Donnerstag, 10. Juni 2021

weiss, schwarz, Übergänge

Julia stand zwischen ihren Taschen in der Eingangshalle des Hauses in Short Hills. Alles um sie herum: sauber und nett. Nur der kleine George klammerte sich an den Rock seiner Mutter und brüllte wie am Spiess. Hochroter Kopf, Schweisströpfchen auf der kleinen, runden Stirn. Bald würden die Blumenvasen und Scheiben der Salontür zerspringen in tausend Stücke. Ihre neue Dienstherrin war nur drei Jahr älter als sie, stand da vor ihr und bemühte sich um Haltung.
"Einer seiner Wutanfälle", meinte sie entschuldigend.
Julia sah die Haarsträhnen, die sich aus der Frisur gelöst hatten, und die roten Flecken auf dem Hals. Am liebsten hätte die junge Mutter wohl auch losgeschrien, ihr Kind geschüttelt oder etwas zu Boden geschmettert. Sie löste das Händchen des Buben von ihrem Kleid und setzte ihn, etwas unsanft, auf den Teppich, wo er unentwegt weiter heulte, dabei aber Julia beobachtete.
"Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer und das Bad. Der wird noch eine Weile weiter toben, am besten lassen wir ihn jetzt etwas allein."
Sie ging voraus. Julia nahm ihre Sachen. Bei der Türe fiel ihr etwas ein. Sie drehte sich nochmals zu dem Kleinen um und schenkte ihm eine ihrer groteskesten Grimassen. Ein Moment lang war Ruhe, George riss staunend die Augen auf. Als sie die Treppe hochstieg, nahm er sein Geschrei wieder auf, aber nicht mehr ganz so laut, und von kleinen Pausen unterbrochen. Sie kannte das: er wollte einfach nicht allzu plötzlich aufhören damit.

Mrs. Leslies Lieblingsfarbe war eindeutig Weiss. Nicht nur das Äussere des Hauses war in makellosem, spiegelndem Weiss gestrichen, auch im Inneren dominierte diese Farbe alles und jedes. Tapeten, Möbel und Polster, Blumenarrangements und Nippsachen, Bücherregale samt den Bücherrücken. Sogar die Bilder zeigten fast ausschliesslich Motive, in denen Weiss natürlicherweise im Übermass vorkam: Schneeberge, mit Gischt bedeckte Wellen, Zweige blühender Kirschbäume. Auch Julia bekam bald zwei schneeweisse Uniformen. Eine war zum Wechseln, was sie gut fand, denn Bluse, Rock und Schürze vor Flecken zu bewahren, schien ihr eine fast unmögliche Aufgabe. Immer strich der Kleine seine verklebten Händchen an ihr ab, oder ein sperriges Salatblatt verspritzte die Sauce an der Serviette vorbei auf ihre Bluse. Sie setzte sich auf ein Stückchen Schokolade, das George auf einem Stuhl abgelegt hatte, oder schnitt sich in der Küche in den Finger, was Blutspuren auf dem Rock zur Folge hatte.
"Sie haben da was..", musste sie ab und zu hören von der Dienstherrin, oder sie bekam auch nur einen Hinweis durch vorwurfsvolle Blicke. Für Mrs. Leslie hatte immer alles sauber zu sein und neu. Sie kaufte anders ein, als Julia es kannte. Sie benutzte dazu Kataloge von Versandhäusern, wie sie das nannte, zum Beispiel den von W. & H. Walker Company. Darin fand sich alles, was mit Kleidern und Toilettenartikeln zu tun hatte, für Frauen, Männer und Kinder. Und da der Katalog zwei oder dreimal pro Jahr herauskam, konnte Mrs. Leslie immer das Neuste kaufen, das war ihr wichtig. Die erste zu sein in der Nachbarschaft, die einen bestimmten Hut trug, oder ein Kleid mit einem neumodischen Schnitt. Die Waren kamen mit der Post, in grossen und kleinen Paketen, deren Ankunft der jungen Frau ungeheuer wichtig war. Ihr den Tag rettete oder sie, bei seltenem Ausbleiben, in melancholische Stimmung versetzte.

Mr. Leslie bezahlte die Sendungen ohne zu murren, soweit es Julia mitbekam. Er verdiente gut bei seiner Arbeit an der Börse, von der er oft sagte, dass er sie liebe. Julia konnte sich allerdings nichts darunter vorstellen, und sie meinte, dass es der Ehefrau nicht viel anders erging. Mrs. Leslie tat alles, damit ihr Mann nicht wieder in das schwarze Loch zurückfiel, das sich im Sommer 1914 aufgetan hatte, als in Europa der Krieg losbrach und die New Yorker Börse für ganze drei Monat geschlossen wurde. Manchmal erzählte sie Julia in kurzen Bruchstücken von dieser für sie schrecklichen Zeit, als sie den Schock verdauen musste, den das erste Kind für eine Frau bedeute. Die sich nicht hatte vorstellen können, wie gründlich ihr Leben durch die Bedürftigkeit des kleinen Wesens verändert würde, das sie da auf die Welt gesetzt hatte. Dazu sei die genauso plötzliche Hilflosigkeit ihres Mannes gekommen, der, zur Untätigkeit verdammt wie alle seiner Berufskollegen, mitansehen musste, wie die ihm anvertrauten Vermögenswerte dahinschmolzen. Danach habe sich der Börsenmarkt auf wundersame Weise wieder erholt, und New York sei nun dabei, London als Weltzentrum der Finanzen abzulösen. Julia wusste, dass ihre Vorstellung davon, was das Wort 'Börsenmarkt' bedeuten könnte, bei ihrer Dienstherrin, und erst recht beim Dienstherrn, spöttisches Gelächter ausgelöst hätte, also getraute sie sich nicht, Fragen zu stellen. Aber sie sah die Anstrengungen, mit der das junge Ehepaar den Anschein eines erfolgreichen, geglückten Lebens aufrecht erhielt und ausbaute. Ein teures Automobil, ein Dodge, musste angeschafft werden, die Garage dafür gebaut, ein Chauffeur angestellt. Er hiess George Follis und war so schwarz, dass Julia im Gegenlicht seine Gesichtszüge oft erst aus nächster Nähe erkennen konnte. Sie mochte seine zurückhaltende Art, auch wenn sie manchmal den Eindruck hatte, er müsse sich zu sehr anstrengen, keinen Fehler zu machen. Dabei fuhr er ausgezeichnet, soweit sie dies beurteilen konnte, und er putzte, ölte und schraubte an dem Fahrzeug herum mit einer Hingabe, als sei es ein geliebtes, leider etwas zickiges Lebewesen. Er sah beeindruckend aus, wenn er in seiner dunkelblauen Uniform, mit der gleichfarbigen Dienstmütze, hinter dem Steuerrad sass, und sie hatte den Verdacht, es sei ihren Herrschaften bei seiner Einstellung vor allem um dieses schicke Bild gegangen. Sie behandelten ihn freundlich, aber eben doch ein bisschen anders als sie, den Butler und die Köchin. Mit etwas mehr Distanz und Herablassung vielleicht, es war schwierig zu fassen, ob das nur von ihnen ausging, oder ob es auch durch seine scheue, unterwürfige Art mit hervorgerufen wurde. Es erinnerte sie an das Verhältnis der Bauernleute mit Verdingkindern und Tagelöhnern zuhause.

Mr. Leslie war gerade erst dreissig geworden, und von der Sorte selbstbewusst zackiger junger Männer, mit denen Julia keine Erfahrung hatte. Er war etwas kleiner als sie, sah kräftig und sportlich aus, aber sie schätzte, dass er in den kommenden Ehejahren Gewicht zulegen würde. Wenn er von seinem Büro an der Broad Street zurückkam, machte er immer einen ziemlichen Wirbel. Schien das Dröhnen seiner Stimme im Haus zu geniessen, wenn er seiner Frau vom Tag berichtete und sich dabei nicht unterbrechen liess, wenn sie in einen andern Raum ging. Begrüsste überschwänglich seinen Sohn, indem er ihn ein paar Mal in die Luft warf. Liess sich einen Jack Daniels, mit etwas Wasser, bringen, von seiner Frau, lieber aber noch vom irischen Butler, Joseph Hogan, oder auch von ihr, Julia. Er liebte es, bedient zu werden, sich Bedienung leisten zu können nach seinem anstrengenden Tag. Seine Frau gab sich grosse Mühe, es ihm am Feierabend in allem recht zu machen, obwohl sie ihren Mann beneidete um sein Leben ausserhalb des Hauses, wie Julia schnell herausfand. Um die Fahrten in die Stadt, um seine Kollegen, von denen er viel erzählte, um seine Erfolge und die damit verbundene Anerkennung. Sie kämpfte darum, wieder an ihre Tätigkeiten vor dem Kind anzuknüpfen. Sie war eine leidenschaftliche Tänzerin und hatte, zusammen mit anderen Frauen, grosse Ballanlässe organisiert in New York, manche im Zusammenhang mit wohltätigen Zwecken. Es war ihr damit gelungen, beträchtliche Geldsummen zusammenzubringen, mit denen man eine Klinik und eine Kantine für bedürftige Kinder unterstützte. Seit sie an das Landhaus in Short Hills gebunden war, konnte sie nur noch Schreibarbeiten und einen Teil der Buchhaltung für die Stiftung erledigen. Aber sie wollte sich wieder in die Schlacht stürzen, wie sie es nannte, wenn sie Julia davon erzählte und dabei leidenschaftlich wurde. Julia dachte darüber nach, wie das Problem gelöst werden könnte. Egal wie sie es drehte, es würde darauf hinauslaufen, dass sie ganze Abende oder gar Tage alleine auf den Kleinen würde aufpassen müssen. Aber es war nicht an ihr, so etwas vorzuschlagen, und sie traute es sich auch noch nicht zu.

Dabei war George, "der Dritte", wie er manchmal von seinem Vater genannt wurde, kein sehr schwieriges Kind. Die Wutanfälle blieben heftig, aber sie ereigneten sich nicht allzu häufig. Ungerechterweise betrafen sie fast nur Mrs. Leslie, seltener die beiden anderen Frauen im Haus, Victoria und Julia. Nie aber die Männer, Mr. Leslie, den Butler Joseph Hogan, oder den Chauffeur. Grimassen schneiden half immer, aber das konnte Julia nur, wenn sie alleine war mit dem Bub. Sonst wurde immer versucht, das Kind abzulenken mit irgendetwas Nettem. Einer Geschichte, einem Lied, einem halben Apfel. Zornig wurde George meistens dann, wenn man etwas Bestimmtes von ihm wollte. Zum Beispiel, dass er sich aufs Töpfchen setzen sollte, bevor man mit ihm spazieren ging. Das war überhaupt ein schwieriges Terrain, dieser Übergang vom Wickelkind zum Bub, der merken sollte, wann er pissen oder kacken musste. Julia erinnerte sich daran, wie Maman ihr von den viel grösseren Schwierigkeiten mit Baptiste und Jules bezüglich des trocken Werdens erzählt hatte, damals, als ihr Schwesterchen Mathilde diesen Schritt von einem Tag zum anderen gemeistert hatte, mit zwei Jahren, als ob es nichts wäre. Aber sie hatte den Eindruck, dass es auch bei dem verwöhnten Georgie nicht mehr lange dauern würde. Sie konnte die Mutter davon überzeugen, dem Kleinen keine Windeln mehr anzuziehen und versprach, ihn oft zu fragen, ob er auf den Topf müsse. Wenn es zu spät war, musste sie halt ein bisschen mehr arbeiten. Abends brachte sie ihn ins Bett. Sie erzählte ihm eine kleine Geschichte, meistens etwas mit Tieren, was sie von zuhause kannte. Mit den Kühen, den Schweinen, Katzen oder Hühnern. Sie machte ihm die Tierlaute vor, oder imitierte deren Ausdruck. Davon konnte er nicht genug bekommen. Ein kurzes Gebet auf englisch gehörte zum Programm, das wollten die Eltern so haben.
Now I lay me down to sleep,
I pray the Lord my soul to keep;
Guide me, Jesus, through the night
and wake me with the morning light
Amen

Das Wiegenlied sang sie in ihrem Dialekt, da konnte sie nicht anders, auch wenn sie den Eindruck hatte, es passe den Herrschaften nicht so ganz. Aber George liebte es, und verlangte es schon bald: "Sing Nicolas!"
Und das tat sie, singsangend, mit ihrer etwas heiseren Stimme:

Djeain-Nicolas, mon p’tét fieu, mon aimi,
Tiaind t’veus te mairiaie?
Dis-me-lo, dis!

Tiaind qu’i seraî grôs, mai mére, qui vôs l’dis.
Nian p’mitnaint qu’i seus p’tet,
oh Dé nani!


Jeden zweiten Sonntag traf sie sich mit ihren Geschwistern in New York, das half gegen Heimweh und Anfälle von Einsamkeit. Manchmal fuhr sie mit dem Zug. Es kam aber auch vor, dass Mrs. Leslie Lust hatte, mit ihrem Mann für einen freien Tag in die Stadt zu fahren, dann ging es schneller. Zuerst besuchten sie die Messe in St. Vincent de Paul, seltener in St. Patrick, weil sie dort auf englisch gelesen wurde und Josephine das nicht mochte. Danach ging man zusammen essen, im Gemeindehaus der französischen Kirche, oder auch in einem Restaurant, in dem man schön lange sitzen bleiben konnte. Wer Zeit und Lust dazu hatte, machte sich danach noch auf für einen Spaziergang in einem der vielen Parks der Stadt. Wenn noch andere Cornoler dabei waren, war es lustiger, dafür erfuhr sie mehr darüber, wie es dem Bruder und den Schwestern ging, wenn sie unter sich waren. Mathilde schien es sehr gut zu gehen mit ihrem ältlichen Trio. Die Geschwister Bayne waren sehr eigen, hatten viele Spleens und Macken, über die sie stundenlang erzählen konnte. Spöttisch, aber durchaus liebevoll. Die älteste, Mrs. Ruth, war eine grosse Liebhaberin japanischer Kultur, die das fernöstliche Land auch schon mehrfach besucht habe. Sie sammle Bilder, vor allem solche, die auf Papier gedruckt waren. Mathilde kannte sich damit nicht aus, aber die Dienstherrin liebe nichts mehr, als einem ihre Schätze zu zeigen und alles damit Zusammenhängende zu erklären. So habe sie Mathilde auch Holzbretter gezeigt, mit denen gewisse dieser Bilder gedruckt worden seien. Das hatte sie sehr beeindruckt, jedes kleinste Detail hätten die Künstler in das harte Holz geschnitten, dabei die feinen Linien stehen gelassen, die danach den Dingen ihre Umrisse gaben. Einmal habe Mrs. Ruth aus Versehen eine Mappe geöffnet mit sehr unanständigen Bildern. Sie habe sie schnell wieder zugeklappt und sei sehr verlegen gewesen danach. Mathilde hatte gestaunt, dass eine so korrekt wirkende ältere Frau etwas Derartiges in ihrem Besitz habe, und dass es solche Bilder überhaupt gabe. Erst als sie einmal mit Julia alleine war, getraute sie sich, zu beschreiben, was sie gesehen hatte. Liebespaare bei ihrem Spiel, mit grotesk vergrösserten Geschlechtsteilen. Sie mussten beide furchtbar kichern. Die Idee, einen japanischen Koch anzustellen, gehe natürlich auch auf Mrs. Ruth zurück. Aber was der aus der Küche zaubere, sei unglaublich. Mathilde fand keine Worte, um die neuen Geschmacksnoten, die Düfte und Farben der Gerichte zu schildern. Und wie aufwändig seine Kocherei sei, man müsse stundenlang die Küche aufräumen und putzen danach. Aber es lohne sich.
"Rohen Fisch habe ich gegessen, stellt euch vor! Wenn ich das Maman und Papa erzähle!"

Auch von Alcides Anstellung erfuhr sie endlich mehr. Sie war beleidigt gewesen, weil er seinen Schwestern Verschwiegenheit nicht zutraue, und hatte ihn immer wieder gedrängt, mehr über die Rockefellers zu erzählen. So gab er nun ab und zu Anekdoten zum Besten, kleine Geschichten aus dem Alltag, von denen er offenbar annahm, dass sie die vornehmen Herrschaften nicht kompromittieren könnten. Er erzählte vom kürzlichen Tod von Laura Celestina Spelman Rockefeller, der Mutter von Rockefeller Junior, und Frau des Senior, der sie immer "Cettie" ganannt hatte. Von der Trauerfeier im engen Familienkreis in Cleveland, wohin er, Alcide, zwar mitgefahren sei, aber die Zeit hauptsächlich mit dem Chauffeur verbracht habe, im Auto, oder in Kaffeehäusern. Es habe ihn aber beeindruckt, wie die beiden Herren getrauert hätten. Lady Spelman Rockefeller sei eine starke Persönlichkeit gewesen, die sich in ihrem Leben eingesetzt habe für die Bildung schwarzer Frauen. Das habe er erst nach ihrem Tod erfahren, wegen der vielen Nachrufe, die im Hause gesammelt und zum Teil sogar aufgehängt worden seien. Alcide berichtete auch, dass er vor Weihnachten ein grosses Paket mit Kleidern nach Hause schicken konnte, darunter einige Stücke seines Dienstherrn, auch Schuhe, die Mrs. Rockefeller für ihn herausgesucht und zusammengestellt habe. Er habe es vorher schon geahnt, dass er dieselbe Grösse trage wie Mr. Rockefeller. Aber als er die Sachen in seinem Zimmer anprobiert habe, sei er doch erstaunt gewesen, wie perfekt sie gepasst hätten. Julia klatschte in die Hände.
"Das muss ich sehen, ziehe doch mal etwas davon an!"
Jules schüttelte den Kopf.
"Das kann ich nicht machen. Stell dir vor, wenn jemand die Kleider des Dienstherrn an seinen Dienern erkennt. – Ah, das ist doch der Mantel, den der Patron letzten Winter gerne trug! – Das wäre peinlich, auch mir. Darum habe ich auch gleich alles nach Cornol geschickt."
"Ja, das stimmt", fand Julia. "Aber dort werden sie Augen machen, wenn du damit in die Kirche marschierst."
Julia fragte ihren Bruder über die Kinder des Millionärs aus. Der kleinste, David, war im letzten Sommer zur Welt gekommen, und der zweitjüngste, Winthrop, wurde vier Jahre alt. Alcide hatte aber kaum mit ihnen zu tun, dafür waren mehrere Kindermädchen angestellt. Es hätte sie interessiert, mit denen zu reden. Das war aber nicht möglich. Am nächsten stand ihr Bruder dem etwas speziellen Bub in der Familie, Nelson. Ein achtjähriger Junge, der immer wieder aneckte, und manchmal hart bestraft wurde für seine Streiche, die meist gar nicht als solche gemeint waren. Einfälle, Ideen eher, meinte Alcide. Der Kleine sei leicht ablenkbar, an allem und jedem interessiert, rührend anhänglich. Er kümmere sich immer wieder mal um ihn, wenn es seine Aufgaben erlaubten, und wenn er finde, es sei nötig. Wahrscheinlich wolle der Bub das, was er von ihm bekomme, von seinem Vater, der aber zu oft ausser Haus sei. Oder, wenn er da sei, völlig in Anspruch genommen von seinen Geschäften.
Julia dachte nach. Meinte dann:
"Ja, wenn man so im Dorf aufgewachsen ist wie wir, denkt man, Kinder werden von alleine gross, irgendwie, mit allen anderen zusammen. Aber jetzt, wenn ich sehe, wie die Leslies kämpfen, mit ihrer kleinen Familie. Ich weiss nicht. Sieht nicht so einfach aus."
Darauf wusste Josephine zu berichten, dass sowohl Célina als auch Baptistes Frau Frieda schwanger seien. Bei Célina sei es bald soweit.

Nach einem verspäteten, nasskalten Frühling wurde es mit einem Schlag heiss. Julia konnte in den Garten gehen mit dem kleinen George, der es liebte barfuss die Beschaffenheit verschiedener Böden zu erkunden. Sie erinnerte sich daran, wie sie als kleines Mädchen die Zeit herbeigesehnt und, wenn sie endlich da war, genossen hatte, die Zeit der Kniesocken, die man ausziehen und mitsamt den Schuhen irgendwo verstauen konnte, sobald man ausserhalb der Sichtweite von Maman war. Am liebsten hätte sie sich auch hier ihrer Strümpfe entledigt und wäre barfuss über den akkurat geschnittenen Rasen gegangen, aber sie wusste, Mrs. Leslie würde dies nicht tolerieren, und so begnügte sie sich mit der Vorstellung. Sie wurde geübt darin, den Bub schnell zu trösten und notfalls zu verarzten, wenn er hingefallen war und sich weh getan hatte. Wie sie beobachtete, erkundete der Kleine nach einem Sturz zuerst im Gesichtsausdruck der Erwachsenen, wie schlimm er den Unfall einstufen sollte, und ob es angebracht sei, zu weinen. Da seine Mutter sehr ängstlich war und beim geringsten Vorfall herbeistürzte mit allen Anzeichen des Entsetzens, brüllte George bei ihr immer gleich los. Wenn er mit Julia alleine unterwegs war und sie in so einer Situation fragend anschaute, gelang es ihr oft, ihm mit Blicken, einem Lächeln oder ein paar Worten zu verstehen zu geben, dass es nicht so schlimm sei. So wurde er allmählich härter im Hinnehmen von Schmerz, und auch sie lernte besser zu erkennen, wann er wirklich Trost und Hilfe brauchte. Aber sie blieb vorsichtig, denn sie spürte die Last der Verantwortung, die ihr mit der Betreuung des kleinen Prinzen auferlegt war.

Von der Geburt ihrer Nichte Elisabeth, des ersten Enkelkindes von Maman und Papa, erfuhr sie an einem Sonntag von Josephine, die einen langen Brief von Célina erhalten hatte, adressiert an sie alle. Es waren auch Fotografien dabei. Die Kleine schien gut zu gedeihen, wie man an ihren Pausbacken sehen konnte. Die Eltern wirkten sehr stolz und glücklich über ihr Grosskind.

In der Stadt war es deutlich heisser als in New Jersey, wo oft ein frischer Wind wehte. Viele New Yorker flüchteten auf die Dächer der Häuser, wo es zwar oft nicht wirklich kühler war. Aber zwischen den Hochhäusern stieg die warme Luft in die Höhe und es bildeten sich Aufwinde, die wenigstens die Illusion von Abkühlung mit sich brachten. Es wurde Mobiliar nach oben transportiert, Liegestühle, Rohrsessel, Clubtische. An manchen Orten ganze Bars. Man baute und spielte das Strandleben von Coney Island nach auf den schwarzen Flächen aus Teerpappe. Tar beach nannte man diese Modeerscheinung. Mathilde hatte, weil ihr Arbeitsort in Manhattan lag, schon einige Bekanntschaften machen können mit Angestellten verschiedener Häuser in der Upper Eastside. Eine ihrer neuen Freundinnen, Nora Roche, kündigte für das bevorstehende Wochenende eine party on tar beach an. Ihre Herrschaften reisten für ein paar Tage an die Küste und hatten ihr frei gegeben. Von den Plänen der maid, auf ihrem Dach ein Fest für Freunde zu veranstalten, wussten sie sicher nichts, wie Julia vermutete. Es wurde vereinbart, dass die Gäste zu dem Anlass in Badekostümen zu erscheinen hätten. Julia fand den Gedanken lustig, obwohl sie noch kein Badekleid besass. Mathilde murrte und fand es unnötig, liess sich aber schliesslich überreden. Alcide war zu ihrem Erstaunen bereits ausgerüstet, von seinem Strandurlaub auf Coney Island im letzten Sommer, wie er grinsend zugab.

Die Party war ein Erfolg, es kamen fast zu viele Gäste. Für die meisten war es ungewohnt, sich in Badekleidern zu bewegen und von den andern in diesem Aufzug gemustert zu werden. Julia musste furchtbar lachen, über sich selber, aber auch über Mathildes mürrischen Gesichtsausdruck. Schon bald aber legten sich die Hemmungen, und es breitete sich eine fröhliche Stimmung aus, die sich noch verstärkte, als man auf Nachbardächern, in unterschiedlichen Höhen, ähnliche Veranstaltungen entdeckte und sich über die Abgründe hinweg zuwinkte und -prostete. In der Dämmerung wurden Lampions und Windlichter angezündet, weil es schön aussah, aber auch, um die Ränder des Flachdachs zu markieren, die nur durch leicht ansteigende Rampen gebildet wurden, ohne Geländer. Julia spürte immer wieder ihren Magen, wenn sich jemand zu nahe an den Rand begab, vor allem, wenn die betreffende Person angesäuselt und nicht mehr ganz trittsicher war. Jemand hatte ein Akkordeon mitgebracht, also wurde getanzt. An einer kleinen Bar aus Kisten wurden drinks gemischt, mit Schüttelbecher und viel Trara. Julia hatte ihr erstes Getränk hinuntergestürzt, weil es süss war, und sie durstig. Nun merkte sie, wie viel Schnaps darin gewesen sein musste, und hielt sich für eine Weile ans Sodawasser.

Auf einmal realisierte sie, dass auch Alcides Freundin Fiona gekommen war, zusammen mit zwei weiteren Frauen, von denen eine schwarz war. Offenbar waren sie erst im Laufe des Abends eingetroffen. Sie zögerte etwas, sich der Gruppe zu nähern, wurde aber von Fiona schon von Weitem begrüsst wie eine alte Freundin. Sie musste ihr von der neuen Arbeitsstelle berichten, von ihren Erfahrungen als Kinderfrau. Als sie zurückfragte, ob Fiona noch immer bei denselben Herrschaften sei, und wie es ihr dort ginge, wurde diese still und zog sie auf die Seite.
"Einer meiner Brüder ist gefallen im Krieg, in Flandern. Der andere hat den Verstand verloren, shell shock nennen sie das. Er wurde durch eine Explosion verschüttet, und seither zittert er ununterbrochen. Meiner Mom geht es nicht gut, ich werde bald nach Hause fahren. Es ist schlimm – dieser Scheisskrieg!" Julia hatte sie am Arm gepackt und starrte sie an. Sagen konnte sie nichts. Sie war bisher nie gezwungen gewesen, die Tatsache des Kriegs an sich heranzulassen. Hatte bei Gesprächen darüber hinweggehört, Bilder weggeschoben. Und nun stand da Fiona ganz nahe vor ihr, Fiona, die sie respektierte und bewunderte. Die erleben musste, wie ihre Familie durch den Krieg zerstört wurde. Und deren Zukunft einen Riss bekommen hatte. Sie begann zu weinen.

Als sie wieder bei den andern sassen, drehte sich auch dort das Gespräch um den Krieg, und um die Politik der Vereinigten Staaten in der gegenwärtigen Situation. Darum, ob Präsident Wilsons Doktrin, to keep us out of war, die richtige sei, oder ob man sich nicht, mit den Anhängern der preparedness, auf den Krieg vorbereiten und kraftvoll in diesen eintreten solle. Es nützte nichts, dass einzelne der Gäste forderten, man solle das Thema wechseln, schliesslich sei man zum Feiern zusammengekommen. Der Krieg war wie ein grosser, schwarzer Magnet, der alle Gespräche nach kürzester Zeit auf sich ausrichtete. Das machte Julia Angst, vielleicht weil sie zum ersten Mal richtig hinhörte.
"Wird Amerika auch in den Krieg einsteigen? Und die Schweiz?", fragte sie ihren Bruder.
"Musst du auch in den Krieg?"
Sie dachte an Fionas Brüder, traute sich aber nicht, von ihnen zu sprechen.
"Nein, nein. Die Schweiz ist ja neutral, und bleibt es wohl auch. Und sie wurde bisher nicht angegriffen, oder als Durchmarschgebiet missbraucht. Ich glaube nicht, dass sich daran etwas ändern wird. Und solange bei uns kein Krieg ist, brauchen sie auch keine Sanitätssoldaten wie mich."
Julia nahm ihren Mut zusammen und fragte:
"Bleibst du hier?"
Es dauerte einen Moment, bis er antwortete.
"Fiona hat dir erzählt von ihren Brüdern, und von den Eltern? Auch mit unserem Papa geht es auf und ab, auf die Länge aber abwärts."
Dann, nochmals nach einer Pause:
"Wenn Fiona nach Irland zurückkehrt, gehe ich auch nach Hause."

In der Nacht vom 30. Juli 1916 war es sehr heiss, auch in Short Hills. George konnte lange nicht einschlafen. Er drehte sich unruhig hin und her und war so verschwitzt, dass ihm Julia ein frisches Pyjama anzog, das aber auch schon bald feucht war. Schliesslich wechselte sie das Leintuch und legte ihn in seinen Unterhöschen darauf. Er wurde endlich still, und auch sie fiel in einen unruhigen Schlaf. Sie wurde vom Donner wieder aufgeweckt, der Wecker zeigte auf kurz nach zwei Uhr. Draussen blitze und grollte es, aber als sie richtig wach wurde und ans Fenster trat, dachte sie, es könne kein Gewitter sein. Es war völlig windstill, und das Gerumpel hörte sich eher wie ein grosses Feuerwerk an, mit unregelmässigen Abständen zwischen heftigen Explosionen, dann wieder Geknatter und Geknalle, das aus grosser Distanz zu kommen schien. Sie ging ins Wohnzimmer und trat durch die Gartentür ins Freie. Die Nacht war sehr dunkel, der Himmel pechschwarz. Das weissliche Flackern der Blitze liess Büsche und Bäume für kurze Momente aus dem Dunkel hervortreten wie Pappkulissen. Es schien vom Osten her zu kommen, aus der Richtung der Stadt. Was konnte das sein? Inzwischen war die ganze Familie aufgewacht. Sie hörte George weinen und wollte nach ihm sehen, als Mr. und Mrs. Leslie in den Garten traten. Die Dienstherrin hatte den Kleinen auf dem Arm und schaute mit weit aufgerissenen Augen in den Nachthimmel. Mrs. Leslie suchte nach einer vernünftigen Erklärung.
"Da scheint etwas Grösseres in die Luft geflogen zu sein in der City. Vielleicht an einer der Baustellen der Untergrundbahn."
Als in diesem Moment ein weiterer, viel stärkerer dumpfer Knall ertönte, der die Luft spürbar erzittern liess, drängte sich seine Frau angstvoll an ihn und hielt ihre Hand schützend über den Kopf ihres Kindes. Auch Julia war zusammengezuckt. Der Dienstherr fluchte leise vor sich hin.
"Verdammt, was ist das? Werden wir angegriffen?"

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