Donnerstag, 17. Juni 2021

Druckwellen

Die Ungewissheit, ob ihren Geschwistern in der Stadt nichts passiert sei, liess Julia keine Ruhe. Mr. Leslie hatte in der Frühe einen Anruf bekommen mit der Nachricht, die Explosionen hätten an den Gebäuden im financial district grossen Schaden angerichtet, und so wollte er gleich losfahren um sich ein Bild der Lage zu machen. Julia gab alle Zurückhaltung auf und bettelte bei den Herrschaften mit Nachdruck darum, mitfahren und nach ihrem Bruder und den Schwestern sehen zu dürfen. Es wurde ihr schliesslich erlaubt unter der Bedingung, den Besuch so kurz wie möglich zu halten und mit dem Zug zurückzufahren, sobald sie sich davon habe überzeugen können, dass ihren Lieben nichts zugestossen sei.

Sie mussten bald die Absicht aufgeben, mit dem Automobil bis zu Mr. Leslies Arbeitsplatz zu fahren. Beim Bügeleisen-Hochhaus war Schluss, von Greenwich Village an südwärts waren die Strassen notdürftig abgesperrt. Ausserdem machte sich der Chauffeur Sorgen um die Pneus angesichts der Glasscherben und abgerissenen Blechteile, die überall herumlagen. Er stellte das Auto beim Madison Square Park ab und liess sie aussteigen. Mr. Leslie machte sich zu Fuss auf zur nächsten Hochbahnstation, Julia wollte als erstes bei der älteren Schwester Josephine im Home Jeanne d'Arc vorbeischauen, weil es in der Nähe lag und, wie sie in der Zwischenzeit wusste, von den Wohnorten ihrer Geschwister der am nächsten beim Explosionsherd der letzten Nacht liegende war. In der sechsten Avenue waren fast alle Fenster zu Bruch gegangen, so schien es. Die Scherben, teilweise griesig zerstampft, hatte man schon zusammengewischt zu langen Bahnen, die sich wie Schneereihen über die Trottoirs hinzogen. Unter ihren Füssen knirschte es. Überall standen Gruppen von Menschen zusammen, Zeitungsjungen riefen ihre Extraausgaben aus, und andauernd hörte man das Klingeln und Pferdegetrappel von Feuerwehrwagen. Sie war überglücklich, beide Schwestern im Heim anzutreffen. Mathilde hatte sich auch Sorgen gemacht wegen der südlichen Lage von Josephines Wohnort und war schon vor ihr dort eingetroffen. Sie waren beide heil und gesund, wenigsten fast, denn Josephine hatte sich Schnittwunden zugezogen, eine an der Stirn, noch in der Nacht, und dummerweise noch eine an der rechten Hand, erst am Morgen beim Aufräumen. Man hatte sie mit Pflastern versorgt.
"Es war wie ein Erdbeben, vor allem der zweite Knall", erzählte sie. "Das ganze Gebäude hat gewackelt. Es gab ein grosses Geschrei, kurze Zeit war es stockfinster, weil das Licht nicht mehr funktioniert hat. Und alles ist noch immer voller Glasscherben. Zum Glück ist es warm, überall ist Durchzug. Wir haben fast im ganzen Haus keine Scheiben mehr."
Auch Mathilde hatte die Explosionen wie ein Erdbeben wahrgenommen, obwohl das Haus ihrer Herrschaften in der Upper Eastside lag. Sie sei fast aus dem Bett gefallen vor Schreck, musste sich dann aber um die beiden Damen Bayne kümmern, die ziemlich hysterisch auf das Ereignis reagiert hätten, wie sie fand. Passiert sei im Haus nämlich fast nichts. Ein Bücherschaft habe sich von der Wand gelöst und sei heruntergefallen, habe dabei eine Stehvase unter sich begraben, aber zum Glück nur eine billige Imitation einer chinesischen. Sie frage sich, was wohl im Hause Rockefeller alles in Brüche gegangen sei. Der Junior habe ja eine Sammlung, die unbezahlbar wertvoll sei.
"Wir können bei Alcide vorbeischauen, denke ich. Er hat mir erzählt, das Haus sei fast leer, die Herrschaften ausgeflogen, wieder den ganzen Sommer in Maine."
Julia wollte von ihren Schwestern wissen, was denn eigentlich passiert sei. Sie konnten nur das wiedergeben, was sie bisher gehört hatten. So kauften sie unterwegs zur Vierundfünfzigsten eine Extrazeitung, bei einem Jungen, der immer wieder schrie: "Ammunition cars blow up - Crash rocks two states!", und überflogen die Schlagzeilen. Auf Black Tom Island, drüben in Jersey City, war ein Lager von Munition und Sprengstoffen in die Luft geflogen. Mit einem Brand habe es begonnen, auf einem Leichter, der an der Mole von Black Tom vertäut gewesen war. Jemand meinte gesehen zu haben, dass auf der Insel Räucheröfen gegen die Mückenplage aufgestellt worden seien, und natürlich habe dann der Funkenflug eine Kettenreaktion ausgelöst.

In der Mansion von Rockefeller Junior wurden sie in den Empfangsraum geführt. Der Butler versprach, ihren Bruder zu holen. Er sei mit dem Zusammenwischen von Glasscherben auf dem Dachgeschoss beschäftigt, wo der Sommerpavillon leider argen Schaden genommen habe. Zum ersten Mal sahen sie den Arbeitsort von Alcide. Von der riesigen Stadtvilla des Millionärs hatte Julia schon einiges gehört, was ihre Phantasie angeregt hatte. Nun aber beeindruckte sie die Tatsache, dass sie sich wirklich an diesem Ort befanden, viel mehr als der sichtbare Prunk und die Grösse des Gebäudes, oder dieses Raumes, der ja eigentlich nur ein Eingang war. Unwillkürlich senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern, als befände sie sich in einer Kirche. Mathilde war wenig beeindruckt.
"Wenn das schon hier unten so aussieht, wie wird es dann oben sein, in den Salons? Und ein "Sommerpavillon" auf dem Dach, was soll denn das sein?"
Als Alcide zu ihnen trat, trug er noch immer Handschuhe. Er legte sie ab, und da er wusste, warum sie gekommen waren, sagte er betont locker:
"Alles gut, uns ist nichts passiert. Aber es hat unglaublich gekracht hier, und oben auf dem Dach sieht es wüst aus. Die Herrschaften werden keine Freude haben."
Als die Schwestern nachfragten, was er zu den Explosionen wisse, fiel Julia auf, dass Alcide schlecht hörte. Er musste zweimal nachfragen und griff sich ein paar Mal ans rechte Ohr.
"Was ist los?", fragte sie. "Hast du dir einen Ohrenschaden geholt bei dem Geknalle?"
"Ich weiss es nicht, aber es ist etwas komisch mit meinen Ohren. Ich habe einen starken Druck auf dem rechten, so etwas wie Kopfweh, aber nur im Ohr. Es pfeift, und eure Stimmen – alle Stimmen! – tönen unangenehm blechern."
Josephine fand, er solle zu einem Arzt gehen. Er winkte lachend ab.
"Das sagst ausgerechnet du, die nie einen an sich heranlässt! Das kommt schon wieder. Wir haben nicht so viel zu tun, ausser jetzt mit Aufräumen. Ich lege mich dann etwas hin heute Nachmittag."
Julia machte sich Sorgen. Sich hinzulegen war nicht gerade eine Gepflogenheit, die sie von ihrem Bruder kannte. Alcide bemerkte ihre Unruhe und versuchte abzulenken.
"Habt ihr das schon gehört, manche meinen, es sei Sabotage gewesen, von den boches. Die Munition und der Sprengstoff waren für die Alliierten vorgesehen, für England, Frankreich. Sogar für die Russen. Das ist natürlich nicht das, was sich der Kaiser unter einem neutralen Amerika vorstellt!"
Mathilde wollte wissen, ob es viele Tote gegeben habe. Alcide meinte:
"Man weiss es noch nicht. Es scheinen aber nicht viele in der Nähe gewesen zu sein um diese Zeit. Zum Glück! Von den wenigen armen Kerlen wird kaum mehr viel übrig sein, es soll so heiss geworden sein, dass die Feuerwehr gar nicht zu den Brandherden vordringen konnte. Und es zischten dauernd Geschosse durch die Gegend. Das ist noch immer nicht ganz vorbei. Bis zur Freiheitsstatue flogen die Metallsplitter, stellt euch vor! Haben dort die Eingangstüre durchlöchert, und die Fackel. Und auf Ellis Island wurde das Depot der Einwanderer leergeräumt, mit Fähren."
"Darum ist es nicht schade!", fand Mathilde.

Julia fuhr gerne mit der Eisenbahn. Das rhythmische Schlagen der Räder versetzte sie, zusammen mit dem Rütteln und Schaukeln des Waggons, in einen Zustand zwischen Wachen und Träumen, in dem ihre Gedanken von einem zum andern hüpften. Wie seltsam ihr die heutige Zusammenkunft mit den Geschwistern jetzt vorkam. Ein lauter Knall, und sie waren gerannt, um sich zu vergewissern, ob die andern noch da seien. Dabei waren sie doch, bei allen Unterschieden, Abenteurer, die meinten, der Enge des Dorfes entfliehen zu müssen. Was trieb sie an? Was suchten sie in Amerika? Josephine war am längsten im Land. Auch sie hatte zuerst als Kindermädchen gearbeitet, dann aber Schwierigkeiten bekommen damit, weil sie in der englischen Sprache keine Fortschritte machte. War sie glücklich? Oder zumindest zufrieden? Julia hätte schon früher nie zu sagen gewusst, wie es der älteren Schwester gehe, die schon eine Frau gewesen war, als sie sich noch als Kind fühlte. Wie sie sie heute im Home Jeanne d'Arc sah, hatte sie den Eindruck bekommen, Josephine fühle sich dort zuhause. Und sie war von anderen Frauen im Haus mit sichtbarem Respekt behandelt worden. Mathilde ging nicht gerne dorthin, und gab sich auch keine Mühe, ihre Abneigung zu verbergen gegen das fromme Pensionat für ältere Mädchen, wie sie es nannte. Dabei bezeichneten Julia und sie sich gegenseitig manchmal so: alte Mädchen. Ob sie ihren schönen Soldaten noch an der langen Leine halte, hatte sie Mathilde zum Abschied gefragt.
"Er ist ein schöner bouêbe, aber ein Arsch. Ich glaube, er hat eine andere", war die trockene Antwort.
"Und bei dir?"
Ja, wie stand es bei ihr mit den Männern? Mit einem Mann, das würde ja reichen. Sie hatte Mathilde nicht mehr antworten können, da sie ihren Zug erreichen musste. Aber was hätte sie auch sagen sollen? Dass die einzigen Männer, die sie gegenwärtig aus der Nähe sehe, ihr Dienstherr, sein Butler und sein Chauffeur seien? Sich bei Mr. Leslie, und auch bei George, dem schwarzen Fahrer, zu fragen, ob sie als Männer interessant seien, war beunruhigend, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Mr. Leslie war eben der Dienstherr, mit dem eine Affäre zu beginnen für eine Angestellte sehr gefährlich gewesen wäre. Sie hatte genügend Warnungen erhalten, und abschreckende Beispiele geschildert bekommen, schon zuhause in Cornol, aber erst recht, seit sie hier war. Die Angestellten waren immer die Dummen am Schluss, vor allem die Frauen, die geächtet wurden nach einem Fehltritt über die Grenzen ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit. Sie verloren ihren guten Ruf für immer, als Angestellte, aber auch in der Familie als Tochter, als mögliche zukünftige Ehefrau. Im schlimmsten Fall wurden sie sitzen gelassen mit einem Bastard, einem armen Kind, welches den Fluch erben würde. Mr. Leslie versuchte manchmal auf dümmlich plumpe Weise mit ihr oder der noch jüngeren Köchin zu flirten. Es fiel ihr nicht schwer, kühl zu bleiben und so zu tun, als bemerke sie seine Annäherungen nicht. Er war ihr in solchen Momenten wenig sympathisch, und ausserdem tat ihr seine Frau leid, die dann sichtbar litt. Bei George wiederum war es ganz anders. Auch wenn sie in seiner Nähe immer noch sehr befangen war und sich kaum getraute, ihn richtig anzusehen, musste sie zugeben, dass sie von seinem Äusseren fasziniert war. Während ihrer ganzen Kindheit hatte sie höchstens zwei oder drei schwarze Menschen gesehen, in Pruntrut, oder im nahen Elsass. In der Kirche gab es ein Negerlein aus Gips, das mit dem Kopf nickte, wenn man eine Münze in den Sockel zu seinen Füssen einwarf, für die Mission in Afrika. Und einer der Könige bei den Krippenfiguren war schwarz. Wenn sie ein Krippenspiel aufführten, wurde einem Kind für diese Rolle das Gesicht schwarz eingefärbt mit einer Mischung aus Schmalz und zerstossener Holzkohle. Georges Hände konnte sie vom hinteren Sitz des Dodge beobachten, wenn er den Wagen steuerte. Die Handrücken waren von einem warmen, dunklen Braun. Ganz schwarz, wie mit Tinte gezeichnet, die feinen Linien der Fältchen über den Fingergelenken. Die Nägel leuchteten rosa, und ähnlich blitzte es auf, wenn man einen Blick auf die Innenflächen seiner Hände erhaschte. Sie hatte sich schon gefragt, ob es sich anders anfühle, von solch schwarzen Händen angefasst zu werden, schob derlei Gedanken aber zurück ins Dunkel mit einem kleinen Stossgebet, wie sie es als Mädchen gelernt hatte. Joseph, der Butler aber. Mal schauen, sagte sie sich. Es hat was, das Irische. Alcide hatte das ja auch schon erkannt.

Zurück in Short Hills, traf sie Mrs. Leslie in heller Aufregung an. Dabei ging es nicht um die Explosion von Black Tom, sondern um den Anstieg von Krankheitsfällen mit Kinderlähmung in der Stadt New York, und nun eben auch in ihrer Nähe in New Jersey. Am schlimmsten wüte die Epidemie im benachbarten Newark, täglich stünden mehr Opfer in der Zeitung, mit Namen und Adresse. Die Krankheit habe schon das Quartier Ivy Hill erfasst, gleich auf der anderen Seite des Hügels. Sie müssten unbedingt weg von hier.
"Ich habe uns schon beim Kinderarzt angemeldet, damit er uns eine Bescheinigung ausstellt, wir seien alle gesund. Ohne ein solches Papier dürfen wir uns ab nächster Woche gar nicht mehr von hier wegbewegen. Stellen Sie sich das vor, Julia! Es trifft vor allem die Kleinsten, ich habe solche Angst um George!"
Julia versuchte die Dienstherrin zu beruhigen. Ob sie denn einen Plan habe, wohin sie gehen könnten.
"Ich habe zuerst an Oyster Bay gedacht, wo wir schon mehrmals im Sommer waren. Aber man hat mir gesagt, dass es dort auch schon Fälle gibt. Es sei besser, in den Westen zu fahren. Also habe ich meinen Mann heute am Telefon gebeten, etwas zu organisieren. Vielleicht in Pennsylvania, in den Bergen."
"Werde ich da auch mitfahren?", wollte Julia wissen.
"Ja natürlich, Sie und George werden wir sicher brauchen. Victoria müssen wir wohl beurlauben, wenn wir in einem Hotel sind."
Mrs. Leslie liess ihren Sohn nun nicht mehr aus den Augen, was für Julia sehr anstrengend war. Sie musste einmal jede Stunde seine Temperatur messen, ihn dazu jedesmal auswickeln und ihm den Fiebermesser in sein kleines Ärschlein stecken. Das passte ihm natürlich gar nicht, vor allem wenn er am Spielen war, oder, noch schlimmer, aufgeweckt worden war für die Prozedur. Weil die Dienstherrin vom Arzt erfahren hatte, auch Durchfall könne ein erstes Zeichen für die Krankheit sein, mussten die vollen Windeln genau untersucht werden, und wenn die Kinderkacke nur ein bisschen weich war und streng roch, was nach Julias Erfahrung sehr oft der Fall war, geriet die Mutter in Panik. Ihre Angst wiederum übertrug sich natürlich auch auf den Kleinen, der fast nur noch weinte, wenn er wach war. Die beiden taten Julia leid. Sie kannte aber die möglichen Auswirkungen der Kinderlähmung, auch in Cornol hatte es schon Todesfälle gegeben, und zwei Mädchen in ihrer Schule hatten verkrüppelte Gliedmassen gehabt. Eines konnte praktisch nicht mehr gehen und hatte oft Schmerzen. Sie betete zur Mutter Gottes, sie solle den kleinen George beschützen. Und nahm sich vor, Josephine bei der nächsten Gelegenheit zu fragen, welcher Heilige speziell für diese Krankheit zuständig sei.

Mr. Leslie hatte Zimmer reserviert in einem Hotel mit dem Namen Montanesca, in dem kleinen Ort Mount Pocono. Er wusste von mindestens zwei weiteren Familien unter seinen Arbeitskollegen, die dorthin fahren wollten oder schon gefahren waren. Die Gegend habe sich in den letzten Jahren zu einem Anziehungspunkt für Sommerfrischler aus New York entwickelt. Es gebe dort bereits zehn Hotels, aber das Montanesca sei eines der grössten, und vor allem das beste. Der Dienstherr war stolz darauf, eine so gute Lösung für die Flucht seiner Familie aus der Gefahrenzone gefunden zu haben, und schilderte die zahllosen Möglichkeiten, die Zeit in den Pocono-Bergen lustvoll und standesgemäss zu verbringen. Als am andern Tag der Kinderarzt erschien, wurden sie alle eingehend untersucht und befragt. Es war ein guter Doktor, der sich Zeit nahm, den Buben nach der eigentlichen medizinischen Inspektion noch während einer halben Stunde beim Spiel zu beobachten. Als der Kleine begann, die Klötze herumzuwerfen, dabei lauthals lachte und in den Gesichtern der Erwachsenen seine Wirkung überprüfte, meinte er schmunzelnd:
"Der ist gesund, kein Zweifel!"
Er füllte das Formular aus, das ihnen die Reise erlauben würde, und verabschiedete sich. Julia musste sofort damit beginnen, die Kindersachen zusammenzusuchen und einzupacken. Man wollte schon am nächsten Morgen losfahren, also fragte sie die Herrschaften, ob sie ihre Geschwister per Telefon darüber unterrichten dürfe, dass sie wegfahre. Für wie lange eigentlich, wollte sie bei der Gelegenheit wissen. Mrs. Leslie konnte es nicht sagen.
"Mein Mann hat für eine Woche gebucht und sich die Möglichkeit ausbedungen, zu verlängern, wenn es nötig wird."
Julia konnte am Abend ihre jüngere Schwester bei den Baynes erreichen. Mathilde verstand die Flucht der jungen Familie, fand aber auch, dass es ungerecht sei.
"Alle die armen Leute in Brooklyn können nicht ausweichen. Hoffentlich geht das bald vorbei. Mach's gut, und bleibe gesund!"

Das Hotel erschien Julia riesig. Es war ein sehr breiter Kasten mit einer Giebelfassade in der Mitte und zwei leicht nach hinten abgeknickten Seitenflügeln, die wieder mit Giebeln, etwas kleiner als der in der Mitte, abschlossen. Im Innern gab es endlose Gänge. Zum Glück verstand Julia bald, wie sie die Zimmernummern zur Orientierung zu nutzen hatte. Die erste Ziffer bedeutete das Stockwerk, und die weiteren zwei bildeten zweistellige Zahlen, die von West nach Ost zunahmen. Überall fehlte die Dreizehn. Im Aufzug waren die Stockwerke gut verständlich angeschrieben. Nur das Erdgeschoss fand sie zuerst nicht. Sie liess andere Gäste die Knöpfe bedienen, beobachtete sie dabei und schaute, wohin der Lift fuhr. Ein grosses L und ein Sternchen waren auf dem richtigen Knopf. Lobby, das war es! Die Zimmer waren sehr unterschiedlich ausgestattet. Das Zimmer ihrer Herrschaften hatte ein eigenes Bad mit Toilette, fliessend warmem und kaltem Wasser. Auf dem Boden lagen Teppiche, die Polstermöbel sahen teuer und bequem aus. Das Doppelbett war überdacht von einem wuchtigen Baldachin. Ihr Zimmer, das man ihr zuerst zuwies, war viel bescheidener ausgerüstet. Es lag am Ende des Flurs, und das Bad hätte sie sich mit andern, ihr unbekannten Gästen teilen müssen. Ab der zweiten Nacht aber durfte sie in ein grosses Zimmer umziehen, das fast genau gleich eingerichtet war wie das von Mr. und Mrs. Leslie. Der Grund dafür war, dass sie nicht schlafen konnten, wenn der Bub in seinem Kinderbettchen im gleichen Zimmer lag. Julia wusste, wie leicht und unruhig sein Schlaf war, und hatte sich gewundert, dass die Eltern etwas auf sich nehmen wollten, was sie überhaupt nicht gewohnt waren. So war es nun wieder wie zuhause in Short Hills, dachte sie, und musste darüber lächeln. Wenn George wach wurde, war sie es noch vor ihm. Sie gab ihm Wasser aus dem Fläschchen oder wechselte seine Windeln, und sang ihn leise wieder in den Schlaf.

Sie machten Ausflüge in die Umgebung bei schönem Wetter, und lasen oder machten Gesellschaftsspiele, wenn es regnete. Es gab einen grossen Aufenthaltsraum für diesen Zweck, aber auch die Lobby oder eine der Bars waren beliebte Orte, wenn es draussen nass und kühl war. Überall lagen Tageszeitungen auf, und Mr. Leslie nahm sich immer vor dem Frühstück von jeder ein Exemplar, um die Börsenentwicklung zu studieren. Leider gab es in den Zeitungen auch viele Berichte über den Krieg, und der Dienstherr konnte es trotz dem Widerwillen seiner Frau gegenüber solchen Meldungen nicht lassen, schreckliche Details der laufenden Schlachten von sich zu geben. Ihn schien das irgendwie anzuregen, und sein Tonfall war nicht anders, als wenn er von interessanten Bauprojekten oder technischen Durchbrüchen erzählte. Julia meinte, es sei besser, sich selber ein Bild zu machen von den Entwicklungen in Frankreich oder Russland, aber sie hörte bald wieder damit auf, die Artikel zu lesen, weil es sie zu sehr mitnahm. Neunzehntausend tote britische Soldaten, an einem Tag! Sie konnte sich eine solche Anzahl junger Menschen schon lebendig kaum vorstellen. Warum konnte so etwas geschehen? Es war ein Irrtum gewesen der Offiziere, die den Angriff an der Somme befehligt hatten, sie zwang sich, das fertig zu lesen. Ein Irrtum, und dann Sturheit. Stundenlang hatten die Engländer zuerst die deutschen Stellungen beschossen und dann, in der Meinung, der Gegner sei kampfunfähig oder tot, angegriffen. Aber die boches waren nicht tot, hatte sich tief eingegraben und gewartet mit ihren Maschinengewehren. Neunzehntausend! Junge Männer wie Fionas Brüder, wie ihre Brüder! Und bei Verdun kämpften sie seit Monaten um ein paar Hügel. Hunderttausende waren schon draufgegangen dabei. Herr im Himmel, hilf! Mach dem ein Ende!

Sie blieben zwei Wochen in den Bergen. Die Epidemie klang glücklicherweise nach einem Höhepunkt im August so rasch ab, wie sie gekommen war. Sechstausend Menschen hatte die Krankheit getötet, und über zwanzigtausend Kinder zu Krüppeln gemacht. Grossen Erfolg hatte man mit einer Kampagne erzielt, bei der Blut genesener Kranker gesammelt und Bestandteile davon den Kranken eingespritzt worden waren. Schritt für Schritt wurden die abgesperrten Quartiere und Gebäude wieder geöffnet, die Reisebeschränkungen aufgehoben. In allen Staaten hatte der Wahlkampf begonnen. Präsident Wilson kandidierte, als Demokrat, für eine zweite Amtszeit und wurde vom Gouverneur von New York, dem Republikaner Charles Evans Hughes herausgefordert, der zu Beginn der Kampagne von seinem Amt zurücktrat. Mr. Leslie war sein glühender Anhänger und stellte gleich zwei Plakate von ihm in den Vorgarten des Hauses in Short Hills, so dass man das Porträt des bärtigen Politikers aus beiden Richtungen sah, wenn man die Strasse hinauf oder hinunterfuhr. Seiner Frau war dies etwas peinlich, aber er liess sich da nicht dreinreden. "Jetzt ist Schluss mit Sich-Durchwursteln und Pseudo-Neutralität in diesem Krieg! Zudem ist Wilson ein übler Rassist, und sollte doch als Demokrat für die Gleichberechtigung aller sein. Nochmals vier Jahre mit ihm sind einfach zu viel."
Mr. Leslies Einsatz für seinen Kandidaten war aber umsonst, Wilson wurde im November 1916 knapp wiedergewählt.

Julia erfuhr von von der Geburt ihres Neffen, Baptistes und Friedas Söhnchen Joseph, durch einen Brief von Célina. Alles gut gegangen, der Kleine und die Mutter waren gesund und munter, der Vater furchtbar stolz. Sie lebten jetzt in Riehen in einer Wohnung, nahe der Grenze zu Deutschland, Baptistes Arbeitsort. Zur Wohnung gehörte auch ein Garten, dahinter plätscherte ein Bach, kanalisierte Abzweigung des Wiesenflusses. Es gab ihr schon einen kleinen Stich, dass jetzt zwei ihrer Geschwister ein Kind bekommen hatten, und sie, weit davon entfernt, an eine Familie denken zu können, das Kind wohlhabender Leute hütete. Sie wusste nicht, wann sie die Kleinen – hoffentlich bald! – in der alten Heimat würde in die Arme schliessen können. Um Alcide machte sie sich Sorgen. Mit seinem Gehör ging es noch nicht viel besser. Er klagte nicht, aber man merkte, dass es ihn bedrückte, und wohl auch bei der Arbeit beeinträchtigte. Seine Herrschaften und die Kinder waren wieder von ihrer Insel an der Küste von Maine zurückgekehrt, und es gab viel zu tun in den Villen in der Stadt und in Pocantico, wo auch der Senior noch lebte. Schlimm war für ihren Bruder auch, dass seine geliebte Fiona nach Irland zurückkehrte, so wie es aussah, für immer. Sie hatte ihn schon seit Jahren nicht mehr weinen gesehen, aber als er ihr das erzählte, hatte er Tränen in den Augen gehabt, und seine Stimme war heiser gewesen. Sie wusste nicht, wie sie ihn hätte trösten können, ihren grossen Bruder, der immer so stark gewesen war. Und sie getraute sich auch nicht zu fragen, ob er jetzt nach Cornol zurückkehren werde, wie er es angekündigt hatte für den Fall, dass seine Geliebte in ihre Heimat reise, um ihre Eltern zu unterstützen. Oder warum er nicht mit Fiona nach Irland ziehen könnte. Aber wer würde dann zu Papa und Maman schauen, deren Zeit, alleine für sich und den kleinen Hof zu sorgen, ebenfalls abzulaufen schien. Der Druck war da, auch sie und Mathilde, die Jüngsten der Familie, spürten ihn. Es gab Pflichten. Die Aufgabe, sich zu vermehren, die Familie weiterleben zu lassen, hatten Célina und jetzt auch Baptiste übernommen. Würde die Aufgabe, ihre Erzeuger zu erhalten, an Josephine und Alcide hängen bleiben? Und was war ihre und Mathildes Aufgabe?

1 Kommentar:

  1. Die Familiensaga / Familienchronik hat Hand und Fuss - die Verbindung USA - Cornol und jetzt Riehen ist absolut faszinierend. Ich freue mich auf ein präsumtives Edition-Unik Buch ... Weiter so!

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