Freitag, 20. März 2020

Orte (Tektonik)


Das Riehen meiner Primarschulzeit hat Schichten, wie mir beigebracht wird, wie ich andererseits aber auch selber herausfinde. Oben ist der Wald. Wo die Menschen Steinbrüche hineingeschlagen haben, tritt ein weiches Material zutage, ein Gemisch aus Steinigem und Erdigem, in der Heimatkunde mussten wir uns dafür das Wort Molasse merken. Dabei musste ich an das andere Wort denken, an die Melasse, die wir manchmal zuhause hatten und, mit Butter zu Laussalbe eifrig vermischt, aufs Brot strichen. Vielleicht war das richtige Wort aber auch Mergel, und nicht Molasse. Mergel ist auch so ein komisches Gemisch, mit dem man gut Wege machen kann, so erfuhren wir. Die Steinbrüche waren nicht mehr in Gebrauch, das heisst, es wurde dort nichts mehr abgebaut, ausser von uns an den Schuhen mitgeschleift nach Hause, wo der Dreck nicht willkommen war nach den Schulausflügen.

Unmittelbar unter dem Wald, am Hang, begannen die vornehmen Häuser. Die älteren mit helmartigen Walmdächern, rauem Besenwurf an den Aussenwänden. Und schon mit einer oder gar zwei Garagen. Dann die Villen, Schachteln im Stil des Neuen Bauens, die meinem Vater gefielen, oder im englischen Landhausstil, über den er die Nase rümpfte. Die Gründe für sein Urteil erklärte er mir, ich verstand sie aber nicht ganz. Nur, dass es um so etwas wie echt gegen pseudo ging. Alle Häuser hatten mindestens eine Autogarage und grosszügige Einfahrten. Im Garten standen mächtige Bäume, manchmal kleine Wäldchen. In einigen Gärten gab es ein Schwimmbassin. Das konnte man aber meist nur sehen, wenn der Thujahag ein Loch hatte. Die ganze Gegend am Hang wurde wegen der reichen Bewohner Goldküste genannt. In meiner Klasse gab es ein Grüppchen von Kameraden, die dort wohnten, darunter auch mein Cousin.

Der Hang senkt sich hinunter bis zur nächsten Terasse, zu einer andern Schicht. Er wird unterbrochen von Strassen, die quer dazu geführt sind, damit die Steigung für die Autos leicht zu bewältigen ist. Und unten wird der Hang auch abgeschlossen von Querstrassen. In der Zeit, als ich in den Kindergarten und dann in die Primarschule ging, gab es noch unbebaute Wiesen und Felder am Hang, zwischen diesen Querstrassen. Im Winter fiel noch häufiger Schnee als heute, und auf einem dieser Wiesen konnte man wunderbar schlitteln. Der oberste Teil, von der Wackernagelstrasse weg die ersten paar Meter nach unten, war sehr steil, es brauchte Mut sich da hinunterzustürzen. Dann ein heftiger Knick in einen etwas flacheren Hangteil, bei dem die Zunge nicht zwischen die Zähnen geraten durfte. Die Neigung nahm schliesslich gegen die untere Strasse zu immer mehr ab, aber hier hatte man die grösste Geschwindigkeit. Tränen in den Augen. Attasio!, haben wir gebrüllt. Attasioo, siruplee, die Alti kocht Kamilletee! Wenn mehrere Eistage einander folgten, war die Piste so schnell, dass man unten noch über Trottoir und Strasse sauste, dann über das andere Trottoir, und bei den Häusern dort die Einfahrt hinunter ins Garagentor. Also, das konnte man nicht oft machen, denn dann kamen die Besitzer heraus und schimpften.

Hier standen nun ganz andere Häuser als an der Goldküste, meistens Reihenhäuser, oder zumindest Doppelhäuser. Und es wohnten andere Leute hier. Wir zum Beispiel, mit einem Lehrer als Vater. Andere Väter waren Kaufmännische, allenfalls Prokuristen, schafften in der Chemischen oder bei der Gemeinde. Ich konnte mir unter diesen Berufen nichts vorstellen, aber dass es etwas anderes war als Arzt, Professor, Geschäftsmann mit eigenem Geschäft, Bankdirektor, das wusste ich schon. Diese Schicht war auf Löss gebaut. Oder Lehm. Wenn hier eine Baugrube ausgehoben wurde, kam zuerst eine dicke Schicht dieses ockerbraunen, kompakten Materials zum Vorschein, in dem sich jeder Spatenstich, Pickelhieb, oder Backergrapscher akkurat abzeichnete. Wenn der Spaten vorne einen Riss hatte, hinterliess er einen zusätzlichen Strich, eine Spur, anhand derer man genau sehen konnte, wo überall genau dieses Werzeug benutzt worden war. Erst wenn die Arbeiter tiefer gruben als zwei Meter, stiessen sie da und dort auf Kies. Diese Terasse, auf der wir lebten, war von den Überschwemmungen der Wiese und des Rheins immer verschont geblieben, oder jedenfalls sehr lange Zeit, so lernten wir in der Heimatkunde. Deshalb hatten Menschen hier schon am längsten Häuser gebaut. Die meisten Kinder in meiner Klasse kamen aus dieser mittleren Schicht. Sie waren mir am vetrautesten, benützen die gleichen Worte, redeten von den gleichen Sachen, trugen ähnliche Kleider. Ihre Eltern hätten zum Teil auch meine Eltern sein können, fand ich. Wir spielten viel draussen, auf einer Nebenstrasse, auf den Brachen. In Garageeinfahrten, auf der Treppe, die den Hang hinaufführte. In den Gärten der Nachbarskinder.

Unser Primarschulhaus stand auf der untersten Terasse. Schwemmgebiet des Rheins und der Wiese. Das war am einfachsten zu verstehen, weil hier überall Kies zum Vorschein kam. Und Kies brachte ich von alleine mit Wasser in Verbindung. Mein Schulweg führte nochmals einen Hang hinunter, über einen Treppenweg in die Niederungen unten am Rain. Auch ein Wort, das wir in der Schule lernten, und das gewisse Strassen hier unten im Namen führten. Bluttrainweg, Rainallee. Es bedeutet gleichzeitig Abhang und Ackergrenze. Mit dem Hang überschritt man eine Grenze, so schien es mir. Die Häuser standen hier auch in Reihen, aber sie waren viel grösser. Dem sagten die Kinder, die darin wohnten, Block. Und den Teil des Blocks, in dem sie lebten, nannten sie Wohnung. In andern Strassen waren die Häuser auffallend gleich. Marschierten im Gleichschritt und trugen Uniform. Nur durch die Hausnummern, durch Geräte und Kinderspielzeug vor der Tür zu unterscheiden, oder durch Scherenschnitte hinter Fenstern. Kinder von hier antworteten auf die Frage, wo sie wohnten, in der Genossenschaft. Oder, im Rüchligweg. Da standen Holzhäuser, immer vier aneinandergebaut, aufgestellt in mehreren parallelen Reihen. Dazwischen schlecht gepflegte Rasenflächen mit Trampelpfaden, welche die Bewegungen der Bewohner nachzeichneten. Die Gebäude erinnerten an Baracken. Alle Terassen waren vollgehängt mit Wäsche. Wir hatten einige Kinder in der Klasse, die in solchen Häusern zuhause waren. Ein Mädchen kam oft mit sehr fettigen Haaren und verklebten Augenwimpern in die Schule. Seine Stimme war rau, und es roch seltsam, nach Zigarettenrauch und abgestandenem Essen. Es hatte immer Süssigkeiten dabei, die es grosszügig an die andern Mädchen der Klasse verteilte, sehr zögernd auch an Buben. Ein Bub redete fast nicht, erschien ernst, und hiess auch so. Er kam mir älter vor. Manchmal hatte er blaue Flecken im Gesicht oder an den Armen, ich dachte mir aber nichts dabei. Erst im Laufe der Primarschuljahre hörte ich andere Kinder oder Erwachsene sagen, er werde zuhause geschlagen. Ein anderer Junge, R, faszinierte mich wegen seiner Frisur und den Geschichten, die er erzählte. Er trug vorne eine Haarwelle und hinten ein Entenfudi, alles zusammengeklebt mit süsslich riechender Pomade, und immer wieder geglättet und frisch gerillt mit einem Kamm, den er in der Gesässtasche, gut sichtbar, stecken hatte. Sein Gesicht war sehr schmal, aber mit kräftigen Kinnmuseln versehen, die er spielen lassen konnte wie Lex Barker als Old Shatterhand. Ein Halbstarker, wurde hinter seinem Rücken geraunt. Es gibt ein Klassenfoto aus der Vierten, in zwei Fassungen. Auf beiden Bildern steht R neben mir, auf einem hat er die Fäuste erhoben in Boxerpose, wie Cassius Clay wollt er aussehen. Wegen ihm musste der Fotograf nochmals abdrücken, bot aber hinterher immerhin beide Varianten zum Kauf. Ich traute mich, das Bild mit dem kleinen Boxer zu bestellen, obwohl ich wusste, dass meine Eltern meckern würden. Aber R war mein Freund, übernahm den ersten Teil meiner Aufklärung. Auf einem Schulausflug, auf dem wir die Grenze Riehens abschritten, und eigentlich in die Geheimnisse der Grenzsteine hätten eingeweiht werden sollen. Was es mit den Lohen, Zeugen und Marken auf sich hatte, die unter ihnen vergraben waren, damit sie nicht unbemerkt verschoben werden konnten. Just auf diesem Marsch erzählte mir R, er habe vor kurzem einen Nachmittag mit einem Mädchen der Nachbarschaft im Nest verbracht. Er tuschelte und nuschelte herum, und ich verstand nicht, was daran so spannend sein sollte. Was sie denn im Nest gemacht hätten. Und er begann mir zu erklären, wie die Erwachsenen die Kinder machen würden. Die Erläuterungen wurden immer wieder unterbrochen durch die Zwischenhalte bei den Grenzsteinen, wo R aufhören musste und wir beide so taten, als würden wir dem Lehrer zuhören. Diese Zerstückelung des Redeflusses, das Geflüster sowie das ärgerlich lückenhafte Wissen meines Aufklärers bewirkten, dass ich, völlig verwirrt, tausend Fragen hatte, die ich mich aber zu stellen nicht traute, oder die R nicht beantworten konnte. Wir waren beide so offensichtlich nicht bei der Sache, um die es dem Lehrer ging, dass er von uns verlangte, wir sollten über das, worüber wir die ganze Zeit gesprochen hätten anstatt aufzupassen, einen Aufsatz schreiben. Das ging natürlich nicht. Und so konnte wir nichts anderes tun, als auf seine bekannte Vergesslichkeit und Inkonsequenz zu vertrauen und den Aufsatz einfach nie abzugeben. Das klappte zum Glück.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen