Mittwoch, 2. Juni 2021

TEIL 2 JULIA – bewegte Bilder

Julia war sehr stolz auf sich. Sie hatte die so ganz andere Reise mit der Eisenbahn nach Bordeaux gemeistert. Überall war Militär gewesen. Den Pass konnte sie gar nicht mehr versorgen, so viele Kontrollen gab es. Sie war froh, unterwegs fast keine Verwüstungen sehen zu müssen, der Krieg tobte anderswo, im Norden, wie sie sagen hörte. Am Hafen war ein unglaublich lautes, verwirrendes Durcheinander gewesen. Anders als im Havre wurde hier alles miteinander vermischt. Das Aus- und Einsteigen, Auf- und Abladen. Waren und Menschen und Tiere, Körper und Maschinen, Wichtiges und Unwichtiges. Zum Glück war sie auf die Crevoisiers gestossen, die beiden Armands, Vater und Sohn. Und die beiden Töchter, Marguerite und Yvonne. Er war Uhrmacher, aus Biel. Warum sie ohne die Mutter fuhren, erzählten sie nicht, und Julia traute sich während der ganzen Überfahrt nicht zu fragen. Aber sie waren nett, man half sich gegenseitig. Sie war schon einmal drüben gewesen. Es war seltsam, von dem vierzigjährigen Familienvater als die Erfahrenere behandelt zu werden. Das Meer meinte es gut mit ihnen, ausser an zwei Tagen, wo sich das Schiff durch den Herbststurm hatte pflügen müssen und es den meisten Passagieren schlecht geworden war. Ihr nicht, sie wusste nicht, wie sich die Seekrankheit anfühlte. Aber so wie sie die andern erlebt hatte, musste es sehr schlimm sein. Bald aber war es wieder vorbei gewesen, und sie hatte es lustig gehabt mit den beiden Mädchen. Sie erzählte von ihren Plänen, als Kindermädchen oder Kammerzofe bei reichen Herrschaften unterzukommen. Das wollten die sofort auch, aber sie waren noch zu jung. Sie war jetzt dreiundzwanzig, musste nicht mehr flunkern bei der Altersangabe wie auf der letzten Einreise. Sie war jetzt gross, wie man bei ihnen sagte, und manchmal fühlte sie sich auch richtig erwachsen. Zum Beispiel, wenn ihr Armand von seinen Kämpfen mit den halbwüchsigen Kindern erzählte.

Als sie an der Freiheitsstatue vorbeifuhren, klopfte ihr Herz heftig. Da rund um die späteren Ausgänge bereits dichtes Gedränge herrschte, verabschiedete sie sich von den Crevoisiers. Man tauschte Adressen. Sie gab die von Alcide an, und man wünschte sich gegenseitig viel Glück. Als sie die Rampe hinunter schritt, merkte sie, dass sie besser mit Armand und seinen Kindern zusammen ausgestiegen wäre. Ein Mann mit Dienstmütze erkannte schon von Weitem, dass sie alleine gereist war, und wollte sie in die Kolonne derer einweisen, die mit der Fähre zur Ellis Island fahren mussten. Sie wehrte sich, zuerst erfolgreich:
"No, no, my brother is coming to pick me up!"
Sie musste auf einem leeren Platz zwischen den Gepäckträgern warten.

Wo ist er? Wie soll er mich finden unter diesen vielen Menschen? Ganz ruhig, Julia, er wird gleich kommen, dann ist alles gut! Sie fragt einen Jungen, ob sie kurz auf seinen Gepäckwagen steigen dürfe, um einen Überblick zu bekommen. Nun sieht sie erst recht, wie zahllos die Menschen sich auf dem Pier tummeln, und wie hoffnungslos der Versuch ist, einen einzelnen darin zu erkennen. Wie sieht Alcide jetzt überhaupt aus, was trägt er für Kleider, hat er einen Hut auf? Die Gesichter, auch die in ihrer Nähe, verschwimmen ihr. Sie wünscht sich so sehr, er käme gerade jetzt aus der Menge aufgetaucht, mit einem grossen Pappschild über seinem Kopf, auf dem stehen würde: JULIA, HIER BIN ICH! Als sie vom Wagen heruntersteigt, vertritt sie sich den Fuss. Und der Uniformierte ist wieder da.
"Follow me, please!"
"No, no, my brother..."
Sie wird rüde am Ärmel gepackt.
"You follow me, young Lady! Now!"
Der Mann nimmt ihren Koffer und zieht sie zur Station der Ellis-Island-Fähre. Eisig die Luft in ihrer Nase, sie sieht nichts mehr scharf, die Beine sind wie aus Gummi, der Knöchel schmerzt. Wo bin ich gelandet, was geschieht mit mir? Alcide, bitte! Bitte!

Sie steht schon auf dem Steg, als sie seine Stimme hört, direkt hinter sich.
"Julia! Julia, wo gehst du denn hin?"
Sie dreht sich um, er will sie in die Arme nehmen. Aber sie trommelt mit beiden Fäusten auf seine Brust ein, heulend. Was für eine Wut! Was für eine Erleichterung!
"Wo warst du? Warum warst du nicht da? Ich hatte solche Angst, solch grosse Angst! Und wenn sie mich jetzt ins Depot gebracht hätten? Wir hätten uns nie mehr gefunden!"
"Sch! Schsch! Julia, ich bin da, alles ist gut!"
Endlich erlahmen ihre Arme, sie hat überhaupt gar keine Kraft mehr. Als ihre Knie einknicken, wird sie aufgefangen und behutsam auf den Koffer gesetzt. Sie spürt, wie er sich hinter sie stellt und mit beiden Händen ihre Schultern gegen seine Beine drückt, damit sie nicht umkippen kann. Sie hört ihn etwas rufen, dann mit jemandem verhandeln. Sie hat die Augen geschlossen und wiegt sich leise hin und her. Als sie Kaffee riecht, sieht sie zu ihm hoch. Er hält ein dampfendes Glas in der Hand und lacht sie an.
"So, jetzt trink erst mal. Dann gehen wir ins Cinéma."

Diese Aussicht tröstete sie schnell und gründlich. Ob sie nicht zuerst zu ihm fahren und das Gepäck abladen sollten. Nein, zuerst das Vergnügen, meinte er, als Belohnung für die lange Reise, und als Entschuldigung für sein Zuspätkommen.
"Ich wohne nicht mehr an der Adresse, die ich euch angegeben habe. Und an meiner neuen kannst du nicht wohnen. Ich erkläre es dir dann später."
Sie war erstaunt und irritiert. Aber dann wurde ihr Gepäck auf einen Karren geladen und sie verschob den Streit auf später. Leicht humpelnd trottete sie hinter dem Gepäckjungen und ihrem Bruder her, den Piers entlang nach Norden bis zur Vierzehnten. Der Fussmarsch weiter bis zur Sixth Avenue erschien ihr unendlich lang und sie musste aufpassen, dass sie nicht zu weit zurückfiel. Bei der Hochbahnstation bezahlte Alcide den Jungen und trug ihr Gepäck die eiserne Treppe hoch. Sie konnte nur eine Stufe nach der andern nehmen, musste immer beide Füsse abstellen, dann mit dem gesunden voran, wieder beide abstellen. Mühsam war das. Herrlich aber wurde es, als sie in der Bahn sassen und, auf Höhe des zweiten Stocks der vorbeiziehenden Häuser, die belebte Geschäftsstrasse hoch fuhren. Beim Times Square stiegen sie aus. Ihr Bruder ging zielstrebig auf einen Händler zu, der hinter einem merkwürdigen Wägelchen stand. Er bediente eine Maschine, die darauf aufgebaut war. Menschen drängten sich um einen Glaskasten, der ebenfalls auf die Wagenfläche montiert war. Darüber ein grosses Reklameschild, auf dem in verschnörkelter Schrift stand: THE CRETONS. Als ein Käufer mit einer Papiertüte in der Hand vom Kasten wegtrat, konnte sie hinter dem Glas einen Berg aus weissen Wattekugeln erkennen.
"Was ist das?", wollte sie von Alcide wissen.
"Popped Corn. Das ist aus Maiskörnern gemacht. Wir brauchen das fürs Cinéma. Es schmeckt gut, du wirst sehen."
Alcide kaufte gleich zwei Tüten, die er ihr übergab. Sie waren sehr warm und dufteten verführerisch. Sie musste naschen. Er aber drängte zum Weitergehen.
"Komm, sonst kommen wir zu spät zur nächsten Vorführung. Es ist gleich da drüben."
Über dem Eingang von Loew's New York Theatre schwebte, aufgehängt an Stahlstangen, ein ungeheuer schwer aussehender Baldachin. Sie hatte etwas Angst, darunter zu treten. In einem winzigen Kabinchen sass eine Frau, bei der man die Tickets kaufte. Sie konnten sich die Plätze auf einem kleinen Plan aussuchen, es hatte jetzt am Nachmittag nicht viele Besucher. Julias Koffer und die Tasche nahmen sie mit hinein und stellten sie neben ihrer Sitzreihe an die Wand. Es war halbdunkel im Vorführungssaal, an der Decke hingen zwei riesige Kronleuchter, deren elektrische Glühbirnen nur schwach leuchteten. Julia verstand zuerst nicht, wo sie sich hinsetzen sollte, bis ihr Alcide zeigte, wie man die Sitze der weinroten Plüschsessel herunterklappte. Sie lehnte sich in ihre Polster zurück und dachte, sie sei im Himmel. Bon Seigneur, je vous remercie!

Fast gleichzeitig ertönten Orgelklänge von vorne aus dem Halbdunkel. Erst jetzt sah sie den Mann, der vor einem grossen, farbig verzierten Möbel Platz genommen und zu spielen angefangen hatte. Sie wollte Alcide fragen, ob das zum Spektakel dazugehöre, doch da öffnete sich der Vorhang und die Lichter im Saal erloschen ganz. Die Orgel liess einen Tusch ertönen, mit Trommeln und Pauken, die offenbar auch in dem Möbel untergebracht waren. Dann erschien Schrift auf der Leinwand, welche der Vorhang freigegeben hatte. Julia war so in Anspruch genommen von der Gleichzeitigkeit der Vorgänge, dass sie zu lesen vergass. Nun Militärmusik, und vor ihren Augen explodierte das Bild einer Kolonne von Soldaten, die auf sie zu und in den Saal marschierten. Wo sollten die alle Platz finden? Sie zog ihre Beine hoch und klammerte sich an den Bruder.
"Keine Angst, es sind nur bewegte Bilder. Dir passiert nichts!" sagte dieser halblaut. Und als sie sah, wie er lachte, beruhigte sie sich ein bisschen. Aber sie verstand nicht, warum er sie hierher mitgenommen hatte, wo man den Krieg zeigte, denn nun sah man riesige Kanonen schiessen, dazu imitierte der Orgelspieler den Lärm des Schlachtfeldes. Immer wieder wurde die Leinwand schwarz, und weisse Schrift erschien vor dem dunklen Hintergrund, aber viel zu kurz, um alles zu lesen und zu verstehen. Jetzt fragte sie halt.
"Warum zeigen sie das? Das ist nicht lustig!"
"Das sind Nachrichten, die Wochenschau. Die zeigen sie immer zuerst. Das Lustige kommt bald, nur Geduld!"

Die Bewegungen auf dem beleuchteten Rechteck sind so schnell, und jedesmal, wenn sie meint, dem Geschehen folgen zu können, springt wieder ein anderer Ort ins Bild, drängen sich neue Figuren in ihr Gesichtsfeld. Sie muss zwischendurch die Augen schliessen um es auszuhalten. Dann hört sie nur die Töne der Orgel, als Musik. Sobald sie wieder hinschaut, verschmilzt alles zu einer gewaltigen Maschine. Die Bilder scheinen die Töne hervorzubringen, und umgekehrt. Julia ist froh, als es, zu einem sehr lauten Finale der Orgel, dunkel wird auf der Leinwand, und hell im Saal.
"Pause! Danach geht es richtig los", meint Alcide. "Gib mir mal eine Tüte, oder willst du die alle alleine essen?"
Erst jetzt merkt sie, dass sie die Papiertüten mit dem popped corn mit beiden Händen gegen ihren Bauch gepresst hat. Sie versucht sich zu entspannen und reicht ihm eine. Öffnet die andere und schiebt sich ein paar der wattigen Kugeln in den Mund. Sie quietschen, wenn man darauf beisst. Der Geschmack ist gut, leicht salzig.
"Ich hole uns noch etwas zum Trinken", sagt Alcide, steht auf, geht nach hinten und verlässt, durch den Türvorhang, den Saal. Julia schaut sich um. Wie Alcide gesagt hatte, sind nur ein paar Dutzend Leute im Cinéma. Sie sitzen weit verstreut, und als sie den Kopf hebt, sieht sie die Balkone und Logen. Auch dort kann sie vereinzelte Köpfe erkennen. Alcide kommt mit zwei kleinen, bauchigen Flaschen zurück.
"Es gibt nur Cola."
Das kennt sie, mag es aber nicht besonders. Sie findet, es schmecke etwas angebrannt, und viel zu süss. Und wenn man am Halm saugt, kommt fast nur Schaum und Luft. Aber langsam kehrt das Glücksgefühl wieder zurück. Darüber, dass sie errettet wurde vom Lieben Gott. Und von ihrem Bruder. Und dass sie nun bald auch zu denen gehören wird, die über das Cinéma erzählen können.

Wenn Alcide den Film nicht schon gesehen und ihr in der Pause die Geschichte erzählt hätte, würde Julia dasselbe erlebt haben wie in der Wochenschau davor. So aber konnte er ihre vielen Fragen beantworten und sie darauf hinweisen, dass es wieder Tafeln mit Schrift geben werde, vor allem bei Übergängen, die ohne Erklärung schwer zu begreifen seien. Zudem hüpfe die Handlung oft zwischen verschiedenen Orten hin und her. Es seien aber nicht viele, er meine sich zu erinnern, dass alles in einem einzigen Gebäude stattfinde, nämlich in einem Geschäftshaus mit Büros. Mit einem Lift, einem Raum mit dem Safe. Er war noch mitten in seinen Erklärungen, da kam der Orgelspieler zurück, das Saallicht erlosch und der Film begann. THE NEW JANITOR von Charles Chaplin, Alcide hatte es angekündigt, und ihr auch die Bedeutung des Worts janitor erklärt, das ihr unbekannt gewesen war. Eine Art Hausmeister, schlecht bezahlter Mann für alles. Sie schloss ihn von der ersten Szene an ins Herz.

Er spricht mit dem Liftboy, es ist klar, dass er mit ihm hochfahren will. Aber als er sich nochmals zur Treppe hin bückt, um seine Sachen aufzuheben, einen Besen, die Schaufel und den Staubwedel, entwischt der Boy schnell in den Lift, schliesst die Türe und, man sieht es auf der Anzeige, fährt ohne den janitor nach oben. So gemein! Aber schon muss Julia ein erstes Mal laut herauslachen, weil das Männlein auf so drollige Weise zur schon geschlossenen Lifttüre stürmt und die Kurve, auf einem Bein hüpfend, gerade noch hinbekommt. Dagegen knallt, sich dann resigniert abwendet, die Anzeigetafel strafend anschaut, als sei sie schuld. Mit den Schultern zuckt, sich schliesslich seufzend der Treppe zuwendet und den langen Gang nach oben unter die ausgelatschten Schuhe nimmt. Dabei macht er es genauso wie Julia im Moment, mit ihrem angeknacksten Fuss, immer nur eine Stufe aufs Mal mit beiden Füssen erobernd. Und wie sie sich in ihm erkennt, weiss sie nicht, soll sie lachen oder weinen. Dieses Mal ist sie froh um das Hüpfen an einen andern Ort, man ist nämlich schon oben, als der janitor, vollkommen erschöpft, ankommt. Wo hat er plötzlich diesen viel zu kleinen Melonenhut her, den er auf- und wieder absetzt? Was passiert jetzt, Julia ist in einem Büro. Ein Mitarbeiter liest einen Brief, dann kommt ein schwarzes Bild mit weisser Schrift. Sie freut sich über ihre Erkenntnis, dass da dasselbe steht, was der Mann im Brief liest, aber es geht ihr zu schnell. Alcide muss flüsternd erklären, dem Mann werde von einem gewissen Luke Connor gedroht, er werde auffliegen, wenn er seine Spielschulden nicht bezahle. Jetzt sieht man wieder den Mitarbeiter, der etwas übertrieben zeigt, wie sehr er sich Sorgen macht. Und es kommt wieder das lustige Männlein ins Spiel. Was es nun aufführt, lässt Julia kaum Zeit Luft zu holen, sie lacht und lacht, und die Tränen kullern ihr über die Backen. Er hängt sein Hütchen auf den Haken, es fällt runter. Also kickt er es elegant seitwärts weg. Er tritt ins Büro ein, klopft aber erst an, als er die Tür wieder geschlossen hat. Nimmt den Papierkorb mit beiden Händen auf, lässt ihn auf den rechten Fuss fallen wie ein Akrobat seinen Ball, kickt ihn hoch und fängt ihn wieder. Steckt ihn dann sehr lässig, aber verkehrt herum unter seinen Arm, der Korb entleert sich nach hinten, ohne dass er es merkt. Der Mitarbeiter schimpft und deutet auf das verstreute Papier, der janitor beginnt es wieder einzusammeln. Als ein Buch vom Tisch fällt, wird es auch in den Papierkorb gestopft. Der Mitarbeiter verlangt es herrisch zurück und schickt den janitor hinaus. Weil er den Besen quer in der Hand hat, bleibt er in der Türe hängen. Anstatt den Besen anders zu halten, steigt er umständlich darüber.

Als Julia schon meint, es nicht mehr aushalten zu können, weil ihre Rippen so schmerzen vom Lachen, wird es plötzlich spannend. Zuerst fällt ihr das Herz in die Hose als sie zusehen muss, wie das Männlein mehrmals fast aus dem Fenster fällt. Und man sieht doch, wie furchtbar weit es hinunter geht bis zur Strasse. Gerade noch kann er sich retten mit den Füssen, die sich an den heruntergelassenen Schiebefenstern festkrallen. Dann wird der Mitarbeiter beim Raub aus dem Safe von der Sekretärin überrascht. Es gibt einen wüsten Kampf, die Frau wird einfach zu Boden geschlagen. Julia verleiht ihrer Empörung so lautstark Ausdruck, dass sich ein paar Zuschauer verärgert nach ihr umdrehen. Und dann kommt, als Retter in der Not, der janitor zurück. Es wird wieder sehr lustig. Der Mitarbeiter kramt im Safe herum, streckt dabei sein Hinterteil heraus und bekommt einen kräftigen Tritt. Er dreht sich blitzschnell herum und hat plötzlich eine Pistole in der Hand. Ohne zu Zögern, schlägt der janitor die Waffe zu Boden, einfach so, mit seinem lächerlichen Stöcklein. Wie macht er das? Er bückt sich nach der Pistole, dreht dabei dem Räuber seinen Hintern zu, ganz schutzlos. Dieser will sich auf das Männlein stürzen, aber plötzlich zielt da der Lauf zwischen den Beinen hindurch auf ihn. Wie ein Schwänzlein sieht das aus, aber ein gefährliches, das schiessen kann. Als der Held nun wieder umständlich über seine eigene Revolver-Hand steigt, dabei immer auf den Kriminellen zielend, passiert es. Julia spürt, wie es feucht wird zwischen ihren Schenkeln. Sie hat sich in die Hose gemacht vor Lachen.

Auf das gemeinsam Mittagessen mit den Schwestern und ihrem Bruder am ersten Dezember konnte sich Julia erst freuen, als sie sicher wusste, dass Mathilde dabei sein würde. Am neunundzwanzigsten November war diese angekommen, zusammen mit der ganzen Familie Girardin sowie mit Maria Villard und deren Cousin. Eine ganze Bande von Cornolern, alle auf dem Zwischendeck gereist und darum direkt ins dépot des immigrants verfrachtet zur Inspektion durch die Behörden. Nun waren sie frei gegeben und durften sich in New York bewegen wie andere auch. Alcides Vermittler, dieser Edmond, den Julia komisch fand, hatte im Rector's einen Tisch im ersten Stock reserviert. Josephine hatte zuerst nicht kommen wollen, aber der Bruder liess das nicht zu.
"Papperlapapp, du kommst! Ich lade euch ein."
Die neuen Arbeitsstellen für Julia und Mathilde, die der Vermittler hatte organisieren können für den Anfang des nächsten Jahres, sollten besprochen werden. Aber Edmond war für einmal wohltuend entspannt und liess den Geschwistern Zeit bis zum Dessert. So konnten alle von ihren jüngsten Erlebnissen erzählen, oder fast alle, denn Josephine blieb ziemlich schweigsam wie immer. Alcide war jetzt bei Rockefeller Junior! Das regte natürlich die Phantasie an, vor allem der jüngeren Schwestern. Julia merkte aber, dass ihr Bruder seltsam ausweichend Auskunft gab, wenn sie genaueres wissen wollte. Nichts Besonderes. Wie er denn sei als Mensch, ob er seine Frau küsse zum Abschied, ob er seine Kinder liebe. Ob er mit den weiblichen Angestellten flirte, ob ihn Alcide auch schon nackt gesehen habe. Wie viele Paare Schuhe er habe. Solche Sachen eben. Es war Edmond, der schliesslich Alcides Zurückhaltung erklärte.
"Mr. Rockefeller Junior ist eine so bekannte, quasi öffentliche Person, dass sich seine Angestellten zu grösster Diskretion verpflichten, wenn sie dort ein häusliches Dienstverhältnis eingehen."
"Das wäre nichts für mich!", platzte Julia heraus, und Mathilde stimmte ihr lachend bei.
"Du würdest schon nach einer Woche gefeuert! Ich hoffe, unsere Herrschaften werden nicht so heikel sein."
Edmond war schon im Begriff dies als Stichwort nehmen für eine Überleitung zu seinem Thema, aber Mathilde wollte zuerst ihre Eindrücke von Ellis Island loswerden. Auch wenn man aus Erzählungen schon einiges wusste, sei das Erlebnis schockierend. Die Fragerei, der rüde Umgangston, das gezupft und gezerrt, geschubst und gestossen Werden. Einen Zettel mit Nummer bekomme man angeheftet, wie ein Stück Vieh. Eine junge Frau sei auf dem Schiff schon aufgefallen durch ihre scheue Art, ihren flackernden Blick, ihre grosse Schreckhaftigkeit. Auf der Insel, im Getümmel der armen Schlucker in ihren muffig riechenden Sonntagskleidern, vor den strengen Ärzten in Weiss, die ihr mit grellen Lampen in die Augen leuchteten, sei die arme Frau in Panik geraten. Habe plötzlich zu schreien angefangen und um sich geschlagen. Da sei eine Beamtin von hinten an sie herangetreten und habe ihr mit Kreide ein grosses X auf die Schulter gemalt. Einfach so, auf ihr Wolljäckchen. Darauf hätten sie zwei kräftige Männer, ebenfalls in Weiss, weggeführt. So geweint habe sie, so geweint, und dann wieder geschrien, schrecklich! Zum Glück aber sei sie, Mathilde, mit den Girardins und mit Maria zusammen gewesen. Sie hätten versucht, sich mit Spässen bei Laune zu halten. Achille, Marias Cousin, sei die berüchtigte Treppe auf einem Bein hochgehüpft. Die Beamten, die von oben kontrollieren, wer beim Treppensteigen Pausen einlegen muss, hätten sehr mit ihm geschimpft. Aber sie hatten etwas zu lachen gehabt.

Zum Dessert liessen sich die Männer gebackene Äpfel mit cream bringen. Die drei Schwestern nahmen Waffeln mit Honig. Nun war man gespannt darauf, was Edmond zu berichten hatte. Er begann mit Mathildes Herrschaften, den Geschwistern Bayne. Sie wohnten in einer Stadtvilla ganz nahe am Central Park, an der Kreuzung der Madison Avenue mit der zweiundsechzigsten Strasse. Vorstand des Haushalts sei die sechzigjährige Miss Ruth Bayne. Ihre Schwester, Miss Leonore Bayne sei einundfünfzig, der Bruder, Mr. William Bayne, fünfundvierzig. Alle seien unverheiratet und kinderlos, sehr wohlhabend. Mr. Bayne arbeite noch gelegentlich als Notar, sei also nicht immer im Haus. Angestellt hätten sie im Moment einen Koch aus Japan und eine Köchin aus Irland. Offenbar spiele die Küche eine prominente Rolle im Leben der Herrschaften. Was die Aufgaben von Mathilde betreffe, so nehme er an, dass sie in erster Linie als maid für die zwei Damen zu dienen haben werde. Aber ihr Zuständigkeitsbereich werde sich sicher in den ersten Wochen konkretisieren. Julia wurde ungeduldig bei Edmonds umständlich förmlicher Art zu reden.
"Und wo werde ich sein?"
Edmond zog die Brauen hoch. Er war eigentlich noch nicht zu Ende gewesen, aber weil er sah, wie Julia unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschte, gab er nach.

Was er dann sagte, machte es Julia schwer, seinen weiteren Ausführungen zu folgen. Sie werde nicht in New York arbeiten! Was war denn das für eine Idee? Ganz alleine sollte sie? Wohin? nach New Jersey? Wo war das denn? Vierundzwanzig Meilen westwärts? Im Wilden Westen!? Alle redeten auf sie ein, so schien es ihr. Man suchte, sie zu beruhigen. Eine knappe Stunde, mit dem Auto oder mit dem Zug, sei das Anwesen der Leslie von New York entfernt. Der Dienstherr habe zwar noch eine Wohnung in Manhattan, er arbeite im Börsenviertel, fahre aber manchmal abends noch nach Hause, um seine Familie öfter zu sehen. Am meisten beruhigte es Julia zu hören, dass die Leslie einen zweijährigen Buben hatten, für den sie als nurse zu sorgen habe. Das hatte sie sich gewünscht, darauf freute sie sich. Ein Kind wickeln, baden, salben und pudern. Ihm Geschichten erzählen, Lieder vorsingen. Ihm die Dinge zeigen und mit ihm spielen. Sie sah sich in weissem Kleid mit Schürze, mit einem kleinen Knirps, der schon nicht mehr im Wagen sitzen bleiben, sondern ihn mit ihrer Hilfe stossen will.
"Wie heisst der Ort nochmals?", fragte sie Edmond.
"Short Hills, in der Township Millburn. New Jersey."

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