Montag, 30. März 2020

kaufen und haben


Ich hatte einen weissen Teddybären, mein Bruder einen braunen. Ich glaube nicht, dass ich meinen als Eisbären ansah, er war einfach weiss. Mir war bewusst, dass es bei der Schokolade umgekehrt war. Mein Bruder liebte weisse Schokolade, ich nicht, also bekam er die weissen und ich die braunen Osterhasen. Bären und Hasen waren Tiere, die man uns schenkte, die also uns gehörten. Aber ich musste lernen, dass ich in ganz verschiedener Weise über diese mir lieben und wichtigen Objekte verfügte. Der Teddybär war dauerhaft mein, niemand durfte ihn mir wegnehmen. Ich konnte ihn nachts im Bett haben und mit ihm kuscheln. Er roch gut, was aber meine Mutter nicht dran hinderte, ihn einmal zu waschen. Danach fühlte er sich anders an, viel struppiger, beinahe stachelig, und sein Duft war so fremd, dass er eine Zeit lang nicht mehr bei mir im Bett schlafen durfte. Es dauerte lange und kostete Überwindung, bis er wieder ganz mein war. Ganz anders war es bei den Schoggihasen. Die bekam man einmal im Jahr zu Ostern. Die Vorfreude war gross und aufregend, weil man zwar wusste, dass man wieder einen bekommen würde, aber niemals die genaue Form und die Grösse voraussehen konnte. Sobald man den Hasen hatte, zerrte es einen hin und her. Wann werde ich zum ersten Mal hineinbeissen? Wo soll ich beginnen? Mit dem Kopf und den Ohren, an denen am meisten dran ist, weil sie oft gefüllt sind, oder gerade diese Teile, die das Hasenförmige ausmachen, bis zuletzt aufsparen? So oder so, der Hase war dem baldigen Verschwinden preisgegeben, was seinem Besitz eine bittere Note beifügte, da konnte die Schokolade noch so süss duften. Es kam dazu, dass die Hasen der Geschwister vielleicht länger hielten. Vor allem die Schwester war eine Meisterin im Sparen und konnte noch Wochen nach Ostern Aufbewahrtes aus ihrem Nestlein zaubern, das sie dann genüsslich vor unseren Augen verzehrte. Spienzle sagten wir dem, und eigentlich galt es als unfair. Natürlich schauten wir auch genau darauf, wie gross die Hasen der andern waren. Gewisse Grössenunterschiede, entsprechend der Abstufung unserer Alter, fanden wir natürlich und in Ordnung. Anders als beim Teddybären, der als Geschenk einfach einmal da war, wurde einem bei den Schokoladeosterhasen bewusst, dass ein Kaufentscheid der Grossen vorauszusetzen war. Man sah erstens die zu Pyramiden aufgetürmten, in Zellophan eingepackten Hasen in den Selbstbedienungsläden, wo sie zum Missfallen der Eltern schon nach der Fasnacht, und überhaupt immer früher, auftauchten. Zweitens stellten wir fest, dass es nur uns Kinder freute, wie die Hasen Jahr für Jahr immer grösser wurden. Wenn man auf die fettesten Tiere zeigte, wurde einem sofort mitgeteilt, man bekäme auf keinen Fall so einen geschenkt. Es entspann sich ein subtiles Spiel des Abtastens einer beidseitig akzeptierten Grösse durch Vergleiche, mit den vermuteten Dimensionen der Hasen anderer Kinder, mit dem erinnerten Umfang unserer Hasen vom letzten Jahr, und so weiter. Am Ostermorgen, wenn wir nach dem Besuch der Mitternachtsmesse spät aufwachten, stand das Nestchen auf einem Stuhl neben dem Bett. Stand der Schoggihase ausserhalb, weil er nicht hineinpasste, dann hatte man etwas erreicht, einen kleinen Triumph kindlicher Verhandlungskunst.

Kleider waren für mich als kleiner Bub wie ein Schicksal. Sie waren vorhanden, und man musste sie anziehen. Wenn sie dreckig waren oder geflickt werden mussten, verschwanden sie eine Weile und andere traten an ihre Stelle. Bei manchen war man froh, wenn sie nicht da waren, auf andere verzichtete man nicht gerne, weil sie sich immer besser mit dem Körper verbunden hatten. Manchmal waren sie ähnlich verändert wie der Teddybär, wenn sie zurückkamen, steif und kratzbürstig, streng nach Waschmittel riechend. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich Kleider aussuchen durfte in einem Laden, oder zuhause aus dem Kasten. Die Mutter bestimmte, was man anzuziehen hatte und die Auswahl war wohl auch nicht sehr gross. Manche Sachen werde ich vom grösseren Bruder übernommen und ausgetragen haben. Manchmal wurde etwas Besonderes angeschafft. Zur Hochzeit einer Tante bekamen mein Bruder und ich schwarze Lackschuhe, oder besser Lackschühchen, denn da war ich noch sehr klein. Ausserdem zog man uns zu dem Anlass Gilets mit grünem Schottenmuster und dazu kleine schwarze Krawatten an. Ich trug alles mit Stolz, obwohl die Schuhe sehr hart waren und drückten. Ich hatte bei diesen Objekten nicht das Gefühl, sie gehörten mir. Zu meinen ersten Schlaghosen, die meine Mutter Jahre später dem Bruder und mir sehr überraschend kaufte, entwickelte ich aber ein Besitzgefühl. Ich wunderte mich darüber, dass ich plötzlich als einer der ersten unter meinen Klassenkameraden ein so auffällig modisches Kleidungsstück tragen durfte. Offenbar wollte meine Mutter, dass wir auf diese Weise aufflielen. Ich wurde nicht schlau daraus, aber die Hosen gefielen mir ausserordentlich. Sie schlugen, mit einer leichten Verzögerung, bei jedem Schritt gegen die Waden, und die kegelförmigen Röhren warf sich nach vorne, den beabsichtigten Gang vorausnehmend. Ich marschierte wohl die meiste Zeit mit gesenktem Kopf umher, weil ich meine Hosenschläge nicht aus den Augen lassen konnte, und suchte in Bustüren und Schaufenstern mein Spiegelbild. Das war zur gleichen Zeit, als manche Mädchen weisse Strumpfhosen trugen und ich mich für ihre Beine zu interessieren begann, also etwa 1965.

Mit meiner Grosstante durfte ich eine Londonreise machen, da war ich knapp sechzehn. Ich hatte etwas Taschengeld mitbekommen und wusste, dass ich mir damit zum Beispiel Schuhe kaufen durfte, weil ich welche brauchte. Ich lotste die Grosstante in einen popigen Kleider- und Schuladen im Soho, wo ich Schuhe mit dicken Sohlen und runden Kappen gesehen hatte. Sie war sehr wohlwollend gegenüber den Ideen und Wünschen von jungen Menschen, aber ich spürte ihre Skepsis, als wir in den mit Hippieklamotten vollgestopften Laden traten. Ich wusste auch, dass ich den Bogen gegenüber meinen Eltern nicht überspannen durfte, also suchte ich mir ein Paar Schuhe aus, die eindeutig Pop waren, von denen ich andererseits erhoffen konnte, dass sie den lauhen Segen der Erwachsenen erhielten. Ich behielt die Schuhe nach dem Kauf gleich an, und wieder konnte ich es nicht lassen, dauernd nach unten zu schauen beim Gehen. Es sah einfach richtig gut aus. Die glänzenden, sich hoch und wunderschön rund wölbenden Schuhkappen erlitten bald ihre ersten Kratzer, die mich wie Stiche ins Herz trafen. Bald aber zeigte es sich, dass die grösseren und kleineren Verletzungen des Leders sich auf tröstliche Weise zu einer Struktur, zu einem Muster von Gebrauchsspuren zusammenfanden. Ich konnte meine Schuhe mit andern vergleichen, die, an den Füssen abenteuerlicher, zottelig langhaariger Gestalten, durch London spazierten, und sah, dass meinen Schuhe ein gutes Alter beschieden war. Ich schritt auf dem Pflaster der Popstars dahin. Fast habe ich mit meiner Grosstante damals die Beatles gesehen, bei einem ihrer letzten gemeinsamen, öffentlichen Auftritte. Wir waren gegen Abend noch in der Stadt unterwegs, als wir in eine immer dichter werdende Menschenmenge in der Regent Street gerieten. Als wir nachfragten, sagte man uns, dass heute Abend die Premiere des Trickfilms Yellow Submarine im London Pavilion stattfinde, und dass die Beatles angekündigt hätten, sich den Film gemeinsam anzusehen. Ich konnte es fast nicht glauben, es waren Zehntausende in den Strassen, und die meisten würden nichts sehen als vielleicht von weitem einen der vier Rolls Royce! Und es kam noch besser, als meine Grosstante vorschlug, wir könnten den Film am nächsten Morgen als Matinée im Regent Street Cinema anschauen. Es war grossartig, die Musik der Beatles durch diesen Raum aus Plüsch und Plattgold donnern zu hören. Alles war aufgehoben und frei schwebend, und Nowhere Man trieb mir das Wasser in die Augen. Isn't he a bit like you and me?

Samstag, 28. März 2020

Geschichten vom Rhein 1


Aufs Wasser (Wallbach)

Mein Vater hat mir einmal ein paar Erinnerungen an Wallbach aufgeschrieben. Er war dort lieber als in Cornol, hat sich wohlgefühlt bei der Grossmutter, und bei seinem Onkel Walter, der gross war und stark. Ringer und Schwinger, Pontonier, Turner, Schütze, allgemein beliebt. Der in ihm seinen Nachfolger auf dem Hof sah. Der Bub hat sich, lang über die Ferien hinaus, den Kuhmist zwischen den Nägeln seiner Schuhe konserviert, und ab und zu nostalgisch daran gerochen. Überhaupt die Kühe, ihr Geruch, die warme Wucht ihrer Körper. Er konnte von Nahem zuschauen, wie sie scheissen, ist auch einmal von oben bis unten bespritzt worden, als er hinter einer hustenden Kuh stand. Beim Kalben duften sie nicht zuschauen, sein jüngerer Bruder und er. Sie haben sich versteckt im Heustock, um durch eine Ritze trotzdem am verboteten Geschehen teilzuhaben. Gesehen haben sie, ausser herumrennenden Erwachsenen, gar nichts. So mussten sie sich einreden, nun über alles Bescheid zu wissen, zu den Grossen zu gehören.

Vollendetes Glück hast du, Vater, an einem Abend in Wallbach erlebt, nach einem harten Arbeitstag im Sommer. Onkel Walter war schon seit zwei Uhr früh auf den Beinen, als er sich zu euch an den Zmorgetisch setzte. Er wusste, dass das Wetter es an diesem Tag erlauben würde, mehrere Fuder Gras zu mähen, trocknen zu lassen und nach Hause in den Schober zu bringen. So machst du dich mit ihm und mit der Grossmutter zusammen auf, mit geschultertem Gerät. Zuerst müsst ihr das Gras zetteln, das der Onkel schon gemäht hat. Es wird ein heisser Tag. Ihr recht das Gras zu kleinen Haufen, schöcheln sagt ihr dem. Dann immer wieder zetteln, das gemähte Gras auflockern und umdrehen, damit es durchtrocknen kann. Das frisch Gemähte zu Reihen, dann zu Häufchen zusammen nehmen. Nach einer kurzen Mittagspause im Schatten eines Baums geht es weiter, den ganzen Tag. Es sieht gut aus, im Laufe des Nachmittags beginnt ihr damit, das trockene Heu aufzuhäufen. Zum Schluss holt Walter seinen Wagen, von zwei Kühen gezogen. Darauf wird das Tagwerk geladen, nach Hause gefahren und in die Scheune verfachtet. Dann sind noch die Kühe zu melken. Dich lässt man, du klemmst dich auf der Bank in der Stube hinter den Tisch und liest den Blindenkalender.

Und dann der Ruf. Schillbärt. Wotsch mit uffs Wasser. Ob ich will. Mit ihm, meinem Lieblingsonkel darf ich hinaus. Er braucht noch ein bisschen Entspannung nach dem harten Tag, und mich will er dabei haben. Ich renne zum Weidling hinunter, er kommt gemütlich hintendrein, mit dem Geschirr, den Stachel und das Ruder gekreuzt auf beiden Schultern. Ich springe hinein, als er einsteigt, schwankt es lustig. Losgebunden, dann gehts mit kräftigen Ruderschlägen quer hinüber. Der Onkel schafft es heute, auf gleicher Höhe zu bleiben, gegen Schluss sogar etwas Wasser zu gewinnen, ich kontrolliere es genau an der Weide am badischen Ufer, melde es stolz. Dann ein letzter Schlag, mit dem eingesteckten Blatt das Heck herumgeholt, das Ruder in den Rumpf gelegt und durch den Stachel ersetzt. Ich merke mir alles genau, für wenn ich gross genug bin. In ein paar Jahren gehts noch flotter, da sind wir zu zweit, sagt er. Damit bin ich gemeint. Nun dem Ufer entlang stacheln. Es tönt so schön, das Krackeln der Eisendorne in den Kieseln, das dumpfe Entlangschrammen des Stiels an der Bordwand, Walters Stimme, wenn er wohlig stöhnend abstösst, weit nach hinten abdrückt, um dem Kahn Fahrt zu geben. Ich lehne mich zurück auf meinem Bänklein, lasse eine Arm über Bord hängen, erwische dann und wann mit einem Finger das Wasser und schlitze ihm die Haut auf. Mein Kopf ruckt nach vorne, bin ich eingeschlafen. So, das ist gut für heute, sagt Walter und stösst seitwärts gegen das Ufer ab. Und schon beginnt es zu drehen, die Häuser von Mumpf ziehen vorbei. Walter wechselt wieder das Werkzeug und erreicht mit ein paar Schlägen die Flussmitte. Ich lege mich hin, schaue in den rötlichen Himmel, bis mir die Augen zufallen. Dann erwache ich von einem schwankenden Auf und Ab. Bist eingeschlafen, sagt sein Mund, ganz nahe. Da merke ich, dass er mich trägt. Ich will sofort hinunter, selber marschieren. Walter lacht. Ist schon gut, ich bin auch müde.

Donnerstag, 26. März 2020

Kulturtechnik


Es war in den letzten Tagen mancherorts nicht einfach, WC-Papier zu bekommen. Die Hamsterer liessen sich von Falschnachrichten einreden, es komme zu Engpässen, und schoben in ihren Einkaufswagen ganze Türme des gefragten Artikels zur Kasse. Obwohl die Angestellten der Supermärkte im Akkord ihre Regale auffüllten, erzeugten erst die übertriebenen Einkäufe jene Knappheit, vor der die Einflüsterer in den so genannten sozialen Medien fälschlicherweise gewarnt hatten. Jetzt bekommen die Übertreiber der Vorsorge Schelte. Wenn du das bist, fuck you!, steht unter einem Bild, auf dem zwei schwergewichtige Männer in Kniehosen ihre Bagage durch einen Supermarkt stossen. Nicht ernst gemeint ist sicher ein Film, der akribisch, Schritt für Schritt zeigt, wie man sich Klopapier selber schöpfen, in Streifen schneiden und auf Kartonröllchen aufwickeln kann. Jemand hat sogar einen Rechner konstruiert, mit dem sich der voraussichtliche Verbrauch von WC-Papier für eine beliebig zu definierende Dauer der Quarantäne ermitteln lässt. Die Entwickler des Programms haben sich auch darüber Gedanken gemacht, dass nicht alle Menschen mit dem Papier gleichermassen umgehen, sei es beim grossen oder beim kleinen Geschäft. Man kann seine individuelle Scheisskulturtechnik einstellen.

Die Krise wirft uns auf uns selber zurück. Der grösste Teil der veranstalteten Kultur wurde angehalten, abgesagt und verschoben. Die Gefahr, zu erkranken, zeigt sich verhüllt, durch schwer verständliche Statistiken, oder in zwar dramatischen, aber hauptsächlich eine so genannte Risikogruppe betreffenden Bildern. Das Hamstern von Grundnahrungsmitteln und WC-Papier ist Ausdruck der Angst, die Krise könne noch vor einer Infektion durch den Virus den unentbehrlichen Teil der Kultur und damit die Unversehrtheit des Körpers angreifen.


Nie ist das dünne Häutchen Kultur über den rauhrobusten Muskeln der Natur dünner als dort, wo Menschen ein Scheisshäuschen aufgestellt haben. Wobei, beim Erledigen eines grossen Geschäfts in der freien Natur, bei dessen erstem Mal man als kleiner Bub eher vom Vater, als kleines Mädchen von der Mutter, fachgerecht angeleitet worden war, konnte man erst recht nur auf ein Weniges an Kultur vertrauen zwischen seinem angestrengt hockenden, sich beim Putzen in schmerzhaften Verrenkungen ergehenden kleinen Körper und der Natur. Die Hosen waren nur heruntergelassen, blieben mit etwas Glück und Geschick auch sauber und konnten zum Schluss wieder hochgezogen werden. Selten hat man sie stärker als Schutz erlebt, warm umschliessend und das an den Körperausscheidungen so interessierte Gefleuge abhaltend. Mit Schuhen war es leichter ohne Ekel oder gar Angst zu überstehen als ohne, und wenn ein umsichtiger Erwachsener einem ein Stück Toilettenpapier oder ein Papiernastuch mitgegeben hatte, fühlte man sich nicht so ausgesetzt, wie wenn man, unter Druck, zuerst nach einem geeigneten Blatt Ausschau halten musste. Und dann war das Material ja oft nicht geeignet, es riss oder fühlte sich beim Kontakt mit der empfindlichen Körperöffnung unangenehm hart und pelzig an.

Wir waren nicht die Camper- und Zelterfamilie, die ersten Begegnungen mit Scheisshäuschen machte ich in einer Berghütte im Wallis, und dann beim Grossonkel und den Grosstanten in Cornol. An beiden Orten standen sie nahe beim Haus, was es leichter machte, sie auch bei Dämmerung noch aufzusuchen. Man konnte die Stimmen der andern hören, hätte sich im Notfall auch bemerkbar gemacht. Der Geruch war an beiden Orten sehr ähnlich, nicht einmal schlimm. Er mischte sich mit Gerüchen von sonnenbeschienenem Holz und Rauch, mit den Dünsten aus dem Stall und der Küche. Es war ein familiärer, warmsüsslicher Geruch, angenehmer jedenfalls als der penetrante Geruch eines einzelnen Menschen, der vor einem eine normale Toilette benutzt hat. In Cornol hatte unser Vater geraten, man solle, vor allem im Sommer, zuerst einen kräftigen Tritt an die Holzkiste mit den zwei Sitzlöchern geben. Sonst hätte das Hinterteil keine Ruhe vor den Fliegen. Diesen Tritt habe ich der Kiste am Anfang gegeben, bevor ich mich darauf setzte. Es kamen aber kaum Fliegen aus dem Loch, und so habe ich das dann gelassen.

In Kirgisstan, am Yssik-Kul-See, wurde während eines seminár, an dem ich beobachtend teilnahm, das Scheisshäuschen im Garten immer schiefer und drohte abzustürzen. Es hatte eine kleine blaue Stoffschleife an der Tür, die man aussen hinhängte, um anzuzeigen, dass es besetzt war. Gewartet wurde in respektvollem Abstand, und wenn dann die Vorgängerin oder der Vorgänger herauskam und man sich zwischen den Gemüsebeeten kreuzte, wurde man darüber informiert, wie schief es jetzt stünde, wo man am besten nicht hintreten solle, wenn man nicht mit dem ganzen Kabäuschen ins Loch fallen wolle, und so weiter. Eines Morgens stand das Häuschen dann wieder gerade, an einem neuen Ort. Die Balken, auf die es über der frisch ausgehobenen Grube gestellt war, sahen grün aus, zugehauen aus dicken Pappelästen. Und es gab einen beruhigenden Vorrat an Blättern aus Zeitungspapier, schön zu Quadraten gerissen und in kleinen Stapeln geordnet. Sogar eine Rolle Toilettenpapier hing da, für die Ausländer. Die Gastgeber hatten offenbar bei der Schieflage des Häuschens am alten Ort keine besonderen Anstrengungen mehr machen mögen, sich im besten Licht zu zeigen. Das holten sie jetzt nach. Es roch gut, nach frischer Erde, die alte Grube war bereits zugeschaufelt, und alle lobten den Komfort und die Gastfreundschaft der Bauernfamilie.

Ein paar Jahre später, in Tadschikistan, habe ich ein noch propereres Scheisshäuschen angetroffen. Der Boden bestand aus Lehm, der sorgfältig in die Waagrechte gestrichen, dann gestampft und schliesslich sogar poliert worden war. Unglaublich! Ich musste immer wieder schauen, bei geöffneter Tür die Spiegelung auf dem glänzenden Boden bewundern, die das kleine Fensterchen in der Rückwand dorthin warf. Das Loch, am Boden wie bei allen Plumpsklos in Zentralasien, war eingefasst mit zwei hellblau gestrichenen Brettern, die zwischen sich eine schlüssellochartige Öffnung freiliessen. Alles war so sauber, dass man vermuten musste, es werde mindestens einmal am Tag geputzt. Als ich das Häuschen zum ersten Mal benutzte, konnte ich mir noch keinen Reim machen auf die kleinen Tonkugeln, die am Boden aufgetürmt waren zu exakt ausgerichteten Pyramiden, wie Kanonenkugeln. Als ich diskret bei E nachfragte, erklärte er mir, dass dies zum Putzen des Hinterns sei, nach dem Kacken. Dieses Material und die Form sind hier im Pamir nach der Tradition üblich, erklärte er mir. Und die älteren Leute fänden es hygienischer als Zeitungspapier. Ich habe es dann einmal ausprobiert, es hat mich aber nicht überzeugt, und ich war froh, dass es auch Papier da hatte. Das Gefühl hat mich erinnert an meine Freilandversuche mit verschiedenen Blättern, Hölzchen und – tatsächlich kam mir in den Sinn, dass ich einmal in der Not, als alle Blätter aufgebraucht oder zerrissen waren, ein Stückchen getrocknete Erde genommen hatte. Es gab in dieser Gastfamilie eine sehr alte Grossmutter, und als ich auch sie einmal aus dem Häuschen im Garten kommen sah, fragte ich mich, und dann schliesslich E, wie denn eine so alte Frau zurechtkomme mit einem Klo, in dem man sich hinkauern muss. Sie hat das ihr Leben lang gemacht, meinte er, und in der Nacht benutzt sie wohl den Nachthafen. Dann erzählte er mir von einer andern Familie mit einer alten Grossmutter. Ihre Leute hätten vor kurzem eine neue Toilette mit fliessendem Wasser, angeschlossen an eine funktionierende Kanalisation, in ihr Haus eingebaut. Die Grossmutter sei entsetzt gewesen über den Gedanken, die Toilette im Haus drinnen zu haben, weil sie nichts anderes kannte, als die Gruben ohne Abfluss, die sich periodisch in übel riechende, gefährlich dreckige Löcher verwandelten, dann mit ein paar Kubikmetern Erde gefüllt und an neuem Ort ersetzt werden mussten. Das System der Kanalisation erklärten sie ihr geduldig solange, bis sie sich endlich entschloss, ihre Gänge ins Gartenscheisshäuschen aufzugeben, das man wegen ihr noch eine Weile hatte stehen lassen.

In der Nacht kann man nicht im Dreiviertelschlaf pinkeln gehen und wieder ins Bett zurücktorkeln, wenn das Häuschen im Garten steht. Auf derselben Reise, auf der ich die Arschputz-Lehmkugeln kennengelernt hatte, wachte ich, nach einem Abend mit Bier und Wodka, in der Nacht in einem kleinen Bauernhaus auf, mit starkem Harndrang. Es war so finster, dass ich absolut nichts sehen konnte, auch nicht den leisesten Schimmer von einem Fenster oder einer Türe. Ich wollte meine kleine Taschenlampe anzünden, aber die Batterien waren leer. So schälte ich mich aus dem Schlafsack, stand auf und tastete mich mit gestreckten Armen vorwärts, bis ich an einer Wand ankam. Ich hatte keinerlei Vorstellung mehr von dem Zimmer, da ich sehr müde schlafen gegangen war, und so tastete ich mich der Wand entlang bis zu einer Zimmerecke, von dort weiter bis zur nächsten. Erst nach der dritten Ecke fand ich die Türe und machte sie auf. Ich sah einen ganz schwachen Schein zur Linken, und damit kehrte der Orientierungssinn wieder zurück, zum Glück. Das war die Haustür, die offenbar nachts offen blieb. Ich tastete mich langsam bis zur Schwelle, setzte einen Fuss darauf, – und erschrak heftig, weil sie weich war! Der Hund! Ich war auf den Hund getreten, der auf der Schwelle geschlafen hatte und jetzt mit einem kleinen Jauler aufsprang, ebenso erschrocken wie ich. Er schien aber daran gewöhnt zu sein, auf diese Weise gestört zu werden, wedelte gleich wieder und leckte mir die Hand. Bis er endlich Platz machte, pinkelte ich mir fast in die Hose, und so schaffte ich es halt nicht mehr bis zum Häuschen. Irgendwo unterwegs dorthin, auf den verwinkelten Weglein zwischen den Gemüsebeeten, gab ich auf. Ich entleerte meine Blase in einen Busch, von dem ich hoffte, dass er nichts Essbares an sich trug. Als ich ins Haus zurückkehrte, war ich so wach, dass ich schon fast nicht mehr einsah, warum ich aus der Natur wieder ins Bett zurückkehren sollte.

Dienstag, 24. März 2020

Brachen 1


Jenseits unseres Gartenzauns hinter dem Haus begann die Wildnis, mit verwilderten Obstbäumen auf einer holprigen, struppigen Wiese, die kaum je gemäht wurde. Sobald wir konnten, kletterten wir über den Hag. Vor dessen Spitzen wurde gewarnt.

Die Situation in Peter und der Wolf, mit der langweiligen Geborgenheit des Gartens und der aufregenden Welt ausserhalb des Gartentors, wo man den Wald in der Ferne erahnt, aus dem der Wolf heraustreten wird: Taaaaa, tädärädädätä ta ta ta ta taaaaa! Das war vertraut, schon beim ersten Mal Hören.

Einmal träumte ich, ich sei in unserem Wohnzimmer mit der breiten Glastüre. Dahinter der nächtliche Garten, dann, noch knapp zu ahnen, der Gartenhag. Dann tiefe Schwärze. Drohend, ich wusste schon, da wird etwas kommen, aus dem Dunkel. Und, waff!, da ist er schon, ein riesiger Tiger, orangeschwarz gestreift, streicht dem Glas entlang. Es hat mich hochgeschnellt, und ich sitze zitternd und schweissnass im Bett.

Im Frühling, als man zum ersten Mal wieder draussen spielen konnte, entdeckten wir einmal eine alte Badewanne unten an der Böschung. Wir setzten uns hinein, und immer mehr wollten mitfahren. Einmal war es ein Schiff, dann ein Flugzeug. Je enger es wurde, weil immer mehr sich hinten hinein quetschten, desto lustiger und lauter wurde es. Aber bald war es langweilig, weil wir nicht richtig fuhren, wir konnten die Wanne nicht bewegen, auch alle zusammen nicht. Sie stemmte ihre Löwenfüsse in den weichen Boden und widerstand unseren Anstrengungen. So fingen wir an, auf dem Hosenboden das kurze, steile Stück des Abhangs hinunterzurutschen. Die Sonne stand tief, wollte bald untergehen, aber es war noch immer warm. Und kein Erwachsener hatte sich gezeigt, den ganzen langen Nachmittag. Was für eine Freiheit! Ich hatte über den Winter vergessen, wie schön der Frühling ist, wenn man wieder alle Kinder vom Quartier trifft und mit ihnen herumtollen kann.

Als wir ein Kaninchen hatten, ein chinchillafarbenes, in einem Stall im Garten, kamen mein Bruder und ich auf die Idee, es könnte Freude haben an einem Spaziergang auf die grosse Wiese. Ich nahm es auf den Arm, und mein Bruder band ihm eine Schnur um den Hals, als Leine. Als wir über den Zaun geklettert waren, setzten wir das Tier ab. Grauer Zickzackblitz quer durchs hohe Gras, ein Hasenfell, hochgerissen von der Schnur und heruntergeklatscht und reglos dann. Einen Moment der Panik, es sei tot. Aber es begann wieder zu atmen und erholte sich rasch. Wir kehrten so diskret wie möglich in den Garten zurück und setzten es wieder in den Stall. Es war gut zu wissen, dass das Kaninchen nicht petzen würde.

Die Wiese wurde erst bebaut, als wir grösser waren. Fotos aus der Zeit meiner frühen Kindheit zeigen überraschend weite Perspektiven von unserem Garten aus. Man sieht bis zur Wackernagelstrasse hinauf, und zu den wenigen Häusern, die sie damals säumten. Der Boden der Brachfläche bestand aus Löss. Einmal entdeckte ich auf einem Streifzug ungewohnte Bewegungen im Revier, näherte mich und traf auf eine Gruppe älterer Buben, die ein ungeheuer tiefes Loch in den ockerfarbigen Grund gegraben hatten. Sie waren gut ausgerüstet, mit Pickeln, Spaten und mehreren Schaufeln. Auch eine improvisierte Leiter gab es bereits, zusammengenagelt aus Dachlatten, die in die Tiefe führte. Nach einigem Betteln durfte auch ich hinuntersteigen. Auf dem Weg in die Tiefe roch es nach frischem Lehm, und es wurde schnell kühler. Die Wände der Grube waren ganz glatt, gegen oben fast spiegelnd. Wie tief war ich damals unter der Erdoberfläche? Ich blickte sehr beeindruckt, aber ohne Furcht, hinauf zu der weiss gleissenden Öffnung.

Auf dem Heimweg vom Kindergarten gab es ein kleines Wäldchen, das nicht zu einem Garten zu gehören schien. Bald fanden wir heraus, wo man sich am besten durch die Zweige ins Innere des dämmrigen Gehölzes zwängen konnte. Eines Tages fand ein Kind unter dem Laub ein Stück Metall, einen Eisenbogen, verziert mit einem Engelsköpfchen und einer Blumenranke. Niemand von uns traute sich, den Schatz mitzunehmen, also wurde er wieder sorgfältig eingebuddelt. Dann aber fanden auch andere Kinder ähnlich Stücke, alle waren schwer, rostig und mit Blumen oder Engelsköpfen verziert. Wir begriffen, dass alles irgendwie zusammengehören musste, und begannen, die Stücke auf einer vom Laub befreiten Fläche auszulegen. Gemeinsam suchten wir nach einem System, wie wir das Puzzle zu verstehen hätten. Man probierte Variationen, legten die Teile um und begann immer wieder neu. Als klar wurde, dass es sich um einen zerbrochenen Torbogen handeln musste, konnte man gezielt nach fehlenden Stücken suchen. Das musste in kurzen Etappen, verteilt auf viele Tage, geleistet werden, denn es war klar, dass die Eltern das aufregende Spiel beenden würden, wenn wir jeden Tag später nach Hause kämen. Als fast das ganze Gittertor ausgegraben und ausgelegt war, verloren wir das Interesse. Einige nahmen sich ein Stück mit nach Hause, auch ich. Gusseisen! Nicht einmal schlecht, urteilte mein Vater, vergoldete das Engelchen und hängte den neobarocken Schnörkel in den Hausflur.

Wo später einer der ersten Spielplätze in der Agglomeration entstand, war auch so ein Feld, das niemandem zu gehören schien. Der erste Verkaufswagen der Migros hielt jeweils dort. Es gab Kieshaufen zwischen hohen Grasbüscheln, und man konnte wunderbar Verstecken spielen. Auch entdeckte man immer etwas, zwischengelagertes Baumaterial, Weggeworfenes, Rätselhaftes, Gefährliches. Einmal fand ich, zusammen mit einem Freund aus dem Kindergarten, eine Chiantiflasche im Bastkörbchen. Es waren noch ein paar Tropfen Wein darin, die scheusslich sauer rochen und ausgeleert wurden. Wir versuchten, die Flasche mit Wasser aus einer Pfütze zu füllen, was uns aber nicht gelang. Dann wollten wir den Korb herunterpuhlen, was erst nach mühsamem Durchraspeln der oberen Bastschnur möglich war. Wir verwendeten eine Glasscherbe dafür, und die hat uns dann wohl auf die Idee gebracht, die Flasche mit Steinen zu bewerfen und zu zertrümmern. Da kamen zwei grosse Buben, die schimpften mit uns. Die Scherben seien gefährlich für alle, die hier durchgingen, vor allem im Sommer, für nackte Füsse. Waren eigentlich sehr vernünftig, die zwei, aber wir fanden sie saublöd, gerade deshalb. Dann verlangten sie noch von uns, dass wir die Scherben einsammeln und in das Körbchen legen sollten. Zuerst wollten wir uns davonmachen, aber sie packten uns am Kragen und wurden laut. So gehorchten wir widerwillig, das zerbrochene Glas wurde aber nicht in den Korb gelegt, sondern geschmissen. Plötzlich sehen mich alle mit aufgerissenen Augen an, und bevor ich fragen kann, was los sei, läuft mir Blut ins linke Auge, viel Blut. Einer der Grossen streckt mir sein Taschentuch entgegen, ich drücke es dorthin, wo ich den Schnitt vermute, springe auf und renne nach Hause. Obwohl ich ziemlich besudelt dort ankomme, errege ich nur mässig Aufsehen, weil eine Einladung im Gange ist und die Erwachsenen mit sich beschäftigt sind. Man diskutiert kurz, ob ich genäht werden müsse, entscheidet sich aber zu meiner Erleichterung dagegen. Ich bekomme ein Pflaster. Natürlich erzähle ich nicht die ganze Geschichte. Dass ich Glück gehabt habe, muss ich mir viele Male anhören. Das hätte auch ins Auge gehen können! Der Schnitt hinterliess eine Narbe, die lange sichtbar blieb und stolz getragen wurde.

Sonntag, 22. März 2020

Pause


Gestern besuchte ich den Pausenhof meiner Primarschulzeit, was eigentlich nach den Richtlinien des Bundesrates schon nicht mehr ganz korrekt war. Ich gehöre mit sechsundsechzig Jahren und einem chronischen Lungenproblem eindeutig zur Risikogruppe dieser Pandemie, die zur grössten verordneten Pause führte, die die Welt jemals erlebt hat.

Nun stehe ich um zehn Uhr morgens auf diesem Platz, der an einem normalen Schultag um diese Zeit von lautfröhlichem Gewusel erfüllt wäre. Er ist völlig leer, das Schulhaus scheint verwaist und geschlossen. Nur aus einem geöffneten Fenster höre ich die Stimmen einer Lehrerin, und weniger Kinder, die zuhause nicht betreut werden können. Es gibt niemanden, zu dem ich Abstand halten müsste.

Der Platz kommt mir kleiner vor als damals, alle Räume schrumpfen gegenüber der Erinnerung, wenn wir sie seit der Kindheit nicht begangen haben. Ich sehe mehrere Mäuerchen, die für das Singspiel in Frage kämen. Die roten Baracken, in denen früher die kleinen Klassen mit den ganz speziellen Lehrern und Kindern untergebracht waren, stehen immer noch, und die Föhren davor sind riesig geworden. An den einen Brunnen kann ich mich gut erinnern, weil ich dort immer getrunken und gespritzt habe, ein flaches, rundes Becken aus Kalkstein mit drei Messingwasserhähnen, die in gleichmässigen Winkeln den Kreis teilen. Wenn man einen zuhält, wird der Strahl bei den anderen kräftiger, was das Spritzspiel sehr dynamisch machte. Das Wasser schmeckte metallisch.

Es sei jetzt grosse Pause, hat der Lehrer gesagt. Ich war enttäuscht vom ersten Schultag, es hatte noch gar nicht richtig angefangen, da mussten wir schon wieder hinaus auf einen grossen Platz, dem man Pausenhof sagte. Wir hatten noch nicht richtig Schule gehabt. Am Anfang waren die Eltern dabei, bei mir war die Mutter mitgekommen. Sie sah es nicht gerne, dass mein Cousin und ich uns nebeneinander setzten, wir hatten es etwas zu lustig miteinander, was ich zugeben musste. Unsere Aufgabe bestand darin, etwas zu zeichnen, was man in den Frühlingsferien erlebt hatte. Ich hätte aber lieber etwas Richtiges gemacht, etwas, das mit Schule zu tun hat. Aber jetzt musste ich die breite Treppe hinunter auf den Pausenplatz. Es war sehr laut, und als ich unten ankam, konnte ich nur noch die Kinder sehen, die dicht um mich herum waren. Ich merkte, dass die meisten grösser waren als ich. Es gab ein Gedränge unten an der Treppe, obwohl sie sich über die ganze Breite des Vorplatzes ausdehnte, die meisten Kinder schienen zu rufen oder zu schreien, viele rannten und schubsten dabei alle weg, die ihnen im Weg standen. Ich suchte mir einen freien Platz, da tippt mich jemand von hinten auf die Schulter. Ich drehe mich um, steht da ein Bub vor mir, viel zu nahe, ein rundes Gesicht mit einem blonden Lockenschopf. Grinst mich an und sagt Salut!, wie wenn wir Freunde wären. Ich kenne den gar nicht, er kommt mir sehr komisch vor. Verlegen grüsse ich zurück. Salut!

Das war der Schorsch M, was ich damals noch nicht wusste. Wir lernten ihn später alle kennen, weil unser Lehrer der Schulhausvorsteher war, und Schorsch oft bei ihm antreten musste, wenn er etwas Dummes und Verbotenes gemacht hatte. Einen Eisenwinkel durch die Sitzfläche eines Stuhls gehauen, oder im WC die Wand vollgepinkelt, weil er schauen wollte, wie hoch er kommt. Dann fragte unser Lehrer, Schorsch, was hast du wieder gemacht, und der musste beichten. Aber oft lachte der Lehrer mit uns mit, weil der Schorsch dermassen blödes Zeug im Kopf hatte, und es so erzählte, als wäre es ihm einfach passiert, als ob er das hätte machen müssen. Er war wirklich komisch, aber sehr lieb. In der zweiten oder dritten Klasse kam Schorschs älterer Bruder zu uns in die Klasse. Der war ganz anders, sehr vernünftig, manchmal erschien er mir schon wie ein Erwachsener. Er sass neben mir, und als wir einmal erzählen und aufschreiben mussten, was wir später werden wollten, hatte ich keine Ahnung, er aber sagte mit Bestimmtheit, er werde Koch.

Das wurde er dann auch. Ich traf ihn später mehrmals in der Halle des Fechtclubs oder an Turnieren, weil wir beide Söhne hatten, die fochten. Als ich ihn nach Schorsch fragte, wurde er traurig. Der sei immer sehr leicht beeinflussbar geblieben, habe Drogen genommen als Jugendlicher, und dann auch gedealt. Dafür sei er, als er gerade erwachsen wurde, im Gefängnis gelandet. Aber du hast ihn ja gekannt, den Schorsch konnte man nicht einsperren. Er hat sich in der Zelle aufgehängt. Das tat mir leid, und ich erzählte dem Bruder, wie mich Schorsch am ersten Schultag begrüsst habe, obwohl er mich überhaupt nicht kannte. Ja, genau so war er!

An die Pause, vor allem an die grosse, musste ich mich gewöhnen. Es gab merkwürdige Spiele, bei denen die grossen Mädchen Regie führten. Auf einem Mäuerchen sassen ein paar Kinder, meistens nur Mädchen, dazwischen vereinzelte Buben, die sich trauten. Vor ihnen bildeten andere Kinder eine Reihe, alle hatten sich untergehakt, machten immer zwei Schritte nach vorne gegen die Sitzenden, dann wieder zurück, dazu sangen sie.
Die besten Zeiten
sind vergangen,
und der Heini
muss ins Militär.
Und dann kommt er in die Stadt,
Wo er seine Liebste hat,
und dann küsst er ihren rosaroten Mund.
Oh Martha weine nicht,
Den Heini kriegst du nicht!
Er muss ins Mili-Militär
und kommt nie mehr!
Und natürlich prusteten alle wie verrückt. Heini und Martha waren unter den Sitzenden, liefen, als sie ihre Namen hörten, rot an und stoben soweit auseinander wie sie konnten. Bald kehrten sie aber zurück, um mit den Sängern zu tuscheln und eine neues Paar als Opfer auszusuchen. Dann ging es weiter mit den besten Zeiten. Als ich in der ersten, oder auch noch in der zweiten Klasse war, hatte ich nichts zu befürchten, wenn ich dem Spiel zuschaute. Später musste man einen grossen Bogen darum machen, sonst zwangen einen die Mädchen, mitzumachen. Wenn man zu viel Widerstand leistete, wurden sie kratzbürstig, und gab man zu schnell nach, galt man bei den Buben als Mädchenschmecker.

Gegenüber dem unteren Eingang in den Pausenhof, jenseits der Niederholzstrasse, war eine Wiese, die sich bis zur Rauracherstrasse erstreckte. Dort, wo heute ein grosses Einkaufszentrum steht, gab es damals einen kleinen Kiosk, zu dem ein schnurgerader Trampelpfad führte. In der grossen Pause wetzten wir manchmal schnell dorthin und kauften uns Süssigkeiten. Es gab zum Beispiel kleine, würfelförmige Kaugummipackungen mit nur vier Dragees, die nicht lange schmeckten. Darin eigepackt war aber ein kleines, geriffeltes Bildchen, ein Wiggliwaggli-Bild, wie wir es nannten, auf dem sich etwas bewegte, wenn man es vor den Augen hin und her kippte. Die waren sehr beliebt, und man konnte sie tauschen. Natürlich war es streng verboten, in der Pause zum Kiosk zu rennen, weil der nicht zum Schulareal gehörte. Unser Lehrer, der Schulhausvorsteher, stellte, als es ihm zu bunt wurde, einige Viertklässler an, welche die vom Kiosk Rückkehrenden verhafteten. So wurde auch ich eines Tages geschnappt von zwei grossen Buben, die mir den Arm auf den Rücken drehten und mich zum Lehrer abführten. Das fand ich sehr gemein.

Ich mache ein paar Fotos und packe dann die Kamera in den Rucksack. Ich möchte nicht länger hierbleiben.

Freitag, 20. März 2020

Orte (Tektonik)


Das Riehen meiner Primarschulzeit hat Schichten, wie mir beigebracht wird, wie ich andererseits aber auch selber herausfinde. Oben ist der Wald. Wo die Menschen Steinbrüche hineingeschlagen haben, tritt ein weiches Material zutage, ein Gemisch aus Steinigem und Erdigem, in der Heimatkunde mussten wir uns dafür das Wort Molasse merken. Dabei musste ich an das andere Wort denken, an die Melasse, die wir manchmal zuhause hatten und, mit Butter zu Laussalbe eifrig vermischt, aufs Brot strichen. Vielleicht war das richtige Wort aber auch Mergel, und nicht Molasse. Mergel ist auch so ein komisches Gemisch, mit dem man gut Wege machen kann, so erfuhren wir. Die Steinbrüche waren nicht mehr in Gebrauch, das heisst, es wurde dort nichts mehr abgebaut, ausser von uns an den Schuhen mitgeschleift nach Hause, wo der Dreck nicht willkommen war nach den Schulausflügen.

Unmittelbar unter dem Wald, am Hang, begannen die vornehmen Häuser. Die älteren mit helmartigen Walmdächern, rauem Besenwurf an den Aussenwänden. Und schon mit einer oder gar zwei Garagen. Dann die Villen, Schachteln im Stil des Neuen Bauens, die meinem Vater gefielen, oder im englischen Landhausstil, über den er die Nase rümpfte. Die Gründe für sein Urteil erklärte er mir, ich verstand sie aber nicht ganz. Nur, dass es um so etwas wie echt gegen pseudo ging. Alle Häuser hatten mindestens eine Autogarage und grosszügige Einfahrten. Im Garten standen mächtige Bäume, manchmal kleine Wäldchen. In einigen Gärten gab es ein Schwimmbassin. Das konnte man aber meist nur sehen, wenn der Thujahag ein Loch hatte. Die ganze Gegend am Hang wurde wegen der reichen Bewohner Goldküste genannt. In meiner Klasse gab es ein Grüppchen von Kameraden, die dort wohnten, darunter auch mein Cousin.

Der Hang senkt sich hinunter bis zur nächsten Terasse, zu einer andern Schicht. Er wird unterbrochen von Strassen, die quer dazu geführt sind, damit die Steigung für die Autos leicht zu bewältigen ist. Und unten wird der Hang auch abgeschlossen von Querstrassen. In der Zeit, als ich in den Kindergarten und dann in die Primarschule ging, gab es noch unbebaute Wiesen und Felder am Hang, zwischen diesen Querstrassen. Im Winter fiel noch häufiger Schnee als heute, und auf einem dieser Wiesen konnte man wunderbar schlitteln. Der oberste Teil, von der Wackernagelstrasse weg die ersten paar Meter nach unten, war sehr steil, es brauchte Mut sich da hinunterzustürzen. Dann ein heftiger Knick in einen etwas flacheren Hangteil, bei dem die Zunge nicht zwischen die Zähnen geraten durfte. Die Neigung nahm schliesslich gegen die untere Strasse zu immer mehr ab, aber hier hatte man die grösste Geschwindigkeit. Tränen in den Augen. Attasio!, haben wir gebrüllt. Attasioo, siruplee, die Alti kocht Kamilletee! Wenn mehrere Eistage einander folgten, war die Piste so schnell, dass man unten noch über Trottoir und Strasse sauste, dann über das andere Trottoir, und bei den Häusern dort die Einfahrt hinunter ins Garagentor. Also, das konnte man nicht oft machen, denn dann kamen die Besitzer heraus und schimpften.

Hier standen nun ganz andere Häuser als an der Goldküste, meistens Reihenhäuser, oder zumindest Doppelhäuser. Und es wohnten andere Leute hier. Wir zum Beispiel, mit einem Lehrer als Vater. Andere Väter waren Kaufmännische, allenfalls Prokuristen, schafften in der Chemischen oder bei der Gemeinde. Ich konnte mir unter diesen Berufen nichts vorstellen, aber dass es etwas anderes war als Arzt, Professor, Geschäftsmann mit eigenem Geschäft, Bankdirektor, das wusste ich schon. Diese Schicht war auf Löss gebaut. Oder Lehm. Wenn hier eine Baugrube ausgehoben wurde, kam zuerst eine dicke Schicht dieses ockerbraunen, kompakten Materials zum Vorschein, in dem sich jeder Spatenstich, Pickelhieb, oder Backergrapscher akkurat abzeichnete. Wenn der Spaten vorne einen Riss hatte, hinterliess er einen zusätzlichen Strich, eine Spur, anhand derer man genau sehen konnte, wo überall genau dieses Werzeug benutzt worden war. Erst wenn die Arbeiter tiefer gruben als zwei Meter, stiessen sie da und dort auf Kies. Diese Terasse, auf der wir lebten, war von den Überschwemmungen der Wiese und des Rheins immer verschont geblieben, oder jedenfalls sehr lange Zeit, so lernten wir in der Heimatkunde. Deshalb hatten Menschen hier schon am längsten Häuser gebaut. Die meisten Kinder in meiner Klasse kamen aus dieser mittleren Schicht. Sie waren mir am vetrautesten, benützen die gleichen Worte, redeten von den gleichen Sachen, trugen ähnliche Kleider. Ihre Eltern hätten zum Teil auch meine Eltern sein können, fand ich. Wir spielten viel draussen, auf einer Nebenstrasse, auf den Brachen. In Garageeinfahrten, auf der Treppe, die den Hang hinaufführte. In den Gärten der Nachbarskinder.

Unser Primarschulhaus stand auf der untersten Terasse. Schwemmgebiet des Rheins und der Wiese. Das war am einfachsten zu verstehen, weil hier überall Kies zum Vorschein kam. Und Kies brachte ich von alleine mit Wasser in Verbindung. Mein Schulweg führte nochmals einen Hang hinunter, über einen Treppenweg in die Niederungen unten am Rain. Auch ein Wort, das wir in der Schule lernten, und das gewisse Strassen hier unten im Namen führten. Bluttrainweg, Rainallee. Es bedeutet gleichzeitig Abhang und Ackergrenze. Mit dem Hang überschritt man eine Grenze, so schien es mir. Die Häuser standen hier auch in Reihen, aber sie waren viel grösser. Dem sagten die Kinder, die darin wohnten, Block. Und den Teil des Blocks, in dem sie lebten, nannten sie Wohnung. In andern Strassen waren die Häuser auffallend gleich. Marschierten im Gleichschritt und trugen Uniform. Nur durch die Hausnummern, durch Geräte und Kinderspielzeug vor der Tür zu unterscheiden, oder durch Scherenschnitte hinter Fenstern. Kinder von hier antworteten auf die Frage, wo sie wohnten, in der Genossenschaft. Oder, im Rüchligweg. Da standen Holzhäuser, immer vier aneinandergebaut, aufgestellt in mehreren parallelen Reihen. Dazwischen schlecht gepflegte Rasenflächen mit Trampelpfaden, welche die Bewegungen der Bewohner nachzeichneten. Die Gebäude erinnerten an Baracken. Alle Terassen waren vollgehängt mit Wäsche. Wir hatten einige Kinder in der Klasse, die in solchen Häusern zuhause waren. Ein Mädchen kam oft mit sehr fettigen Haaren und verklebten Augenwimpern in die Schule. Seine Stimme war rau, und es roch seltsam, nach Zigarettenrauch und abgestandenem Essen. Es hatte immer Süssigkeiten dabei, die es grosszügig an die andern Mädchen der Klasse verteilte, sehr zögernd auch an Buben. Ein Bub redete fast nicht, erschien ernst, und hiess auch so. Er kam mir älter vor. Manchmal hatte er blaue Flecken im Gesicht oder an den Armen, ich dachte mir aber nichts dabei. Erst im Laufe der Primarschuljahre hörte ich andere Kinder oder Erwachsene sagen, er werde zuhause geschlagen. Ein anderer Junge, R, faszinierte mich wegen seiner Frisur und den Geschichten, die er erzählte. Er trug vorne eine Haarwelle und hinten ein Entenfudi, alles zusammengeklebt mit süsslich riechender Pomade, und immer wieder geglättet und frisch gerillt mit einem Kamm, den er in der Gesässtasche, gut sichtbar, stecken hatte. Sein Gesicht war sehr schmal, aber mit kräftigen Kinnmuseln versehen, die er spielen lassen konnte wie Lex Barker als Old Shatterhand. Ein Halbstarker, wurde hinter seinem Rücken geraunt. Es gibt ein Klassenfoto aus der Vierten, in zwei Fassungen. Auf beiden Bildern steht R neben mir, auf einem hat er die Fäuste erhoben in Boxerpose, wie Cassius Clay wollt er aussehen. Wegen ihm musste der Fotograf nochmals abdrücken, bot aber hinterher immerhin beide Varianten zum Kauf. Ich traute mich, das Bild mit dem kleinen Boxer zu bestellen, obwohl ich wusste, dass meine Eltern meckern würden. Aber R war mein Freund, übernahm den ersten Teil meiner Aufklärung. Auf einem Schulausflug, auf dem wir die Grenze Riehens abschritten, und eigentlich in die Geheimnisse der Grenzsteine hätten eingeweiht werden sollen. Was es mit den Lohen, Zeugen und Marken auf sich hatte, die unter ihnen vergraben waren, damit sie nicht unbemerkt verschoben werden konnten. Just auf diesem Marsch erzählte mir R, er habe vor kurzem einen Nachmittag mit einem Mädchen der Nachbarschaft im Nest verbracht. Er tuschelte und nuschelte herum, und ich verstand nicht, was daran so spannend sein sollte. Was sie denn im Nest gemacht hätten. Und er begann mir zu erklären, wie die Erwachsenen die Kinder machen würden. Die Erläuterungen wurden immer wieder unterbrochen durch die Zwischenhalte bei den Grenzsteinen, wo R aufhören musste und wir beide so taten, als würden wir dem Lehrer zuhören. Diese Zerstückelung des Redeflusses, das Geflüster sowie das ärgerlich lückenhafte Wissen meines Aufklärers bewirkten, dass ich, völlig verwirrt, tausend Fragen hatte, die ich mich aber zu stellen nicht traute, oder die R nicht beantworten konnte. Wir waren beide so offensichtlich nicht bei der Sache, um die es dem Lehrer ging, dass er von uns verlangte, wir sollten über das, worüber wir die ganze Zeit gesprochen hätten anstatt aufzupassen, einen Aufsatz schreiben. Das ging natürlich nicht. Und so konnte wir nichts anderes tun, als auf seine bekannte Vergesslichkeit und Inkonsequenz zu vertrauen und den Aufsatz einfach nie abzugeben. Das klappte zum Glück.

Mittwoch, 18. März 2020

Cornol, 1973


Weißt du, was es heisst, Angeheiratete zu sein oder zu werden in diesem Clan? Das bedeutet gar nichts, wenn dir dieser alte weibliche Clown übers Haar streicht und mich dabei aus zusammen-gekniffenen Augen fixiert, mir die Verantwortung für unsere gemeinsame Zukunft zum fünften Mal einzureden versucht: c'est un ange, il faut la garder. Garde-la! Allen angeheirateten Frauen hats gegraust hier, meiner Mutter vor dem kaffeeverklumpten Zucker in der Schale, den ver-kochten und schon wieder kalten Maccaroni zum ebenso verkochten Braten, der ihr allerdings schmeckte. Sicher vor dem Plumpsklo, vor allem im Sommer, wenn man mit einem Tritt an die Kiste die Schmeissfliegen verscheuchen musste, ehe man ihnen mit dem Hintern den Fluchtweg verschloss.

Tante H hat sich vor den Bartstoppeln und den zahnlosen, trotzdem nassen Küssen von Tant'Berthe geekelt, die jetzt gerade ihre bizarren Tänze vor uns aufführt. Die Ratten aus dem Dorfbach haben sich bereits wieder neben den Löchern vorbeigefressen, die ich beim letzten Besuch mit Gips verstopft habe. Die alten Leute hatten das so gewollt, und so haben wir ohne grosse Hoffnung einen Fünfundzwanzigkilo-Sack angerührt und den weissen Brei in die vielen Ein- und Ausgänge geleert, die manchmal so bodenlos gähnten und soviel Gips schlucken wollten, dass ich zuerst Zeitungen zerknüllen und hinunterstopfen musste. Von Gift hat Papi abgeraten, weil er im Aktivdienst einmal erlebt hat, wie tote Ratten unter einem Bretterboden riechen können. Schau, da kommt auch wieder das Huhn in die ehemals gute Stube, stolpert über die Schwelle. Hatst du so etwas schon einmal bei einem Vogel gesehen? Ist wohl schon ganz blind. Hier sind früher an einem Sonntag viele Menschen um den oval ausgezogenen Tisch gesessen. Sire-te, veill' tortchon! - Mach Platz, alter Lumpen! L'OngJules wurde so angezischt, von seiner jüngeren Schwester, worüber er sich vor lautlosem Lacheln schüttelte, die blendend weissen künstlichen Zähne im Oberkiefer bleckend. Marie, die ältere, ärgerte sich masslos über diese schlechten Manieren und brummelte missbilligend vor sich hin, blieb in ihrer Ecke auf dem Sofa sitzen, direkt unter dem Heiland mit dem offenenen, blutenden Herzen und dem tränenumflorten Blick nach oben. Damals bekamst du ihn noch, den weichgesottenen Sonntagsbraten, den man mit dem Löffel hätte essen können. Früh am Morgen war er in der dunklen Küche aufgesetzt worden, hatte stundenlangen in Rotwein geköchelt und das ganze Häuschen mit einem würzigen, süsssauren Geruch gefüllt. Doch, natürlich, die Küsserei hat mir als Bub auch gestunken. Du konntest weder ausweichen noch nur so ein bisschen bisou-bisou rechts und links, denn Berthe fasste dich mit harter Hand im Genick und zog deinen Kopf unerbittlich zu sich, drückte dir den zahnlosen, stoppeligen Mund auf beide Backen. Immerhin warens damals nur zwei. Und sie roch eigentlich gut, was mich immer erstaunte, nach Kernseife, Rauch und Stroh, ein bisschen nach Wein, schon damals. Ja, sie ist auch in Amerika gewesen, hat einen Ami geheiratet, nach dessen Tod sie hierher zurückkehrte. Weiss der Himmel, wie die das schafften, nach dem grossen, weiten Amerika wieder in dieses Loch zurückzukehren. Auch L'OngJules ist ja mit einem Kriegsschiff zurückgefahren, gerade noch vor dem ersten Krieg. Als reicher Mann für hiesige Verhältnisse, hat er seinem Bruder, meinem Grossvater, ein Haus gekauft, dabei aber kräftig dreingeredet. Man erzählt, dass er Berthe, als sie nach Amerika kam, nach der Überfahrt am Hafen von New York abholen wollte und dass sich die Geschwister zuerst verpassten. Als er sie schliesslich gefunden hat, war sie bereits in heller Panik, begreiflicherweise. Stell dir vor, aus dieser Hütte nach New York! Um sie zu trösten hat sie L'OngJules ins Kino eingeladen und sie sah, noch in der Reisekluft, mit über zwanzig Jahren, ihren ersten Film: Charlie Chaplin, einen Seelenverwandten. Sie hat dermassen lachen müssen, dass sie sich in die Hosen gemacht hat und das Kino vorzeitig verlassen musste, wegen der anderen Zuschauer. L'OngJules, der ältere, hatte damals schon seine beispiellose Karriere als Kammerdiener von Rockefeller jr. begonnen. Weil diese Geschichte nie jemand auf Anhieb geglaubt hat, ist sie immer durch Bilder und andere Beweisstücke illustriert worden, Fotos von L'OngJules in teuren Mänteln und Hüten, vor noch teureren Autos, umringt von schönen Frauen. Nicht er selbst hat erzählt davon, jedenfalls nie, ohne dass man ihn dazu überredet oder überlistet hat. Papa hat dieselbe Schuhgrösse wie der Kammerdieneronkel getragen. Und da dieser dieselbe gehabt hat wie Rockefeller, der sich von einem bewährten Modell immer gleich sechs bis zehn identische Paare hat anfertigen lassen, auf Massleisten, versteht sich, hat mein Vater im Sommer mehrere Jahre lang elegante Golferschühchen getragen, wenn auch aus etwas brüchigem Leder. Ein anderes Paar Schuhe steht dort drüben, komm, ich zeig dir, wovor es mich in diesem Haus immer am meisten gegraust hat. Hier, im Durchgang, der neben der Küche zur Scheune führt, hängen zwei Hasenfelle. Oder besser: Häute, von Motten und Würmern zerfressen waren sie schon früher. Beim Abziehen hat man sie umgedreht und dann so mit Stroh ausgestopft zum Trocknen. Und unten auf der schmalen Holztreppe stehen immer noch L'OngJules säbäts, die Holzschuhe für den Stall, auch sie gegen das Rheuma gefüttert mit Hasenhaut, Fell nach innen, versteht sich. Sieht aus wie Beuys, ist aber nicht als Kunst zu verstehen. Was für diese Leute Kunst bedeutet hat, konntest du früher auf der Kommode sehen, die jetzt von Berthe leergeräumt worden ist für ihr Heiligtum, für das Kofferradio, nach dem sie tanzt. Jetzt aber nicht, sie will uns wieder zurückholen. Schon immer ist sie uns gleich auf den Fersen gewesen, wenn ich mit meiner Schwester hier durch in die Scheune verschwunden bin. Das zeige ich dir später, sie wird schimpfen und uns nicht hinlassen wollen, aber das muss sein. Hier auf dieser Kommode war Zauberland für mich. Madonnen aus Lourdes in allen Grössen und Materialien. Zwei davon, eine grosse und eine kleine, waren milchig durchsichtig, aus Glas oder Plastik. Maria als Flasche. Die hellblauen Kronen als Deckel zum Aufschrauben. Gefüllt waren sie mit einer trüben, mittlerweile flockig gewordenen Flüssigkeit. Geweihtes Wasser aus der Heilquelle, wie man mich belehrt hat. Diese Madonnen wurden mir aus der Hand gerissen, bevor ich sie öffnen und am Inhalt riechen konnte. Und es gab Glaskugeln, in denen konnte man es früher schneien lassen. Die Flocken waren aber schon zu meiner Zeit durch Alter und Licht so verklumpt, dass es wie eine Steinigung der Maria aussah, wenn man die Kugeln auf den Kopf und dann wieder gerade hinstellte. Ich weiss nicht, was sie sagt, oder summt. Ich verstehe sie kaum noch, sie ist wohl auch wieder zum Patois zurückgekehrt. Komm, wir gehen noch in die Scheune. Ich habs dir gesagt, das merkt sie gleich, sie will das nicht.

Mein Vater war als Kind nicht so gerne in Cornol. Papa, der Grossvater, redete zwar oft französisch mit seinen Kindern, sie konnten aber den jurassischen Dialekt der Onkeln und Tanten nur teilweise verstehen. Dadurch blieben ihnen das Dorf und seine Bewohner immer etwas fremd. Einmal, noch als sie kleine Buben waren, hatten mein Vater und sein jüngerer Bruder so Heimweh, dass sie beschlossen, nach Hause zu gehen. Zu Fuss bis nach Riehen. Sie stapften auf einen kleinen Hügel am Dorfrand und überlegten, weinend, in welche Richtung sie wandern müssten. Der Horizont war ihnen aber zu weit, und sie gaben den Plan auf. Lustig fanden sie es, den Patois-Singsang nachzuäffen. Maschä-Gulä schrien sie manchmal in die Gegend, und lachten sich krumm. Die Leute werden sich gewundert haben, denn der kindliche Schlachtruf bedeutete gar nichts. Auch das Lied mit den Petignats sangen, oder eher, gröhlten sie gerne zu ihren Spielen.
Que le matan thuai les Pe Pe Pe
Que le matan thuai les Petignats,
Vivent les Ai, z’Ai, z’Ai
Vivent les Aidjolats !

Anstelle des ihnen unverständlichen Fluchs, der Teufel soll die Petignats holen!, sangen sie ein-fach tärätätä les Pe, pe, pe tärätätä les Petignats!

Im Alter setzte sich mein Vater zum ersten Mal intensiv mit dem Dialekt seiner Vorfahren auseinander. Er entdeckte, dass es Wörterbücher gab, sogar linguistische Forschungen zu der vom Aussterben bedrohten Sprache. Und eine wachsende Bewegung zu ihrer Rettung. Er schrieb sein eigenes Wörterbüchlein, indem er Wörter und Begriffe, manchmal ganze Sätze, an die er sich erinnern konnte aus der Kindheit, in den Diktionären nachschaute und sie in seiner eigenen Schreibweise auf kleinen Zettel notierte. In den vielen Redewendungen und Sprüchen widerspiegelt sich die alte bäuerliche Kultur, in einer direkten und sinnlichen Sprache.

Tiaind ä pieût lo djouè d'l'Äscension, le biè n'äp bon.
Wenn es am Tag der Auffahrt regnet, ist das Korn nicht gut.

Tiaind les Tschä se lävent drie les araye, c'at signe de pieudge.
Wenn sich die Katzen hinter den Ohren putzen, wird es regnen.

C'at pus aimè qu'lo tiu du diäl!
Das ist bitterer als der Arsch des Teufels!

C'a l'piu bé bouèbe di v'läidge!
Das ist der schönste junge Mann des Dorfes!