen her hüpfte. Ab ins Kinderzimmer, wo das Schaukelpferdchen auf sie wartete, und das grosse Puppenhaus. Und die Bären. Schaut, was ich ihnen angezogen habe, dem kleinen das Häubchen, dem grösseren die Schürze. Das ist mein Bett, mein weiches Sprungbett, hei, wie ich fliege!
"Und da wirst du wohnen", gab sie Julia über die Schulter Bescheid, und öffnete die Türe zum Nebenzimmer, wo es ein grosses Bett gab, einen Kasten und eine Kommode. Die Waschschüssel mit fliessendem warmem Wasser, dahinter ein grosser Spiegel. Mrs. Bailey zog die Vorhänge zurück.
"Ihr Zimmer geht nach hinten auf die Gärten, Sie haben Glück! Der Verkehr auf der Park Avenue ist manchmal überdeutlich zu hören, leider. Und schauen Sie, dort ist die Kuppel der St. Jean Baptiste Church zu sehen, Sie sind doch katholisch? Es ist die Kirche der Französich-Kanadier, ich meine, dass dort Messen auf Französisch abgehalten werden."
Mathilde hatte ihr schon von dieser Kirche erzählt, nun würden sie bald gemeinsam dahin gehen können. Und in den grossen Park. Sie schloss für ein paar Sekunden die Augen und öffnete sie wieder, um sicher zu sein, dass sie nicht träumte. Elsie war in ihr Zimmer zurückgekehrt, Julia wurde von Mrs. Bailey in den Salon geführt. Auch hier waren die Wände weiss und liessen die Möbelstücke, Teppiche und Bilder in scharfem Gegensatz hervortreten. Jeder Gegenstand schien in einer geheimen Beziehung zu den anderen zu stehen, an einem kunstvoll berechneten Ort. Nicht wie bei ihnen zuhause, wo die Dinge im Gebrauch herumgeschoben wurden, bis sie da landeten, wo sie vergessen wurden, oder nicht mehr störten und blind gegriffen werden konnten. Und das, was nach und nach dazukam, dorthin gestellt oder gehängt wurde, wo es eben noch Platz gab. Mrs. Bailey zeigte ihr das Grammophon – Julia hatte gar nicht gewusst, dass es solche ohne Trichter gab – und die Schallplatten, die einen ganzen Schrank füllten. Ausserdem stand, an einer gegenüberliegenden Wand, ein Klavier.
"Ach die Musik! Sie werden sehen, was die für eine Rolle spielt bei uns. Manchmal schaffen wir hier alle Möbel und Teppiche beiseite und tanzen!"
Dann aber, als sie sich nochmals gesetzt hatten, war die Dienstherrin ganz darauf konzentriert, Julia ihre Aufgaben zu erläutern. Elsie sei noch nicht bereit für den Kindergarten. Man wolle sie noch spielen lassen, sie dabei gleichzeitig in ihren Fähigkeiten und Begabungen fördern. Das hiesse, sie beim Spielen sachte zu begleiten, sie anzuregen, mit ihr zu malen oder Puzzles zusammenzusetzen. Ihr Geschichten erzählen, singen. Wenn immer möglich, solle Julia mit ihr ins Freie gehen. Ein grosser playground im Central Park sei in fünf bis zehn Minuten zu Fuss zu erreichen, und Elsie habe viele kleine Freunde, die auch regelmässig dorthin kämen, um zu spielen. Im Sommer und bis in den Herbst hinein gäbe es dort Theateraufführungen und Konzerte, extra für die Kinder, und Elsie liebe das. Sie sei ein liebes Mädchen, das aber genau wisse, was es wolle. Manchmal könne sie bockig sein und müsse klare Grenzen gesetzt bekommen. Dann kam die Dienstherrin auf die Bezahlung, auf die Bedingungen bei Krankheit, auf Freizeit und freie Tage zu sprechen. Sie ging dabei tastend vor, wie wenn sie darauf gefasst wäre, Julia würde mehr verlangen, als sie anbot. Aber dafür gab es keinen Grund – fünfzig Dollars pro Monat! – und alles, was Mrs. Bailey in Aussicht stellte, übertraf Julias Erwartungen ebenso wie das, was sie bei den Leslies erfahren hatte. Wie dort sollte Julia weisse Kleidung tragen, als sichtbares Zeichen ihrer Aufgabe als Kinderfrau. Man würde ihr zwei oder drei Garnituren anfertigen lassen. Schliesslich holte Mrs. Bailey noch die andern zwei Hausangestellten, um sie Julia vorzustellen. Beide hatten irische Wurzeln und denselben Vornamen, Mary. Miss Morgan, die Köchin, war etwa vierzig Jahre alt, Miss McDonough war zweiundzwanzig, fünf Jahre jünger als Julia, und als Zimmermädchen angestellt. Man gab sich höflich die Hand und musterte sich dabei aufmerksam. Den norwegischen Chauffeur, Einar Larsen, werde sie am Abend kennenlernen, wenn er mit Mr. Bailey von der Wall Street zurückkomme.

Und es trat ein, was man ihr gegenüber immer als unmöglich, auch gar nicht erstrebenswert bezeichnet hatte im Verhältnis zwischen den Herrschaften und ihrem Personal: sie wurde Teil der Familie. Jedenfalls empfand sie es so. Mr. und Mrs. Bailey interessierten sich für Julia als Julia, sie wollten alles wissen über ihre Herkunft, ihre Heimat, über die Eigenarten genauso wie über die wirtschaftliche Situation des Dorfes und der Region. Wer und wie ihre Eltern waren, ihre Geschwister. Woran man in ihrer Familie glaube, was zähle. Besonders fasziniert und entzückt war Mrs. Bailey über den Dialekt, weil sie einiges Französisch verstand und sogar etwas sprechen konnte. Umgekehrt erfuhr Julia schon bald viel über die Herrschaften, die ganz offen von sich und ihrer Heimat in Colorado erzählten. Von den beiden so unterschiedlichen Familien, aus denen sie stammten. Zum Beispiel waren die Baileys seit Generationen Republikaner, wogegen ihre Familie, die Lemens, immer für die Demokraten gewesen waren. Die beiden zogen sich gegenseitig auf wegen ihrer unterschiedlichen Überzeugungen, konnten über gewisse Themen, die von den beiden grossen Parteien gegensätzlich beurteilt wurden, auch energisch streiten, ohne sich deswegen böse zu sein. Gerade jetzt schaute man auf die Ereignisse des zu Ende gehenden Jahres zurück, und dabei gab es einige solcher Diskussionen. Wenn es um die Rolle der Polizei und der National Guard ging während dem blutigen Sommer, in dessen Verlauf es wieder zu Übergriffen gegen die schwarze Bevölkerung in Washington, Chicago und Arkansas gekommen war. Oder um die Razzien gegen Sozialisten und Kommunisten, welche sie als Folge einer hysterischen red fear bezeichnete, er hingegen durch die Bombenanschläge gegen Justizminister Palmer für durchaus begründet ansah. Trefflich streiten liess sich über den Sinn des Alkoholverbots, auch wenn das Gesetz dazu nun bereits die Zustimmung durch den Kongress gefunden hatte und im kommenden Jahr durchgesetzt werden sollte. Mrs. Bailey war im Rahmen ihrer wohltätigen Aktivitäten den Auswirkungen des Alkoholismus begegnet und hatte gesehen, was er mit den betroffenen Familien anstellte. Dazu wusste auch Julia zu erzählen aus Cornol, wo schon mehrfach Versuche mit dem Verbot scharfer Getränke angestellt worden waren. Nach ihrer Erfahrung hatte sich dadurch jedoch nichts verändert, und auch die Dienstherrin war sich über die Wirksamkeit von Verboten unschlüssig. Mr. Bailey dagegen fand den Eingriff des Staates in die Eigenverantwortung der Bürger ganz falsch und zeichnete sogar ein düsteres Bild möglicher Folgen, wenn zwielichtige und kriminelle Elemente begännen, mit dem verbotenen Stoff schwarz zu handeln. Einig dagegen war man sich darüber, dass es gut sei, die Frauen endlich wählen zu lassen. Man war gespannt, welchen Einfluss die Wählerinnen auf die im kommenden Jahr fällige Wahl des Präsidenten haben würden. Julia fiel auf, wie die Eheleute von Mr. Baileys Vater sprachen. Mrs. Bailey nahm sich bei diesem Thema zurück wie bei keinem sonst, und ihr Mann reagierte auf Kritik am Senior empfindlich, obwohl, oder vielleicht gerade weil er ihm gegenüber gemischte Gefühle hegte und sein Tun als Politiker kritisch hinterfragte. Aber das durfte nur er, ein Verhalten, das Julia an ihren ältesten Bruder Jean Baptiste erinnerte. Mr. Bailey Junior glich übrigens seinem Vater, wenigstens äusserlich, wie man auf Grund eines grossen fotografischen Porträts des Vaters feststellen konnte, das auf dem Kaminsims stand. Beide hatten recht grosse Nasen und eine kräftige Mundpartie, dichte Augenbrauen über einem prüfend zupackenden Blick. Dichte, links gescheitelte Haare, die aber beim Senior früh ergraut waren. Das Gesicht des Juniors war deutlich schmaler, dafür seine Ohren etwas abstehend. Aber dass sie Vater und Sohn waren trat klar hervor. Julia gegenüber war der Dienstherr sehr zurückhaltend, fast reserviert, was sie nicht unangenehm fand. Sie hatte mit ihm auch deutlich weniger zu tun als mit seiner Frau.

Mit Elsie war sie schon bald innig verbunden. Das kleine Mädchen berührte etwas in ihr, weckte Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit, die sie längst vergessen geglaubt hatte. Auf gewisse Haltungen und Bewegungen Elsies antwortete ihr eigener, nun erwachsener Körper mit spürbarem Wiedererkennen, mit unwillkürlichen Impulsen der Nachempfindung oder Nachahmung. Manchmal, wenn sie mit Elsie alleine war, gab sie dem nach und probierte, wie sie dazusitzen, zu hüpfen, oder etwas in die Hand zu nehmen. Die Kleine schien es meistens nicht zu bemerken, oder wenn, dann fand sie nichts dabei. Sie imitierte ja auch die Grossen, wurde dabei von ihnen korrigiert, wenn sie etwas nicht genau so machte, wie es sein sollte. Also gab sie auch Julia Hinweise, wie sie es besser machen könnte. Dabei waren Julia aber Grenzen gesetzt. Sie konnte sich zum Beispiel beim Knien nicht mehr zwischen ihre Fersen setzen wie das Elsie tat, und wie sie selber als Fünfjährige es auch gekonnt hatte: den Hintern am Boden, daneben die Füsse nach links und nach rechts abgespreizt, Unter- und Oberschenkel parallel nach vorne zu den Knien, die auch auf dem Boden aufliegen. Und alles ganz entspannt, dank Gelenken und Knochen aus Gummi. Elsie musste lachen über ihre staksigen Versuche, das Ächzen und Stöhnen wegen der Schmerzen in überdehnten Gliedern, den Abbruch der Übung. Julia kamen Spiele in den Sinn, die sie als kleines Mädchen geliebt hatte. Sie ging mit Elsie in den Central Park, beide ausgerüstet mit grossen Stofftaschen. Sie sammelten Eicheln und Rosskastanien, die die Kleine buckeyes nannte. Als Julia schon enttäuscht war darüber, dass die Hüllen der Kastanien hier keine Stacheln hatten, sich also nicht eigneten, daraus kleine Igel zu basteln, fanden sie unter einem feuerroten Baum andere Früchte, die rund und stachelig waren. Auch davon nahmen sie mit, ebenso wie eine ganze Menge farbiger Laubblätter. Zu Hause packten sie den Schatz aus am Küchentisch. Mary Morgan gab ihnen Zündhölzer, von denen die Köpfe weggeschnitten wurden, dann entstand ein ganzer Bauernhof: Kühe, Pferde, Schweine. Und natürlich die Igel. Julia bohrte für Elsie die Löcher in die harten Früchte, weil sie nach ein paar Versuchen selber eingesehen hatte, dass dies zu schwierig und zu gefährlich war für ihre kleinen Hände. Sie bekamen von der Köchin eine kleine Gemüsekiste, die sich als Stall eignete, dann wurde im Kinderzimmer alles aufgebaut. Elsie legte sich auf den Boden, wollte auf gleicher Höhe sein mit den Tieren, die sie sorgfältig herumschob, dazu die entsprechenden Geräusche von sich gab.
"Muh! Mäh! Mähähäh!"
Wiehern wie ein Pferd konnte Julia besser. Auch sie lag nun auf dem Boden, das Pferdchen wollte es so. Da standen die Herrschaften in der Türe, lachten etwas verlegen.
"Was macht denn ihr auf dem Boden?"
Julia schoss hoch, strich ihr Kleid glatt, und die zerzausten Haare hinter die Ohren.

Ach, sie war zum Fressen, wenn sie aus voller Kehle einen der neusten Schlager trällerte und dazu durch die Zimmer tanzte.
"Swanee!
How I love ya, how I love ya,
My dear ol' Swanee!"

Auch ihre Eltern fanden sie süss, wollten aber auch darauf achten, dass ihre Tochter nicht zu vulgär wirkte.
"Es heisst, I love you, Schatz!
Die Herrschaften hatten das Lied zum ersten Mal am Broadway gehört, wie sie erzählten. Es war ihnen aber nicht in guter Erinnerung geblieben, weil die Show darum herum die Musik unter sich begraben habe. Ein Aufmarsch mit Heerscharen von Tänzerinnen, die alle auf Teufel komm raus fröhlich grinsten, wie er betonte. Auch sie fand, die Frauen hätten übertrieben und too effusively getanzt. Dann aber war Mr. Bailey auf die Schallplatte gestossen, von diesem Sänger, von dem alle sprachen. Julia konnte sich den Namen nicht merken, zum grossen Erstaunen des Zimmermädchens, Al Johnson oder Jolson. Der Dienstherr kaufte sich die Noten zu dem Song. Und übte auf dem Piano in jeder freien Minute wie ein Verrückter. Man durfte ihn dabei nicht stören, aber natürlich bekam es das ganze Haus mit. Julia hatte gestaunt, wie Mr. Bailey eine Stelle der Melodie so oft hintereinander spielen konnte, dutzende Male, ja hunderte, wie ihr schien. Immer wieder spielte er es ganz langsam, das konnte er schon. Darauf etwas schneller, dann flink, bis er einen Fehler machte oder ganz hängen blieb. Dann hörte man ihn aufstöhnen und wieder von vorne beginnen. Aber jetzt, wenn er sich an die Tasten setzte, tief Luft holte und loslegte, seine Finger fliegen liess und auf dem Hocker hopsend dem Takt folgte, da riss es einen hoch, man musste tanzen. Mrs. Bailey warf ihren Schmetterlingsumhang von sich und wechselte die Schuhe. Der Clubtisch und die Sessel wurden zur Seite geschoben, der Teppich eingerollt. Und alle machten mit, Elsie, die Köchin, das Zimmermädchen Mary. Beim ragging war sie die Lehrerin, die den andern zeigte, wie es ging. Sie hatte irisch getanzt seit ihrer Kindheit und konnte auch den tap dance, bei dem sie ihre Füsse schneller bewegte, als Julia gucken konnte. Am rag gefiel Mary am besten, dass man, anders als beim traditionellen Tanz ihrer Heimat, die Arme und Hände bewegen durfte und es dafür keine festen Regeln gab. Und so trieb sie ihre Schülerinnen an, sich so frei und ungestüm zu bewegen wie Kinder.
"Schaut euch Elsie an! Sie überlegt nicht, ob sie gut aussieht bei einer Drehung. Sie denkt nicht schon im Voraus, ein Hüpfer oder ein Schlenkern der Arme könne missraten. Sie macht einfach, sie lässt die Musik und den Rhythmus machen mit ihrem kleinen Körper."
Und dann sauste Mary herum wie ein zierlicher Teufel, es war ein bisschen entmutigend. Julia war froh zu sehen, dass Mrs. Bailey noch gehemmter war als sie. Die gesellschaftliche Ordnung löste sich auf und verschob sich für die kurze Zeit des Tanzens, das war aufregend. Mr. Bailey konnte viele andere Stücke, und wenn sie einfacher zu spielen waren als "dieser verflixte Gershwin", dann steigerte er das Tempo noch, so dass sie sich am Ende ganz verschwitzt und mit hochroten Köpfen in die Sessel fallen liessen. Die Herrschaften verschwanden im Bad und nahmen Elsie mit, die Hausangestellten räumten auf und lüfteten die Räume. Bauten dabei da und dort kleine Tanzbewegungen ein, stiessen sich lachend an, sangen und summten vor sich hin.
"The folks up north will see me no more
When I go to the Swanee Shore."


Der Alkohol spielte keine Rolle bei diesen Ausgelassenheiten, man trank mässig im Hause Bailey. Der Hausherr bekannte sich allerdings jetzt, wo die bone-drys gewonnen hatten und mit dem Volstead Act die Herstellung, der Vertrieb und Verkauf von Alkohol verboten waren, erst recht dazu, ein "Feuchter" zu sein.
"Jawohl", sagte er trotzig. "Meine Hausbar ist voll und gepflegt wie eh und je. Und sie wird es bleiben."
Wie er es vorausgesagt hatte, explodierte in der Stadt die Zahl der Kneipen und Bars, in denen man Bier, Wein und Schnaps trinken konnte. Auch die Cornoler machten fleissig Gebrauch von dieser Möglichkeit. Irgendwie gelangten sogar noch immer heimatliche Schnäpse ins Land, damè zum Beispiel, oder coing, niemand wusste, wie und durch wen, und man wollte es auch gar nicht wissen. Bei den Festen musste man schon aufpassen, und gewisse Lokale waren für den gesetzeswidrigen Ausschank nicht mehr zu mieten, da sie es sich nicht leisten konnten, von den Behörden geschlossen zu werden. Das Gemeindehaus der Kirche St. Vincent de Paul etwa, in dem viele Anlässe der Ajolais stattgefunden hatten in den Zehnerjahren. Aber man konnte noch immer feuchtfröhlich feiern, wenn man wollte. Razzien gab es meistens dann, wenn das Fest noch nicht stattgefunden hatte, oder wenn es vorbei war.
"Komisch, nicht?", kommentierten dies Mathilde und Julia, und lachten sich krumm. Josephine fand das nicht lustig, sie war immer gegen Alkohol gewesen. Aber sie hatte auch die Zeiten erlebt, in denen man Papa fast jeden Abend hatte aus dem Wirtshaus holen müssen. Als die Mutter fast verzweifelte darüber. In Julias und Mathildes Kindheit hatte sich der Vater auf wundersame Weise wieder gefangen. Der Uhrenindustrie war es wieder besser gegangen, Papas Auftragsbücher und Rohlingkisten waren voll, er konnte sogar Leute anstellen. Sie sprachen oft über den Sinn des Verbots. Auch in Cornol hatte es der Gemeinderat probiert damit, in der Zeit, als Julia und Mathilde zum ersten Mal nach Amerika gekommen waren. Man zahlte den Kneipenwirten Geld dafür, dass sie keinen Schnaps ausschenkten. Aber der Versuch, der eigentlich auf vier Jahre angesetzt war, versandete nach kurzer Zeit und man sprach nicht mehr darüber. Dabei hatte es Familienväter gegeben, die im Suff ihre Frau und die Kinder verprügelten. Die es so arg trieben, dass man sie nötigte, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Julia hatte einen davon erlebt auf ihrer zweiten Überfahrt. Ob er es geschafft hatte, durch die Kontrollen auf Ellis Island zu kommen, wusste sie nicht. Sie bezweifelte es, denn er war auf der ganzen Fahrt immer voll gewesen. Also hatte man ihn wohl wieder zurückgeschickt, auf Kosten der Reederei des Schiffes, mit dem er gekommen war.

Nun war sie ganz angekommen in den Staaten, in dieser so farbig bevölkerten Stadt. Der liebe Gott – Mathilde korrigierte: der Zufall, das Glück– hatte sie in eine Umgebung gestellt, in der man atmen konnte und wo sich ein Gefühl von Sicherheit und Ruhe einstellte. Sie hatte eine zweite Familie gefunden, eine, die nach ihren eigenen Worten Wert darauf legte, "modern" zu sein, und "schön". Julia war bereit, zu lernen. Sie fühlte sich ausgeglichen und erwachsen, wenn sie feststellte, dass die Sorgen um ihre Cornoler Familie sie nicht niederdrückten wie früher. Sie konnte den Widerspruch fühlen zu ihrem gegenwärtig glücklichen Zustand, wollte und musste sich aber nicht entscheiden. Mit Papa ging es zu Ende, und bald würde Alcide alleine für die Mutter sorgen müssen. Und ihren beiden Schwestern erging es hier in den USA nicht so gut wie ihr. Trotzdem durfte sie glücklich sein.

4 Kommentare:

  1. Das wird ein Jahrhundertroman! Ich bewundere deine Energie, finde die Dialoge und die Detailbeschreibungen sehr gut und frage mich scho nie längste Zeit: Warst du mal längere Zeit in New York?

    AntwortenLöschen
  2. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

    AntwortenLöschen
  3. Jahrhundertroman? Na ja, wir werden sehen.
    Nein, ich war noch nie in New York und überhaupt in den USA, möchte aber gerne im Herbst mit meinem Bruder hinfahren.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Fantastisch! Mach es - es wird dich noch mehr beflügeln!

      Löschen