Sonntag, 22. März 2020

Pause


Gestern besuchte ich den Pausenhof meiner Primarschulzeit, was eigentlich nach den Richtlinien des Bundesrates schon nicht mehr ganz korrekt war. Ich gehöre mit sechsundsechzig Jahren und einem chronischen Lungenproblem eindeutig zur Risikogruppe dieser Pandemie, die zur grössten verordneten Pause führte, die die Welt jemals erlebt hat.

Nun stehe ich um zehn Uhr morgens auf diesem Platz, der an einem normalen Schultag um diese Zeit von lautfröhlichem Gewusel erfüllt wäre. Er ist völlig leer, das Schulhaus scheint verwaist und geschlossen. Nur aus einem geöffneten Fenster höre ich die Stimmen einer Lehrerin, und weniger Kinder, die zuhause nicht betreut werden können. Es gibt niemanden, zu dem ich Abstand halten müsste.

Der Platz kommt mir kleiner vor als damals, alle Räume schrumpfen gegenüber der Erinnerung, wenn wir sie seit der Kindheit nicht begangen haben. Ich sehe mehrere Mäuerchen, die für das Singspiel in Frage kämen. Die roten Baracken, in denen früher die kleinen Klassen mit den ganz speziellen Lehrern und Kindern untergebracht waren, stehen immer noch, und die Föhren davor sind riesig geworden. An den einen Brunnen kann ich mich gut erinnern, weil ich dort immer getrunken und gespritzt habe, ein flaches, rundes Becken aus Kalkstein mit drei Messingwasserhähnen, die in gleichmässigen Winkeln den Kreis teilen. Wenn man einen zuhält, wird der Strahl bei den anderen kräftiger, was das Spritzspiel sehr dynamisch machte. Das Wasser schmeckte metallisch.

Es sei jetzt grosse Pause, hat der Lehrer gesagt. Ich war enttäuscht vom ersten Schultag, es hatte noch gar nicht richtig angefangen, da mussten wir schon wieder hinaus auf einen grossen Platz, dem man Pausenhof sagte. Wir hatten noch nicht richtig Schule gehabt. Am Anfang waren die Eltern dabei, bei mir war die Mutter mitgekommen. Sie sah es nicht gerne, dass mein Cousin und ich uns nebeneinander setzten, wir hatten es etwas zu lustig miteinander, was ich zugeben musste. Unsere Aufgabe bestand darin, etwas zu zeichnen, was man in den Frühlingsferien erlebt hatte. Ich hätte aber lieber etwas Richtiges gemacht, etwas, das mit Schule zu tun hat. Aber jetzt musste ich die breite Treppe hinunter auf den Pausenplatz. Es war sehr laut, und als ich unten ankam, konnte ich nur noch die Kinder sehen, die dicht um mich herum waren. Ich merkte, dass die meisten grösser waren als ich. Es gab ein Gedränge unten an der Treppe, obwohl sie sich über die ganze Breite des Vorplatzes ausdehnte, die meisten Kinder schienen zu rufen oder zu schreien, viele rannten und schubsten dabei alle weg, die ihnen im Weg standen. Ich suchte mir einen freien Platz, da tippt mich jemand von hinten auf die Schulter. Ich drehe mich um, steht da ein Bub vor mir, viel zu nahe, ein rundes Gesicht mit einem blonden Lockenschopf. Grinst mich an und sagt Salut!, wie wenn wir Freunde wären. Ich kenne den gar nicht, er kommt mir sehr komisch vor. Verlegen grüsse ich zurück. Salut!

Das war der Schorsch M, was ich damals noch nicht wusste. Wir lernten ihn später alle kennen, weil unser Lehrer der Schulhausvorsteher war, und Schorsch oft bei ihm antreten musste, wenn er etwas Dummes und Verbotenes gemacht hatte. Einen Eisenwinkel durch die Sitzfläche eines Stuhls gehauen, oder im WC die Wand vollgepinkelt, weil er schauen wollte, wie hoch er kommt. Dann fragte unser Lehrer, Schorsch, was hast du wieder gemacht, und der musste beichten. Aber oft lachte der Lehrer mit uns mit, weil der Schorsch dermassen blödes Zeug im Kopf hatte, und es so erzählte, als wäre es ihm einfach passiert, als ob er das hätte machen müssen. Er war wirklich komisch, aber sehr lieb. In der zweiten oder dritten Klasse kam Schorschs älterer Bruder zu uns in die Klasse. Der war ganz anders, sehr vernünftig, manchmal erschien er mir schon wie ein Erwachsener. Er sass neben mir, und als wir einmal erzählen und aufschreiben mussten, was wir später werden wollten, hatte ich keine Ahnung, er aber sagte mit Bestimmtheit, er werde Koch.

Das wurde er dann auch. Ich traf ihn später mehrmals in der Halle des Fechtclubs oder an Turnieren, weil wir beide Söhne hatten, die fochten. Als ich ihn nach Schorsch fragte, wurde er traurig. Der sei immer sehr leicht beeinflussbar geblieben, habe Drogen genommen als Jugendlicher, und dann auch gedealt. Dafür sei er, als er gerade erwachsen wurde, im Gefängnis gelandet. Aber du hast ihn ja gekannt, den Schorsch konnte man nicht einsperren. Er hat sich in der Zelle aufgehängt. Das tat mir leid, und ich erzählte dem Bruder, wie mich Schorsch am ersten Schultag begrüsst habe, obwohl er mich überhaupt nicht kannte. Ja, genau so war er!

An die Pause, vor allem an die grosse, musste ich mich gewöhnen. Es gab merkwürdige Spiele, bei denen die grossen Mädchen Regie führten. Auf einem Mäuerchen sassen ein paar Kinder, meistens nur Mädchen, dazwischen vereinzelte Buben, die sich trauten. Vor ihnen bildeten andere Kinder eine Reihe, alle hatten sich untergehakt, machten immer zwei Schritte nach vorne gegen die Sitzenden, dann wieder zurück, dazu sangen sie.
Die besten Zeiten
sind vergangen,
und der Heini
muss ins Militär.
Und dann kommt er in die Stadt,
Wo er seine Liebste hat,
und dann küsst er ihren rosaroten Mund.
Oh Martha weine nicht,
Den Heini kriegst du nicht!
Er muss ins Mili-Militär
und kommt nie mehr!
Und natürlich prusteten alle wie verrückt. Heini und Martha waren unter den Sitzenden, liefen, als sie ihre Namen hörten, rot an und stoben soweit auseinander wie sie konnten. Bald kehrten sie aber zurück, um mit den Sängern zu tuscheln und eine neues Paar als Opfer auszusuchen. Dann ging es weiter mit den besten Zeiten. Als ich in der ersten, oder auch noch in der zweiten Klasse war, hatte ich nichts zu befürchten, wenn ich dem Spiel zuschaute. Später musste man einen grossen Bogen darum machen, sonst zwangen einen die Mädchen, mitzumachen. Wenn man zu viel Widerstand leistete, wurden sie kratzbürstig, und gab man zu schnell nach, galt man bei den Buben als Mädchenschmecker.

Gegenüber dem unteren Eingang in den Pausenhof, jenseits der Niederholzstrasse, war eine Wiese, die sich bis zur Rauracherstrasse erstreckte. Dort, wo heute ein grosses Einkaufszentrum steht, gab es damals einen kleinen Kiosk, zu dem ein schnurgerader Trampelpfad führte. In der grossen Pause wetzten wir manchmal schnell dorthin und kauften uns Süssigkeiten. Es gab zum Beispiel kleine, würfelförmige Kaugummipackungen mit nur vier Dragees, die nicht lange schmeckten. Darin eigepackt war aber ein kleines, geriffeltes Bildchen, ein Wiggliwaggli-Bild, wie wir es nannten, auf dem sich etwas bewegte, wenn man es vor den Augen hin und her kippte. Die waren sehr beliebt, und man konnte sie tauschen. Natürlich war es streng verboten, in der Pause zum Kiosk zu rennen, weil der nicht zum Schulareal gehörte. Unser Lehrer, der Schulhausvorsteher, stellte, als es ihm zu bunt wurde, einige Viertklässler an, welche die vom Kiosk Rückkehrenden verhafteten. So wurde auch ich eines Tages geschnappt von zwei grossen Buben, die mir den Arm auf den Rücken drehten und mich zum Lehrer abführten. Das fand ich sehr gemein.

Ich mache ein paar Fotos und packe dann die Kamera in den Rucksack. Ich möchte nicht länger hierbleiben.

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