Donnerstag, 26. März 2020

Kulturtechnik


Es war in den letzten Tagen mancherorts nicht einfach, WC-Papier zu bekommen. Die Hamsterer liessen sich von Falschnachrichten einreden, es komme zu Engpässen, und schoben in ihren Einkaufswagen ganze Türme des gefragten Artikels zur Kasse. Obwohl die Angestellten der Supermärkte im Akkord ihre Regale auffüllten, erzeugten erst die übertriebenen Einkäufe jene Knappheit, vor der die Einflüsterer in den so genannten sozialen Medien fälschlicherweise gewarnt hatten. Jetzt bekommen die Übertreiber der Vorsorge Schelte. Wenn du das bist, fuck you!, steht unter einem Bild, auf dem zwei schwergewichtige Männer in Kniehosen ihre Bagage durch einen Supermarkt stossen. Nicht ernst gemeint ist sicher ein Film, der akribisch, Schritt für Schritt zeigt, wie man sich Klopapier selber schöpfen, in Streifen schneiden und auf Kartonröllchen aufwickeln kann. Jemand hat sogar einen Rechner konstruiert, mit dem sich der voraussichtliche Verbrauch von WC-Papier für eine beliebig zu definierende Dauer der Quarantäne ermitteln lässt. Die Entwickler des Programms haben sich auch darüber Gedanken gemacht, dass nicht alle Menschen mit dem Papier gleichermassen umgehen, sei es beim grossen oder beim kleinen Geschäft. Man kann seine individuelle Scheisskulturtechnik einstellen.

Die Krise wirft uns auf uns selber zurück. Der grösste Teil der veranstalteten Kultur wurde angehalten, abgesagt und verschoben. Die Gefahr, zu erkranken, zeigt sich verhüllt, durch schwer verständliche Statistiken, oder in zwar dramatischen, aber hauptsächlich eine so genannte Risikogruppe betreffenden Bildern. Das Hamstern von Grundnahrungsmitteln und WC-Papier ist Ausdruck der Angst, die Krise könne noch vor einer Infektion durch den Virus den unentbehrlichen Teil der Kultur und damit die Unversehrtheit des Körpers angreifen.


Nie ist das dünne Häutchen Kultur über den rauhrobusten Muskeln der Natur dünner als dort, wo Menschen ein Scheisshäuschen aufgestellt haben. Wobei, beim Erledigen eines grossen Geschäfts in der freien Natur, bei dessen erstem Mal man als kleiner Bub eher vom Vater, als kleines Mädchen von der Mutter, fachgerecht angeleitet worden war, konnte man erst recht nur auf ein Weniges an Kultur vertrauen zwischen seinem angestrengt hockenden, sich beim Putzen in schmerzhaften Verrenkungen ergehenden kleinen Körper und der Natur. Die Hosen waren nur heruntergelassen, blieben mit etwas Glück und Geschick auch sauber und konnten zum Schluss wieder hochgezogen werden. Selten hat man sie stärker als Schutz erlebt, warm umschliessend und das an den Körperausscheidungen so interessierte Gefleuge abhaltend. Mit Schuhen war es leichter ohne Ekel oder gar Angst zu überstehen als ohne, und wenn ein umsichtiger Erwachsener einem ein Stück Toilettenpapier oder ein Papiernastuch mitgegeben hatte, fühlte man sich nicht so ausgesetzt, wie wenn man, unter Druck, zuerst nach einem geeigneten Blatt Ausschau halten musste. Und dann war das Material ja oft nicht geeignet, es riss oder fühlte sich beim Kontakt mit der empfindlichen Körperöffnung unangenehm hart und pelzig an.

Wir waren nicht die Camper- und Zelterfamilie, die ersten Begegnungen mit Scheisshäuschen machte ich in einer Berghütte im Wallis, und dann beim Grossonkel und den Grosstanten in Cornol. An beiden Orten standen sie nahe beim Haus, was es leichter machte, sie auch bei Dämmerung noch aufzusuchen. Man konnte die Stimmen der andern hören, hätte sich im Notfall auch bemerkbar gemacht. Der Geruch war an beiden Orten sehr ähnlich, nicht einmal schlimm. Er mischte sich mit Gerüchen von sonnenbeschienenem Holz und Rauch, mit den Dünsten aus dem Stall und der Küche. Es war ein familiärer, warmsüsslicher Geruch, angenehmer jedenfalls als der penetrante Geruch eines einzelnen Menschen, der vor einem eine normale Toilette benutzt hat. In Cornol hatte unser Vater geraten, man solle, vor allem im Sommer, zuerst einen kräftigen Tritt an die Holzkiste mit den zwei Sitzlöchern geben. Sonst hätte das Hinterteil keine Ruhe vor den Fliegen. Diesen Tritt habe ich der Kiste am Anfang gegeben, bevor ich mich darauf setzte. Es kamen aber kaum Fliegen aus dem Loch, und so habe ich das dann gelassen.

In Kirgisstan, am Yssik-Kul-See, wurde während eines seminár, an dem ich beobachtend teilnahm, das Scheisshäuschen im Garten immer schiefer und drohte abzustürzen. Es hatte eine kleine blaue Stoffschleife an der Tür, die man aussen hinhängte, um anzuzeigen, dass es besetzt war. Gewartet wurde in respektvollem Abstand, und wenn dann die Vorgängerin oder der Vorgänger herauskam und man sich zwischen den Gemüsebeeten kreuzte, wurde man darüber informiert, wie schief es jetzt stünde, wo man am besten nicht hintreten solle, wenn man nicht mit dem ganzen Kabäuschen ins Loch fallen wolle, und so weiter. Eines Morgens stand das Häuschen dann wieder gerade, an einem neuen Ort. Die Balken, auf die es über der frisch ausgehobenen Grube gestellt war, sahen grün aus, zugehauen aus dicken Pappelästen. Und es gab einen beruhigenden Vorrat an Blättern aus Zeitungspapier, schön zu Quadraten gerissen und in kleinen Stapeln geordnet. Sogar eine Rolle Toilettenpapier hing da, für die Ausländer. Die Gastgeber hatten offenbar bei der Schieflage des Häuschens am alten Ort keine besonderen Anstrengungen mehr machen mögen, sich im besten Licht zu zeigen. Das holten sie jetzt nach. Es roch gut, nach frischer Erde, die alte Grube war bereits zugeschaufelt, und alle lobten den Komfort und die Gastfreundschaft der Bauernfamilie.

Ein paar Jahre später, in Tadschikistan, habe ich ein noch propereres Scheisshäuschen angetroffen. Der Boden bestand aus Lehm, der sorgfältig in die Waagrechte gestrichen, dann gestampft und schliesslich sogar poliert worden war. Unglaublich! Ich musste immer wieder schauen, bei geöffneter Tür die Spiegelung auf dem glänzenden Boden bewundern, die das kleine Fensterchen in der Rückwand dorthin warf. Das Loch, am Boden wie bei allen Plumpsklos in Zentralasien, war eingefasst mit zwei hellblau gestrichenen Brettern, die zwischen sich eine schlüssellochartige Öffnung freiliessen. Alles war so sauber, dass man vermuten musste, es werde mindestens einmal am Tag geputzt. Als ich das Häuschen zum ersten Mal benutzte, konnte ich mir noch keinen Reim machen auf die kleinen Tonkugeln, die am Boden aufgetürmt waren zu exakt ausgerichteten Pyramiden, wie Kanonenkugeln. Als ich diskret bei E nachfragte, erklärte er mir, dass dies zum Putzen des Hinterns sei, nach dem Kacken. Dieses Material und die Form sind hier im Pamir nach der Tradition üblich, erklärte er mir. Und die älteren Leute fänden es hygienischer als Zeitungspapier. Ich habe es dann einmal ausprobiert, es hat mich aber nicht überzeugt, und ich war froh, dass es auch Papier da hatte. Das Gefühl hat mich erinnert an meine Freilandversuche mit verschiedenen Blättern, Hölzchen und – tatsächlich kam mir in den Sinn, dass ich einmal in der Not, als alle Blätter aufgebraucht oder zerrissen waren, ein Stückchen getrocknete Erde genommen hatte. Es gab in dieser Gastfamilie eine sehr alte Grossmutter, und als ich auch sie einmal aus dem Häuschen im Garten kommen sah, fragte ich mich, und dann schliesslich E, wie denn eine so alte Frau zurechtkomme mit einem Klo, in dem man sich hinkauern muss. Sie hat das ihr Leben lang gemacht, meinte er, und in der Nacht benutzt sie wohl den Nachthafen. Dann erzählte er mir von einer andern Familie mit einer alten Grossmutter. Ihre Leute hätten vor kurzem eine neue Toilette mit fliessendem Wasser, angeschlossen an eine funktionierende Kanalisation, in ihr Haus eingebaut. Die Grossmutter sei entsetzt gewesen über den Gedanken, die Toilette im Haus drinnen zu haben, weil sie nichts anderes kannte, als die Gruben ohne Abfluss, die sich periodisch in übel riechende, gefährlich dreckige Löcher verwandelten, dann mit ein paar Kubikmetern Erde gefüllt und an neuem Ort ersetzt werden mussten. Das System der Kanalisation erklärten sie ihr geduldig solange, bis sie sich endlich entschloss, ihre Gänge ins Gartenscheisshäuschen aufzugeben, das man wegen ihr noch eine Weile hatte stehen lassen.

In der Nacht kann man nicht im Dreiviertelschlaf pinkeln gehen und wieder ins Bett zurücktorkeln, wenn das Häuschen im Garten steht. Auf derselben Reise, auf der ich die Arschputz-Lehmkugeln kennengelernt hatte, wachte ich, nach einem Abend mit Bier und Wodka, in der Nacht in einem kleinen Bauernhaus auf, mit starkem Harndrang. Es war so finster, dass ich absolut nichts sehen konnte, auch nicht den leisesten Schimmer von einem Fenster oder einer Türe. Ich wollte meine kleine Taschenlampe anzünden, aber die Batterien waren leer. So schälte ich mich aus dem Schlafsack, stand auf und tastete mich mit gestreckten Armen vorwärts, bis ich an einer Wand ankam. Ich hatte keinerlei Vorstellung mehr von dem Zimmer, da ich sehr müde schlafen gegangen war, und so tastete ich mich der Wand entlang bis zu einer Zimmerecke, von dort weiter bis zur nächsten. Erst nach der dritten Ecke fand ich die Türe und machte sie auf. Ich sah einen ganz schwachen Schein zur Linken, und damit kehrte der Orientierungssinn wieder zurück, zum Glück. Das war die Haustür, die offenbar nachts offen blieb. Ich tastete mich langsam bis zur Schwelle, setzte einen Fuss darauf, – und erschrak heftig, weil sie weich war! Der Hund! Ich war auf den Hund getreten, der auf der Schwelle geschlafen hatte und jetzt mit einem kleinen Jauler aufsprang, ebenso erschrocken wie ich. Er schien aber daran gewöhnt zu sein, auf diese Weise gestört zu werden, wedelte gleich wieder und leckte mir die Hand. Bis er endlich Platz machte, pinkelte ich mir fast in die Hose, und so schaffte ich es halt nicht mehr bis zum Häuschen. Irgendwo unterwegs dorthin, auf den verwinkelten Weglein zwischen den Gemüsebeeten, gab ich auf. Ich entleerte meine Blase in einen Busch, von dem ich hoffte, dass er nichts Essbares an sich trug. Als ich ins Haus zurückkehrte, war ich so wach, dass ich schon fast nicht mehr einsah, warum ich aus der Natur wieder ins Bett zurückkehren sollte.

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