Donnerstag, 17. Juni 2021

Druckwellen

Die Ungewissheit, ob ihren Geschwistern in der Stadt nichts passiert sei, liess Julia keine Ruhe. Mr. Leslie hatte in der Frühe einen Anruf bekommen mit der Nachricht, die Explosionen hätten an den Gebäuden im financial district grossen Schaden angerichtet, und so wollte er gleich losfahren um sich ein Bild der Lage zu machen. Julia gab alle Zurückhaltung auf und bettelte bei den Herrschaften mit Nachdruck darum, mitfahren und nach ihrem Bruder und den Schwestern sehen zu dürfen. Es wurde ihr schliesslich erlaubt unter der Bedingung, den Besuch so kurz wie möglich zu halten und mit dem Zug zurückzufahren, sobald sie sich davon habe überzeugen können, dass ihren Lieben nichts zugestossen sei.

Sie mussten bald die Absicht aufgeben, mit dem Automobil bis zu Mr. Leslies Arbeitsplatz zu fahren. Beim Bügeleisen-Hochhaus war Schluss, von Greenwich Village an südwärts waren die Strassen notdürftig abgesperrt. Ausserdem machte sich der Chauffeur Sorgen um die Pneus angesichts der Glasscherben und abgerissenen Blechteile, die überall herumlagen. Er stellte das Auto beim Madison Square Park ab und liess sie aussteigen. Mr. Leslie machte sich zu Fuss auf zur nächsten Hochbahnstation, Julia wollte als erstes bei der älteren Schwester Josephine im Home Jeanne d'Arc vorbeischauen, weil es in der Nähe lag und, wie sie in der Zwischenzeit wusste, von den Wohnorten ihrer Geschwister der am nächsten beim Explosionsherd der letzten Nacht liegende war. In der sechsten Avenue waren fast alle Fenster zu Bruch gegangen, so schien es. Die Scherben, teilweise griesig zerstampft, hatte man schon zusammengewischt zu langen Bahnen, die sich wie Schneereihen über die Trottoirs hinzogen. Unter ihren Füssen knirschte es. Überall standen Gruppen von Menschen zusammen, Zeitungsjungen riefen ihre Extraausgaben aus, und andauernd hörte man das Klingeln und Pferdegetrappel von Feuerwehrwagen. Sie war überglücklich, beide Schwestern im Heim anzutreffen. Mathilde hatte sich auch Sorgen gemacht wegen der südlichen Lage von Josephines Wohnort und war schon vor ihr dort eingetroffen. Sie waren beide heil und gesund, wenigsten fast, denn Josephine hatte sich Schnittwunden zugezogen, eine an der Stirn, noch in der Nacht, und dummerweise noch eine an der rechten Hand, erst am Morgen beim Aufräumen. Man hatte sie mit Pflastern versorgt.
"Es war wie ein Erdbeben, vor allem der zweite Knall", erzählte sie. "Das ganze Gebäude hat gewackelt. Es gab ein grosses Geschrei, kurze Zeit war es stockfinster, weil das Licht nicht mehr funktioniert hat. Und alles ist noch immer voller Glasscherben. Zum Glück ist es warm, überall ist Durchzug. Wir haben fast im ganzen Haus keine Scheiben mehr."
Auch Mathilde hatte die Explosionen wie ein Erdbeben wahrgenommen, obwohl das Haus ihrer Herrschaften in der Upper Eastside lag. Sie sei fast aus dem Bett gefallen vor Schreck, musste sich dann aber um die beiden Damen Bayne kümmern, die ziemlich hysterisch auf das Ereignis reagiert hätten, wie sie fand. Passiert sei im Haus nämlich fast nichts. Ein Bücherschaft habe sich von der Wand gelöst und sei heruntergefallen, habe dabei eine Stehvase unter sich begraben, aber zum Glück nur eine billige Imitation einer chinesischen. Sie frage sich, was wohl im Hause Rockefeller alles in Brüche gegangen sei. Der Junior habe ja eine Sammlung, die unbezahlbar wertvoll sei.
"Wir können bei Alcide vorbeischauen, denke ich. Er hat mir erzählt, das Haus sei fast leer, die Herrschaften ausgeflogen, wieder den ganzen Sommer in Maine."
Julia wollte von ihren Schwestern wissen, was denn eigentlich passiert sei. Sie konnten nur das wiedergeben, was sie bisher gehört hatten. So kauften sie unterwegs zur Vierundfünfzigsten eine Extrazeitung, bei einem Jungen, der immer wieder schrie: "Ammunition cars blow up - Crash rocks two states!", und überflogen die Schlagzeilen. Auf Black Tom Island, drüben in Jersey City, war ein Lager von Munition und Sprengstoffen in die Luft geflogen. Mit einem Brand habe es begonnen, auf einem Leichter, der an der Mole von Black Tom vertäut gewesen war. Jemand meinte gesehen zu haben, dass auf der Insel Räucheröfen gegen die Mückenplage aufgestellt worden seien, und natürlich habe dann der Funkenflug eine Kettenreaktion ausgelöst.

In der Mansion von Rockefeller Junior wurden sie in den Empfangsraum geführt. Der Butler versprach, ihren Bruder zu holen. Er sei mit dem Zusammenwischen von Glasscherben auf dem Dachgeschoss beschäftigt, wo der Sommerpavillon leider argen Schaden genommen habe. Zum ersten Mal sahen sie den Arbeitsort von Alcide. Von der riesigen Stadtvilla des Millionärs hatte Julia schon einiges gehört, was ihre Phantasie angeregt hatte. Nun aber beeindruckte sie die Tatsache, dass sie sich wirklich an diesem Ort befanden, viel mehr als der sichtbare Prunk und die Grösse des Gebäudes, oder dieses Raumes, der ja eigentlich nur ein Eingang war. Unwillkürlich senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern, als befände sie sich in einer Kirche. Mathilde war wenig beeindruckt.
"Wenn das schon hier unten so aussieht, wie wird es dann oben sein, in den Salons? Und ein "Sommerpavillon" auf dem Dach, was soll denn das sein?"
Als Alcide zu ihnen trat, trug er noch immer Handschuhe. Er legte sie ab, und da er wusste, warum sie gekommen waren, sagte er betont locker:
"Alles gut, uns ist nichts passiert. Aber es hat unglaublich gekracht hier, und oben auf dem Dach sieht es wüst aus. Die Herrschaften werden keine Freude haben."
Als die Schwestern nachfragten, was er zu den Explosionen wisse, fiel Julia auf, dass Alcide schlecht hörte. Er musste zweimal nachfragen und griff sich ein paar Mal ans rechte Ohr.
"Was ist los?", fragte sie. "Hast du dir einen Ohrenschaden geholt bei dem Geknalle?"
"Ich weiss es nicht, aber es ist etwas komisch mit meinen Ohren. Ich habe einen starken Druck auf dem rechten, so etwas wie Kopfweh, aber nur im Ohr. Es pfeift, und eure Stimmen – alle Stimmen! – tönen unangenehm blechern."
Josephine fand, er solle zu einem Arzt gehen. Er winkte lachend ab.
"Das sagst ausgerechnet du, die nie einen an sich heranlässt! Das kommt schon wieder. Wir haben nicht so viel zu tun, ausser jetzt mit Aufräumen. Ich lege mich dann etwas hin heute Nachmittag."
Julia machte sich Sorgen. Sich hinzulegen war nicht gerade eine Gepflogenheit, die sie von ihrem Bruder kannte. Alcide bemerkte ihre Unruhe und versuchte abzulenken.
"Habt ihr das schon gehört, manche meinen, es sei Sabotage gewesen, von den boches. Die Munition und der Sprengstoff waren für die Alliierten vorgesehen, für England, Frankreich. Sogar für die Russen. Das ist natürlich nicht das, was sich der Kaiser unter einem neutralen Amerika vorstellt!"
Mathilde wollte wissen, ob es viele Tote gegeben habe. Alcide meinte:
"Man weiss es noch nicht. Es scheinen aber nicht viele in der Nähe gewesen zu sein um diese Zeit. Zum Glück! Von den wenigen armen Kerlen wird kaum mehr viel übrig sein, es soll so heiss geworden sein, dass die Feuerwehr gar nicht zu den Brandherden vordringen konnte. Und es zischten dauernd Geschosse durch die Gegend. Das ist noch immer nicht ganz vorbei. Bis zur Freiheitsstatue flogen die Metallsplitter, stellt euch vor! Haben dort die Eingangstüre durchlöchert, und die Fackel. Und auf Ellis Island wurde das Depot der Einwanderer leergeräumt, mit Fähren."
"Darum ist es nicht schade!", fand Mathilde.

Julia fuhr gerne mit der Eisenbahn. Das rhythmische Schlagen der Räder versetzte sie, zusammen mit dem Rütteln und Schaukeln des Waggons, in einen Zustand zwischen Wachen und Träumen, in dem ihre Gedanken von einem zum andern hüpften. Wie seltsam ihr die heutige Zusammenkunft mit den Geschwistern jetzt vorkam. Ein lauter Knall, und sie waren gerannt, um sich zu vergewissern, ob die andern noch da seien. Dabei waren sie doch, bei allen Unterschieden, Abenteurer, die meinten, der Enge des Dorfes entfliehen zu müssen. Was trieb sie an? Was suchten sie in Amerika? Josephine war am längsten im Land. Auch sie hatte zuerst als Kindermädchen gearbeitet, dann aber Schwierigkeiten bekommen damit, weil sie in der englischen Sprache keine Fortschritte machte. War sie glücklich? Oder zumindest zufrieden? Julia hätte schon früher nie zu sagen gewusst, wie es der älteren Schwester gehe, die schon eine Frau gewesen war, als sie sich noch als Kind fühlte. Wie sie sie heute im Home Jeanne d'Arc sah, hatte sie den Eindruck bekommen, Josephine fühle sich dort zuhause. Und sie war von anderen Frauen im Haus mit sichtbarem Respekt behandelt worden. Mathilde ging nicht gerne dorthin, und gab sich auch keine Mühe, ihre Abneigung zu verbergen gegen das fromme Pensionat für ältere Mädchen, wie sie es nannte. Dabei bezeichneten Julia und sie sich gegenseitig manchmal so: alte Mädchen. Ob sie ihren schönen Soldaten noch an der langen Leine halte, hatte sie Mathilde zum Abschied gefragt.
"Er ist ein schöner bouêbe, aber ein Arsch. Ich glaube, er hat eine andere", war die trockene Antwort.
"Und bei dir?"
Ja, wie stand es bei ihr mit den Männern? Mit einem Mann, das würde ja reichen. Sie hatte Mathilde nicht mehr antworten können, da sie ihren Zug erreichen musste. Aber was hätte sie auch sagen sollen? Dass die einzigen Männer, die sie gegenwärtig aus der Nähe sehe, ihr Dienstherr, sein Butler und sein Chauffeur seien? Sich bei Mr. Leslie, und auch bei George, dem schwarzen Fahrer, zu fragen, ob sie als Männer interessant seien, war beunruhigend, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Mr. Leslie war eben der Dienstherr, mit dem eine Affäre zu beginnen für eine Angestellte sehr gefährlich gewesen wäre. Sie hatte genügend Warnungen erhalten, und abschreckende Beispiele geschildert bekommen, schon zuhause in Cornol, aber erst recht, seit sie hier war. Die Angestellten waren immer die Dummen am Schluss, vor allem die Frauen, die geächtet wurden nach einem Fehltritt über die Grenzen ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit. Sie verloren ihren guten Ruf für immer, als Angestellte, aber auch in der Familie als Tochter, als mögliche zukünftige Ehefrau. Im schlimmsten Fall wurden sie sitzen gelassen mit einem Bastard, einem armen Kind, welches den Fluch erben würde. Mr. Leslie versuchte manchmal auf dümmlich plumpe Weise mit ihr oder der noch jüngeren Köchin zu flirten. Es fiel ihr nicht schwer, kühl zu bleiben und so zu tun, als bemerke sie seine Annäherungen nicht. Er war ihr in solchen Momenten wenig sympathisch, und ausserdem tat ihr seine Frau leid, die dann sichtbar litt. Bei George wiederum war es ganz anders. Auch wenn sie in seiner Nähe immer noch sehr befangen war und sich kaum getraute, ihn richtig anzusehen, musste sie zugeben, dass sie von seinem Äusseren fasziniert war. Während ihrer ganzen Kindheit hatte sie höchstens zwei oder drei schwarze Menschen gesehen, in Pruntrut, oder im nahen Elsass. In der Kirche gab es ein Negerlein aus Gips, das mit dem Kopf nickte, wenn man eine Münze in den Sockel zu seinen Füssen einwarf, für die Mission in Afrika. Und einer der Könige bei den Krippenfiguren war schwarz. Wenn sie ein Krippenspiel aufführten, wurde einem Kind für diese Rolle das Gesicht schwarz eingefärbt mit einer Mischung aus Schmalz und zerstossener Holzkohle. Georges Hände konnte sie vom hinteren Sitz des Dodge beobachten, wenn er den Wagen steuerte. Die Handrücken waren von einem warmen, dunklen Braun. Ganz schwarz, wie mit Tinte gezeichnet, die feinen Linien der Fältchen über den Fingergelenken. Die Nägel leuchteten rosa, und ähnlich blitzte es auf, wenn man einen Blick auf die Innenflächen seiner Hände erhaschte. Sie hatte sich schon gefragt, ob es sich anders anfühle, von solch schwarzen Händen angefasst zu werden, schob derlei Gedanken aber zurück ins Dunkel mit einem kleinen Stossgebet, wie sie es als Mädchen gelernt hatte. Joseph, der Butler aber. Mal schauen, sagte sie sich. Es hat was, das Irische. Alcide hatte das ja auch schon erkannt.

Zurück in Short Hills, traf sie Mrs. Leslie in heller Aufregung an. Dabei ging es nicht um die Explosion von Black Tom, sondern um den Anstieg von Krankheitsfällen mit Kinderlähmung in der Stadt New York, und nun eben auch in ihrer Nähe in New Jersey. Am schlimmsten wüte die Epidemie im benachbarten Newark, täglich stünden mehr Opfer in der Zeitung, mit Namen und Adresse. Die Krankheit habe schon das Quartier Ivy Hill erfasst, gleich auf der anderen Seite des Hügels. Sie müssten unbedingt weg von hier.
"Ich habe uns schon beim Kinderarzt angemeldet, damit er uns eine Bescheinigung ausstellt, wir seien alle gesund. Ohne ein solches Papier dürfen wir uns ab nächster Woche gar nicht mehr von hier wegbewegen. Stellen Sie sich das vor, Julia! Es trifft vor allem die Kleinsten, ich habe solche Angst um George!"
Julia versuchte die Dienstherrin zu beruhigen. Ob sie denn einen Plan habe, wohin sie gehen könnten.
"Ich habe zuerst an Oyster Bay gedacht, wo wir schon mehrmals im Sommer waren. Aber man hat mir gesagt, dass es dort auch schon Fälle gibt. Es sei besser, in den Westen zu fahren. Also habe ich meinen Mann heute am Telefon gebeten, etwas zu organisieren. Vielleicht in Pennsylvania, in den Bergen."
"Werde ich da auch mitfahren?", wollte Julia wissen.
"Ja natürlich, Sie und George werden wir sicher brauchen. Victoria müssen wir wohl beurlauben, wenn wir in einem Hotel sind."
Mrs. Leslie liess ihren Sohn nun nicht mehr aus den Augen, was für Julia sehr anstrengend war. Sie musste einmal jede Stunde seine Temperatur messen, ihn dazu jedesmal auswickeln und ihm den Fiebermesser in sein kleines Ärschlein stecken. Das passte ihm natürlich gar nicht, vor allem wenn er am Spielen war, oder, noch schlimmer, aufgeweckt worden war für die Prozedur. Weil die Dienstherrin vom Arzt erfahren hatte, auch Durchfall könne ein erstes Zeichen für die Krankheit sein, mussten die vollen Windeln genau untersucht werden, und wenn die Kinderkacke nur ein bisschen weich war und streng roch, was nach Julias Erfahrung sehr oft der Fall war, geriet die Mutter in Panik. Ihre Angst wiederum übertrug sich natürlich auch auf den Kleinen, der fast nur noch weinte, wenn er wach war. Die beiden taten Julia leid. Sie kannte aber die möglichen Auswirkungen der Kinderlähmung, auch in Cornol hatte es schon Todesfälle gegeben, und zwei Mädchen in ihrer Schule hatten verkrüppelte Gliedmassen gehabt. Eines konnte praktisch nicht mehr gehen und hatte oft Schmerzen. Sie betete zur Mutter Gottes, sie solle den kleinen George beschützen. Und nahm sich vor, Josephine bei der nächsten Gelegenheit zu fragen, welcher Heilige speziell für diese Krankheit zuständig sei.

Mr. Leslie hatte Zimmer reserviert in einem Hotel mit dem Namen Montanesca, in dem kleinen Ort Mount Pocono. Er wusste von mindestens zwei weiteren Familien unter seinen Arbeitskollegen, die dorthin fahren wollten oder schon gefahren waren. Die Gegend habe sich in den letzten Jahren zu einem Anziehungspunkt für Sommerfrischler aus New York entwickelt. Es gebe dort bereits zehn Hotels, aber das Montanesca sei eines der grössten, und vor allem das beste. Der Dienstherr war stolz darauf, eine so gute Lösung für die Flucht seiner Familie aus der Gefahrenzone gefunden zu haben, und schilderte die zahllosen Möglichkeiten, die Zeit in den Pocono-Bergen lustvoll und standesgemäss zu verbringen. Als am andern Tag der Kinderarzt erschien, wurden sie alle eingehend untersucht und befragt. Es war ein guter Doktor, der sich Zeit nahm, den Buben nach der eigentlichen medizinischen Inspektion noch während einer halben Stunde beim Spiel zu beobachten. Als der Kleine begann, die Klötze herumzuwerfen, dabei lauthals lachte und in den Gesichtern der Erwachsenen seine Wirkung überprüfte, meinte er schmunzelnd:
"Der ist gesund, kein Zweifel!"
Er füllte das Formular aus, das ihnen die Reise erlauben würde, und verabschiedete sich. Julia musste sofort damit beginnen, die Kindersachen zusammenzusuchen und einzupacken. Man wollte schon am nächsten Morgen losfahren, also fragte sie die Herrschaften, ob sie ihre Geschwister per Telefon darüber unterrichten dürfe, dass sie wegfahre. Für wie lange eigentlich, wollte sie bei der Gelegenheit wissen. Mrs. Leslie konnte es nicht sagen.
"Mein Mann hat für eine Woche gebucht und sich die Möglichkeit ausbedungen, zu verlängern, wenn es nötig wird."
Julia konnte am Abend ihre jüngere Schwester bei den Baynes erreichen. Mathilde verstand die Flucht der jungen Familie, fand aber auch, dass es ungerecht sei.
"Alle die armen Leute in Brooklyn können nicht ausweichen. Hoffentlich geht das bald vorbei. Mach's gut, und bleibe gesund!"

Das Hotel erschien Julia riesig. Es war ein sehr breiter Kasten mit einer Giebelfassade in der Mitte und zwei leicht nach hinten abgeknickten Seitenflügeln, die wieder mit Giebeln, etwas kleiner als der in der Mitte, abschlossen. Im Innern gab es endlose Gänge. Zum Glück verstand Julia bald, wie sie die Zimmernummern zur Orientierung zu nutzen hatte. Die erste Ziffer bedeutete das Stockwerk, und die weiteren zwei bildeten zweistellige Zahlen, die von West nach Ost zunahmen. Überall fehlte die Dreizehn. Im Aufzug waren die Stockwerke gut verständlich angeschrieben. Nur das Erdgeschoss fand sie zuerst nicht. Sie liess andere Gäste die Knöpfe bedienen, beobachtete sie dabei und schaute, wohin der Lift fuhr. Ein grosses L und ein Sternchen waren auf dem richtigen Knopf. Lobby, das war es! Die Zimmer waren sehr unterschiedlich ausgestattet. Das Zimmer ihrer Herrschaften hatte ein eigenes Bad mit Toilette, fliessend warmem und kaltem Wasser. Auf dem Boden lagen Teppiche, die Polstermöbel sahen teuer und bequem aus. Das Doppelbett war überdacht von einem wuchtigen Baldachin. Ihr Zimmer, das man ihr zuerst zuwies, war viel bescheidener ausgerüstet. Es lag am Ende des Flurs, und das Bad hätte sie sich mit andern, ihr unbekannten Gästen teilen müssen. Ab der zweiten Nacht aber durfte sie in ein grosses Zimmer umziehen, das fast genau gleich eingerichtet war wie das von Mr. und Mrs. Leslie. Der Grund dafür war, dass sie nicht schlafen konnten, wenn der Bub in seinem Kinderbettchen im gleichen Zimmer lag. Julia wusste, wie leicht und unruhig sein Schlaf war, und hatte sich gewundert, dass die Eltern etwas auf sich nehmen wollten, was sie überhaupt nicht gewohnt waren. So war es nun wieder wie zuhause in Short Hills, dachte sie, und musste darüber lächeln. Wenn George wach wurde, war sie es noch vor ihm. Sie gab ihm Wasser aus dem Fläschchen oder wechselte seine Windeln, und sang ihn leise wieder in den Schlaf.

Sie machten Ausflüge in die Umgebung bei schönem Wetter, und lasen oder machten Gesellschaftsspiele, wenn es regnete. Es gab einen grossen Aufenthaltsraum für diesen Zweck, aber auch die Lobby oder eine der Bars waren beliebte Orte, wenn es draussen nass und kühl war. Überall lagen Tageszeitungen auf, und Mr. Leslie nahm sich immer vor dem Frühstück von jeder ein Exemplar, um die Börsenentwicklung zu studieren. Leider gab es in den Zeitungen auch viele Berichte über den Krieg, und der Dienstherr konnte es trotz dem Widerwillen seiner Frau gegenüber solchen Meldungen nicht lassen, schreckliche Details der laufenden Schlachten von sich zu geben. Ihn schien das irgendwie anzuregen, und sein Tonfall war nicht anders, als wenn er von interessanten Bauprojekten oder technischen Durchbrüchen erzählte. Julia meinte, es sei besser, sich selber ein Bild zu machen von den Entwicklungen in Frankreich oder Russland, aber sie hörte bald wieder damit auf, die Artikel zu lesen, weil es sie zu sehr mitnahm. Neunzehntausend tote britische Soldaten, an einem Tag! Sie konnte sich eine solche Anzahl junger Menschen schon lebendig kaum vorstellen. Warum konnte so etwas geschehen? Es war ein Irrtum gewesen der Offiziere, die den Angriff an der Somme befehligt hatten, sie zwang sich, das fertig zu lesen. Ein Irrtum, und dann Sturheit. Stundenlang hatten die Engländer zuerst die deutschen Stellungen beschossen und dann, in der Meinung, der Gegner sei kampfunfähig oder tot, angegriffen. Aber die boches waren nicht tot, hatte sich tief eingegraben und gewartet mit ihren Maschinengewehren. Neunzehntausend! Junge Männer wie Fionas Brüder, wie ihre Brüder! Und bei Verdun kämpften sie seit Monaten um ein paar Hügel. Hunderttausende waren schon draufgegangen dabei. Herr im Himmel, hilf! Mach dem ein Ende!

Sie blieben zwei Wochen in den Bergen. Die Epidemie klang glücklicherweise nach einem Höhepunkt im August so rasch ab, wie sie gekommen war. Sechstausend Menschen hatte die Krankheit getötet, und über zwanzigtausend Kinder zu Krüppeln gemacht. Grossen Erfolg hatte man mit einer Kampagne erzielt, bei der Blut genesener Kranker gesammelt und Bestandteile davon den Kranken eingespritzt worden waren. Schritt für Schritt wurden die abgesperrten Quartiere und Gebäude wieder geöffnet, die Reisebeschränkungen aufgehoben. In allen Staaten hatte der Wahlkampf begonnen. Präsident Wilson kandidierte, als Demokrat, für eine zweite Amtszeit und wurde vom Gouverneur von New York, dem Republikaner Charles Evans Hughes herausgefordert, der zu Beginn der Kampagne von seinem Amt zurücktrat. Mr. Leslie war sein glühender Anhänger und stellte gleich zwei Plakate von ihm in den Vorgarten des Hauses in Short Hills, so dass man das Porträt des bärtigen Politikers aus beiden Richtungen sah, wenn man die Strasse hinauf oder hinunterfuhr. Seiner Frau war dies etwas peinlich, aber er liess sich da nicht dreinreden. "Jetzt ist Schluss mit Sich-Durchwursteln und Pseudo-Neutralität in diesem Krieg! Zudem ist Wilson ein übler Rassist, und sollte doch als Demokrat für die Gleichberechtigung aller sein. Nochmals vier Jahre mit ihm sind einfach zu viel."
Mr. Leslies Einsatz für seinen Kandidaten war aber umsonst, Wilson wurde im November 1916 knapp wiedergewählt.

Julia erfuhr von von der Geburt ihres Neffen, Baptistes und Friedas Söhnchen Joseph, durch einen Brief von Célina. Alles gut gegangen, der Kleine und die Mutter waren gesund und munter, der Vater furchtbar stolz. Sie lebten jetzt in Riehen in einer Wohnung, nahe der Grenze zu Deutschland, Baptistes Arbeitsort. Zur Wohnung gehörte auch ein Garten, dahinter plätscherte ein Bach, kanalisierte Abzweigung des Wiesenflusses. Es gab ihr schon einen kleinen Stich, dass jetzt zwei ihrer Geschwister ein Kind bekommen hatten, und sie, weit davon entfernt, an eine Familie denken zu können, das Kind wohlhabender Leute hütete. Sie wusste nicht, wann sie die Kleinen – hoffentlich bald! – in der alten Heimat würde in die Arme schliessen können. Um Alcide machte sie sich Sorgen. Mit seinem Gehör ging es noch nicht viel besser. Er klagte nicht, aber man merkte, dass es ihn bedrückte, und wohl auch bei der Arbeit beeinträchtigte. Seine Herrschaften und die Kinder waren wieder von ihrer Insel an der Küste von Maine zurückgekehrt, und es gab viel zu tun in den Villen in der Stadt und in Pocantico, wo auch der Senior noch lebte. Schlimm war für ihren Bruder auch, dass seine geliebte Fiona nach Irland zurückkehrte, so wie es aussah, für immer. Sie hatte ihn schon seit Jahren nicht mehr weinen gesehen, aber als er ihr das erzählte, hatte er Tränen in den Augen gehabt, und seine Stimme war heiser gewesen. Sie wusste nicht, wie sie ihn hätte trösten können, ihren grossen Bruder, der immer so stark gewesen war. Und sie getraute sich auch nicht zu fragen, ob er jetzt nach Cornol zurückkehren werde, wie er es angekündigt hatte für den Fall, dass seine Geliebte in ihre Heimat reise, um ihre Eltern zu unterstützen. Oder warum er nicht mit Fiona nach Irland ziehen könnte. Aber wer würde dann zu Papa und Maman schauen, deren Zeit, alleine für sich und den kleinen Hof zu sorgen, ebenfalls abzulaufen schien. Der Druck war da, auch sie und Mathilde, die Jüngsten der Familie, spürten ihn. Es gab Pflichten. Die Aufgabe, sich zu vermehren, die Familie weiterleben zu lassen, hatten Célina und jetzt auch Baptiste übernommen. Würde die Aufgabe, ihre Erzeuger zu erhalten, an Josephine und Alcide hängen bleiben? Und was war ihre und Mathildes Aufgabe?

Donnerstag, 10. Juni 2021

weiss, schwarz, Übergänge

Julia stand zwischen ihren Taschen in der Eingangshalle des Hauses in Short Hills. Alles um sie herum: sauber und nett. Nur der kleine George klammerte sich an den Rock seiner Mutter und brüllte wie am Spiess. Hochroter Kopf, Schweisströpfchen auf der kleinen, runden Stirn. Bald würden die Blumenvasen und Scheiben der Salontür zerspringen in tausend Stücke. Ihre neue Dienstherrin war nur drei Jahr älter als sie, stand da vor ihr und bemühte sich um Haltung.
"Einer seiner Wutanfälle", meinte sie entschuldigend.
Julia sah die Haarsträhnen, die sich aus der Frisur gelöst hatten, und die roten Flecken auf dem Hals. Am liebsten hätte die junge Mutter wohl auch losgeschrien, ihr Kind geschüttelt oder etwas zu Boden geschmettert. Sie löste das Händchen des Buben von ihrem Kleid und setzte ihn, etwas unsanft, auf den Teppich, wo er unentwegt weiter heulte, dabei aber Julia beobachtete.
"Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer und das Bad. Der wird noch eine Weile weiter toben, am besten lassen wir ihn jetzt etwas allein."
Sie ging voraus. Julia nahm ihre Sachen. Bei der Türe fiel ihr etwas ein. Sie drehte sich nochmals zu dem Kleinen um und schenkte ihm eine ihrer groteskesten Grimassen. Ein Moment lang war Ruhe, George riss staunend die Augen auf. Als sie die Treppe hochstieg, nahm er sein Geschrei wieder auf, aber nicht mehr ganz so laut, und von kleinen Pausen unterbrochen. Sie kannte das: er wollte einfach nicht allzu plötzlich aufhören damit.

Mrs. Leslies Lieblingsfarbe war eindeutig Weiss. Nicht nur das Äussere des Hauses war in makellosem, spiegelndem Weiss gestrichen, auch im Inneren dominierte diese Farbe alles und jedes. Tapeten, Möbel und Polster, Blumenarrangements und Nippsachen, Bücherregale samt den Bücherrücken. Sogar die Bilder zeigten fast ausschliesslich Motive, in denen Weiss natürlicherweise im Übermass vorkam: Schneeberge, mit Gischt bedeckte Wellen, Zweige blühender Kirschbäume. Auch Julia bekam bald zwei schneeweisse Uniformen. Eine war zum Wechseln, was sie gut fand, denn Bluse, Rock und Schürze vor Flecken zu bewahren, schien ihr eine fast unmögliche Aufgabe. Immer strich der Kleine seine verklebten Händchen an ihr ab, oder ein sperriges Salatblatt verspritzte die Sauce an der Serviette vorbei auf ihre Bluse. Sie setzte sich auf ein Stückchen Schokolade, das George auf einem Stuhl abgelegt hatte, oder schnitt sich in der Küche in den Finger, was Blutspuren auf dem Rock zur Folge hatte.
"Sie haben da was..", musste sie ab und zu hören von der Dienstherrin, oder sie bekam auch nur einen Hinweis durch vorwurfsvolle Blicke. Für Mrs. Leslie hatte immer alles sauber zu sein und neu. Sie kaufte anders ein, als Julia es kannte. Sie benutzte dazu Kataloge von Versandhäusern, wie sie das nannte, zum Beispiel den von W. & H. Walker Company. Darin fand sich alles, was mit Kleidern und Toilettenartikeln zu tun hatte, für Frauen, Männer und Kinder. Und da der Katalog zwei oder dreimal pro Jahr herauskam, konnte Mrs. Leslie immer das Neuste kaufen, das war ihr wichtig. Die erste zu sein in der Nachbarschaft, die einen bestimmten Hut trug, oder ein Kleid mit einem neumodischen Schnitt. Die Waren kamen mit der Post, in grossen und kleinen Paketen, deren Ankunft der jungen Frau ungeheuer wichtig war. Ihr den Tag rettete oder sie, bei seltenem Ausbleiben, in melancholische Stimmung versetzte.

Mr. Leslie bezahlte die Sendungen ohne zu murren, soweit es Julia mitbekam. Er verdiente gut bei seiner Arbeit an der Börse, von der er oft sagte, dass er sie liebe. Julia konnte sich allerdings nichts darunter vorstellen, und sie meinte, dass es der Ehefrau nicht viel anders erging. Mrs. Leslie tat alles, damit ihr Mann nicht wieder in das schwarze Loch zurückfiel, das sich im Sommer 1914 aufgetan hatte, als in Europa der Krieg losbrach und die New Yorker Börse für ganze drei Monat geschlossen wurde. Manchmal erzählte sie Julia in kurzen Bruchstücken von dieser für sie schrecklichen Zeit, als sie den Schock verdauen musste, den das erste Kind für eine Frau bedeute. Die sich nicht hatte vorstellen können, wie gründlich ihr Leben durch die Bedürftigkeit des kleinen Wesens verändert würde, das sie da auf die Welt gesetzt hatte. Dazu sei die genauso plötzliche Hilflosigkeit ihres Mannes gekommen, der, zur Untätigkeit verdammt wie alle seiner Berufskollegen, mitansehen musste, wie die ihm anvertrauten Vermögenswerte dahinschmolzen. Danach habe sich der Börsenmarkt auf wundersame Weise wieder erholt, und New York sei nun dabei, London als Weltzentrum der Finanzen abzulösen. Julia wusste, dass ihre Vorstellung davon, was das Wort 'Börsenmarkt' bedeuten könnte, bei ihrer Dienstherrin, und erst recht beim Dienstherrn, spöttisches Gelächter ausgelöst hätte, also getraute sie sich nicht, Fragen zu stellen. Aber sie sah die Anstrengungen, mit der das junge Ehepaar den Anschein eines erfolgreichen, geglückten Lebens aufrecht erhielt und ausbaute. Ein teures Automobil, ein Dodge, musste angeschafft werden, die Garage dafür gebaut, ein Chauffeur angestellt. Er hiess George Follis und war so schwarz, dass Julia im Gegenlicht seine Gesichtszüge oft erst aus nächster Nähe erkennen konnte. Sie mochte seine zurückhaltende Art, auch wenn sie manchmal den Eindruck hatte, er müsse sich zu sehr anstrengen, keinen Fehler zu machen. Dabei fuhr er ausgezeichnet, soweit sie dies beurteilen konnte, und er putzte, ölte und schraubte an dem Fahrzeug herum mit einer Hingabe, als sei es ein geliebtes, leider etwas zickiges Lebewesen. Er sah beeindruckend aus, wenn er in seiner dunkelblauen Uniform, mit der gleichfarbigen Dienstmütze, hinter dem Steuerrad sass, und sie hatte den Verdacht, es sei ihren Herrschaften bei seiner Einstellung vor allem um dieses schicke Bild gegangen. Sie behandelten ihn freundlich, aber eben doch ein bisschen anders als sie, den Butler und die Köchin. Mit etwas mehr Distanz und Herablassung vielleicht, es war schwierig zu fassen, ob das nur von ihnen ausging, oder ob es auch durch seine scheue, unterwürfige Art mit hervorgerufen wurde. Es erinnerte sie an das Verhältnis der Bauernleute mit Verdingkindern und Tagelöhnern zuhause.

Mr. Leslie war gerade erst dreissig geworden, und von der Sorte selbstbewusst zackiger junger Männer, mit denen Julia keine Erfahrung hatte. Er war etwas kleiner als sie, sah kräftig und sportlich aus, aber sie schätzte, dass er in den kommenden Ehejahren Gewicht zulegen würde. Wenn er von seinem Büro an der Broad Street zurückkam, machte er immer einen ziemlichen Wirbel. Schien das Dröhnen seiner Stimme im Haus zu geniessen, wenn er seiner Frau vom Tag berichtete und sich dabei nicht unterbrechen liess, wenn sie in einen andern Raum ging. Begrüsste überschwänglich seinen Sohn, indem er ihn ein paar Mal in die Luft warf. Liess sich einen Jack Daniels, mit etwas Wasser, bringen, von seiner Frau, lieber aber noch vom irischen Butler, Joseph Hogan, oder auch von ihr, Julia. Er liebte es, bedient zu werden, sich Bedienung leisten zu können nach seinem anstrengenden Tag. Seine Frau gab sich grosse Mühe, es ihm am Feierabend in allem recht zu machen, obwohl sie ihren Mann beneidete um sein Leben ausserhalb des Hauses, wie Julia schnell herausfand. Um die Fahrten in die Stadt, um seine Kollegen, von denen er viel erzählte, um seine Erfolge und die damit verbundene Anerkennung. Sie kämpfte darum, wieder an ihre Tätigkeiten vor dem Kind anzuknüpfen. Sie war eine leidenschaftliche Tänzerin und hatte, zusammen mit anderen Frauen, grosse Ballanlässe organisiert in New York, manche im Zusammenhang mit wohltätigen Zwecken. Es war ihr damit gelungen, beträchtliche Geldsummen zusammenzubringen, mit denen man eine Klinik und eine Kantine für bedürftige Kinder unterstützte. Seit sie an das Landhaus in Short Hills gebunden war, konnte sie nur noch Schreibarbeiten und einen Teil der Buchhaltung für die Stiftung erledigen. Aber sie wollte sich wieder in die Schlacht stürzen, wie sie es nannte, wenn sie Julia davon erzählte und dabei leidenschaftlich wurde. Julia dachte darüber nach, wie das Problem gelöst werden könnte. Egal wie sie es drehte, es würde darauf hinauslaufen, dass sie ganze Abende oder gar Tage alleine auf den Kleinen würde aufpassen müssen. Aber es war nicht an ihr, so etwas vorzuschlagen, und sie traute es sich auch noch nicht zu.

Dabei war George, "der Dritte", wie er manchmal von seinem Vater genannt wurde, kein sehr schwieriges Kind. Die Wutanfälle blieben heftig, aber sie ereigneten sich nicht allzu häufig. Ungerechterweise betrafen sie fast nur Mrs. Leslie, seltener die beiden anderen Frauen im Haus, Victoria und Julia. Nie aber die Männer, Mr. Leslie, den Butler Joseph Hogan, oder den Chauffeur. Grimassen schneiden half immer, aber das konnte Julia nur, wenn sie alleine war mit dem Bub. Sonst wurde immer versucht, das Kind abzulenken mit irgendetwas Nettem. Einer Geschichte, einem Lied, einem halben Apfel. Zornig wurde George meistens dann, wenn man etwas Bestimmtes von ihm wollte. Zum Beispiel, dass er sich aufs Töpfchen setzen sollte, bevor man mit ihm spazieren ging. Das war überhaupt ein schwieriges Terrain, dieser Übergang vom Wickelkind zum Bub, der merken sollte, wann er pissen oder kacken musste. Julia erinnerte sich daran, wie Maman ihr von den viel grösseren Schwierigkeiten mit Baptiste und Jules bezüglich des trocken Werdens erzählt hatte, damals, als ihr Schwesterchen Mathilde diesen Schritt von einem Tag zum anderen gemeistert hatte, mit zwei Jahren, als ob es nichts wäre. Aber sie hatte den Eindruck, dass es auch bei dem verwöhnten Georgie nicht mehr lange dauern würde. Sie konnte die Mutter davon überzeugen, dem Kleinen keine Windeln mehr anzuziehen und versprach, ihn oft zu fragen, ob er auf den Topf müsse. Wenn es zu spät war, musste sie halt ein bisschen mehr arbeiten. Abends brachte sie ihn ins Bett. Sie erzählte ihm eine kleine Geschichte, meistens etwas mit Tieren, was sie von zuhause kannte. Mit den Kühen, den Schweinen, Katzen oder Hühnern. Sie machte ihm die Tierlaute vor, oder imitierte deren Ausdruck. Davon konnte er nicht genug bekommen. Ein kurzes Gebet auf englisch gehörte zum Programm, das wollten die Eltern so haben.
Now I lay me down to sleep,
I pray the Lord my soul to keep;
Guide me, Jesus, through the night
and wake me with the morning light
Amen

Das Wiegenlied sang sie in ihrem Dialekt, da konnte sie nicht anders, auch wenn sie den Eindruck hatte, es passe den Herrschaften nicht so ganz. Aber George liebte es, und verlangte es schon bald: "Sing Nicolas!"
Und das tat sie, singsangend, mit ihrer etwas heiseren Stimme:

Djeain-Nicolas, mon p’tét fieu, mon aimi,
Tiaind t’veus te mairiaie?
Dis-me-lo, dis!

Tiaind qu’i seraî grôs, mai mére, qui vôs l’dis.
Nian p’mitnaint qu’i seus p’tet,
oh Dé nani!


Jeden zweiten Sonntag traf sie sich mit ihren Geschwistern in New York, das half gegen Heimweh und Anfälle von Einsamkeit. Manchmal fuhr sie mit dem Zug. Es kam aber auch vor, dass Mrs. Leslie Lust hatte, mit ihrem Mann für einen freien Tag in die Stadt zu fahren, dann ging es schneller. Zuerst besuchten sie die Messe in St. Vincent de Paul, seltener in St. Patrick, weil sie dort auf englisch gelesen wurde und Josephine das nicht mochte. Danach ging man zusammen essen, im Gemeindehaus der französischen Kirche, oder auch in einem Restaurant, in dem man schön lange sitzen bleiben konnte. Wer Zeit und Lust dazu hatte, machte sich danach noch auf für einen Spaziergang in einem der vielen Parks der Stadt. Wenn noch andere Cornoler dabei waren, war es lustiger, dafür erfuhr sie mehr darüber, wie es dem Bruder und den Schwestern ging, wenn sie unter sich waren. Mathilde schien es sehr gut zu gehen mit ihrem ältlichen Trio. Die Geschwister Bayne waren sehr eigen, hatten viele Spleens und Macken, über die sie stundenlang erzählen konnte. Spöttisch, aber durchaus liebevoll. Die älteste, Mrs. Ruth, war eine grosse Liebhaberin japanischer Kultur, die das fernöstliche Land auch schon mehrfach besucht habe. Sie sammle Bilder, vor allem solche, die auf Papier gedruckt waren. Mathilde kannte sich damit nicht aus, aber die Dienstherrin liebe nichts mehr, als einem ihre Schätze zu zeigen und alles damit Zusammenhängende zu erklären. So habe sie Mathilde auch Holzbretter gezeigt, mit denen gewisse dieser Bilder gedruckt worden seien. Das hatte sie sehr beeindruckt, jedes kleinste Detail hätten die Künstler in das harte Holz geschnitten, dabei die feinen Linien stehen gelassen, die danach den Dingen ihre Umrisse gaben. Einmal habe Mrs. Ruth aus Versehen eine Mappe geöffnet mit sehr unanständigen Bildern. Sie habe sie schnell wieder zugeklappt und sei sehr verlegen gewesen danach. Mathilde hatte gestaunt, dass eine so korrekt wirkende ältere Frau etwas Derartiges in ihrem Besitz habe, und dass es solche Bilder überhaupt gabe. Erst als sie einmal mit Julia alleine war, getraute sie sich, zu beschreiben, was sie gesehen hatte. Liebespaare bei ihrem Spiel, mit grotesk vergrösserten Geschlechtsteilen. Sie mussten beide furchtbar kichern. Die Idee, einen japanischen Koch anzustellen, gehe natürlich auch auf Mrs. Ruth zurück. Aber was der aus der Küche zaubere, sei unglaublich. Mathilde fand keine Worte, um die neuen Geschmacksnoten, die Düfte und Farben der Gerichte zu schildern. Und wie aufwändig seine Kocherei sei, man müsse stundenlang die Küche aufräumen und putzen danach. Aber es lohne sich.
"Rohen Fisch habe ich gegessen, stellt euch vor! Wenn ich das Maman und Papa erzähle!"

Auch von Alcides Anstellung erfuhr sie endlich mehr. Sie war beleidigt gewesen, weil er seinen Schwestern Verschwiegenheit nicht zutraue, und hatte ihn immer wieder gedrängt, mehr über die Rockefellers zu erzählen. So gab er nun ab und zu Anekdoten zum Besten, kleine Geschichten aus dem Alltag, von denen er offenbar annahm, dass sie die vornehmen Herrschaften nicht kompromittieren könnten. Er erzählte vom kürzlichen Tod von Laura Celestina Spelman Rockefeller, der Mutter von Rockefeller Junior, und Frau des Senior, der sie immer "Cettie" ganannt hatte. Von der Trauerfeier im engen Familienkreis in Cleveland, wohin er, Alcide, zwar mitgefahren sei, aber die Zeit hauptsächlich mit dem Chauffeur verbracht habe, im Auto, oder in Kaffeehäusern. Es habe ihn aber beeindruckt, wie die beiden Herren getrauert hätten. Lady Spelman Rockefeller sei eine starke Persönlichkeit gewesen, die sich in ihrem Leben eingesetzt habe für die Bildung schwarzer Frauen. Das habe er erst nach ihrem Tod erfahren, wegen der vielen Nachrufe, die im Hause gesammelt und zum Teil sogar aufgehängt worden seien. Alcide berichtete auch, dass er vor Weihnachten ein grosses Paket mit Kleidern nach Hause schicken konnte, darunter einige Stücke seines Dienstherrn, auch Schuhe, die Mrs. Rockefeller für ihn herausgesucht und zusammengestellt habe. Er habe es vorher schon geahnt, dass er dieselbe Grösse trage wie Mr. Rockefeller. Aber als er die Sachen in seinem Zimmer anprobiert habe, sei er doch erstaunt gewesen, wie perfekt sie gepasst hätten. Julia klatschte in die Hände.
"Das muss ich sehen, ziehe doch mal etwas davon an!"
Jules schüttelte den Kopf.
"Das kann ich nicht machen. Stell dir vor, wenn jemand die Kleider des Dienstherrn an seinen Dienern erkennt. – Ah, das ist doch der Mantel, den der Patron letzten Winter gerne trug! – Das wäre peinlich, auch mir. Darum habe ich auch gleich alles nach Cornol geschickt."
"Ja, das stimmt", fand Julia. "Aber dort werden sie Augen machen, wenn du damit in die Kirche marschierst."
Julia fragte ihren Bruder über die Kinder des Millionärs aus. Der kleinste, David, war im letzten Sommer zur Welt gekommen, und der zweitjüngste, Winthrop, wurde vier Jahre alt. Alcide hatte aber kaum mit ihnen zu tun, dafür waren mehrere Kindermädchen angestellt. Es hätte sie interessiert, mit denen zu reden. Das war aber nicht möglich. Am nächsten stand ihr Bruder dem etwas speziellen Bub in der Familie, Nelson. Ein achtjähriger Junge, der immer wieder aneckte, und manchmal hart bestraft wurde für seine Streiche, die meist gar nicht als solche gemeint waren. Einfälle, Ideen eher, meinte Alcide. Der Kleine sei leicht ablenkbar, an allem und jedem interessiert, rührend anhänglich. Er kümmere sich immer wieder mal um ihn, wenn es seine Aufgaben erlaubten, und wenn er finde, es sei nötig. Wahrscheinlich wolle der Bub das, was er von ihm bekomme, von seinem Vater, der aber zu oft ausser Haus sei. Oder, wenn er da sei, völlig in Anspruch genommen von seinen Geschäften.
Julia dachte nach. Meinte dann:
"Ja, wenn man so im Dorf aufgewachsen ist wie wir, denkt man, Kinder werden von alleine gross, irgendwie, mit allen anderen zusammen. Aber jetzt, wenn ich sehe, wie die Leslies kämpfen, mit ihrer kleinen Familie. Ich weiss nicht. Sieht nicht so einfach aus."
Darauf wusste Josephine zu berichten, dass sowohl Célina als auch Baptistes Frau Frieda schwanger seien. Bei Célina sei es bald soweit.

Nach einem verspäteten, nasskalten Frühling wurde es mit einem Schlag heiss. Julia konnte in den Garten gehen mit dem kleinen George, der es liebte barfuss die Beschaffenheit verschiedener Böden zu erkunden. Sie erinnerte sich daran, wie sie als kleines Mädchen die Zeit herbeigesehnt und, wenn sie endlich da war, genossen hatte, die Zeit der Kniesocken, die man ausziehen und mitsamt den Schuhen irgendwo verstauen konnte, sobald man ausserhalb der Sichtweite von Maman war. Am liebsten hätte sie sich auch hier ihrer Strümpfe entledigt und wäre barfuss über den akkurat geschnittenen Rasen gegangen, aber sie wusste, Mrs. Leslie würde dies nicht tolerieren, und so begnügte sie sich mit der Vorstellung. Sie wurde geübt darin, den Bub schnell zu trösten und notfalls zu verarzten, wenn er hingefallen war und sich weh getan hatte. Wie sie beobachtete, erkundete der Kleine nach einem Sturz zuerst im Gesichtsausdruck der Erwachsenen, wie schlimm er den Unfall einstufen sollte, und ob es angebracht sei, zu weinen. Da seine Mutter sehr ängstlich war und beim geringsten Vorfall herbeistürzte mit allen Anzeichen des Entsetzens, brüllte George bei ihr immer gleich los. Wenn er mit Julia alleine unterwegs war und sie in so einer Situation fragend anschaute, gelang es ihr oft, ihm mit Blicken, einem Lächeln oder ein paar Worten zu verstehen zu geben, dass es nicht so schlimm sei. So wurde er allmählich härter im Hinnehmen von Schmerz, und auch sie lernte besser zu erkennen, wann er wirklich Trost und Hilfe brauchte. Aber sie blieb vorsichtig, denn sie spürte die Last der Verantwortung, die ihr mit der Betreuung des kleinen Prinzen auferlegt war.

Von der Geburt ihrer Nichte Elisabeth, des ersten Enkelkindes von Maman und Papa, erfuhr sie an einem Sonntag von Josephine, die einen langen Brief von Célina erhalten hatte, adressiert an sie alle. Es waren auch Fotografien dabei. Die Kleine schien gut zu gedeihen, wie man an ihren Pausbacken sehen konnte. Die Eltern wirkten sehr stolz und glücklich über ihr Grosskind.

In der Stadt war es deutlich heisser als in New Jersey, wo oft ein frischer Wind wehte. Viele New Yorker flüchteten auf die Dächer der Häuser, wo es zwar oft nicht wirklich kühler war. Aber zwischen den Hochhäusern stieg die warme Luft in die Höhe und es bildeten sich Aufwinde, die wenigstens die Illusion von Abkühlung mit sich brachten. Es wurde Mobiliar nach oben transportiert, Liegestühle, Rohrsessel, Clubtische. An manchen Orten ganze Bars. Man baute und spielte das Strandleben von Coney Island nach auf den schwarzen Flächen aus Teerpappe. Tar beach nannte man diese Modeerscheinung. Mathilde hatte, weil ihr Arbeitsort in Manhattan lag, schon einige Bekanntschaften machen können mit Angestellten verschiedener Häuser in der Upper Eastside. Eine ihrer neuen Freundinnen, Nora Roche, kündigte für das bevorstehende Wochenende eine party on tar beach an. Ihre Herrschaften reisten für ein paar Tage an die Küste und hatten ihr frei gegeben. Von den Plänen der maid, auf ihrem Dach ein Fest für Freunde zu veranstalten, wussten sie sicher nichts, wie Julia vermutete. Es wurde vereinbart, dass die Gäste zu dem Anlass in Badekostümen zu erscheinen hätten. Julia fand den Gedanken lustig, obwohl sie noch kein Badekleid besass. Mathilde murrte und fand es unnötig, liess sich aber schliesslich überreden. Alcide war zu ihrem Erstaunen bereits ausgerüstet, von seinem Strandurlaub auf Coney Island im letzten Sommer, wie er grinsend zugab.

Die Party war ein Erfolg, es kamen fast zu viele Gäste. Für die meisten war es ungewohnt, sich in Badekleidern zu bewegen und von den andern in diesem Aufzug gemustert zu werden. Julia musste furchtbar lachen, über sich selber, aber auch über Mathildes mürrischen Gesichtsausdruck. Schon bald aber legten sich die Hemmungen, und es breitete sich eine fröhliche Stimmung aus, die sich noch verstärkte, als man auf Nachbardächern, in unterschiedlichen Höhen, ähnliche Veranstaltungen entdeckte und sich über die Abgründe hinweg zuwinkte und -prostete. In der Dämmerung wurden Lampions und Windlichter angezündet, weil es schön aussah, aber auch, um die Ränder des Flachdachs zu markieren, die nur durch leicht ansteigende Rampen gebildet wurden, ohne Geländer. Julia spürte immer wieder ihren Magen, wenn sich jemand zu nahe an den Rand begab, vor allem, wenn die betreffende Person angesäuselt und nicht mehr ganz trittsicher war. Jemand hatte ein Akkordeon mitgebracht, also wurde getanzt. An einer kleinen Bar aus Kisten wurden drinks gemischt, mit Schüttelbecher und viel Trara. Julia hatte ihr erstes Getränk hinuntergestürzt, weil es süss war, und sie durstig. Nun merkte sie, wie viel Schnaps darin gewesen sein musste, und hielt sich für eine Weile ans Sodawasser.

Auf einmal realisierte sie, dass auch Alcides Freundin Fiona gekommen war, zusammen mit zwei weiteren Frauen, von denen eine schwarz war. Offenbar waren sie erst im Laufe des Abends eingetroffen. Sie zögerte etwas, sich der Gruppe zu nähern, wurde aber von Fiona schon von Weitem begrüsst wie eine alte Freundin. Sie musste ihr von der neuen Arbeitsstelle berichten, von ihren Erfahrungen als Kinderfrau. Als sie zurückfragte, ob Fiona noch immer bei denselben Herrschaften sei, und wie es ihr dort ginge, wurde diese still und zog sie auf die Seite.
"Einer meiner Brüder ist gefallen im Krieg, in Flandern. Der andere hat den Verstand verloren, shell shock nennen sie das. Er wurde durch eine Explosion verschüttet, und seither zittert er ununterbrochen. Meiner Mom geht es nicht gut, ich werde bald nach Hause fahren. Es ist schlimm – dieser Scheisskrieg!" Julia hatte sie am Arm gepackt und starrte sie an. Sagen konnte sie nichts. Sie war bisher nie gezwungen gewesen, die Tatsache des Kriegs an sich heranzulassen. Hatte bei Gesprächen darüber hinweggehört, Bilder weggeschoben. Und nun stand da Fiona ganz nahe vor ihr, Fiona, die sie respektierte und bewunderte. Die erleben musste, wie ihre Familie durch den Krieg zerstört wurde. Und deren Zukunft einen Riss bekommen hatte. Sie begann zu weinen.

Als sie wieder bei den andern sassen, drehte sich auch dort das Gespräch um den Krieg, und um die Politik der Vereinigten Staaten in der gegenwärtigen Situation. Darum, ob Präsident Wilsons Doktrin, to keep us out of war, die richtige sei, oder ob man sich nicht, mit den Anhängern der preparedness, auf den Krieg vorbereiten und kraftvoll in diesen eintreten solle. Es nützte nichts, dass einzelne der Gäste forderten, man solle das Thema wechseln, schliesslich sei man zum Feiern zusammengekommen. Der Krieg war wie ein grosser, schwarzer Magnet, der alle Gespräche nach kürzester Zeit auf sich ausrichtete. Das machte Julia Angst, vielleicht weil sie zum ersten Mal richtig hinhörte.
"Wird Amerika auch in den Krieg einsteigen? Und die Schweiz?", fragte sie ihren Bruder.
"Musst du auch in den Krieg?"
Sie dachte an Fionas Brüder, traute sich aber nicht, von ihnen zu sprechen.
"Nein, nein. Die Schweiz ist ja neutral, und bleibt es wohl auch. Und sie wurde bisher nicht angegriffen, oder als Durchmarschgebiet missbraucht. Ich glaube nicht, dass sich daran etwas ändern wird. Und solange bei uns kein Krieg ist, brauchen sie auch keine Sanitätssoldaten wie mich."
Julia nahm ihren Mut zusammen und fragte:
"Bleibst du hier?"
Es dauerte einen Moment, bis er antwortete.
"Fiona hat dir erzählt von ihren Brüdern, und von den Eltern? Auch mit unserem Papa geht es auf und ab, auf die Länge aber abwärts."
Dann, nochmals nach einer Pause:
"Wenn Fiona nach Irland zurückkehrt, gehe ich auch nach Hause."

In der Nacht vom 30. Juli 1916 war es sehr heiss, auch in Short Hills. George konnte lange nicht einschlafen. Er drehte sich unruhig hin und her und war so verschwitzt, dass ihm Julia ein frisches Pyjama anzog, das aber auch schon bald feucht war. Schliesslich wechselte sie das Leintuch und legte ihn in seinen Unterhöschen darauf. Er wurde endlich still, und auch sie fiel in einen unruhigen Schlaf. Sie wurde vom Donner wieder aufgeweckt, der Wecker zeigte auf kurz nach zwei Uhr. Draussen blitze und grollte es, aber als sie richtig wach wurde und ans Fenster trat, dachte sie, es könne kein Gewitter sein. Es war völlig windstill, und das Gerumpel hörte sich eher wie ein grosses Feuerwerk an, mit unregelmässigen Abständen zwischen heftigen Explosionen, dann wieder Geknatter und Geknalle, das aus grosser Distanz zu kommen schien. Sie ging ins Wohnzimmer und trat durch die Gartentür ins Freie. Die Nacht war sehr dunkel, der Himmel pechschwarz. Das weissliche Flackern der Blitze liess Büsche und Bäume für kurze Momente aus dem Dunkel hervortreten wie Pappkulissen. Es schien vom Osten her zu kommen, aus der Richtung der Stadt. Was konnte das sein? Inzwischen war die ganze Familie aufgewacht. Sie hörte George weinen und wollte nach ihm sehen, als Mr. und Mrs. Leslie in den Garten traten. Die Dienstherrin hatte den Kleinen auf dem Arm und schaute mit weit aufgerissenen Augen in den Nachthimmel. Mrs. Leslie suchte nach einer vernünftigen Erklärung.
"Da scheint etwas Grösseres in die Luft geflogen zu sein in der City. Vielleicht an einer der Baustellen der Untergrundbahn."
Als in diesem Moment ein weiterer, viel stärkerer dumpfer Knall ertönte, der die Luft spürbar erzittern liess, drängte sich seine Frau angstvoll an ihn und hielt ihre Hand schützend über den Kopf ihres Kindes. Auch Julia war zusammengezuckt. Der Dienstherr fluchte leise vor sich hin.
"Verdammt, was ist das? Werden wir angegriffen?"

Mittwoch, 2. Juni 2021

TEIL 2 JULIA – bewegte Bilder

Julia war sehr stolz auf sich. Sie hatte die so ganz andere Reise mit der Eisenbahn nach Bordeaux gemeistert. Überall war Militär gewesen. Den Pass konnte sie gar nicht mehr versorgen, so viele Kontrollen gab es. Sie war froh, unterwegs fast keine Verwüstungen sehen zu müssen, der Krieg tobte anderswo, im Norden, wie sie sagen hörte. Am Hafen war ein unglaublich lautes, verwirrendes Durcheinander gewesen. Anders als im Havre wurde hier alles miteinander vermischt. Das Aus- und Einsteigen, Auf- und Abladen. Waren und Menschen und Tiere, Körper und Maschinen, Wichtiges und Unwichtiges. Zum Glück war sie auf die Crevoisiers gestossen, die beiden Armands, Vater und Sohn. Und die beiden Töchter, Marguerite und Yvonne. Er war Uhrmacher, aus Biel. Warum sie ohne die Mutter fuhren, erzählten sie nicht, und Julia traute sich während der ganzen Überfahrt nicht zu fragen. Aber sie waren nett, man half sich gegenseitig. Sie war schon einmal drüben gewesen. Es war seltsam, von dem vierzigjährigen Familienvater als die Erfahrenere behandelt zu werden. Das Meer meinte es gut mit ihnen, ausser an zwei Tagen, wo sich das Schiff durch den Herbststurm hatte pflügen müssen und es den meisten Passagieren schlecht geworden war. Ihr nicht, sie wusste nicht, wie sich die Seekrankheit anfühlte. Aber so wie sie die andern erlebt hatte, musste es sehr schlimm sein. Bald aber war es wieder vorbei gewesen, und sie hatte es lustig gehabt mit den beiden Mädchen. Sie erzählte von ihren Plänen, als Kindermädchen oder Kammerzofe bei reichen Herrschaften unterzukommen. Das wollten die sofort auch, aber sie waren noch zu jung. Sie war jetzt dreiundzwanzig, musste nicht mehr flunkern bei der Altersangabe wie auf der letzten Einreise. Sie war jetzt gross, wie man bei ihnen sagte, und manchmal fühlte sie sich auch richtig erwachsen. Zum Beispiel, wenn ihr Armand von seinen Kämpfen mit den halbwüchsigen Kindern erzählte.

Als sie an der Freiheitsstatue vorbeifuhren, klopfte ihr Herz heftig. Da rund um die späteren Ausgänge bereits dichtes Gedränge herrschte, verabschiedete sie sich von den Crevoisiers. Man tauschte Adressen. Sie gab die von Alcide an, und man wünschte sich gegenseitig viel Glück. Als sie die Rampe hinunter schritt, merkte sie, dass sie besser mit Armand und seinen Kindern zusammen ausgestiegen wäre. Ein Mann mit Dienstmütze erkannte schon von Weitem, dass sie alleine gereist war, und wollte sie in die Kolonne derer einweisen, die mit der Fähre zur Ellis Island fahren mussten. Sie wehrte sich, zuerst erfolgreich:
"No, no, my brother is coming to pick me up!"
Sie musste auf einem leeren Platz zwischen den Gepäckträgern warten.

Wo ist er? Wie soll er mich finden unter diesen vielen Menschen? Ganz ruhig, Julia, er wird gleich kommen, dann ist alles gut! Sie fragt einen Jungen, ob sie kurz auf seinen Gepäckwagen steigen dürfe, um einen Überblick zu bekommen. Nun sieht sie erst recht, wie zahllos die Menschen sich auf dem Pier tummeln, und wie hoffnungslos der Versuch ist, einen einzelnen darin zu erkennen. Wie sieht Alcide jetzt überhaupt aus, was trägt er für Kleider, hat er einen Hut auf? Die Gesichter, auch die in ihrer Nähe, verschwimmen ihr. Sie wünscht sich so sehr, er käme gerade jetzt aus der Menge aufgetaucht, mit einem grossen Pappschild über seinem Kopf, auf dem stehen würde: JULIA, HIER BIN ICH! Als sie vom Wagen heruntersteigt, vertritt sie sich den Fuss. Und der Uniformierte ist wieder da.
"Follow me, please!"
"No, no, my brother..."
Sie wird rüde am Ärmel gepackt.
"You follow me, young Lady! Now!"
Der Mann nimmt ihren Koffer und zieht sie zur Station der Ellis-Island-Fähre. Eisig die Luft in ihrer Nase, sie sieht nichts mehr scharf, die Beine sind wie aus Gummi, der Knöchel schmerzt. Wo bin ich gelandet, was geschieht mit mir? Alcide, bitte! Bitte!

Sie steht schon auf dem Steg, als sie seine Stimme hört, direkt hinter sich.
"Julia! Julia, wo gehst du denn hin?"
Sie dreht sich um, er will sie in die Arme nehmen. Aber sie trommelt mit beiden Fäusten auf seine Brust ein, heulend. Was für eine Wut! Was für eine Erleichterung!
"Wo warst du? Warum warst du nicht da? Ich hatte solche Angst, solch grosse Angst! Und wenn sie mich jetzt ins Depot gebracht hätten? Wir hätten uns nie mehr gefunden!"
"Sch! Schsch! Julia, ich bin da, alles ist gut!"
Endlich erlahmen ihre Arme, sie hat überhaupt gar keine Kraft mehr. Als ihre Knie einknicken, wird sie aufgefangen und behutsam auf den Koffer gesetzt. Sie spürt, wie er sich hinter sie stellt und mit beiden Händen ihre Schultern gegen seine Beine drückt, damit sie nicht umkippen kann. Sie hört ihn etwas rufen, dann mit jemandem verhandeln. Sie hat die Augen geschlossen und wiegt sich leise hin und her. Als sie Kaffee riecht, sieht sie zu ihm hoch. Er hält ein dampfendes Glas in der Hand und lacht sie an.
"So, jetzt trink erst mal. Dann gehen wir ins Cinéma."

Diese Aussicht tröstete sie schnell und gründlich. Ob sie nicht zuerst zu ihm fahren und das Gepäck abladen sollten. Nein, zuerst das Vergnügen, meinte er, als Belohnung für die lange Reise, und als Entschuldigung für sein Zuspätkommen.
"Ich wohne nicht mehr an der Adresse, die ich euch angegeben habe. Und an meiner neuen kannst du nicht wohnen. Ich erkläre es dir dann später."
Sie war erstaunt und irritiert. Aber dann wurde ihr Gepäck auf einen Karren geladen und sie verschob den Streit auf später. Leicht humpelnd trottete sie hinter dem Gepäckjungen und ihrem Bruder her, den Piers entlang nach Norden bis zur Vierzehnten. Der Fussmarsch weiter bis zur Sixth Avenue erschien ihr unendlich lang und sie musste aufpassen, dass sie nicht zu weit zurückfiel. Bei der Hochbahnstation bezahlte Alcide den Jungen und trug ihr Gepäck die eiserne Treppe hoch. Sie konnte nur eine Stufe nach der andern nehmen, musste immer beide Füsse abstellen, dann mit dem gesunden voran, wieder beide abstellen. Mühsam war das. Herrlich aber wurde es, als sie in der Bahn sassen und, auf Höhe des zweiten Stocks der vorbeiziehenden Häuser, die belebte Geschäftsstrasse hoch fuhren. Beim Times Square stiegen sie aus. Ihr Bruder ging zielstrebig auf einen Händler zu, der hinter einem merkwürdigen Wägelchen stand. Er bediente eine Maschine, die darauf aufgebaut war. Menschen drängten sich um einen Glaskasten, der ebenfalls auf die Wagenfläche montiert war. Darüber ein grosses Reklameschild, auf dem in verschnörkelter Schrift stand: THE CRETONS. Als ein Käufer mit einer Papiertüte in der Hand vom Kasten wegtrat, konnte sie hinter dem Glas einen Berg aus weissen Wattekugeln erkennen.
"Was ist das?", wollte sie von Alcide wissen.
"Popped Corn. Das ist aus Maiskörnern gemacht. Wir brauchen das fürs Cinéma. Es schmeckt gut, du wirst sehen."
Alcide kaufte gleich zwei Tüten, die er ihr übergab. Sie waren sehr warm und dufteten verführerisch. Sie musste naschen. Er aber drängte zum Weitergehen.
"Komm, sonst kommen wir zu spät zur nächsten Vorführung. Es ist gleich da drüben."
Über dem Eingang von Loew's New York Theatre schwebte, aufgehängt an Stahlstangen, ein ungeheuer schwer aussehender Baldachin. Sie hatte etwas Angst, darunter zu treten. In einem winzigen Kabinchen sass eine Frau, bei der man die Tickets kaufte. Sie konnten sich die Plätze auf einem kleinen Plan aussuchen, es hatte jetzt am Nachmittag nicht viele Besucher. Julias Koffer und die Tasche nahmen sie mit hinein und stellten sie neben ihrer Sitzreihe an die Wand. Es war halbdunkel im Vorführungssaal, an der Decke hingen zwei riesige Kronleuchter, deren elektrische Glühbirnen nur schwach leuchteten. Julia verstand zuerst nicht, wo sie sich hinsetzen sollte, bis ihr Alcide zeigte, wie man die Sitze der weinroten Plüschsessel herunterklappte. Sie lehnte sich in ihre Polster zurück und dachte, sie sei im Himmel. Bon Seigneur, je vous remercie!

Fast gleichzeitig ertönten Orgelklänge von vorne aus dem Halbdunkel. Erst jetzt sah sie den Mann, der vor einem grossen, farbig verzierten Möbel Platz genommen und zu spielen angefangen hatte. Sie wollte Alcide fragen, ob das zum Spektakel dazugehöre, doch da öffnete sich der Vorhang und die Lichter im Saal erloschen ganz. Die Orgel liess einen Tusch ertönen, mit Trommeln und Pauken, die offenbar auch in dem Möbel untergebracht waren. Dann erschien Schrift auf der Leinwand, welche der Vorhang freigegeben hatte. Julia war so in Anspruch genommen von der Gleichzeitigkeit der Vorgänge, dass sie zu lesen vergass. Nun Militärmusik, und vor ihren Augen explodierte das Bild einer Kolonne von Soldaten, die auf sie zu und in den Saal marschierten. Wo sollten die alle Platz finden? Sie zog ihre Beine hoch und klammerte sich an den Bruder.
"Keine Angst, es sind nur bewegte Bilder. Dir passiert nichts!" sagte dieser halblaut. Und als sie sah, wie er lachte, beruhigte sie sich ein bisschen. Aber sie verstand nicht, warum er sie hierher mitgenommen hatte, wo man den Krieg zeigte, denn nun sah man riesige Kanonen schiessen, dazu imitierte der Orgelspieler den Lärm des Schlachtfeldes. Immer wieder wurde die Leinwand schwarz, und weisse Schrift erschien vor dem dunklen Hintergrund, aber viel zu kurz, um alles zu lesen und zu verstehen. Jetzt fragte sie halt.
"Warum zeigen sie das? Das ist nicht lustig!"
"Das sind Nachrichten, die Wochenschau. Die zeigen sie immer zuerst. Das Lustige kommt bald, nur Geduld!"

Die Bewegungen auf dem beleuchteten Rechteck sind so schnell, und jedesmal, wenn sie meint, dem Geschehen folgen zu können, springt wieder ein anderer Ort ins Bild, drängen sich neue Figuren in ihr Gesichtsfeld. Sie muss zwischendurch die Augen schliessen um es auszuhalten. Dann hört sie nur die Töne der Orgel, als Musik. Sobald sie wieder hinschaut, verschmilzt alles zu einer gewaltigen Maschine. Die Bilder scheinen die Töne hervorzubringen, und umgekehrt. Julia ist froh, als es, zu einem sehr lauten Finale der Orgel, dunkel wird auf der Leinwand, und hell im Saal.
"Pause! Danach geht es richtig los", meint Alcide. "Gib mir mal eine Tüte, oder willst du die alle alleine essen?"
Erst jetzt merkt sie, dass sie die Papiertüten mit dem popped corn mit beiden Händen gegen ihren Bauch gepresst hat. Sie versucht sich zu entspannen und reicht ihm eine. Öffnet die andere und schiebt sich ein paar der wattigen Kugeln in den Mund. Sie quietschen, wenn man darauf beisst. Der Geschmack ist gut, leicht salzig.
"Ich hole uns noch etwas zum Trinken", sagt Alcide, steht auf, geht nach hinten und verlässt, durch den Türvorhang, den Saal. Julia schaut sich um. Wie Alcide gesagt hatte, sind nur ein paar Dutzend Leute im Cinéma. Sie sitzen weit verstreut, und als sie den Kopf hebt, sieht sie die Balkone und Logen. Auch dort kann sie vereinzelte Köpfe erkennen. Alcide kommt mit zwei kleinen, bauchigen Flaschen zurück.
"Es gibt nur Cola."
Das kennt sie, mag es aber nicht besonders. Sie findet, es schmecke etwas angebrannt, und viel zu süss. Und wenn man am Halm saugt, kommt fast nur Schaum und Luft. Aber langsam kehrt das Glücksgefühl wieder zurück. Darüber, dass sie errettet wurde vom Lieben Gott. Und von ihrem Bruder. Und dass sie nun bald auch zu denen gehören wird, die über das Cinéma erzählen können.

Wenn Alcide den Film nicht schon gesehen und ihr in der Pause die Geschichte erzählt hätte, würde Julia dasselbe erlebt haben wie in der Wochenschau davor. So aber konnte er ihre vielen Fragen beantworten und sie darauf hinweisen, dass es wieder Tafeln mit Schrift geben werde, vor allem bei Übergängen, die ohne Erklärung schwer zu begreifen seien. Zudem hüpfe die Handlung oft zwischen verschiedenen Orten hin und her. Es seien aber nicht viele, er meine sich zu erinnern, dass alles in einem einzigen Gebäude stattfinde, nämlich in einem Geschäftshaus mit Büros. Mit einem Lift, einem Raum mit dem Safe. Er war noch mitten in seinen Erklärungen, da kam der Orgelspieler zurück, das Saallicht erlosch und der Film begann. THE NEW JANITOR von Charles Chaplin, Alcide hatte es angekündigt, und ihr auch die Bedeutung des Worts janitor erklärt, das ihr unbekannt gewesen war. Eine Art Hausmeister, schlecht bezahlter Mann für alles. Sie schloss ihn von der ersten Szene an ins Herz.

Er spricht mit dem Liftboy, es ist klar, dass er mit ihm hochfahren will. Aber als er sich nochmals zur Treppe hin bückt, um seine Sachen aufzuheben, einen Besen, die Schaufel und den Staubwedel, entwischt der Boy schnell in den Lift, schliesst die Türe und, man sieht es auf der Anzeige, fährt ohne den janitor nach oben. So gemein! Aber schon muss Julia ein erstes Mal laut herauslachen, weil das Männlein auf so drollige Weise zur schon geschlossenen Lifttüre stürmt und die Kurve, auf einem Bein hüpfend, gerade noch hinbekommt. Dagegen knallt, sich dann resigniert abwendet, die Anzeigetafel strafend anschaut, als sei sie schuld. Mit den Schultern zuckt, sich schliesslich seufzend der Treppe zuwendet und den langen Gang nach oben unter die ausgelatschten Schuhe nimmt. Dabei macht er es genauso wie Julia im Moment, mit ihrem angeknacksten Fuss, immer nur eine Stufe aufs Mal mit beiden Füssen erobernd. Und wie sie sich in ihm erkennt, weiss sie nicht, soll sie lachen oder weinen. Dieses Mal ist sie froh um das Hüpfen an einen andern Ort, man ist nämlich schon oben, als der janitor, vollkommen erschöpft, ankommt. Wo hat er plötzlich diesen viel zu kleinen Melonenhut her, den er auf- und wieder absetzt? Was passiert jetzt, Julia ist in einem Büro. Ein Mitarbeiter liest einen Brief, dann kommt ein schwarzes Bild mit weisser Schrift. Sie freut sich über ihre Erkenntnis, dass da dasselbe steht, was der Mann im Brief liest, aber es geht ihr zu schnell. Alcide muss flüsternd erklären, dem Mann werde von einem gewissen Luke Connor gedroht, er werde auffliegen, wenn er seine Spielschulden nicht bezahle. Jetzt sieht man wieder den Mitarbeiter, der etwas übertrieben zeigt, wie sehr er sich Sorgen macht. Und es kommt wieder das lustige Männlein ins Spiel. Was es nun aufführt, lässt Julia kaum Zeit Luft zu holen, sie lacht und lacht, und die Tränen kullern ihr über die Backen. Er hängt sein Hütchen auf den Haken, es fällt runter. Also kickt er es elegant seitwärts weg. Er tritt ins Büro ein, klopft aber erst an, als er die Tür wieder geschlossen hat. Nimmt den Papierkorb mit beiden Händen auf, lässt ihn auf den rechten Fuss fallen wie ein Akrobat seinen Ball, kickt ihn hoch und fängt ihn wieder. Steckt ihn dann sehr lässig, aber verkehrt herum unter seinen Arm, der Korb entleert sich nach hinten, ohne dass er es merkt. Der Mitarbeiter schimpft und deutet auf das verstreute Papier, der janitor beginnt es wieder einzusammeln. Als ein Buch vom Tisch fällt, wird es auch in den Papierkorb gestopft. Der Mitarbeiter verlangt es herrisch zurück und schickt den janitor hinaus. Weil er den Besen quer in der Hand hat, bleibt er in der Türe hängen. Anstatt den Besen anders zu halten, steigt er umständlich darüber.

Als Julia schon meint, es nicht mehr aushalten zu können, weil ihre Rippen so schmerzen vom Lachen, wird es plötzlich spannend. Zuerst fällt ihr das Herz in die Hose als sie zusehen muss, wie das Männlein mehrmals fast aus dem Fenster fällt. Und man sieht doch, wie furchtbar weit es hinunter geht bis zur Strasse. Gerade noch kann er sich retten mit den Füssen, die sich an den heruntergelassenen Schiebefenstern festkrallen. Dann wird der Mitarbeiter beim Raub aus dem Safe von der Sekretärin überrascht. Es gibt einen wüsten Kampf, die Frau wird einfach zu Boden geschlagen. Julia verleiht ihrer Empörung so lautstark Ausdruck, dass sich ein paar Zuschauer verärgert nach ihr umdrehen. Und dann kommt, als Retter in der Not, der janitor zurück. Es wird wieder sehr lustig. Der Mitarbeiter kramt im Safe herum, streckt dabei sein Hinterteil heraus und bekommt einen kräftigen Tritt. Er dreht sich blitzschnell herum und hat plötzlich eine Pistole in der Hand. Ohne zu Zögern, schlägt der janitor die Waffe zu Boden, einfach so, mit seinem lächerlichen Stöcklein. Wie macht er das? Er bückt sich nach der Pistole, dreht dabei dem Räuber seinen Hintern zu, ganz schutzlos. Dieser will sich auf das Männlein stürzen, aber plötzlich zielt da der Lauf zwischen den Beinen hindurch auf ihn. Wie ein Schwänzlein sieht das aus, aber ein gefährliches, das schiessen kann. Als der Held nun wieder umständlich über seine eigene Revolver-Hand steigt, dabei immer auf den Kriminellen zielend, passiert es. Julia spürt, wie es feucht wird zwischen ihren Schenkeln. Sie hat sich in die Hose gemacht vor Lachen.

Auf das gemeinsam Mittagessen mit den Schwestern und ihrem Bruder am ersten Dezember konnte sich Julia erst freuen, als sie sicher wusste, dass Mathilde dabei sein würde. Am neunundzwanzigsten November war diese angekommen, zusammen mit der ganzen Familie Girardin sowie mit Maria Villard und deren Cousin. Eine ganze Bande von Cornolern, alle auf dem Zwischendeck gereist und darum direkt ins dépot des immigrants verfrachtet zur Inspektion durch die Behörden. Nun waren sie frei gegeben und durften sich in New York bewegen wie andere auch. Alcides Vermittler, dieser Edmond, den Julia komisch fand, hatte im Rector's einen Tisch im ersten Stock reserviert. Josephine hatte zuerst nicht kommen wollen, aber der Bruder liess das nicht zu.
"Papperlapapp, du kommst! Ich lade euch ein."
Die neuen Arbeitsstellen für Julia und Mathilde, die der Vermittler hatte organisieren können für den Anfang des nächsten Jahres, sollten besprochen werden. Aber Edmond war für einmal wohltuend entspannt und liess den Geschwistern Zeit bis zum Dessert. So konnten alle von ihren jüngsten Erlebnissen erzählen, oder fast alle, denn Josephine blieb ziemlich schweigsam wie immer. Alcide war jetzt bei Rockefeller Junior! Das regte natürlich die Phantasie an, vor allem der jüngeren Schwestern. Julia merkte aber, dass ihr Bruder seltsam ausweichend Auskunft gab, wenn sie genaueres wissen wollte. Nichts Besonderes. Wie er denn sei als Mensch, ob er seine Frau küsse zum Abschied, ob er seine Kinder liebe. Ob er mit den weiblichen Angestellten flirte, ob ihn Alcide auch schon nackt gesehen habe. Wie viele Paare Schuhe er habe. Solche Sachen eben. Es war Edmond, der schliesslich Alcides Zurückhaltung erklärte.
"Mr. Rockefeller Junior ist eine so bekannte, quasi öffentliche Person, dass sich seine Angestellten zu grösster Diskretion verpflichten, wenn sie dort ein häusliches Dienstverhältnis eingehen."
"Das wäre nichts für mich!", platzte Julia heraus, und Mathilde stimmte ihr lachend bei.
"Du würdest schon nach einer Woche gefeuert! Ich hoffe, unsere Herrschaften werden nicht so heikel sein."
Edmond war schon im Begriff dies als Stichwort nehmen für eine Überleitung zu seinem Thema, aber Mathilde wollte zuerst ihre Eindrücke von Ellis Island loswerden. Auch wenn man aus Erzählungen schon einiges wusste, sei das Erlebnis schockierend. Die Fragerei, der rüde Umgangston, das gezupft und gezerrt, geschubst und gestossen Werden. Einen Zettel mit Nummer bekomme man angeheftet, wie ein Stück Vieh. Eine junge Frau sei auf dem Schiff schon aufgefallen durch ihre scheue Art, ihren flackernden Blick, ihre grosse Schreckhaftigkeit. Auf der Insel, im Getümmel der armen Schlucker in ihren muffig riechenden Sonntagskleidern, vor den strengen Ärzten in Weiss, die ihr mit grellen Lampen in die Augen leuchteten, sei die arme Frau in Panik geraten. Habe plötzlich zu schreien angefangen und um sich geschlagen. Da sei eine Beamtin von hinten an sie herangetreten und habe ihr mit Kreide ein grosses X auf die Schulter gemalt. Einfach so, auf ihr Wolljäckchen. Darauf hätten sie zwei kräftige Männer, ebenfalls in Weiss, weggeführt. So geweint habe sie, so geweint, und dann wieder geschrien, schrecklich! Zum Glück aber sei sie, Mathilde, mit den Girardins und mit Maria zusammen gewesen. Sie hätten versucht, sich mit Spässen bei Laune zu halten. Achille, Marias Cousin, sei die berüchtigte Treppe auf einem Bein hochgehüpft. Die Beamten, die von oben kontrollieren, wer beim Treppensteigen Pausen einlegen muss, hätten sehr mit ihm geschimpft. Aber sie hatten etwas zu lachen gehabt.

Zum Dessert liessen sich die Männer gebackene Äpfel mit cream bringen. Die drei Schwestern nahmen Waffeln mit Honig. Nun war man gespannt darauf, was Edmond zu berichten hatte. Er begann mit Mathildes Herrschaften, den Geschwistern Bayne. Sie wohnten in einer Stadtvilla ganz nahe am Central Park, an der Kreuzung der Madison Avenue mit der zweiundsechzigsten Strasse. Vorstand des Haushalts sei die sechzigjährige Miss Ruth Bayne. Ihre Schwester, Miss Leonore Bayne sei einundfünfzig, der Bruder, Mr. William Bayne, fünfundvierzig. Alle seien unverheiratet und kinderlos, sehr wohlhabend. Mr. Bayne arbeite noch gelegentlich als Notar, sei also nicht immer im Haus. Angestellt hätten sie im Moment einen Koch aus Japan und eine Köchin aus Irland. Offenbar spiele die Küche eine prominente Rolle im Leben der Herrschaften. Was die Aufgaben von Mathilde betreffe, so nehme er an, dass sie in erster Linie als maid für die zwei Damen zu dienen haben werde. Aber ihr Zuständigkeitsbereich werde sich sicher in den ersten Wochen konkretisieren. Julia wurde ungeduldig bei Edmonds umständlich förmlicher Art zu reden.
"Und wo werde ich sein?"
Edmond zog die Brauen hoch. Er war eigentlich noch nicht zu Ende gewesen, aber weil er sah, wie Julia unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschte, gab er nach.

Was er dann sagte, machte es Julia schwer, seinen weiteren Ausführungen zu folgen. Sie werde nicht in New York arbeiten! Was war denn das für eine Idee? Ganz alleine sollte sie? Wohin? nach New Jersey? Wo war das denn? Vierundzwanzig Meilen westwärts? Im Wilden Westen!? Alle redeten auf sie ein, so schien es ihr. Man suchte, sie zu beruhigen. Eine knappe Stunde, mit dem Auto oder mit dem Zug, sei das Anwesen der Leslie von New York entfernt. Der Dienstherr habe zwar noch eine Wohnung in Manhattan, er arbeite im Börsenviertel, fahre aber manchmal abends noch nach Hause, um seine Familie öfter zu sehen. Am meisten beruhigte es Julia zu hören, dass die Leslie einen zweijährigen Buben hatten, für den sie als nurse zu sorgen habe. Das hatte sie sich gewünscht, darauf freute sie sich. Ein Kind wickeln, baden, salben und pudern. Ihm Geschichten erzählen, Lieder vorsingen. Ihm die Dinge zeigen und mit ihm spielen. Sie sah sich in weissem Kleid mit Schürze, mit einem kleinen Knirps, der schon nicht mehr im Wagen sitzen bleiben, sondern ihn mit ihrer Hilfe stossen will.
"Wie heisst der Ort nochmals?", fragte sie Edmond.
"Short Hills, in der Township Millburn. New Jersey."