Montag, 27. September 2021

Im Jazz Age

Sie erinnerte sich nicht oft an Träume, aber dieser verfolgte sie eine Weile.
Sie liest Kartoffeln auf mit ein paar anderen Mädchen aus dem Dorf. Ihr Rücken schmerzt, also richtet sie sich auf, fasst sich ins Kreuz und blickt in den Himmel. Es ziehen Wolken auf, sie müssen sich beeilen. Als sie ihren Blick wieder nach unten richtet, sieht sie am Horizont, winzig klein auf einer ansteigenden Hügelflanke, eine Prozession. Ein paar Priester und Ministranten in ihren weissen Spitzenhemden, darüber schwankende Banner und Kreuze. Ihnen folgen lauter dunkel gekleidete Menschlein. Von ganz weit her hört sie ihren dünnen Gesang. Als der Umzug auf der Hügelkuppe angekommen ist, sieht sie ihn auf einmal von ganz nahe. Viele tragen Masken, wie an der Fasnacht oder an einem Ball. Eine Musikkapelle ist aufgetaucht. Sie spielt Katzenmusik, die sich findet in einer schnellen Jazzmelodie. Die Frauen und Mädchen im Umzug beginnen wild zu tanzen, alle tragen knielange, glitzernde Röcke und Kurzhaarfrisuren, die Männer stellen sich im Kreis um sie auf. Statt der Masken tragen sie nun hohe, spitze weisse Hüte. Der Kreis schliesst sich immer enger um die Tanzenden, bis man sie nicht mehr sieht. Sie bekommt Angst und möchte sehen, was passiert. Drängt sich zwischen den weissen Hutträgern hindurch in die Mitte. Dort steht ein schwarzes Kälblein – und sie erwacht mit heftigem Herzklopfen.
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sie begriff, wo sie war. Draussen begann es zu dämmern. Nach dem Brummen des Verkehrs auf der breiten Avenue schätzte sie die Zeit auf halb sieben Uhr, da läutete ihr Wecker.
Elsie war eine Grosse jetzt. Da der Weg zur Lennox-Mädchenschule viel kürzer war als der frühere zum Kindergarten, und sie zudem meist abgeholt wurde von einer Kameradin, konnte sie jetzt gut alleine gehen. Julia weckte sie, überwachte das Anziehen und kontrollierte mit ihr zusammen nochmals den Schulranzen. Das Frühstück wurde ihr von Mathilde oder von der Köchin, Mary Sullivan, zubereitet, wobei das Mädchen meist kaum etwas hinunterbrachte. Also wurden ihr noch Pausenbrote gestrichen und mitgegeben, auch wenn unsicher war, was mit diesen jeweils geschah. Das Mittagessen bekam sie in der Schule, und das sei ganz ordentlich, wie sie sagte. An Nachmittag holte sie Julia oft noch ab, weil die Mutter und auch sie der Meinung waren, Elsie sei dann sehr müde und vielleicht nicht aufmerksam genug, um die grosse Kreuzung sicher zu überqueren. Wenn sie auf dem Heimweg von anderen Mädchen begleitet wurde, hielt sich Julia im Hintergrund und ging ein paar Schritte hinter der Gruppe.
Elsie hatte mit Klavierunterricht begonnen, bei einer Lehrerin, die einmal pro Woche ins Haus kam. Beim Üben konnten ihr weder Julia noch die Mutter helfen. Solche Unterstützung wurde nur gerade vom Vater akzeptiert, aber der hatte nur selten Zeit dafür. Elsie war ungeduldig beim Lernen, und die Liedchen und Etüden der Lehrerin fand sie blöd. Lieber wollte sie schon die schwierigen klassischen Sachen probieren, die ihr Daddy spielte, oder noch lieber, die Jazzmelodien. Er war begeistert von ihrem Interesse und suchte geduldig nach Stücken oder wenigstens kleinen Passagen, die er mit ihr zusammen spielen konnte, mit zwei, drei oder vier Händen. Eines davon blieb allen im Haushalt noch lange in Erinnerung, weil die beiden es an Sonntagnachmittagen immer und immer wieder probierten, solange, bis sie es einigermassen flüssig spielen und sogar Besuchern vorführen konnten. Mr. Bailey hatte Elsies Part stark vereinfacht und auf ein Notenblatt aufgeschrieben, mit der schön verschnörkelten Überschrift I Ain't got Nobody – by Spencer Williams. Das war für sie zu meistern, wenn auch ein wenig hölzern. Je sicherer sie wurde, desto mehr konnte ihr Vater die typischen Verzierungen und Verzögerungen des Jazz einbauen und am Schluss sogar dazu singen, ohne dass er Elsie damit drausbrachte. Man war allgemein sehr beeindruckt von dem Duo.
Jazzmusik war oft zu hören im Hause Bailey, für den Geschmack der Dienstherrin etwas zu oft und vor allem zu laut. Eine neue Errungenschaft war der von Mr. Bailey angeschaffte Radioapparat. Begründet hatte er seinen Kauf damit, dass er so die Übertragung von Sportereignissen, Nachrichten und politischen Ansprachen anhören könne. Bald aber entdeckten auch andere im Haushalt den Unterhaltungswert des Geräts. Mary McD hielt sich nicht an das Gebot, dass die Angestellten weder Grammophon noch Radioapparat ohne die Gegenwart und ausdrückliche Erlaubnis der Herrschaften bedienen durften. Ihre Lieblingssendung wurde die Fortsetzungsgeschichte über drei Freunde namens Amos, Andy und Kingfish. Julia hörte nur einmal mit. Die Männer sprachen mit stark näselndem Mittelwest-Akzent, die Geschichte war wirr und bestand eigentlich nur aus einer Aneinanderreihung von Sprüchen und Witzen, von denen sie die Hälfte nicht verstand.
Elsie durfte nur Radio hören, wenn ihr Daddy dabei war. Sie interessierten sich beide für die Musik schwarzer Musiker und Sängerinnen, die sie sich, andächtig nebeneinander auf dem Sofa sitzend, anhörten. Julia vernahm einmal, als sie gerade mit einem Stapel frisch gewaschener Wäsche unterwegs war zu Elsies Zimmer, aus dem Salon die langsamen, melancholischen Klänge eines Liedes. Sie blieb vor der Türe stehen und lauschte. Eine seltsam von Pausen durchlöcherte Melodie auf dem Klavier, oft nur zwei Akkorde, dann wieder eine Pause, in der die Frau alleine weitersang, sich vom Rhythmus fast widerwillig mitziehen liess. Sie verstand nur eine paar Worte des Refrains: ...if I do, dooo, dooo, if I do. Sie fand es schmerzhaft schön.
Später begriff sie, dass solche Musiksendungen auch dazu da waren, für den Kauf der abgespielten Musikstücke auf Schallplatten zu werben, denn bald hörte sie den Song öfters, weil Mr. Bailey ihn in seiner Sammlung stehen hatte. Er war festgehalten auf einer dieser zerbrechlichen schwarzen Scheiben mit runder, blauer Ettikette in der Mitte. Ein zweites Stück, auch einen Blues, wie er es nannte, hatte er gleich dazugekauft, weil er so begeistert war von der Sängerin Bessie Smith und ihrem Pianisten Clarence Williams, von dem er auch alle Noten anschaffte, die er auftreiben konnte.
Man hörte ihn oft reden vom erstaunlichen und erfreulichen Erfolg schwarzer Musiker, Sängerinnen und Tänzerinnen in jüngster Zeit, und es war ihm dabei anzusehen, dass er sich darüber freute. Er war aber der Meinung, dass man solchen Zuspruch nicht gleichsetzen könne mit einer allgemeinen Verbesserung der gesellschaftlichen Lage der Schwarzen im Lande, oder ihn schon gar nicht als ein Anzeichen beginnender Gleichstellung ansehen dürfe. Er machte sich grosse Sorgen über den wachsenden Einfluss des Ku Klux Klans überall im Land, vor allem aber in seiner Heimatstadt Denver, wo ein Klansman gerade daran war, seinen Vater aus dem Bürgermeisteramt zu drängen.
"Die scheuen sich nicht mehr davor, ihre Kreuze mitten in der Stadt anzuzünden, am liebsten vor den Portalen katholischer Kirchen. An ihren Umzügen machen hunderte mit, in diesen weissen Anzügen mit Kapuzen, die so überaus lächerlich wären, würden sie nicht alle in Angst und Schrecken versetzen, gegen die der Klan Hass und Gewalt schürt: unsere schwarzen Mitbürger, die irischen und alle sonstigen Katholiken. Die Indianer sowieso."
"Und Alkoholtrinker wie du und dein Vater!", warf Mrs. Lemen mit bitterem Spott ein. Sie war vor dem Klan in Denver zu ihnen nach New York geflohen, auf unbestimmte Zeit, wie sie sagte. Sie habe einsehen müssen, dass der Erfolg der Hassprediger wohl nicht von kurzer Dauer sei. Am Schlimmsten hatte sie getroffen, wie nun immer mehr Frauen den Klan unterstützten, ja sogar schon eigene Abteilungen gründeten, mit Kapuzenuniform.
"Was dieser Griffith während dem Krieg angerichtet hat mit seinem Film, ist einfach unerträglich. Birth of a Nation, pah! Birth of a Nightmare hätte er heissen müssen! Und angeführt wird der ganze Zirkus von diesem schmierigen Zahnarzt aus Dallas, den sie den "Grossen Zauberer" nennen. Es ist zum Verrücktwerden!"
Mrs. Bailey machte ihrer Mutter Zeichen, sie solle sich zurückhalten, denn mittlerweile war Elsie dazugestossen und spitzte ihre Ohren. Julia hatte miterlebt, wie das Mädchen auf Zeitungsbilder von Umzügen und Versammlungen des Klans mit einer Mischung aus Faszination und Angst reagierte. Es war ihr schwer gefallen, Erklärungen zu finden, welche die Fragen eines Kindes hätten beantworten können, wo sie es doch selber auch nicht verstand und nur wirres Zeug dazu träumen konnte.
Der längerfristige Zuzug von Mrs. Lemen machte verschiedene Umstellungen in den zwei Stockwerken der Wohnung nötig. Sie bekam im oberen zwei grosse Zimmer, die schon möbliert waren, dazu ein Bad. Da man aber aus ihrem Haus in Denver ein paar ihrer Lieblingsmöbel kommen liess – ihr Bett, einen grossen Lehnstuhl, eine Kommode und einen Kasten – , musste für die verdrängten Stücke Platz gefunden werden. Mrs. Bailey nahm diesen Umstand zur Gelegenheit, fast alles im Haus umzustellen, trotz tiefer Seufzer und Augenverdrehens ihres Mannes. Sie gab einige Möbelstücke an wohltätige Vereine weiter und kaufte Neues, Moderneres. Am meisten Kummer bereitete ihr die Schwierigkeit, pro Raum eine ästhetisch ansprechende, in sich stimmige Ordnung herzustellen, so ihre Worte. Julia konnte nur staunen, wie viel Planung, wochenlanges Überlegen, Beratungen mit Fachleuten, und schliesslich welche Geldmengen in einen Bereich des Lebens gesteckt wurde, der hier "wohnen" genannt wurde, oder auch "residieren". Sie hätte gerne mit Mathilde eine Beurteilung der Erneuerungen ausgetauscht, aber diese wollte sich nicht festlegen.
"Wenn es ihnen gefällt...", war ihre Antwort.
Am meisten beeindruckte Julia das neu eingerichtete Schlafzimmer. Wenn man in den hohen Raum eintrat, kam man sich ein wenig vor wie in einer Kirche, denn gegenüber der zweiflügligen Türe war das Ehebett vor einer golden glänzenden Wandinstallation aufgebaut wie ein Altar. Eine hochstehende, mit grossen Quadraten aus Blattgold belegte Tafel, mit einem feinen schwarzen Rahmen und einer schmalen, torartigen schwarzen Fläche in der Mitte, bildete die Mittelachse. Weitere Tafeln in abnehmender Höhe und Breite fügten sich links und rechts daran. Das ganze erinnerte Julia an die Silhouette von Manhattan, was vielleicht beabsichtigt war. Das Bett darunter und davor war riesig, und so lang wie breit, so dass man nur dank der Anordnung von Decken und Kissen wissen konnte, wie man sich hineinzulegen hatte. Julia wollte sich nicht zu sehr mit der Vorstellung beschäftigen, wie die Herrschaften damit umgingen. Das Bett herzurichten war eine Arbeit, die nur zu zweit zufriedenstellend bewältigt werden konnte. Ausserdem gab es in dem Raum einen Schminktisch mit einem grossen runden Spiegel, den man drehen und schwenken konnte. Daneben waren unzählige Flakons und Tiegel aufgestellt, die mit ihren grotesken Formen, Farben und Materialien um Aufmerksamkeit stritten. Zwei hohe, zierliche Nachttischchen aus dunkel gebeiztem Holz, darauf je eine elektrische, sehr modern aussehende Lampe aus Messing, standen links und rechts neben dem Bett. Schwieriger war es, die zwei Sessel mit den runden Lehnen und den mit farbigen Rhomben verzierten Seidenbezügen so hinzustelllen, dass es der Vorstellung der Dienstherrin entsprach. Sie mussten irgendwie schräg, aber eben richtig stehen, nachdem man sie für die Reinigung mit dem vacuum cleaner verschoben hatte. Mrs. Bailey hatte gleich zwei dieser als Servant to the Home angepriesenen Heuler anschaffen lassen, erstens, weil die Apparate doch ziemlich schwer waren und sie deshalb auf jedem Stock einen haben wollte. Zweitens war sie durch Hinweise in den Broschüren des Herstellers, welche die Gesundheit von Kindern auf staubigen Kinderzimmerteppichen betraf, dazu bewogen worden, bei der Reinigung ihrer Böden keine Kosten zu scheuen. Julia kam mit der Maschine bald gut zurecht. Sie gab eine Mischung aus Tönen von sich, zu der man ungeniert singen konnte, das hatte sie von Mary McD abgeschaut. Allerdings durfte die Aufmerksamkeit nie nachlassen beim Staubsaugen. Im Kinderzimmer, aber auch rund um den Schminktisch der Lady konnten sich kleine Dinge auf dem Boden befinden, die kostbar waren und keinesfalls eingesogen werden durften. Wenn es im Rohr klingelte, war es schon zu spät und der ganze Inhalt des Sacks musste in der Besenkammer auf ausgebreiteten Zeitungen durchsucht werden. Ebenso war Vorsicht geboten in der Nähe der bis auf den Boden reichenden Vorhänge, damit der Stoff nicht in den Schlund des Hoover geriet. Strikte verboten war es, den Saugrüssel aus Bequemlichkeit zum Abstauben von Kaminsimsen, Zeitungstischchen und Ablagen auf Kommoden zu benutzen. Zu gross war dann die Gefahr, dass Stifte eingesogen, Brillengestelle verbogen oder Bücherumschläge zerrissen wurden. Letzteres war zu Mr. Baileys grossem Ärger passiert mit einem Buch, dessen Umschlag durch Julias Unerfahrenheit und Unkenntnis gleich nach der Anschaffung des Vakuumreinigers beschädigt wurde. Zum Glück war es unter der Aufsicht von Mrs. Bailey geschehen, welche die Kraft des Luftstroms ebenso unterschätzt hatte wie sie. Das Buch mit dem Titel Tales of the Jazz Age lag noch einige Zeit danach auf den Beistelltischchen herum. Der Riss war trotz der liebevollen Flickarbeit des Dienstherrn noch immer gut zu sehen, was auf Julia wie ein Vorwurf wirkte, denn auch Elsie war traurig gewesen über das Unglück, weil sie die Zeichnungen mit den tanzenden und musizierenden Figuren auf dem Umschlag so liebte. Sie hatte, als ihr Vater das Buch gekauft hatte, gleich bemerkt, dass da ein Zusammenhang bestehen müsse zu dem Titelblatt der Moderzeitschrift ihrer Mutter, das sie in ihrem Zimmer an die Wand geheftet hatte und zu dessen Figuren sie mit Julia zusammen wilde Geschichten erfand. Nun wusste sie auch, wie der Zeichner hiess und entdeckte es immer als erste, wenn in einer Zeitung ein cartoon von ihm zu finden war.

Im Frühsommer kündigten die Baileys an, sie wollten für eine Woche nach Denver fahren. Mr. Baileys Vater war wie befürchtet als Bürgermeister abgewählt worden. Zwar überspielte er die Niederlage in der für ihn typischen Weise, und sein Sohn war während der vergangenen vier Jahre meist überhaupt nicht einverstanden gewesen mit seiner Politik, aber nun schien es dem Junior doch ein Anliegen zu sein, nach seinem Erzeuger zu schauen und ihn bei seinen Überlegungen zu einem Neuanfang zu unterstützen. Mrs. Bailey und Mrs. Lemen wollten mitfahren um abzuklären, ob sie das Haus an der Race Street vielleicht vermieten könnten.
Es war Mary McD, welche den Vorschlag machte, in jener Woche die Geburtstage von Julia und Mathilde nachzufeiern. Julia war im März des letzten Jahres dreissig Jahre alt geworden, Mathilde dieses Jahr im gleichen Monat, und beide hatten gemäss der Gewohnheit in ihrer Familie, aber zum grossen Erstaunen ihrer Kollegin, kaum Notiz genommen von dem Ereignis. Immerhin hatte Julia ihrer Schwester zum Dreissigsten einen Kuchen gebacken, was diese sehr gefreut und auch ein bisschen gerührt hatte. Nun aber drängte Mary die beiden Schwestern, es einmal richtig krachen zu lassen, und zwar so, wie man es hier und heute eben mache: mit einer Party in einem Club, wo man tanzen und auch Alkohol trinken könne. Sie kenne einen in Harlem, der vor zwei Jahren erst von einer Kreolin namens Gabrielle Ellois eröffnet worden sei. Dort gebe es richtigen Schnaps und gutes Bier, weder gepanschtes Zeug noch giftigen Fusel. Die Musiker seien immer schwarz, meist noch unbekannte Künstler, die sich die Patronne leisten könne und die ein tanzendes Publikum nicht nur tolerierten, sondern es sogar kräftig anheizten. Darunter seien aber richtig gute Talente, die auch schon von grösseren Clubs abgeworben worden seien. Und wie es denn stehe mit der Polizei, wollte Mathilde wissen. Sie habe keine Lust, in eine Razzia zu geraten und auf der Wache zu übernachten, oder gar die Stelle aufs Spiel zu setzen wegen einer Geburtstagsparty. Mary McD meinte, sie habe dort schon mehrmals gefeiert. Es werde nicht übermässig viel getrunken, das Publikum sei schwarz und weiss gemischt, was allein schon ein Grund sei für besondere Vorsicht. Die Razzien würden mit grosser Zuverlässigkeit vorher angekündigt dank Madame Gabrielles guten Beziehungen zur Polizei, und für private Feste könne man das Lokal auch mieten bis elf Uhr abends, danach sei es wieder für alle Gäste geöffnet. Das sei aber kein Nachteil, den dann werde es meistens erst richtig lustig.
Mathilde wollte sich nicht auf Mary McD's Einschätzung verlassen und schlug Julia deshalb vor, sie könnten noch Margaret fragen, die scharze Freundin der O'Fallans, die ja in Harlem wohnte und einen Club mit dem Namen Gabrielle's Rear Room vielleicht kannte.
Es war etwas kompliziert, bis sie mit Margaret telefonieren konnten, weil sie sich weder ihren Nachnamen noch die Adresse gemerkt hatten. Von Caoimhe bekamen sie aber die Nummer, und es stellte sich heraus, dass auch die O'Fallans bereits einmal in dem Lokal gewesen waren.
"Ich könnte mir das auch vorstellen, dort meinen Geburtstag zu feiern. Es ist sauber, hat gerade die richtige Grösse für etwa vierzig bis fünfzig Gäste. Wobei man sagen muss, dass sich nach elf dann wohl doppelt so viele hineinquetschten, aber die Musik und die Stimmung waren grossartig. Und die Chefin spielt auch selber sehr gut Piano. Sie ist sehr speziell, ihr werdet sehen. Aber fragt auf jeden Fall noch Margaret. Sie sollte die Bedingungen und den Preis kennen, wenn man das Lokal für ein paar Stunden für sich haben will."
Und lachend fügte sie hinzu:
"Und natürlich kommen wir gerne auch, wenn ihr uns einladet!"

Die Schwestern schluckte etwas, als sie den Mietpreis erfuhren, aber Margaret konnte sie davon überzeugen, dass er in einem vernünftigen Verhältnis stehe zu dem, was man in dem Lokal bekomme. Eine erste Runde Getränke und Geknabber, saubere Gläser, saubere Tische, Böden und Toiletten. Eine bewachte Garderobe. Und sogar die Musiker seien eigentlich schon bezahlt, wobei sie sich natürlich über eine zusätzliche freiwillige Hutsammlung freuten. Richtig essen könne man in dem Lokal aber nicht, da gebe es nur Gebäck, Oliven, eingelegte Gurken, manchmal Erdnüsse oder Pistazien, was eben zu den Drinks und zum Bier passe. Sie schlug darum vor in einem kleinen, nahe gelegenen italienischen Restaurant am späten Nachmittag einen Raum zu reservieren, dort zu essen und dann auf den Abend in den Club zu wechseln. Und so wurde es dann gemacht.
Julia staunte, wie sehr sie die Vorbereitungen des Festes in Anspruch nahmen. Mathilde fand es ratsam, den Herrschaften von dem Plan zu erzählen, denn es war offensichtlich, dass sie sich mit etwas beschäftigten, was nicht mit ihrer Aufgabe zu tun hatte. Vor allem Mary McD, die ja eigentlich die Idee zu der Feier gehabt hatte und deshalb bei allem dabei sein musste, war schon lange vor dem Eeignis völlig aus dem Häuschen. Aber Mrs. Bailey fand es richtig, dass man seinen dreissigsten Geburtstag mit einem richtigen Fest begehe. Sie mahnte dennoch zu Vorsicht und Zurückhaltung, vor allem, was den Alkohol betreffe. Mr. Bailey hatte noch nie von dem Club gehört und versuchte herauszufinden, welche Musiker dort spielten oder gespielt hatten. Als ihm dies nicht gelang, bat er Julia und Mathilde, ihm dann ausführlich zu berichten.
Die Herrschaften, Mrs. Lemen und Elsie waren bereits in Denver, als der grosse Tag gekommen war. Mary McD hatte von ihren Freundinnen einen ganzen Koffer voll mit Kleidern, Schuhen, Hüten, Schmuck und Schminksachen erbettelt, die nun im Salon auf Stuhllehnen, Tischen und am Boden ausgebreitet lagen, bereit zum Anprobieren. Sie ging als Beispiel voran, um die eher zurückhaltenden Schweizer Frauen anzuregen und zu ermutigen, sich dem Anlass angemessen in Szene zu setzen. Was sie selber betraf, war sie wild entschlossen, ihre Kostümierung risque zu gestalten, worunter sie zum Beispiel verstand, viel von ihren Beinen zu zeigen. Die Röcke, die sie einen nach dem andern an- und wieder auszog, waren alle ziemlich kurz, wenigstens einseitig, und zeigten bei der leisesten Bewegung ihre Knie. Die Strümpfe waren weiss oder schwarz. Sie rollte sie herunter, bis sie unterhalb des Knies einen runden Wulst bildeten, als Blickfänger, wie sie sagte, oder sie versah sie mit einem Strumpfband, über dem sie gleich noch ein zweites anbrachte, kein Mensch wusste, warum. Statt einen der Topfhüte aufzusetzen band sie sich ein Kopftuch um, schräg verwegen wie eine Piratin. Dies wollte sie auch an Mathilde ausprobieren, aber obwohl Julia fand, es stehe ihr sehr gut, fand es ihre Schwester kindisch und nahm sich statt dessen einen kleinen, runden Hut, dessen Krempe vorne senkrecht nach oben gefaltet und mit einer Pfauenfeder verziert war. Die Röcke wollten beide nicht zu riskiert kurz haben, aber auch bei ihnen wurden die Knie sichtbar, wenn sie ein paar Tanzschritte ausprobierten.
"Wenn das Maman sähe!", rutschte es Julia heraus, was Mathilde dazu bewog, einen noch kürzeren Rock anzuziehen, den sie vorher auf die Seite gelegt hatte. Schliesslich zeigte ihnen Mary McD, wie man sich flappy schminkt. Die Schwestern hatten so etwas ein- oder zweimal in Cornol gemacht als sie dreizehn und vierzehn waren, bei einer befreundeten Wirtstochter, welche sich hinter die Sachen der Serviererinnen gemacht hatte. Sie bemalten sich und kicherten dazu wie damals.
Es war eine gute Idee gewesen, vor dem Besuch des Tanzlokals beim Italiener zu essen. An diesem Teil des Festes nahm auch ihre ältere Schwester Joséphine teil, die unter keinen Umständen zum Tanzen in ein Etablissement mitkommen wollte, in welchem in gesetzeswidriger Weise Alkohol ausgeschenkt wurde. Wein hätte man auch zum Nachtessen bestellen können, aber Julia und Mathilde verzichteten darauf, damit auch andere Gäste, die vielleicht Joséphines Abneigung gegenüber einer Übertretung teilten, sich nicht ausgeschlossen fühlten und mit ihnen feiern konnten. Und es wurde auch so ein sehr fröhliches frühes Nachtessen, mit vielen Bekannten, Freunden und Verwandten aus dem Jura, welche die Mehrheit der Gäste bildeten und auch die Sprache bestimmten. Mary McD versammelte kurz entschlossen die "echten New Yorker" am unteren Teil des langen Tisches, so dass alle auf ihre Rechnung kamen. Die Nachmittagssonne schien schräg durch die Glasfront des Restaurant-Anbaus, als die Pasta serviert wurde. Der Wirt hatte seine drei jugendlichen Kinder als Hilfen engagiert, so dass die dampfenden Teller fast gleichzeitig vor alle Gäste hingestellt wurden. Für eine kurze Zeit wurde es still am Tisch und der Raum füllte sich mit den Düften von gekochten frischen Tomaten, Basilikum, Knoblauch und Parmesankäse. Für Julia hätten die Nudeln etwas weicher gekocht sein dürfen, aber sie kannte inzwischen die Gewohnheit der Italiener, und der Geschmack der Sauce war traumhaft. Sie schenkte sich und ihren Tischnachbarn Wasser ein aus einer bauchigen Flasche und liess den Blick umherschweifen. Wer würde wohl alles zum Tanzen mitkommen nach dem Essen? Schräg gegenüber neben Mathilde sass Nora Roche, mit der sie damals die Party auf dem Dach gefeiert hatten. Die würde sicher mitkommen. Sie war mindestens so verwegen aufgemacht wie Mary McD. Auf ihrem Bubikopf tronte eine Art Turban, und der Ausschnitt war so tief und sass so locker, dass Julia ihre Brüste sehen konnte, wenn sie sich vorbeugte. Schnell kontrollierte sie mit einem Blick nach unten, ob das bei ihr nicht auch der Fall war. Auf der andern Seite ihrer Schwester sass der japanische Koch, mit der diese bei den Geschwister Bayne zusammen gearbeitet hatte. Er trug einen fein gestreiften Sommeranzug und plauderte angeregt mit Geneviève Girard, eine der Freundinnen Joséphines aus Cornol. Bei diesen zwei war Julia nicht sicher, ob sie sich auf das Abenteuer im Jazzclub einlassen würden, anders als bei ihrer älteren Schwester, die sich demonstrativ dunkel gekleidet hatte und sich mit einer der Cousinen aus der Crétin-Familie unterhielt, die zu ihrer Rechten sass. Man würde ja bald sehen, wer sonst noch von diesem oberen Teil des Tischs mitkommen würde. Am unteren Ende ging es schon wieder sehr laut zu. Dort sassen Mary McD, sowie die O'Fallans und Margaret, welche einige Freunde mitgebracht hatten, die Julia nicht kannte. Vier davon waren so schwarz, dass sie im Gegenlicht der Abendsonne nicht einmal erkennen konnte, wer Mann und wer Frau war. Aber diese Gäste würde sie ja bald in Aktion erleben, denn Margaret hatte angekündigt, sie werde ein paar sehr talentierte Tänzerinnen und Tänzer einladen, die Schwung in die Bude bringen sollten. Sie merkte, wie sich die Vorfreude und eine leise Aufregung in ihrem Bauch bemerkbar machte, und nahm sich vor, nicht zu viel zu essen bei der zweiten Runde, zu der Braten angekündigt war.

Wie gut diese Entscheidung gewesen war, sich den Bauch nicht zu sehr zu füllen, merkte sie später am Abend, als sie sich im Gabrielle's Rear Room auf einen der Stühle der seitlich stehenden Clubtische fallen liess. Die Waden brannten, sie atmete schwer und ihr Blick war vernebelt von mehreren Drinks mit exotischen Namen, die der schwarze Barkeeper für sie gemischt und geschüttelt hatte. Sobald sie sass, wurde ihr schlecht und sie musste sich am Tisch hochziehen, um an der Tanzfläche und dem Podium der Musiker vorbei die Toilette zu erreichen. Bei den ersten Schritten schwankte sie deutlich, dann riss sie sich zusammen und erreichte die Türe im Hintergrund des Lokals ohne Zwischenfall. Mary McD stand vor dem Spiegel und schminkte sich neu. Als Julia neben sie trat, lachte sie laut auf und sagte:
"Wie siehst denn du aus, du bist ja ganz bleich um die Nasenspitze!? Und der Lippenstift ist verschmiert. Komm, ich zieh dir nach!"
Aber Julia wollte sich zuerst einmal das Gesicht mit kaltem Wasser waschen. Als sie damit fertig war und auch ein paar Schlucke getrunken hatte, ging es ihr besser. Mary McD hatte sich eine Zigarette angezündet und bot ihr auch eine an. Julia wehrte Rauch und Angebot mit einem heftigen Wedeln der Hände ab.
"Ja, du hast recht", sagte Mary, und drückte die angerauchte Zigarette in der Waschschüssel aus. "Wir wollen ja noch weiter tanzen. Die Musik ist fantastisch, oder? Und auch die Chefin singt und spielt toll, findest du nicht? Hast du übrigens gesehen, wie die auf deine Schwester steht? Sie flirtet immer mit Frauen aus dem Publikum, aber so scharf habe ich sie noch nie erlebt!"
Julia erschrak. Natürlich hatte sie bemerkt, wie Madame Gabrielle, die in weissem Frack und Zylinder auftrat und mit einer tiefen, männlich klingenden Stimme sang, ihrer Schwester immer wieder über die Schulter zugezwinkert und ihr sogar eindeutig schmachtende Blicke zugeworfen hatte. Mathilde war, mit einem leisen Lächeln auf den Lippen, einfach dagesessen und hatte ihre Augen unverwandt auf die Sängerin gerichtet. Julia versuchte, nicht über die Szene und schon gar nicht über daraus abzuleitende Folgerungen nachzudenken, und hatte sich nach dem Auftritt der Hausherrin heftig in den Charleston gestürzt, zu dem die fünfköpfige Band aus lauter schwarzen Musikern aufspielte. Es war ihr gelungen, den Vorfall zu vergessen, bis ihn nun Mary McD zurückgeholt und ihm durch ihre Beobachtung eine nicht zu leugnende Existenz verliehen hatte. Sie konnte kein Wort herausbringen. Mary sah sie von der Seite an und stellte ihren Kopf schräg.
"Oh, entschuldige! Ich wollte dich nicht erschrecken, und es hat auch gar keine Bedeutung. Die Ellois macht keinen Unterschied zwischen den Frauen. Dass sie Mathilde angemacht hat, sagt nichts über deine Schwester, glaub mir!"
Und, als Julia noch immer nichts sagte:
"Und wenn schon, so etwas gibt es eben! Komm, wir gehen wieder zu den andern. Ich sage den Musikern, sie sollen was spielen, wozu man shimmy tanzen kann. Und ich zeige dir und Mathilde, wie es geht. Dann könnt ihr mal sehen, wie man beim Jazz ins Fliegen gerät!"

Samstag, 11. September 2021

Die Chiquet Sisters

So it's Haaaaarding, lead the G. O. P.
Haaaaarding, on to victory
We're here to make a fuss
Warren Harding, you're the man for us!


Das war nicht gerade das Lied, welches Mrs. Bailey am liebsten hörte von ihrer Tochter, aber Elsie mochte es eben und summte die Melodie beim Spielen vor sich hin, oder trällerte es auch zwischendurch laut und tanzte dazu durch die Wohnung, wenn Daddy ihr dabei belustigt zusah oder sich gar an den Flügel setzte und sie begleitete. Dann aber spätestens schritt die Mutter ein, weil sie nicht dafür war, dass man der kleinen Miss ihren Widerspruchsgeist durchgehen lasse, der sich seit dem Besuch des Kindergartens deutlich verstärkt hatte. Ihrer Meinung nach war Elsies hervortretendes Bestreben, die Erwachsenen mit allerlei Kunststücken und Spässen zu unterhalten, eher zurückzubinden durch eine nüchterne Begegnungsweise als es durch Applaus noch anzustacheln. Aber das war eine Auseinandersetzung zwischen Elsies Eltern, in der sie weder zu einem Ende kommen noch sich je einigen konnten. Mathilde wollte Julia daran erinnern, dass Maman und Papa ähnlich unterschiedlich auf ihre, Julias, Clownerien reagiert hätten, als sie noch ein Kind war. Papa habe seine helle Freude gehabt, wenn sie den Affen machte, wie es die Mutter tadelnd genannt habe. Julia aber behauptete, nichts mehr davon zu wissen. Dass nun Warren G. Harding nach einem überwältigenden Wahlsieg mit grossem Pomp vereidigt werden und ins Weisse Haus einziehen sollte, entzweite die Herrschaften inzwischen nicht mehr. Mrs. Bailey hatte zwar auf das demokratische Gespann gesetzt und James M. Cox gewählt, bei der ersten Wahl, an der sie sich beteiligen durfte, aber dies war mehr aus Prinzip geschehen denn aus dem Glauben an die Fähigkeiten ihres Kandidaten. Wenn schon, dann hätte der als Vizepräsident aufgestellte Franklin D. Roosevelt das Zeug für das Präsidentenamt mitgebracht, fand sie. Nun war es eben so wie es war. Ihre Mutter, Mrs. Lemen, haderte mehr mit Hardings Wahl. Sie sah die Gefahr, Amerika könnte sich nach innen spalten in unversöhnliche Lager und nach aussen vom Rest der Welt abschotten. Und sie befürchtete, der rücksichtslose Kapitalismus des Guilded Age könnte wieder zu wuchern beginnen. Ausserdem war sie voller Verachtung für die in ihren Augen lächerliche Art und Weise, wie sich Stars vom Broadway und Sternchen aus der Welt der Neureichen in den Wahlkampf eingemischt hätten, gegen Vorteile und Bezahlung, wie sie schnaubte.
"Dazu gehört auch dieser Schmalzknochen Al Jolson, dessen Lieder du spielst, mein lieber Dewey. Und deine Tochter singt sie auch noch!"
Solche Bemerkungen waren aber von Lachen begleitet und gefolgt von freundlichem gegenseitigem Spott, wie Julia beruhigt feststellte. Sie nahm sich vor, Elsies Produktionen in nächster Zeit mit Zurückhaltung zu begegnen.
Sie war auch weiterhin zuständig für die Betreuung des Mädchens, nachdem ihre Schwester als zusätzliche Hilfskraft angestellt worden war. Es hatte sich herausgestellt, dass die Köchin, die nun nach ihrer Heirat Mrs. John Sullivan hiess, wieder ein paar Tage in der Woche arbeiten wollte, so dass Mathilde nicht jeden Tag in der Küche stehen musste. Mrs. Lemen war jetzt öfter für eine Woche oder länger zu Besuch und beanspruchte Mathilde dann jeweils mit grosser Selbstverständlichkeit als persönliche maid für sich. Einmal nahm sie sie sogar mit nach Denver, um in ihrem Haus wieder einmal richtig sauber zu machen, wie sie sagte. Mathilde zeigte sich bei ihrer Rückkehr beeindruckt von der rosaroten Villa, die geräumig sei, dabei sehr praktisch und modern eingerichtet. Und obwohl das Haus mitten im Zentrum der Stadt stehe, wirke die Umgebung wie ein Park. Jetzt, wo Mathilde wieder zusammen mit Julia im Hause war, gingen Mrs. Lemen und dann auch Mrs Bailey dazu über, sie Julia und Mathilda zu nennen. Als Begründung gaben sie an, es sei mühsam, die Chiquet Sisters auseinanderzuhalten, wenn diese beide mit Miss Chiquet angesprochen würden. Aber es war offensichtlich, dass auch die Vertrautheit eine Rolle spielte, die sich mittlerweile zwischen ihnen eingestellt hatte.
Julia hatte jeden Morgen Elsie in den Kindergarten zu bringen. Den Weg zu Fuss dorthin konnte man sich sehr einfach merken, denn er führte eine Viertelstunde der Siebenundsiebzigsten entlang in Richtung East River, über fünf Blocks geradeaus. Aber es war auch klar, dass man Elsie nicht alleine gehen lassen konnte, denn gleich am Anfang musste die Park Avenue überquert werden, was auch für Julia immer mit Unruhe verbunden war. Die Automobile kamen schnell und nahmen wenig Rücksicht auf Fussgänger. Und der Motorenlärm dröhnte so laut, dass man sich nur mit Mühe verständigen konnte. Am kniffligsten war es, wenn ein Chauffeur auf der Spur anhielt, die dem Bürgersteig am nächsten war. Diese seltene höfliche Geste brachte die Fussgänger erst recht in Gefahr, weil sie um das stehende Fahrzeug herum äugen und nach einer Lücke im Strom der vorbei brausenden Autos Ausschau halten mussten. Elsie beklagte sich dann jedesmal über den eisernen Griff, mit dem sie Julia festhielt. Waren sie aber einmal drüben, dann mussten sie an den Bettlern vorbei, die sich jeden Tag vor dem Deutschen Hospital einfanden. Die Kleine hätte am liebsten allen etwas in ihre Büchsen und Hüte getan, weil sie ihr so leid taten. Man einigte sich darauf, dass sie jeweils am Montag einem von ihnen eine Centmünze geben durfte. Es kamen alle dran und sie merkte sich die Reihenfolge genau. Bald wurde sie höflich begrüsst und die Gabe verdankt.
"Ah, here comes the little Miss! Thank you, Miss Elsie, have a nice day! God bless you!"
Es konnte auch vorkommen, dass an einem Tag plötzlich kein einziger von ihnen mehr da war. Einmal erlebten sie mit, weshalb dies so war. Drei Polizeiautos standen vor dem Hospital und die Uniformierten verteilten die Bettler gerade auf die Bänke der Fahrzeuge. Dann wurden die Türen zugeschlagen und die Wagen brausten davon. Ein paar Tage später waren wieder alle Bettler da.
Ohne dass darüber gesprochen wurde, fanden es Julia und Elsie besser, nichts davon zu Hause zu erzählen. Auf dem Weg kamen sie auch an der Lenox School vorbei, in die Elsie in einem Jahr gehen sollte. Voller Bewunderung musterte sie die grossen Mädchen in ihren Schuluniformen, die in kleinen Gruppen vor dem Portal standen oder aus den Autos ihrer Eltern ausstiegen. Wenn sie selber bei ihrer Schule angekommen war, rannte sie sofort los, um Freundinnen zu begrüssen, mit denen sie dann, ohne sich noch einmal umzudrehen, im Gebäude verschwand. Wenn sie aber abends abgeholt wurde, freute sie sich sichtlich, Julia unter den wartenden Erwachsenen zu entdecken. Auf dem ganzen Heimweg erzählte sie dann, wer heute mit wem Streit gehabt und sich wieder versöhnt habe, wer etwas mit ihr geteilt hatte oder dumm und gemein zu ihr gewesen war. Ihr etwas darüber zu entlocken, was sie gespielt oder Neues gelernt hatte, war allerdings schwierig. Am ehesten gelang es Julia, sie zum Singen der Lieder zu bewegen, die sie im Kindergarten lernte. Bis sie zu Hause ankamen, konnten sie diese manchmal gemeinsam singen.
Mary McD kam durch die Anwesenheit von Mathilde in Bedrängnis, das hatte man voraussehen können. Sie war schon vorher nicht immer zuverlässig gewesen, weil es einfach viel zu viele Dinge gab, die ihr im Kopf herumschwirrten. Sie schwatzte gerne und viel. Es war erstaunlich, was die junge Frau immer zu erzählen hatte über das, was in der Stadt neu und aufregend war. Sie bezog, mit etwas Verspätung, ihre Informationen aus den Town Topics und ähnlichen Zeitschriften, die sie von einer Freundin bekam, deren Dienstherrin, eine nouveau riche, gleich mehrere abonniert hatte. Julia konnte sich die Namen der Prominenten nicht merken, deren Parties, geschäftliche Abenteuer und Affären, ja sogar deren Autos, Kleider und Frisuren hier verhandelt wurden. Bei Mary McD führte die intensive Beschäftigung mit solchen Neuigkeiten aus dem privaten Leben von Berühmtheiten dazu, dass sie Dinge vergass, die ihre Arbeit und ihre unmittelbare Umgebung betrafen. Julia bügelte ihre Fehler aus, wo es ging und wenn es sich machen liess, auch so, dass Mrs. Bailey und Mrs. Lemen nichts davon mitbekamen. Mathilde war da nüchterner. Sie fand, Mary McD sei selber schuld, wenn sie auf Dauer ihre Stellung durch mangelnde Aufmerksamkeit gefährde. Sie war so gewissenhaft bei der Sache, dass selbst Julia sich anstrengen musste um mitzuhalten. Ihre jüngere Schwester erschien ihr manchmal erwachsener als sie selber.
Mary McD's Weitergabe von aufregenden Neuigkeiten war es zu verdanken, dass Julia den Dienstherrn in grosses Erstaunen versetzen konnte, weil sie über ein Ereignis Bescheid wusste, das ihn in hohem Masse interessierte. Eines Morgens las er aufgeregt einen Zeitungsartikel über den bevorstehenden Boxkampf in Jersey City vor, da wurde er von seiner Frau mit Fragen zum Tagesablauf unterbrochen. Als er wieder auf sein Thema zurückkommen wollte, fiel ihm der Name des französischen Gegners nicht mehr ein, gegen den Dempsey boxen sollte. Julia, die gerade dabei war ihm Kaffee nachzuschenken, stach der Hafer.
"Sie meinen Georges Carpentier, Sir", sagte sie, wie wenn nichts dabei wäre. "Man sagt, dies solle der Kampf des Jahrhunderts werden."
Mr. Bailey brachte für einige Sekunden seinen Mund nicht mehr zu. Dann brach er in Lachen aus und rief anerkennend aus:
"Da sieh mal einer an! Sie interessieren sich fürs Boxen, Miss Chiquet?"
Julia verstand überhaupt nichts vom Sport, schon gar nichts vom Faustkampf, und es interessierte sie auch nicht. Trotzdem erzählte ihr Mr. Bailey nun regelmässig über die gewaltigen Vorbereitungen auf den Grossanlass, zu welchem er sich zusammen mit zwei Schulfreunden Tickets gekauft hatte. Weder seine Frau noch die Schwiegermutter wollten davon hören, und auch von Julia wusste er im Grunde, dass sie nicht begeistert war von dem Thema. Aber irgend jemand musste ihm einfach zuhören.
"Tex Rickard lässt eine Arena bauen für achtzigtausend Zuschauer, stellen Sie sich vor! Der Madison Square Garden war ihm zu klein, und dann hat sich auch noch mit der Stadtverwaltung verkracht, also ist er nach Jersey City ausgewichen. Er geht ein ganz schönes Risiko ein. Eine Viertelmillion Dollars, die er nur schon für den Bau ausgeliehen hat, muss er durch den Kampf wieder hereinholen. Kommen da noch die Gelder dazu, die er den beiden Kontrahenten vertraglich zugesichert hat. Verrückt ist das!"
Julia fand das auch. Achtzigtausend Leute rund um das kleine Viereck, in dem geboxt wurde, konnte sie sich gar nicht vorstellen. Sie hatte einmal in ihrer Jugend einen Boxkampf gesehen, auf freiem Feld. Die spärlichen Zuschauer gingen sich während des Kampfes Bier und Würste holen, und als die Gesichter der Boxer anschwollen und Blut zu fliessen begann, blieben nur noch Buben und Männer übrig, die das sehen wollten.
"Dempsey wird als der bad guy aufgebaut. Er hat einen beeindruckenden punch, dem Franzosen ist er körperlich sicher überlegen. Aber er hat sich während des Grossen Kriegs unpatriotisch verhalten. Hat sich vor der Armee gedrückt."
Wie Alcide, dachte Julia. Aber die Schweiz hatte sich nicht am Krieg beteiligt, also war das wohl etwa anderes. Sie sagte nichts.
"Carpentier dagegen ist der Gute. Er ist Weltmeister im Halbschwergewicht. Ein eleganter Boxer, heisst es. Wir werden sehen."
Der Kampf schien dann allerdings eine grosse Enttäuschung gewesen zu sein für Mr. Bailey und seine Freunde, entsprechend klein war sein Bedürfnis danach, noch davon zu sprechen. Julia war ganz froh darüber, denn es war ihr unangenehm gewesen, vom Dienstherrn auf eine Weise beansprucht zu werden, die sicher seiner Frau nicht nur recht war. Mary McD beschäftigte sich dafür noch länger mit Bildern und zitierten Äusserungen von Georges Carpentier, der noch einige Zeit in New York blieb und offenbar in der Schickeria herumgereicht wurde, Interviews gewährte und sich auf allerlei Wohltätigkeitsveranstaltungen zeigte. Mary McD fand den Franzosen sehr süss, worüber wiederum Mathilde nur den Kopf schütteln konnte.
Julia war trotz der Geschwätzigkeit ihrer jüngeren Kollegin froh um solche Ablenkung, denn wenn sie zu viel Zeit hatte um nachzudenken, verfiel sie in Melancholie über den Tod ihres Vaters. Trost fand sie in den Besuchen der nahe gelegenen St. Jean Baptiste Church, am Sonntag zum Hochamt oder auch zwischendurch an Wochentagen zur Frühmesse. Sie liebte diesen Kirchenraum, der bunt und reichlich mit Vergoldungen verziert war. Wenn draussen die Sonne schien, zauberten die farbigen Fenster Reflexe in die schattigen Nebenkapellen, so dass es ihr leicht fiel, wieder Zuversicht zu gewinnen. Beim Eingang stand ein wuchtiges Gestell aus Eisen. Da brannten, auf treppenartig ansteigenden Reihen, die Kerzen, für die man einen Cent in den Schlitz stecken musste. Sie zündete jedes Mal zwei an, eine für Papa, die andere für alle andern, die sie in ihren Gebeten der Jungfrau Maria und dem Heiligen Jean Baptiste zum Schutz empfahl. Dass dieser Heilige, nach dem ihr Vater seinen Taufnamen bekommen hatte, der Patron der Kirche in ihrer nächsten Nähe war, betrachtete sie als Fügung und gutes Omen.
Sie und Mathilde hatten je ein eigenes Zimmer in der neuen Wohnung, so konnte sie ungestört auf der Kommode wieder ihren kleinen Marienaltar einrichten. Natürlich sah ihre Schwester, was sie da aufgestellt hatte, denn sie besuchten einander ab und zu, um zu reden oder gemeinsam Briefe zu schrieben. Mathilde hielt nichts davon, sich an die Mutter Gottes und die Heiligen zu wenden, wenn man Sorgen hatte. Aber sie hätte ihre Schwester nie kritisiert deswegen. Auch Mrs. Bailey sagte nichts zu Julias Einrichtung, nachdem sie sie einmal gesehen hatte. Sie gab Julia aber einige Tage danach die farbige Abbildung eines Marienbildes aus dem Metropolitan Museum. Und obwohl die Dienstherrin eigentlich nichts dazu sagte ausser dem Namen des Malers, den Julia gleich wieder vergass, empfand sie es als leise Kritik an ihrem Geschmack für süssliche Bilder. Die Madonna, die sie da bekommen hatte, wirkte steif und streng. Das Jesuskind stand auf ihrem Schoss und sah eher aus wie die verkleinerte Version eines Erwachsenen als wie ein Kleinkind. Trotzdem stellte Julia das Bild zu den anderen.

Diesen Sommer hatten die Baileys zwar wieder vor nach Maine fahren, diesmal aber nicht einfach in Bar Harbour in einem Sommerhaus zu verweilen, sondern in den Bergen und an den Seen im Norden herumzureisen. Die Initiative dazu ging von Mrs. Lemen aus, die zu einem Teil der Reise auch gleich ihren Sohn Lewis, den zwei Jahre jüngeren Bruder von Mrs. Bailey, mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn einlud. Man wollte eine Woche gemeinsam in einem grossen Hotel am Moosehead Lake verbringen und von dort Ausflüge mit dem Automobil unternehmen. Die junge Lemen-Familie sollte von Ohio aus direkt zum See fahren und die Baileys dort treffen.
Die Reise mit dem Auto von New York bis zum Hotel beim Kineo Mountain war beschwerlich und dauerte zwei Tage. Mr. Bailey liess seinen Chauffeur, Einar Larsen, durch Connecticut, Rhode Island und Massachusetts möglichst der Küste entlang fahren, aber diese Idee hatten viele, die in die Sommerfrische fahren wollten. Die Strassen waren verstopft, an manchen Stellen verschlimmerte sich die Lage noch durch Unfälle, so dass kurzfristig beschlossen wurde, in Portland zu übernachten. Elsie war total erschöpft von der Fahrt und wollte nichts mehr essen, also steckte sie Julia in dem kleinen Hotel ins Bett. Die Kleine schlief schon beim Ausziehen ein und Julia konnte schon bald wieder nach unten in den Esssaal gehen. Aber auch die Erwachsenen waren alle müde. Ausserdem wollte man früh aufstehen am nächsten Morgen, um die letzten fünf oder sechs Stunden Fahrt bis zum See unter die Räder zu nehmen, bevor es wieder heiss würde. Also verteilten sich alle auf ihre Zimmer. Julia teilte ihres mit Mathilde.
Sie liessen das Fenster weit offen und verstopften ein Loch im Moskitonetz mit einem Taschentuch. Julia lag auf dem Bett und schaute ihrer Schwester zu, die sich in der Sitzbadewanne mit kaltem Wasser wusch. Es war noch immer sehr warm. In einem Baum vor ihrem Fenster lärmte eine Zikade.
"Wie findest du eigentlich Einar?", fragte sie Mathilde, die gerade dabei war, sich unter den Armen einzuseifen.
Ihre Schwester drehte den Kopf sah sie prüfend an. Offenbar wollte sie an Julias Gesicht ablesen, wie die Frage gemeint war.
"Du willst wissen, wie es bei mir mit den Kerlen steht, stimmt's?", fragte sie zurück. "Jetzt, wo wir erwachsen sind, kannst du mich so etwas auch direkt fragen, oder?"
Jetzt musste Julia nachsehen, wie sie diese Antwort zu verstehen hatte. Sie drehte sich auf den Bauch und stützte das Kinn auf die Hand auf. Mathilde schaute weder verärgert noch spöttisch, sie sah einfach hinüber zu ihr.
Julia wurde rot und räusperte sich.
"Ja, stimmt. Also: wie hast du es mit den Männern? Du darfst mich dann auch fragen."
Mathilde nickte, stieg dann aus der Wanne, hüllte sich in ein grosses Badetuch, das sie neben ihrer linken Brust durch eine geschickte Verdrehung befestigte und spülte mit der Brause die Wanne aus. Dann legte sie sich auf das andere Bett neben Julia und begann zu erzählen.
Sie hatte in ihrer Zeit bei den Slades auf Long Island eine Affäre mit einem jungen Mann gehabt. Seine Mutter war Französin und der Vater Kanadier. Er hiess Antoine Lavoie, nannte sich Tony, und arbeitete als Fahrer für eine Eisenwarenhandlung. Sie hatte ihn ein paar Mal gesehen und mit ihm gesprochen, als Mr. Slade das Dach des Hauses neu decken liess und Tony die neuen Bleche geliefert und die alten abtransportiert habe. Dann hätten sie sich für kleine Ausflüge und Cinemabesuche an Sonntagen verabredet. Und schliesslich habe sie seinem Drängen nachgegeben und sei ihm ein paar Mal in sein Zimmer gefolgt. Das erste Mal habe sie ihn trösten müssen, weil er viel zu aufgeregt war und sich sein Samen auf ihre Beine ergossen habe. Bei nächsten Mal habe sie sich ganz still gehalten. Es habe ein bisschen weh gemacht, als er in sie eingedrungen sei, aber nicht schlimm. Tony war immer geduldiger geworden, hatte sie auch gestreichelt und geküsst, und so war es auch für sie zu einem lustvollen Vergnügen geworden. Aber ihre Angst, schwanger zu werden, wuchs von Tag zu Tag. Dann fiel einmal ihre Regel aus und sie wäre fast gestorben vor Kummer. Aber zum Glück sei es ein Fehlalarm gewesen. Nach diesem Erlebnis wollte sie aber Schluss machen mit Tony. Das sei das Mühsamste gewesen. Er wollte es nicht einsehen und sei ihr eine Zeit lang Tag und Nacht gefolgt. Schliesslich aber habe das aufgehört und bald darauf habe sie ihn mit einer andern gesehen.
Julia hatte ihr atemlos zugehört. Als jetzt eine Pause entstand, fragte sie:
"Hast du ihn denn nicht gern gehabt?"
"Doch schon, irgendwie. Er sieht gut aus und ist ein lieber Kerl. Schnell mit sich zufrieden allerdings, das würde mich bald ärgern, wenn ich mit ihm leben müsste. Und wenn andere Männer dabei waren, behandelte er mich wie Luft. Aber ich wollte halt wissen, wie es ist mit einem Mann. Ich bin jetzt siebenundzwanzig, Julia. Ich wollte es hinter mich bringen, glaube ich. Aber ich denke nicht, dass ich je heiraten werde."
Das Gespräch in jener heissen Sommernacht beschäftigte Julia während der ganzen Zeit in Maine. Manche der Sätze, die Mathilde auf Patois geäussert hatte, drehten ihr im Kopf. Ihre Schwester hatte sie nicht ausgefragt über ihre Erfahrungen mit Männern. Was damals in New Jersey passiert war mit Joseph, dem Butler der Leslies, hatte sie ihr einmal kurz berichtet. Seither hatte sie weder eine Gelegenheit noch das Bedürfnis gehabt, einen Mann kennenzulernen. Mit dem Chauffeur eine Liebschaft anzufangen wäre ein Leichtes gewesen. Er war ein hübscher Bursche, und sie hatten einen ähnlichen Sinn für Humor. Es war offensichtlich, dass auch sie ihm gefiel. Aber sie hatte im Umgang mit ihm gemerkt, wie schwer es ihr fiel, einen gleich alten Mann ernst zu nehmen. Das schien ihr keine gute Voraussetzung für etwas Dauerhaftes.
Sie waren viel in der freien Natur. Man fuhr in Kanus rund um den Kineo Mountain, picknickte in den Birkenwäldern und kletterte auf den rötlichen Felsen der Insel umher. Elsie und ihr Cousin Ted waren fast genau gleich alt und verstanden sich so gut, dass Julia nicht viel zu tun hatte mit ihrem Schützling. Mathilde sorgte für alles, wenn eine Exkursion geplant war. Sie kaufte ein, bereitete Salate zu, steckte das Grillfleisch zwischen zerhacktes Eis und versorgte es in Boxen, kühlte auf ähnliche Weise die Getränke. Sie lud Decken, Körbe, Zeltplanen und Anfeuerholz ins Auto, ebenso die Koffer mit dem Geschirr und Besteck. Julia staunte, wie zielstrebig und geschickt ihre Schwester dabei vorging, und wie stark sie körperlich war. Sie trug ohne mit der Wimper zu zucken Gewichte umher, unter denen die Männer stöhnten. Mathilde, lai ptéte, wie man sie in ihrer Kindheit genannte hatte, war zu Julias Stütze geworden. In ihrer Nähe fühlte sie sich sicher. Nichts konnte ihr passieren, wenn Mathilde da war, so schien ihr.

So war es immer noch im späten Herbst, ein Jahr später, als sie nach ihrem Besuch in Cornol nach Amerika zurückkehrten. Im Gepäck brachten sie ein ganzes Bündel von Fotografien mit, auf denen glückliche Momente des heimatlichen Familienlebens festgehalten waren. Am liebsten war Julia ein Gruppenbild mit Maman im Zentrum. Vor ihrer Ankunft hatte sie sich vor dem Anblick ihrer Mutter gefürchtet, weil sie dachte, diese könnte sich wegen Papas Tod in eine der geistergleichen Witwengestalten verwandeln, wie man sie im Dorf antraf. Es war aber ganz anders gekommen. Auf dem Bild sah man dies so eindrucksvoll, dass sie es immer wieder anschauen musste. Ihre Mutter sass da als starkes, stolzes Oberhaupt ihrer rotte, die sie um sich geschart hatte. Die Augen etwas zusammengekniffen, dazu ein leises Lächeln und ein Ausdruck, der sagte: "Uns braucht man nichts vorzumachen. Schaut her, das sind wir, die Chiquet-Crétins. In Amerika erfolgreich, aber auch hier als Bauern und Beamte. Und für den Weiterbestand der Familie ist gesorgt!"
Hinter ihr stehen in einer Reihe die Erwachsenen. Links der Älteste, Jean Baptiste, im Anzug mit Weste, Stehkragen und Krawatte. Die Haare kurz geschnitten, ein Schnauzbart über dem lächelnden Mund. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, streckt er ein ansetzendes Beamtenbäuchlein nach vorne. Er sieht stolz aus. Drei seiner Söhne hat er mitgebracht, der vierte ist erst ein paar Monate alt und mit der Mutter zu Hause geblieben. Auf der anderen Seite steht Alcide, für den sonntäglichen Kirchenbesuch und die anschliessende Fotografiererei in einen seiner eleganten Anzüge geschlüpft. Dieser schlottert etwas um seine mageren Schultern. Die Haare sind auch bei ihm kurz geschnitten, das Gesicht ist hager und von der Sonne verbrannt. Aber auch er sieht stolz aus, hält die Arme locker verschränkt. Dazwischen steht sie selber in schwarzer Bluse und Mathilde in hellem, kariertem Kleid mit einem modisch geschnittenen, grossen Kragen. Mrs. Bailey hatte es für sie ausgesucht im letzten Sommer. Und in der Mitte zwischen ihnen schliesslich Célina, die so offensichtlich glücklich Verheiratete, deren Mann die Kamera bedient hatte. Ihre Tochter, Julias Nichte Marianne, sitzt neben ihrer Grossmutter. Sie war knapp zwei Jahre jünger als Elsie Bailey. Julia sei schon völlig vernarrt in sie, hatte Mathilde festgestellt. Und dann Jean Baptistes Buben, sechs, fünf und drei Jahre alt. Jean Baptiste Junior, der Älteste, blickt wegen dem hellen Sonnenlicht etwas verkniffen in die Kamera. Dann Pierre, auch eher skeptisch drein schauend. Er ist noch immer daran, den Mangel aufzuholen, den er während der Spanischen Grippe erlitten hatte. Als seine Mutter im Spital lag und ihn nicht stillen konnte. Er sieht ein bisschen so aus, als sei er zu früh auf die Welt gekommen und wird von allen dazu gedrängt, viel Milch zu trinken. Und schliesslich noch der jüngste auf dem Bild, Alcide Junior. Ein Lausbub, an dem der Onkel und Namensvetter seinen Spass hat. Joséphine war nicht auf dem Bild. Sie hatte die Familie schon im letzten Jahr besucht und war ein gutes Vierteljahr in Cornol geblieben, so lange, bis sie sicher war, dass Alcide und Maman alleine zurecht kamen. Célinas doch recht häufige Besuche hatten dabei wenig gezählt, wie diese etwas beleidigt feststellte.
Alcide hatte in der Zwischenzeit mehrere Grundstücke dazu gekauft, die er nicht alle selber bewirtschaftete. Drei bis vier Kühe standen auf den Weiden, im Koben hinter dem Haus grunzten ein paar Schweine, dazu kamen die Hühner und Kaninchen. Am meisten zu tun gab die Beschaffung des Heus, und von Sommer bis Herbst die Obstbäume. Kartoffeln und Gemüse waren nur für den Eigenbedarf. Aber die Geschwister fragten sich, und dann auch ihn, ob er sich nicht zuviel zumute. Aber er lachte nur über ihre Sorgen. Sein Gehör war noch etwas schlechter geworden.