Dienstag, 24. März 2020

Brachen 1


Jenseits unseres Gartenzauns hinter dem Haus begann die Wildnis, mit verwilderten Obstbäumen auf einer holprigen, struppigen Wiese, die kaum je gemäht wurde. Sobald wir konnten, kletterten wir über den Hag. Vor dessen Spitzen wurde gewarnt.

Die Situation in Peter und der Wolf, mit der langweiligen Geborgenheit des Gartens und der aufregenden Welt ausserhalb des Gartentors, wo man den Wald in der Ferne erahnt, aus dem der Wolf heraustreten wird: Taaaaa, tädärädädätä ta ta ta ta taaaaa! Das war vertraut, schon beim ersten Mal Hören.

Einmal träumte ich, ich sei in unserem Wohnzimmer mit der breiten Glastüre. Dahinter der nächtliche Garten, dann, noch knapp zu ahnen, der Gartenhag. Dann tiefe Schwärze. Drohend, ich wusste schon, da wird etwas kommen, aus dem Dunkel. Und, waff!, da ist er schon, ein riesiger Tiger, orangeschwarz gestreift, streicht dem Glas entlang. Es hat mich hochgeschnellt, und ich sitze zitternd und schweissnass im Bett.

Im Frühling, als man zum ersten Mal wieder draussen spielen konnte, entdeckten wir einmal eine alte Badewanne unten an der Böschung. Wir setzten uns hinein, und immer mehr wollten mitfahren. Einmal war es ein Schiff, dann ein Flugzeug. Je enger es wurde, weil immer mehr sich hinten hinein quetschten, desto lustiger und lauter wurde es. Aber bald war es langweilig, weil wir nicht richtig fuhren, wir konnten die Wanne nicht bewegen, auch alle zusammen nicht. Sie stemmte ihre Löwenfüsse in den weichen Boden und widerstand unseren Anstrengungen. So fingen wir an, auf dem Hosenboden das kurze, steile Stück des Abhangs hinunterzurutschen. Die Sonne stand tief, wollte bald untergehen, aber es war noch immer warm. Und kein Erwachsener hatte sich gezeigt, den ganzen langen Nachmittag. Was für eine Freiheit! Ich hatte über den Winter vergessen, wie schön der Frühling ist, wenn man wieder alle Kinder vom Quartier trifft und mit ihnen herumtollen kann.

Als wir ein Kaninchen hatten, ein chinchillafarbenes, in einem Stall im Garten, kamen mein Bruder und ich auf die Idee, es könnte Freude haben an einem Spaziergang auf die grosse Wiese. Ich nahm es auf den Arm, und mein Bruder band ihm eine Schnur um den Hals, als Leine. Als wir über den Zaun geklettert waren, setzten wir das Tier ab. Grauer Zickzackblitz quer durchs hohe Gras, ein Hasenfell, hochgerissen von der Schnur und heruntergeklatscht und reglos dann. Einen Moment der Panik, es sei tot. Aber es begann wieder zu atmen und erholte sich rasch. Wir kehrten so diskret wie möglich in den Garten zurück und setzten es wieder in den Stall. Es war gut zu wissen, dass das Kaninchen nicht petzen würde.

Die Wiese wurde erst bebaut, als wir grösser waren. Fotos aus der Zeit meiner frühen Kindheit zeigen überraschend weite Perspektiven von unserem Garten aus. Man sieht bis zur Wackernagelstrasse hinauf, und zu den wenigen Häusern, die sie damals säumten. Der Boden der Brachfläche bestand aus Löss. Einmal entdeckte ich auf einem Streifzug ungewohnte Bewegungen im Revier, näherte mich und traf auf eine Gruppe älterer Buben, die ein ungeheuer tiefes Loch in den ockerfarbigen Grund gegraben hatten. Sie waren gut ausgerüstet, mit Pickeln, Spaten und mehreren Schaufeln. Auch eine improvisierte Leiter gab es bereits, zusammengenagelt aus Dachlatten, die in die Tiefe führte. Nach einigem Betteln durfte auch ich hinuntersteigen. Auf dem Weg in die Tiefe roch es nach frischem Lehm, und es wurde schnell kühler. Die Wände der Grube waren ganz glatt, gegen oben fast spiegelnd. Wie tief war ich damals unter der Erdoberfläche? Ich blickte sehr beeindruckt, aber ohne Furcht, hinauf zu der weiss gleissenden Öffnung.

Auf dem Heimweg vom Kindergarten gab es ein kleines Wäldchen, das nicht zu einem Garten zu gehören schien. Bald fanden wir heraus, wo man sich am besten durch die Zweige ins Innere des dämmrigen Gehölzes zwängen konnte. Eines Tages fand ein Kind unter dem Laub ein Stück Metall, einen Eisenbogen, verziert mit einem Engelsköpfchen und einer Blumenranke. Niemand von uns traute sich, den Schatz mitzunehmen, also wurde er wieder sorgfältig eingebuddelt. Dann aber fanden auch andere Kinder ähnlich Stücke, alle waren schwer, rostig und mit Blumen oder Engelsköpfen verziert. Wir begriffen, dass alles irgendwie zusammengehören musste, und begannen, die Stücke auf einer vom Laub befreiten Fläche auszulegen. Gemeinsam suchten wir nach einem System, wie wir das Puzzle zu verstehen hätten. Man probierte Variationen, legten die Teile um und begann immer wieder neu. Als klar wurde, dass es sich um einen zerbrochenen Torbogen handeln musste, konnte man gezielt nach fehlenden Stücken suchen. Das musste in kurzen Etappen, verteilt auf viele Tage, geleistet werden, denn es war klar, dass die Eltern das aufregende Spiel beenden würden, wenn wir jeden Tag später nach Hause kämen. Als fast das ganze Gittertor ausgegraben und ausgelegt war, verloren wir das Interesse. Einige nahmen sich ein Stück mit nach Hause, auch ich. Gusseisen! Nicht einmal schlecht, urteilte mein Vater, vergoldete das Engelchen und hängte den neobarocken Schnörkel in den Hausflur.

Wo später einer der ersten Spielplätze in der Agglomeration entstand, war auch so ein Feld, das niemandem zu gehören schien. Der erste Verkaufswagen der Migros hielt jeweils dort. Es gab Kieshaufen zwischen hohen Grasbüscheln, und man konnte wunderbar Verstecken spielen. Auch entdeckte man immer etwas, zwischengelagertes Baumaterial, Weggeworfenes, Rätselhaftes, Gefährliches. Einmal fand ich, zusammen mit einem Freund aus dem Kindergarten, eine Chiantiflasche im Bastkörbchen. Es waren noch ein paar Tropfen Wein darin, die scheusslich sauer rochen und ausgeleert wurden. Wir versuchten, die Flasche mit Wasser aus einer Pfütze zu füllen, was uns aber nicht gelang. Dann wollten wir den Korb herunterpuhlen, was erst nach mühsamem Durchraspeln der oberen Bastschnur möglich war. Wir verwendeten eine Glasscherbe dafür, und die hat uns dann wohl auf die Idee gebracht, die Flasche mit Steinen zu bewerfen und zu zertrümmern. Da kamen zwei grosse Buben, die schimpften mit uns. Die Scherben seien gefährlich für alle, die hier durchgingen, vor allem im Sommer, für nackte Füsse. Waren eigentlich sehr vernünftig, die zwei, aber wir fanden sie saublöd, gerade deshalb. Dann verlangten sie noch von uns, dass wir die Scherben einsammeln und in das Körbchen legen sollten. Zuerst wollten wir uns davonmachen, aber sie packten uns am Kragen und wurden laut. So gehorchten wir widerwillig, das zerbrochene Glas wurde aber nicht in den Korb gelegt, sondern geschmissen. Plötzlich sehen mich alle mit aufgerissenen Augen an, und bevor ich fragen kann, was los sei, läuft mir Blut ins linke Auge, viel Blut. Einer der Grossen streckt mir sein Taschentuch entgegen, ich drücke es dorthin, wo ich den Schnitt vermute, springe auf und renne nach Hause. Obwohl ich ziemlich besudelt dort ankomme, errege ich nur mässig Aufsehen, weil eine Einladung im Gange ist und die Erwachsenen mit sich beschäftigt sind. Man diskutiert kurz, ob ich genäht werden müsse, entscheidet sich aber zu meiner Erleichterung dagegen. Ich bekomme ein Pflaster. Natürlich erzähle ich nicht die ganze Geschichte. Dass ich Glück gehabt habe, muss ich mir viele Male anhören. Das hätte auch ins Auge gehen können! Der Schnitt hinterliess eine Narbe, die lange sichtbar blieb und stolz getragen wurde.

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