Montag, 29. Juni 2020

man hat (k)ein Hobby


Ich weiss nicht mehr, wann ich dem Wort Hobby zum ersten Mal begegnet bin. Es war mir jedoch von Anfang an klar, dass wir so etwas nicht hatten in der Familie. Das ist halt sein Hobby, wurde im Tonfall geäussert, als rede man von einer Behinderung. Man konnte den Satz als Antwort bekommen auf die Frage nach Sinn und Zweck einer Beschäftigung, die man bei jemandem in der Umgebung beobachtet hatte, und deren Resultate von einem ungewöhnlich grossen Aufwand erzählten. Eine mir damals riesig erscheinende Eisenbahnanlage in der Garage der Familie S zum Beispiel. Mehrere Züge konnten darauf gleichzeitig fahren, in gegenläufiger Richtung. Es gab viele Weichen, Abzweigungen und Ausweichstellen. Die Steuerung erfolgte über zwei oder drei Transformerkästchen mit schwarzen Drehknöpfen, und, das sah man an den konzentrierten Gesichtern der Buben, die hier wohnten, und deren Vater mit ihnen diese Wunderwelt geschaffen hatte, es erforderte ein mir unerreichbar erscheinendes Wissen, die Bewegungen der Züge ohne Zusammenstösse zu meistern. Ich durfte ein zwei Mal an die Regler, aber nur unter der vereinfachenden Bedingung, dass die von mir befohlene Bahn alleine unterwegs war. Ich hatte bald schweissige Hände und einen verspannten Nacken, so dass ich noch so gerne die Kontrolle wieder abgab. Viel lieber kletterte ich auf ein kleines Schemelchen, das, wenn man sich darauf stellte, auf der Rückseite des Berges den Einblick in die Eingeweide der Anlage ermöglichte. Ich liebte den Moment, wenn die Lokomotive plötzlich in der hell gleissenden Öffnung des Tunneleingangs erschien, sie mit den hinterher gezogenen Wagen füllte und verdunkelte und sich dann, mit ihren zwei gelblichen Scheinwerferchen den Schienenweg schwach beleuchtend, durch die Unterwelt aus Sperrholzspanten, Kanthözern, Eisenwinkeln und Hühnerdrahtgittern bewegte. Der Gegensatz zur Aussenseite der Landschaft hätte nicht grösser sein können. Draussen gab es die Faller-Häuschen aus trübfarbigem Plastik, welche den Mief schweizerischer Provinzbahnhöfe so echt ins Zwergenhafte übersetzten, dass man den säuerlichen Geruch nach Rost, Urin und Schmieröl zu riechen meinte. Die Wiesen aus eingefärbtem Sägemehl, ausgestrichen auf nicht überall mit gleichem Geschick gefalteter Jute, konnten mit der Natürlichkeit der Gebäude nicht mithalten, und bei näherer Betrachtung entdeckte ich auch allerlei irritierende Brüche in den Grössenverhältnissen.

Ein Hobby, wenn ich hier eines vor Augen hatte, war offensichtlich mit ungeheuren, kniffligen und langwierigen Anstrengungen verbunden, an deren Ende – wenn sie denn je ein Ende fanden – ein zwar erstaunliches, im Wert aber zweifelhaftes Resultat stand. Dennoch schob ich die leise Distanznahme, die ich aus den Äusserungen meiner Eltern über Hobbies heraushörte, nicht diesem scheinbaren Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag zu. Tätigkeiten solcher Art kannte ich durchaus von meinen Eltern, aber sie wurden niemals auch nur in die Nähe der Bezeichnung als Hobby gebracht.

Viel später, als Kunstpädagoge, musste ich die Überschneidungen und Abgrenzungen zwischen Hobby und Kunst, zwischen Kunst und Kunsthandwerk, aus Gründen der professionellen Klarheit analysieren und mir zu einer vorläufigen Ordnung zurechtlegen. Heute, wieder als Künstler-Kind, habe ich die Begriffe entlassen in ihre angestammte Vieldeutigkeit. Wenn ich Drachen baue und fliegen lasse, bin ich am Arbeiten.

Einmal, während meiner Zeit als Werklehrer, wollte ich ganz eintauchen in die Welt der Modellbauer. Ich war in der Kindheit und Jugend nie über das Zusammenkleben von ein paar Schiffsmodellen aus Plastik hinausgekommen. Zwar hatte ich auch einen Ausflug in die Welt des Flaschenschiff-Baus unternommen, aber das war mehr als Beschäftigungstherapie während Spitalaufenthalten entstanden. Was ich nie versucht hatte, war die Konstruktion von bewegten, ferngesteuerten Flug- oder Schiffsmodellen. Und so schenkte ich mir auf den Geburtstag, der immer in den Sommerferien lag, den Graupner-Bausatz eines Modellsegelschiffs. Es handelte sich um die 'Optimist', den Nachbau einer erfolgreichen Ein-Tonnen-Rennyacht aus den späten Sechzigerjahren. Ich war bald komplett eingetaucht ins Lesen der Baupläne und Konstruktionsanleitungen, dabei räumte ich mir eine grosszügige Zeitvorgabe zur Fertigstellung des Modells ein. Zuerst musste ich begreifen, dass im Bausatz vieles noch nicht enthalten war, was ich für den erfolgreichen Bau eines steuerbaren Segelschiffs brauchte. Ich wurde also Kunde eines dieser Hobby-Läden, in die wohl noch kaum jemand aus unserer Familie je einen Fuss gesetzt hatte. Ein kleines Lokal hinter einem vollkommen mit Modellen und Kartonschachteln von Modellen zugestellten Schaufenster, in dem ein Bastler, Sammler und Verkäufer hauste, der schlicht alles kannte und wusste, was mit Modellbau zu tun hatte. Ich lernte ihn gut kennen, denn ich musste ihn während meines Vorhabens dutzende Male aufsuchen, und er machte mit mir einen guten Umsatz, auch dank einiger Fehlversuche, welche den Ersatz kaputt gegangener Teile zur Folge hatten.

Es gab viele Knacknüsse zu bewältigen, die für mich harmloseren betrafen handwerkliche und materialtechnische Probleme, bei denen ich auf meine Erfahrung zurückgreifen konnte. Zum Beispiel war die Befestigung des sehr schweren Kiels aus Gusseisen am sehr leichten, dünnwandigen Kunststoffrumpf eine Herausforderung. Die Gefahr bestand in einer Verformung der Schale, die um jeden Preis vermieden werden musste. Dies galt auch beim Verkleben des Decks. Die Reihenfolge bei der Montage der verschiedenen Teile, so wie sie in der Bauanleitung angegeben war, musste unbedingt eingehalten werden. Zu Beginn meinte ich es da und dort besser zu wissen, wurde jedoch durch Misserfolge bestraft und verstand die Struktur der Anleitung erst danach. Als das Boot dann als Modell fertig auf seinem Ständer zu ruhen schien, kam das komplexe, und für mich ganz neue, elektronische Innenleben dazu. Ich hatte im Hobbyladen zwei Server-Motoren gekauft, einen mit einer Seilwinde und einen mit einem kleinen Hebel. Mit der Winde sollten die Segel über die entsprechenden Schoten dichtgeholt und gefiert werden. Ich lernte parallel zu meiner Betätigung als Bootsbauer auch die Funktionen und die fachsprachlichen Begriffe. Mit dem Hebel konnte man das Steuer hin und her bewegen.

In dieser Zeit meines Modellbau-Abenteuers war ich völlig absorbiert. Es waren zwar Sommerferien, aber damit verbanden sich für mich immer auch grundsätzliche Zweifel am Sinn meiner beruflichen Tätigkeit als Lehrer. Ich sollte in dieser Zeit einerseits für die Familie dasein, andererseits aber auch wieder Unterrichtsvorhaben für das nach den Ferien folgende Semester planen und vorbereiten. Das so einzuteilen, dass ich nicht dauernd gedanklich mit der Schule beschäftigt war und mich auch erholen und mit den Kindern und meiner Frau die Zeit geniessen konnte, war schwierig. Und nun diese völlig absurde Idee mit dem Segelschiff! Ich schaffte es damals nicht, dem Unternehmen einen Sinn zu unterlegen, der das Gewissen beruhigt hätte. Es war ein Entlastungs- und Befreiungsversuch aus diffus empfundenen Einschränkungen. Aus der Geringschätzung von Menschen, die Hobbies haben. Aus dem nie aufhörenden Begründungs- und Verbesserungszwang, dem sich Lehrerinnen und Lehrer aussetzen. Aus den armseligen Abgrenzungen zwischen Freizeit und Arbeit, Arbeit und Hobby, Hobby und Kunst. Ob man selber arbeitet oder nicht, weiss man selber ganz genau, schreibt Ludwig Hohl in einem Aphorismus. Der Satz tönt gut, vereinfacht aber, indem er eine quasi objektive Realität sowohl für Arbeit als auch für Wissen suggeriert. Ich hatte damals für beides nicht einmal eine klare eigene Konstruktion.

Das Segelboot wurde noch in den Sommerferien fertig und ich fuhr damit ein paar Mal nach Brüglingen zum Teich, um es auzuprobieren. Das Segeln, in einer verkleinerten und etwas vereinfachten Form, brachte ich mir vor Ort bei, mit dem Fernsteuer-Kästchen vor dem Bauch. Bald konnte ich bei sanftem Wind jeden beliebigen Ort im Teich gezielt ansteuern. Bei stärkerem Wind erzeugte der breite Rumpf allerdings zu starke Wellen, wodurch Effizienz und Eleganz der Fortbewegung stark beeinträchtigt wurden. Ich beherrschte aber das Segeln vor dem Wind, am und gegen den Wind so gut, dass ich einmal bei einem motorisierten Modellboot, dessen Schraube sich mitten im kleinen See in den Algen verheddert hatte, längs anlegen und es mit dem Winddruck auf den Segeln seitwärts befreien konnte. Den Applaus der Umstehenden nahm ich etwas verlegen, aber auch stolz, entgegen.

Die Optimist stand jahrzehntelang abgetakelt in unserem Keller, bis ich mich bei einer Aufräumaktion entschloss, sie übers Internet zu verschenken. Es meldete sich ein Handwerker aus dem Bodenseegebiet, der mit seinem Kastenwagen zu uns nach Basel fuhr und das Boot mitsamt der Fernsteuerung glücklich mitnahm. Er erzählte, dass er als Bub von diesem Modell geträumt hatte, es sich aber nicht leisten konnte. So kaufte er sich mit seinem gesamten Taschengeld ein kleineres Boot von Graupner, das er aber einmal bei zu starkem Wind auf den Seegrund setzte. Jahre später habe er mit Tauchen begonnen und einmal einen ganzen Nachmittag lang nach dem Modellboot gesucht. Er fand es aber nicht, obwohl er meinte, den genauen Ort seines Versinkens gefunden zu haben. Wahrscheinlich sei es aber in der langen Zeit von Sedimenten begraben worden.