Samstag, 11. September 2021

Die Chiquet Sisters

So it's Haaaaarding, lead the G. O. P.
Haaaaarding, on to victory
We're here to make a fuss
Warren Harding, you're the man for us!


Das war nicht gerade das Lied, welches Mrs. Bailey am liebsten hörte von ihrer Tochter, aber Elsie mochte es eben und summte die Melodie beim Spielen vor sich hin, oder trällerte es auch zwischendurch laut und tanzte dazu durch die Wohnung, wenn Daddy ihr dabei belustigt zusah oder sich gar an den Flügel setzte und sie begleitete. Dann aber spätestens schritt die Mutter ein, weil sie nicht dafür war, dass man der kleinen Miss ihren Widerspruchsgeist durchgehen lasse, der sich seit dem Besuch des Kindergartens deutlich verstärkt hatte. Ihrer Meinung nach war Elsies hervortretendes Bestreben, die Erwachsenen mit allerlei Kunststücken und Spässen zu unterhalten, eher zurückzubinden durch eine nüchterne Begegnungsweise als es durch Applaus noch anzustacheln. Aber das war eine Auseinandersetzung zwischen Elsies Eltern, in der sie weder zu einem Ende kommen noch sich je einigen konnten. Mathilde wollte Julia daran erinnern, dass Maman und Papa ähnlich unterschiedlich auf ihre, Julias, Clownerien reagiert hätten, als sie noch ein Kind war. Papa habe seine helle Freude gehabt, wenn sie den Affen machte, wie es die Mutter tadelnd genannt habe. Julia aber behauptete, nichts mehr davon zu wissen. Dass nun Warren G. Harding nach einem überwältigenden Wahlsieg mit grossem Pomp vereidigt werden und ins Weisse Haus einziehen sollte, entzweite die Herrschaften inzwischen nicht mehr. Mrs. Bailey hatte zwar auf das demokratische Gespann gesetzt und James M. Cox gewählt, bei der ersten Wahl, an der sie sich beteiligen durfte, aber dies war mehr aus Prinzip geschehen denn aus dem Glauben an die Fähigkeiten ihres Kandidaten. Wenn schon, dann hätte der als Vizepräsident aufgestellte Franklin D. Roosevelt das Zeug für das Präsidentenamt mitgebracht, fand sie. Nun war es eben so wie es war. Ihre Mutter, Mrs. Lemen, haderte mehr mit Hardings Wahl. Sie sah die Gefahr, Amerika könnte sich nach innen spalten in unversöhnliche Lager und nach aussen vom Rest der Welt abschotten. Und sie befürchtete, der rücksichtslose Kapitalismus des Guilded Age könnte wieder zu wuchern beginnen. Ausserdem war sie voller Verachtung für die in ihren Augen lächerliche Art und Weise, wie sich Stars vom Broadway und Sternchen aus der Welt der Neureichen in den Wahlkampf eingemischt hätten, gegen Vorteile und Bezahlung, wie sie schnaubte.
"Dazu gehört auch dieser Schmalzknochen Al Jolson, dessen Lieder du spielst, mein lieber Dewey. Und deine Tochter singt sie auch noch!"
Solche Bemerkungen waren aber von Lachen begleitet und gefolgt von freundlichem gegenseitigem Spott, wie Julia beruhigt feststellte. Sie nahm sich vor, Elsies Produktionen in nächster Zeit mit Zurückhaltung zu begegnen.
Sie war auch weiterhin zuständig für die Betreuung des Mädchens, nachdem ihre Schwester als zusätzliche Hilfskraft angestellt worden war. Es hatte sich herausgestellt, dass die Köchin, die nun nach ihrer Heirat Mrs. John Sullivan hiess, wieder ein paar Tage in der Woche arbeiten wollte, so dass Mathilde nicht jeden Tag in der Küche stehen musste. Mrs. Lemen war jetzt öfter für eine Woche oder länger zu Besuch und beanspruchte Mathilde dann jeweils mit grosser Selbstverständlichkeit als persönliche maid für sich. Einmal nahm sie sie sogar mit nach Denver, um in ihrem Haus wieder einmal richtig sauber zu machen, wie sie sagte. Mathilde zeigte sich bei ihrer Rückkehr beeindruckt von der rosaroten Villa, die geräumig sei, dabei sehr praktisch und modern eingerichtet. Und obwohl das Haus mitten im Zentrum der Stadt stehe, wirke die Umgebung wie ein Park. Jetzt, wo Mathilde wieder zusammen mit Julia im Hause war, gingen Mrs. Lemen und dann auch Mrs Bailey dazu über, sie Julia und Mathilda zu nennen. Als Begründung gaben sie an, es sei mühsam, die Chiquet Sisters auseinanderzuhalten, wenn diese beide mit Miss Chiquet angesprochen würden. Aber es war offensichtlich, dass auch die Vertrautheit eine Rolle spielte, die sich mittlerweile zwischen ihnen eingestellt hatte.
Julia hatte jeden Morgen Elsie in den Kindergarten zu bringen. Den Weg zu Fuss dorthin konnte man sich sehr einfach merken, denn er führte eine Viertelstunde der Siebenundsiebzigsten entlang in Richtung East River, über fünf Blocks geradeaus. Aber es war auch klar, dass man Elsie nicht alleine gehen lassen konnte, denn gleich am Anfang musste die Park Avenue überquert werden, was auch für Julia immer mit Unruhe verbunden war. Die Automobile kamen schnell und nahmen wenig Rücksicht auf Fussgänger. Und der Motorenlärm dröhnte so laut, dass man sich nur mit Mühe verständigen konnte. Am kniffligsten war es, wenn ein Chauffeur auf der Spur anhielt, die dem Bürgersteig am nächsten war. Diese seltene höfliche Geste brachte die Fussgänger erst recht in Gefahr, weil sie um das stehende Fahrzeug herum äugen und nach einer Lücke im Strom der vorbei brausenden Autos Ausschau halten mussten. Elsie beklagte sich dann jedesmal über den eisernen Griff, mit dem sie Julia festhielt. Waren sie aber einmal drüben, dann mussten sie an den Bettlern vorbei, die sich jeden Tag vor dem Deutschen Hospital einfanden. Die Kleine hätte am liebsten allen etwas in ihre Büchsen und Hüte getan, weil sie ihr so leid taten. Man einigte sich darauf, dass sie jeweils am Montag einem von ihnen eine Centmünze geben durfte. Es kamen alle dran und sie merkte sich die Reihenfolge genau. Bald wurde sie höflich begrüsst und die Gabe verdankt.
"Ah, here comes the little Miss! Thank you, Miss Elsie, have a nice day! God bless you!"
Es konnte auch vorkommen, dass an einem Tag plötzlich kein einziger von ihnen mehr da war. Einmal erlebten sie mit, weshalb dies so war. Drei Polizeiautos standen vor dem Hospital und die Uniformierten verteilten die Bettler gerade auf die Bänke der Fahrzeuge. Dann wurden die Türen zugeschlagen und die Wagen brausten davon. Ein paar Tage später waren wieder alle Bettler da.
Ohne dass darüber gesprochen wurde, fanden es Julia und Elsie besser, nichts davon zu Hause zu erzählen. Auf dem Weg kamen sie auch an der Lenox School vorbei, in die Elsie in einem Jahr gehen sollte. Voller Bewunderung musterte sie die grossen Mädchen in ihren Schuluniformen, die in kleinen Gruppen vor dem Portal standen oder aus den Autos ihrer Eltern ausstiegen. Wenn sie selber bei ihrer Schule angekommen war, rannte sie sofort los, um Freundinnen zu begrüssen, mit denen sie dann, ohne sich noch einmal umzudrehen, im Gebäude verschwand. Wenn sie aber abends abgeholt wurde, freute sie sich sichtlich, Julia unter den wartenden Erwachsenen zu entdecken. Auf dem ganzen Heimweg erzählte sie dann, wer heute mit wem Streit gehabt und sich wieder versöhnt habe, wer etwas mit ihr geteilt hatte oder dumm und gemein zu ihr gewesen war. Ihr etwas darüber zu entlocken, was sie gespielt oder Neues gelernt hatte, war allerdings schwierig. Am ehesten gelang es Julia, sie zum Singen der Lieder zu bewegen, die sie im Kindergarten lernte. Bis sie zu Hause ankamen, konnten sie diese manchmal gemeinsam singen.
Mary McD kam durch die Anwesenheit von Mathilde in Bedrängnis, das hatte man voraussehen können. Sie war schon vorher nicht immer zuverlässig gewesen, weil es einfach viel zu viele Dinge gab, die ihr im Kopf herumschwirrten. Sie schwatzte gerne und viel. Es war erstaunlich, was die junge Frau immer zu erzählen hatte über das, was in der Stadt neu und aufregend war. Sie bezog, mit etwas Verspätung, ihre Informationen aus den Town Topics und ähnlichen Zeitschriften, die sie von einer Freundin bekam, deren Dienstherrin, eine nouveau riche, gleich mehrere abonniert hatte. Julia konnte sich die Namen der Prominenten nicht merken, deren Parties, geschäftliche Abenteuer und Affären, ja sogar deren Autos, Kleider und Frisuren hier verhandelt wurden. Bei Mary McD führte die intensive Beschäftigung mit solchen Neuigkeiten aus dem privaten Leben von Berühmtheiten dazu, dass sie Dinge vergass, die ihre Arbeit und ihre unmittelbare Umgebung betrafen. Julia bügelte ihre Fehler aus, wo es ging und wenn es sich machen liess, auch so, dass Mrs. Bailey und Mrs. Lemen nichts davon mitbekamen. Mathilde war da nüchterner. Sie fand, Mary McD sei selber schuld, wenn sie auf Dauer ihre Stellung durch mangelnde Aufmerksamkeit gefährde. Sie war so gewissenhaft bei der Sache, dass selbst Julia sich anstrengen musste um mitzuhalten. Ihre jüngere Schwester erschien ihr manchmal erwachsener als sie selber.
Mary McD's Weitergabe von aufregenden Neuigkeiten war es zu verdanken, dass Julia den Dienstherrn in grosses Erstaunen versetzen konnte, weil sie über ein Ereignis Bescheid wusste, das ihn in hohem Masse interessierte. Eines Morgens las er aufgeregt einen Zeitungsartikel über den bevorstehenden Boxkampf in Jersey City vor, da wurde er von seiner Frau mit Fragen zum Tagesablauf unterbrochen. Als er wieder auf sein Thema zurückkommen wollte, fiel ihm der Name des französischen Gegners nicht mehr ein, gegen den Dempsey boxen sollte. Julia, die gerade dabei war ihm Kaffee nachzuschenken, stach der Hafer.
"Sie meinen Georges Carpentier, Sir", sagte sie, wie wenn nichts dabei wäre. "Man sagt, dies solle der Kampf des Jahrhunderts werden."
Mr. Bailey brachte für einige Sekunden seinen Mund nicht mehr zu. Dann brach er in Lachen aus und rief anerkennend aus:
"Da sieh mal einer an! Sie interessieren sich fürs Boxen, Miss Chiquet?"
Julia verstand überhaupt nichts vom Sport, schon gar nichts vom Faustkampf, und es interessierte sie auch nicht. Trotzdem erzählte ihr Mr. Bailey nun regelmässig über die gewaltigen Vorbereitungen auf den Grossanlass, zu welchem er sich zusammen mit zwei Schulfreunden Tickets gekauft hatte. Weder seine Frau noch die Schwiegermutter wollten davon hören, und auch von Julia wusste er im Grunde, dass sie nicht begeistert war von dem Thema. Aber irgend jemand musste ihm einfach zuhören.
"Tex Rickard lässt eine Arena bauen für achtzigtausend Zuschauer, stellen Sie sich vor! Der Madison Square Garden war ihm zu klein, und dann hat sich auch noch mit der Stadtverwaltung verkracht, also ist er nach Jersey City ausgewichen. Er geht ein ganz schönes Risiko ein. Eine Viertelmillion Dollars, die er nur schon für den Bau ausgeliehen hat, muss er durch den Kampf wieder hereinholen. Kommen da noch die Gelder dazu, die er den beiden Kontrahenten vertraglich zugesichert hat. Verrückt ist das!"
Julia fand das auch. Achtzigtausend Leute rund um das kleine Viereck, in dem geboxt wurde, konnte sie sich gar nicht vorstellen. Sie hatte einmal in ihrer Jugend einen Boxkampf gesehen, auf freiem Feld. Die spärlichen Zuschauer gingen sich während des Kampfes Bier und Würste holen, und als die Gesichter der Boxer anschwollen und Blut zu fliessen begann, blieben nur noch Buben und Männer übrig, die das sehen wollten.
"Dempsey wird als der bad guy aufgebaut. Er hat einen beeindruckenden punch, dem Franzosen ist er körperlich sicher überlegen. Aber er hat sich während des Grossen Kriegs unpatriotisch verhalten. Hat sich vor der Armee gedrückt."
Wie Alcide, dachte Julia. Aber die Schweiz hatte sich nicht am Krieg beteiligt, also war das wohl etwa anderes. Sie sagte nichts.
"Carpentier dagegen ist der Gute. Er ist Weltmeister im Halbschwergewicht. Ein eleganter Boxer, heisst es. Wir werden sehen."
Der Kampf schien dann allerdings eine grosse Enttäuschung gewesen zu sein für Mr. Bailey und seine Freunde, entsprechend klein war sein Bedürfnis danach, noch davon zu sprechen. Julia war ganz froh darüber, denn es war ihr unangenehm gewesen, vom Dienstherrn auf eine Weise beansprucht zu werden, die sicher seiner Frau nicht nur recht war. Mary McD beschäftigte sich dafür noch länger mit Bildern und zitierten Äusserungen von Georges Carpentier, der noch einige Zeit in New York blieb und offenbar in der Schickeria herumgereicht wurde, Interviews gewährte und sich auf allerlei Wohltätigkeitsveranstaltungen zeigte. Mary McD fand den Franzosen sehr süss, worüber wiederum Mathilde nur den Kopf schütteln konnte.
Julia war trotz der Geschwätzigkeit ihrer jüngeren Kollegin froh um solche Ablenkung, denn wenn sie zu viel Zeit hatte um nachzudenken, verfiel sie in Melancholie über den Tod ihres Vaters. Trost fand sie in den Besuchen der nahe gelegenen St. Jean Baptiste Church, am Sonntag zum Hochamt oder auch zwischendurch an Wochentagen zur Frühmesse. Sie liebte diesen Kirchenraum, der bunt und reichlich mit Vergoldungen verziert war. Wenn draussen die Sonne schien, zauberten die farbigen Fenster Reflexe in die schattigen Nebenkapellen, so dass es ihr leicht fiel, wieder Zuversicht zu gewinnen. Beim Eingang stand ein wuchtiges Gestell aus Eisen. Da brannten, auf treppenartig ansteigenden Reihen, die Kerzen, für die man einen Cent in den Schlitz stecken musste. Sie zündete jedes Mal zwei an, eine für Papa, die andere für alle andern, die sie in ihren Gebeten der Jungfrau Maria und dem Heiligen Jean Baptiste zum Schutz empfahl. Dass dieser Heilige, nach dem ihr Vater seinen Taufnamen bekommen hatte, der Patron der Kirche in ihrer nächsten Nähe war, betrachtete sie als Fügung und gutes Omen.
Sie und Mathilde hatten je ein eigenes Zimmer in der neuen Wohnung, so konnte sie ungestört auf der Kommode wieder ihren kleinen Marienaltar einrichten. Natürlich sah ihre Schwester, was sie da aufgestellt hatte, denn sie besuchten einander ab und zu, um zu reden oder gemeinsam Briefe zu schrieben. Mathilde hielt nichts davon, sich an die Mutter Gottes und die Heiligen zu wenden, wenn man Sorgen hatte. Aber sie hätte ihre Schwester nie kritisiert deswegen. Auch Mrs. Bailey sagte nichts zu Julias Einrichtung, nachdem sie sie einmal gesehen hatte. Sie gab Julia aber einige Tage danach die farbige Abbildung eines Marienbildes aus dem Metropolitan Museum. Und obwohl die Dienstherrin eigentlich nichts dazu sagte ausser dem Namen des Malers, den Julia gleich wieder vergass, empfand sie es als leise Kritik an ihrem Geschmack für süssliche Bilder. Die Madonna, die sie da bekommen hatte, wirkte steif und streng. Das Jesuskind stand auf ihrem Schoss und sah eher aus wie die verkleinerte Version eines Erwachsenen als wie ein Kleinkind. Trotzdem stellte Julia das Bild zu den anderen.

Diesen Sommer hatten die Baileys zwar wieder vor nach Maine fahren, diesmal aber nicht einfach in Bar Harbour in einem Sommerhaus zu verweilen, sondern in den Bergen und an den Seen im Norden herumzureisen. Die Initiative dazu ging von Mrs. Lemen aus, die zu einem Teil der Reise auch gleich ihren Sohn Lewis, den zwei Jahre jüngeren Bruder von Mrs. Bailey, mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn einlud. Man wollte eine Woche gemeinsam in einem grossen Hotel am Moosehead Lake verbringen und von dort Ausflüge mit dem Automobil unternehmen. Die junge Lemen-Familie sollte von Ohio aus direkt zum See fahren und die Baileys dort treffen.
Die Reise mit dem Auto von New York bis zum Hotel beim Kineo Mountain war beschwerlich und dauerte zwei Tage. Mr. Bailey liess seinen Chauffeur, Einar Larsen, durch Connecticut, Rhode Island und Massachusetts möglichst der Küste entlang fahren, aber diese Idee hatten viele, die in die Sommerfrische fahren wollten. Die Strassen waren verstopft, an manchen Stellen verschlimmerte sich die Lage noch durch Unfälle, so dass kurzfristig beschlossen wurde, in Portland zu übernachten. Elsie war total erschöpft von der Fahrt und wollte nichts mehr essen, also steckte sie Julia in dem kleinen Hotel ins Bett. Die Kleine schlief schon beim Ausziehen ein und Julia konnte schon bald wieder nach unten in den Esssaal gehen. Aber auch die Erwachsenen waren alle müde. Ausserdem wollte man früh aufstehen am nächsten Morgen, um die letzten fünf oder sechs Stunden Fahrt bis zum See unter die Räder zu nehmen, bevor es wieder heiss würde. Also verteilten sich alle auf ihre Zimmer. Julia teilte ihres mit Mathilde.
Sie liessen das Fenster weit offen und verstopften ein Loch im Moskitonetz mit einem Taschentuch. Julia lag auf dem Bett und schaute ihrer Schwester zu, die sich in der Sitzbadewanne mit kaltem Wasser wusch. Es war noch immer sehr warm. In einem Baum vor ihrem Fenster lärmte eine Zikade.
"Wie findest du eigentlich Einar?", fragte sie Mathilde, die gerade dabei war, sich unter den Armen einzuseifen.
Ihre Schwester drehte den Kopf sah sie prüfend an. Offenbar wollte sie an Julias Gesicht ablesen, wie die Frage gemeint war.
"Du willst wissen, wie es bei mir mit den Kerlen steht, stimmt's?", fragte sie zurück. "Jetzt, wo wir erwachsen sind, kannst du mich so etwas auch direkt fragen, oder?"
Jetzt musste Julia nachsehen, wie sie diese Antwort zu verstehen hatte. Sie drehte sich auf den Bauch und stützte das Kinn auf die Hand auf. Mathilde schaute weder verärgert noch spöttisch, sie sah einfach hinüber zu ihr.
Julia wurde rot und räusperte sich.
"Ja, stimmt. Also: wie hast du es mit den Männern? Du darfst mich dann auch fragen."
Mathilde nickte, stieg dann aus der Wanne, hüllte sich in ein grosses Badetuch, das sie neben ihrer linken Brust durch eine geschickte Verdrehung befestigte und spülte mit der Brause die Wanne aus. Dann legte sie sich auf das andere Bett neben Julia und begann zu erzählen.
Sie hatte in ihrer Zeit bei den Slades auf Long Island eine Affäre mit einem jungen Mann gehabt. Seine Mutter war Französin und der Vater Kanadier. Er hiess Antoine Lavoie, nannte sich Tony, und arbeitete als Fahrer für eine Eisenwarenhandlung. Sie hatte ihn ein paar Mal gesehen und mit ihm gesprochen, als Mr. Slade das Dach des Hauses neu decken liess und Tony die neuen Bleche geliefert und die alten abtransportiert habe. Dann hätten sie sich für kleine Ausflüge und Cinemabesuche an Sonntagen verabredet. Und schliesslich habe sie seinem Drängen nachgegeben und sei ihm ein paar Mal in sein Zimmer gefolgt. Das erste Mal habe sie ihn trösten müssen, weil er viel zu aufgeregt war und sich sein Samen auf ihre Beine ergossen habe. Bei nächsten Mal habe sie sich ganz still gehalten. Es habe ein bisschen weh gemacht, als er in sie eingedrungen sei, aber nicht schlimm. Tony war immer geduldiger geworden, hatte sie auch gestreichelt und geküsst, und so war es auch für sie zu einem lustvollen Vergnügen geworden. Aber ihre Angst, schwanger zu werden, wuchs von Tag zu Tag. Dann fiel einmal ihre Regel aus und sie wäre fast gestorben vor Kummer. Aber zum Glück sei es ein Fehlalarm gewesen. Nach diesem Erlebnis wollte sie aber Schluss machen mit Tony. Das sei das Mühsamste gewesen. Er wollte es nicht einsehen und sei ihr eine Zeit lang Tag und Nacht gefolgt. Schliesslich aber habe das aufgehört und bald darauf habe sie ihn mit einer andern gesehen.
Julia hatte ihr atemlos zugehört. Als jetzt eine Pause entstand, fragte sie:
"Hast du ihn denn nicht gern gehabt?"
"Doch schon, irgendwie. Er sieht gut aus und ist ein lieber Kerl. Schnell mit sich zufrieden allerdings, das würde mich bald ärgern, wenn ich mit ihm leben müsste. Und wenn andere Männer dabei waren, behandelte er mich wie Luft. Aber ich wollte halt wissen, wie es ist mit einem Mann. Ich bin jetzt siebenundzwanzig, Julia. Ich wollte es hinter mich bringen, glaube ich. Aber ich denke nicht, dass ich je heiraten werde."
Das Gespräch in jener heissen Sommernacht beschäftigte Julia während der ganzen Zeit in Maine. Manche der Sätze, die Mathilde auf Patois geäussert hatte, drehten ihr im Kopf. Ihre Schwester hatte sie nicht ausgefragt über ihre Erfahrungen mit Männern. Was damals in New Jersey passiert war mit Joseph, dem Butler der Leslies, hatte sie ihr einmal kurz berichtet. Seither hatte sie weder eine Gelegenheit noch das Bedürfnis gehabt, einen Mann kennenzulernen. Mit dem Chauffeur eine Liebschaft anzufangen wäre ein Leichtes gewesen. Er war ein hübscher Bursche, und sie hatten einen ähnlichen Sinn für Humor. Es war offensichtlich, dass auch sie ihm gefiel. Aber sie hatte im Umgang mit ihm gemerkt, wie schwer es ihr fiel, einen gleich alten Mann ernst zu nehmen. Das schien ihr keine gute Voraussetzung für etwas Dauerhaftes.
Sie waren viel in der freien Natur. Man fuhr in Kanus rund um den Kineo Mountain, picknickte in den Birkenwäldern und kletterte auf den rötlichen Felsen der Insel umher. Elsie und ihr Cousin Ted waren fast genau gleich alt und verstanden sich so gut, dass Julia nicht viel zu tun hatte mit ihrem Schützling. Mathilde sorgte für alles, wenn eine Exkursion geplant war. Sie kaufte ein, bereitete Salate zu, steckte das Grillfleisch zwischen zerhacktes Eis und versorgte es in Boxen, kühlte auf ähnliche Weise die Getränke. Sie lud Decken, Körbe, Zeltplanen und Anfeuerholz ins Auto, ebenso die Koffer mit dem Geschirr und Besteck. Julia staunte, wie zielstrebig und geschickt ihre Schwester dabei vorging, und wie stark sie körperlich war. Sie trug ohne mit der Wimper zu zucken Gewichte umher, unter denen die Männer stöhnten. Mathilde, lai ptéte, wie man sie in ihrer Kindheit genannte hatte, war zu Julias Stütze geworden. In ihrer Nähe fühlte sie sich sicher. Nichts konnte ihr passieren, wenn Mathilde da war, so schien ihr.

So war es immer noch im späten Herbst, ein Jahr später, als sie nach ihrem Besuch in Cornol nach Amerika zurückkehrten. Im Gepäck brachten sie ein ganzes Bündel von Fotografien mit, auf denen glückliche Momente des heimatlichen Familienlebens festgehalten waren. Am liebsten war Julia ein Gruppenbild mit Maman im Zentrum. Vor ihrer Ankunft hatte sie sich vor dem Anblick ihrer Mutter gefürchtet, weil sie dachte, diese könnte sich wegen Papas Tod in eine der geistergleichen Witwengestalten verwandeln, wie man sie im Dorf antraf. Es war aber ganz anders gekommen. Auf dem Bild sah man dies so eindrucksvoll, dass sie es immer wieder anschauen musste. Ihre Mutter sass da als starkes, stolzes Oberhaupt ihrer rotte, die sie um sich geschart hatte. Die Augen etwas zusammengekniffen, dazu ein leises Lächeln und ein Ausdruck, der sagte: "Uns braucht man nichts vorzumachen. Schaut her, das sind wir, die Chiquet-Crétins. In Amerika erfolgreich, aber auch hier als Bauern und Beamte. Und für den Weiterbestand der Familie ist gesorgt!"
Hinter ihr stehen in einer Reihe die Erwachsenen. Links der Älteste, Jean Baptiste, im Anzug mit Weste, Stehkragen und Krawatte. Die Haare kurz geschnitten, ein Schnauzbart über dem lächelnden Mund. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, streckt er ein ansetzendes Beamtenbäuchlein nach vorne. Er sieht stolz aus. Drei seiner Söhne hat er mitgebracht, der vierte ist erst ein paar Monate alt und mit der Mutter zu Hause geblieben. Auf der anderen Seite steht Alcide, für den sonntäglichen Kirchenbesuch und die anschliessende Fotografiererei in einen seiner eleganten Anzüge geschlüpft. Dieser schlottert etwas um seine mageren Schultern. Die Haare sind auch bei ihm kurz geschnitten, das Gesicht ist hager und von der Sonne verbrannt. Aber auch er sieht stolz aus, hält die Arme locker verschränkt. Dazwischen steht sie selber in schwarzer Bluse und Mathilde in hellem, kariertem Kleid mit einem modisch geschnittenen, grossen Kragen. Mrs. Bailey hatte es für sie ausgesucht im letzten Sommer. Und in der Mitte zwischen ihnen schliesslich Célina, die so offensichtlich glücklich Verheiratete, deren Mann die Kamera bedient hatte. Ihre Tochter, Julias Nichte Marianne, sitzt neben ihrer Grossmutter. Sie war knapp zwei Jahre jünger als Elsie Bailey. Julia sei schon völlig vernarrt in sie, hatte Mathilde festgestellt. Und dann Jean Baptistes Buben, sechs, fünf und drei Jahre alt. Jean Baptiste Junior, der Älteste, blickt wegen dem hellen Sonnenlicht etwas verkniffen in die Kamera. Dann Pierre, auch eher skeptisch drein schauend. Er ist noch immer daran, den Mangel aufzuholen, den er während der Spanischen Grippe erlitten hatte. Als seine Mutter im Spital lag und ihn nicht stillen konnte. Er sieht ein bisschen so aus, als sei er zu früh auf die Welt gekommen und wird von allen dazu gedrängt, viel Milch zu trinken. Und schliesslich noch der jüngste auf dem Bild, Alcide Junior. Ein Lausbub, an dem der Onkel und Namensvetter seinen Spass hat. Joséphine war nicht auf dem Bild. Sie hatte die Familie schon im letzten Jahr besucht und war ein gutes Vierteljahr in Cornol geblieben, so lange, bis sie sicher war, dass Alcide und Maman alleine zurecht kamen. Célinas doch recht häufige Besuche hatten dabei wenig gezählt, wie diese etwas beleidigt feststellte.
Alcide hatte in der Zwischenzeit mehrere Grundstücke dazu gekauft, die er nicht alle selber bewirtschaftete. Drei bis vier Kühe standen auf den Weiden, im Koben hinter dem Haus grunzten ein paar Schweine, dazu kamen die Hühner und Kaninchen. Am meisten zu tun gab die Beschaffung des Heus, und von Sommer bis Herbst die Obstbäume. Kartoffeln und Gemüse waren nur für den Eigenbedarf. Aber die Geschwister fragten sich, und dann auch ihn, ob er sich nicht zuviel zumute. Aber er lachte nur über ihre Sorgen. Sein Gehör war noch etwas schlechter geworden.

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