Mittwoch, 18. März 2020

Cornol, 1973


Weißt du, was es heisst, Angeheiratete zu sein oder zu werden in diesem Clan? Das bedeutet gar nichts, wenn dir dieser alte weibliche Clown übers Haar streicht und mich dabei aus zusammen-gekniffenen Augen fixiert, mir die Verantwortung für unsere gemeinsame Zukunft zum fünften Mal einzureden versucht: c'est un ange, il faut la garder. Garde-la! Allen angeheirateten Frauen hats gegraust hier, meiner Mutter vor dem kaffeeverklumpten Zucker in der Schale, den ver-kochten und schon wieder kalten Maccaroni zum ebenso verkochten Braten, der ihr allerdings schmeckte. Sicher vor dem Plumpsklo, vor allem im Sommer, wenn man mit einem Tritt an die Kiste die Schmeissfliegen verscheuchen musste, ehe man ihnen mit dem Hintern den Fluchtweg verschloss.

Tante H hat sich vor den Bartstoppeln und den zahnlosen, trotzdem nassen Küssen von Tant'Berthe geekelt, die jetzt gerade ihre bizarren Tänze vor uns aufführt. Die Ratten aus dem Dorfbach haben sich bereits wieder neben den Löchern vorbeigefressen, die ich beim letzten Besuch mit Gips verstopft habe. Die alten Leute hatten das so gewollt, und so haben wir ohne grosse Hoffnung einen Fünfundzwanzigkilo-Sack angerührt und den weissen Brei in die vielen Ein- und Ausgänge geleert, die manchmal so bodenlos gähnten und soviel Gips schlucken wollten, dass ich zuerst Zeitungen zerknüllen und hinunterstopfen musste. Von Gift hat Papi abgeraten, weil er im Aktivdienst einmal erlebt hat, wie tote Ratten unter einem Bretterboden riechen können. Schau, da kommt auch wieder das Huhn in die ehemals gute Stube, stolpert über die Schwelle. Hatst du so etwas schon einmal bei einem Vogel gesehen? Ist wohl schon ganz blind. Hier sind früher an einem Sonntag viele Menschen um den oval ausgezogenen Tisch gesessen. Sire-te, veill' tortchon! - Mach Platz, alter Lumpen! L'OngJules wurde so angezischt, von seiner jüngeren Schwester, worüber er sich vor lautlosem Lacheln schüttelte, die blendend weissen künstlichen Zähne im Oberkiefer bleckend. Marie, die ältere, ärgerte sich masslos über diese schlechten Manieren und brummelte missbilligend vor sich hin, blieb in ihrer Ecke auf dem Sofa sitzen, direkt unter dem Heiland mit dem offenenen, blutenden Herzen und dem tränenumflorten Blick nach oben. Damals bekamst du ihn noch, den weichgesottenen Sonntagsbraten, den man mit dem Löffel hätte essen können. Früh am Morgen war er in der dunklen Küche aufgesetzt worden, hatte stundenlangen in Rotwein geköchelt und das ganze Häuschen mit einem würzigen, süsssauren Geruch gefüllt. Doch, natürlich, die Küsserei hat mir als Bub auch gestunken. Du konntest weder ausweichen noch nur so ein bisschen bisou-bisou rechts und links, denn Berthe fasste dich mit harter Hand im Genick und zog deinen Kopf unerbittlich zu sich, drückte dir den zahnlosen, stoppeligen Mund auf beide Backen. Immerhin warens damals nur zwei. Und sie roch eigentlich gut, was mich immer erstaunte, nach Kernseife, Rauch und Stroh, ein bisschen nach Wein, schon damals. Ja, sie ist auch in Amerika gewesen, hat einen Ami geheiratet, nach dessen Tod sie hierher zurückkehrte. Weiss der Himmel, wie die das schafften, nach dem grossen, weiten Amerika wieder in dieses Loch zurückzukehren. Auch L'OngJules ist ja mit einem Kriegsschiff zurückgefahren, gerade noch vor dem ersten Krieg. Als reicher Mann für hiesige Verhältnisse, hat er seinem Bruder, meinem Grossvater, ein Haus gekauft, dabei aber kräftig dreingeredet. Man erzählt, dass er Berthe, als sie nach Amerika kam, nach der Überfahrt am Hafen von New York abholen wollte und dass sich die Geschwister zuerst verpassten. Als er sie schliesslich gefunden hat, war sie bereits in heller Panik, begreiflicherweise. Stell dir vor, aus dieser Hütte nach New York! Um sie zu trösten hat sie L'OngJules ins Kino eingeladen und sie sah, noch in der Reisekluft, mit über zwanzig Jahren, ihren ersten Film: Charlie Chaplin, einen Seelenverwandten. Sie hat dermassen lachen müssen, dass sie sich in die Hosen gemacht hat und das Kino vorzeitig verlassen musste, wegen der anderen Zuschauer. L'OngJules, der ältere, hatte damals schon seine beispiellose Karriere als Kammerdiener von Rockefeller jr. begonnen. Weil diese Geschichte nie jemand auf Anhieb geglaubt hat, ist sie immer durch Bilder und andere Beweisstücke illustriert worden, Fotos von L'OngJules in teuren Mänteln und Hüten, vor noch teureren Autos, umringt von schönen Frauen. Nicht er selbst hat erzählt davon, jedenfalls nie, ohne dass man ihn dazu überredet oder überlistet hat. Papa hat dieselbe Schuhgrösse wie der Kammerdieneronkel getragen. Und da dieser dieselbe gehabt hat wie Rockefeller, der sich von einem bewährten Modell immer gleich sechs bis zehn identische Paare hat anfertigen lassen, auf Massleisten, versteht sich, hat mein Vater im Sommer mehrere Jahre lang elegante Golferschühchen getragen, wenn auch aus etwas brüchigem Leder. Ein anderes Paar Schuhe steht dort drüben, komm, ich zeig dir, wovor es mich in diesem Haus immer am meisten gegraust hat. Hier, im Durchgang, der neben der Küche zur Scheune führt, hängen zwei Hasenfelle. Oder besser: Häute, von Motten und Würmern zerfressen waren sie schon früher. Beim Abziehen hat man sie umgedreht und dann so mit Stroh ausgestopft zum Trocknen. Und unten auf der schmalen Holztreppe stehen immer noch L'OngJules säbäts, die Holzschuhe für den Stall, auch sie gegen das Rheuma gefüttert mit Hasenhaut, Fell nach innen, versteht sich. Sieht aus wie Beuys, ist aber nicht als Kunst zu verstehen. Was für diese Leute Kunst bedeutet hat, konntest du früher auf der Kommode sehen, die jetzt von Berthe leergeräumt worden ist für ihr Heiligtum, für das Kofferradio, nach dem sie tanzt. Jetzt aber nicht, sie will uns wieder zurückholen. Schon immer ist sie uns gleich auf den Fersen gewesen, wenn ich mit meiner Schwester hier durch in die Scheune verschwunden bin. Das zeige ich dir später, sie wird schimpfen und uns nicht hinlassen wollen, aber das muss sein. Hier auf dieser Kommode war Zauberland für mich. Madonnen aus Lourdes in allen Grössen und Materialien. Zwei davon, eine grosse und eine kleine, waren milchig durchsichtig, aus Glas oder Plastik. Maria als Flasche. Die hellblauen Kronen als Deckel zum Aufschrauben. Gefüllt waren sie mit einer trüben, mittlerweile flockig gewordenen Flüssigkeit. Geweihtes Wasser aus der Heilquelle, wie man mich belehrt hat. Diese Madonnen wurden mir aus der Hand gerissen, bevor ich sie öffnen und am Inhalt riechen konnte. Und es gab Glaskugeln, in denen konnte man es früher schneien lassen. Die Flocken waren aber schon zu meiner Zeit durch Alter und Licht so verklumpt, dass es wie eine Steinigung der Maria aussah, wenn man die Kugeln auf den Kopf und dann wieder gerade hinstellte. Ich weiss nicht, was sie sagt, oder summt. Ich verstehe sie kaum noch, sie ist wohl auch wieder zum Patois zurückgekehrt. Komm, wir gehen noch in die Scheune. Ich habs dir gesagt, das merkt sie gleich, sie will das nicht.

Mein Vater war als Kind nicht so gerne in Cornol. Papa, der Grossvater, redete zwar oft französisch mit seinen Kindern, sie konnten aber den jurassischen Dialekt der Onkeln und Tanten nur teilweise verstehen. Dadurch blieben ihnen das Dorf und seine Bewohner immer etwas fremd. Einmal, noch als sie kleine Buben waren, hatten mein Vater und sein jüngerer Bruder so Heimweh, dass sie beschlossen, nach Hause zu gehen. Zu Fuss bis nach Riehen. Sie stapften auf einen kleinen Hügel am Dorfrand und überlegten, weinend, in welche Richtung sie wandern müssten. Der Horizont war ihnen aber zu weit, und sie gaben den Plan auf. Lustig fanden sie es, den Patois-Singsang nachzuäffen. Maschä-Gulä schrien sie manchmal in die Gegend, und lachten sich krumm. Die Leute werden sich gewundert haben, denn der kindliche Schlachtruf bedeutete gar nichts. Auch das Lied mit den Petignats sangen, oder eher, gröhlten sie gerne zu ihren Spielen.
Que le matan thuai les Pe Pe Pe
Que le matan thuai les Petignats,
Vivent les Ai, z’Ai, z’Ai
Vivent les Aidjolats !

Anstelle des ihnen unverständlichen Fluchs, der Teufel soll die Petignats holen!, sangen sie ein-fach tärätätä les Pe, pe, pe tärätätä les Petignats!

Im Alter setzte sich mein Vater zum ersten Mal intensiv mit dem Dialekt seiner Vorfahren auseinander. Er entdeckte, dass es Wörterbücher gab, sogar linguistische Forschungen zu der vom Aussterben bedrohten Sprache. Und eine wachsende Bewegung zu ihrer Rettung. Er schrieb sein eigenes Wörterbüchlein, indem er Wörter und Begriffe, manchmal ganze Sätze, an die er sich erinnern konnte aus der Kindheit, in den Diktionären nachschaute und sie in seiner eigenen Schreibweise auf kleinen Zettel notierte. In den vielen Redewendungen und Sprüchen widerspiegelt sich die alte bäuerliche Kultur, in einer direkten und sinnlichen Sprache.

Tiaind ä pieût lo djouè d'l'Äscension, le biè n'äp bon.
Wenn es am Tag der Auffahrt regnet, ist das Korn nicht gut.

Tiaind les Tschä se lävent drie les araye, c'at signe de pieudge.
Wenn sich die Katzen hinter den Ohren putzen, wird es regnen.

C'at pus aimè qu'lo tiu du diäl!
Das ist bitterer als der Arsch des Teufels!

C'a l'piu bé bouèbe di v'läidge!
Das ist der schönste junge Mann des Dorfes!

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