Samstag, 15. Mai 2021

Geburtstage und andere Feiern

Seinen eigenen Geburtstag hatte er in diesem Jahr gar nicht feiern können, weil Mr. Rockefeller anfangs August von Seal Harbour nach New York zurückgekehrt war und weiterhin von der Ludlow-Affäre stark in Anspruch genommen wurde. In der Mitte des Monats waren auch seine Frau und die Kinder wieder im Haus, und der Alltag kehrte ein. Für die Amerikaner war der Krieg eine Sache der Europäer. Wenn europäische Auswanderer nun mit patriotischen Versammlungen, Demonstrationszügen und Streitschriften für die Sache ihrer verfeindeten Heimatländer warben und so die Auseinandersetzungen ins Gastland trugen, sah man das nicht gerne. Alcide erhielt Briefe von seinem älteren Bruder Baptiste, in denen dieser die komplizierte Situation zu erklären suchte. Zum Jahresende fassten Zeitungen die Ereignisse des Jahres zusammen. WHAT HAPPENED DURING THE SENSATIONAL YEAR 1914. Alcide verstand bei weitem nicht alles, was er da las. Es irritierte ihn, auf Illustrationen, die den Krieg sinnbildlich darstellen sollten, mehrfach die Gestalt Napoleons auftauchen zu sehen, als riesige, drohende Gestalt, welche die Welt zu ihren Füssen zermalmte. Waren nicht die Österreicher zuerst über Serbien, die Deutschen zuerst über Belgien, dann über Frankreich hergefallen in diesem Krieg? Waren es nicht die boches, die unter hohen Verlusten der Franzosen und ihrer Verbündeten zum Stillstand gebracht und gezwungen werden mussten, sich einzugraben? Aber eben, da er die Zusammenhänge nicht durchschaute, hielt er sich zurück im Urteil darüber, von welcher Seite zuerst oder in besonderem Masse Gewalt ausgeübt worden war. Er hoffte, wie alle, es möge bald vorbei sein und nichts mit ihm zu tun haben.

Mit Fiona hatte er ausgemacht, sie würden seinen nächsten Geburtstag, den dreissigsten, in Coney Island feiern, zusammen mit Kuiwa und Liam, vielleicht auch mit Margaret. Nun stand, am neunundzwanzigsten Januar 1915, der Geburtstag von Mr. Rockefeller Junior bevor, sein einundvierzigster. Er sollte in eher kleinem Rahmen in Pocantico gefeiert werden. Der Grund dafür, wie Alcide vom Butler erfuhr, war nicht Bescheidenheit oder Sparsamkeit, sondern der Umstand, dass der Dienstherr die Tage unmittelbar davor wieder vor einer Kommission zu erscheinen hatte, dieses Mal in der City Hall von New York, vor grosser Öffentlichkeit und in Anwesenheit von Reportern aller wichtigen Zeitungen des Landes.
"Das Gremium nennt sich Commission on Industrial Relations, ist ein Ausschuss des Kongresses und wird von Mr. Walsh geleitet, einem äusserst unnachgiebigen Anwalt. Sir John ist sehr angespannt deswegen, auch wenn er sich wenig anmerken lässt", schloss Mr. Dowers seine Einschätzung. Natürlich hatte auch Alcide bemerkt, dass etwas im Gange war. Der Dienstherr stand wieder sehr früh auf und rackerte sich noch vor dem Frühstück ab auf seiner Rudermaschine im siebten Stock. Ausserdem wurde er im Standard Oil Building am Broadway dauernd umschwirrt von seinen beiden Beratern, Mr. King und Mr. Lee, mit denen er sich oft stundenlang im Büro einschloss. Alcide musste viel warten in den Vorräumen. Dabei sah er nur noch selten einen Detektiv oder Polizisten in Zivil.

Die Befragungen in der City Hall begannen am fünfundzwanzigsten, einem Montag Morgen, und sollten bis zum Mittwoch dauern. Die Kleiderauswahl wurde sorgfältig getroffen. Es musste wieder der Eindruck eines durchschnittlichen Geschäftsmannes oder Wallstreet-Bankers erweckt werden, an jedem Tag mit einem anderen Anzug, aber in so diskreten Unterschieden, dass nur Kenner und genaue Beobachter dies feststellen würden. Der Kammerdiener musste für Aussenstehende unsichtbar bleiben, in der Mittagspause aber im Erfrischungsraum zur Verfügung stehen mit frischer Wäsche, mit Tüchern und Rasierzeug. Schon im Verlaufe des Montags konnte Alcide merken, wie sein Dienstherr an Energie und Spannung gewann. Das Hearing schien zu seinen Gunsten zu verlaufen. Dies wurde am nächsten Abend sehr deutlich, als sie wieder zu Hause waren und Mr. Rockefeller Senior für das Abendessen angemeldet war. Junior geriet in eine richtig ausgelassene Stimmung, vollführte mit seiner Frau ein Tänzchen in der Eingangshalle, wo sie ihn erwartet hatte. Als sie lachend ausrief: "Nicht zu wild!", hörte er erschrocken auf. Er hatte vergessen, dass sie wieder schwanger war. Beim Nachtessen mit dem Senior gab es für Alcide nichts mehr zu tun, trotzdem half er in der Küche aus, weil er hungrig war und hoffte, es sei zuviel gekocht worden wie meistens. Ausserdem war er neugierig, und an den Kochtöpfen bekam man immer mit, wovon im Salon gesprochen wurde. So kam er in kleinen Happen zu Leckerbissen und Neuigkeiten. Der Vater sei entzückt über den Erfolg seines Juniors vor dem Ausschuss. Zum Schluss des heutigen Tages habe der Vorsitzende, Mr. Walsh, das Publikum davon abhalten müssen, dem Befragten weiteren Applaus zu spenden, weil dies bei einer solchen Veranstaltung als Beeinflussung des Gremiums und daher als unangebracht angesehen werde. Nachdem Mr. Rockefeller Junior diese Anekdote erzählt habe, sei sein Vater aufgestanden und habe eine Lobesrede auf ihn gehalten. Und er habe im Hinblick auf den bevorstehenden Geburtstag angekündigt, er werde ihm einen gewichtigen Anteil an den Kohlenminen in Colorado schenken. Die Reaktion des Sohnes sei eindrücklich gewesen. Auch erfahrene Angestellte wie Mr. Dowers behaupteten, sie hätten Sir John noch selten so gerührt gesehen. Er habe zuerst seinen Vater, dann seine Frau lange und innig umarmt.

Als am Mittwoch die Befragung am frühen Nachmittag endete, konnte Alcide durch die geschlossenen Türen des Saals hören, wie das Publikum in Applaus ausbrach, der aber von einer laut bellenden Stimme übertönt und schliesslich zum Erstummen gebracht wurde. Kurz darauf öffneten sich die grossen Flügeltüren und die Leute strömten heraus, sichtlich freudig erregt und aufgeregt schwatzend. Alcide wusste, dass er sich, zusammen mit dem Chauffeur, in geeignete Distanz zum Dienstherrn begeben und darauf achten musste, dass sie solange im Hintergrund blieben, bis sich Mr. Rockefeller suchend nach ihnen umsehen würde. Er hatte mittlerweile ein Gespür und einige Übung darin, sowohl Räume und Hindernisse zu lesen als auch Winkel, Geschwindigkeit und abrupte Richtungsänderungen in den Bewegungen der Akteure vorauszusehen, in erster Linie die seines Dienstherrn, gleichzeitig aber auch der Menschen, die sich in seine Nähe drängten, ihn bremsten oder zum Halten brachten. Als aber Mr. Rockefeller auf eine ältere Dame zusteuerte, schmallippig, mit runder Brille, altmodisch prunkvoll gekleidet, wurde Alcide überrascht von der wuchtigen und schnellen Dynamik, welche diese Begegnung in der Vorhalle auslöste. Augenblicklich bildete sich ein Wirbel aus Menschen, alle wollten zuvorderst und am nächsten stehen, Reporter pflügten sich rücksichtslos mit ihren Kameras durch die immer dichtere Menge. Und Mr. Rockefeller und die Frau waren nicht mehr zu sehen. Aber wegen der vielfachen Rufe, "das ist Mother Jones! er spricht mit Mother Jones!", wusste nun auch Alcide, worum es ging. Das wäre etwas für Fiona, dachte er. Soviel er wusste, hatte sie die von ihr so bewunderte Aktivistin noch nie von Nahem gesehen. Ob sie seinem Dienstherrn wohl die Augen auskratzen würde? Soviel er gesehen hatte, war nur ein Detektiv anwesend. Der aber war hoffnungslos abgedrängt worden in einen der äussersten Ringe um das Geschehen, und tänzelte unruhig auf den Zehenspitzen, um wenigstens einen Blick auf seinen Schützling zu erhaschen.

Als sie im Automobil den Broadway hinunterfuhren zum Firmensitz der Rockefellers, wurde deutlich, dass auch dieses informelle Treffen sehr erfolgreich ausgegangen war. Mr. Rockefeller hatte Mrs. Jones in sein Büro eingeladen, und da sie spontan einwilligte, liess er sie gleich in einem zweiten Fahrzeug dorthin bringen, wohin er im Moment selber fuhr. Für Alcide und den Chauffeur folgte eine weitere Wartezeit von über drei Stunden. Der Dienstherr teilte ihnen nur kurz mit, er werde nun zuerst mit Mrs. Jones sprechen. Um sechs habe er noch einige Journalisten in sein Büro eingeladen. Alcide möge doch eine halbe Stunde vorher nach oben kommen und nachfragen, ob er gebraucht werde. Um sieben sei aber auf jeden Fall Schluss für heute, versprach er. Man sah und hörte ihm an, dass er noch immer unter Strom stand.

So hatte Alcide die Familie noch nie erlebt. Am Geburtstag von Sir John waren die Hügel über dem Hudson, auf denen das Anwesen Abeyton Lodge stand, von einem hell strahlenden Winterhimmel überwölbt. Mr. Rockefeller, seine Frau, die Kinder, alle schienen den ganzen Tag zu strahlen. Ein Wunder war geschehen! Die Feindseligkeit der Welt gegenüber dieser heiligen Familie war verflogen. Keine Schmährufe aus hunderten empörter Kehlen, keine Spruchbänder, keine Steine und geladenen Pistolen, keine Bomben bedrohten sie mehr, sie, die doch nichts dafür konnten für ihren Reichtum. Die immer nur das Beste wollten, nicht nur für sich, auch für die Menschheit. Die Plötzlichkeit dieses Wandels war Alcide wirklich ein Rätsel, und er konnte nun auch sehen, wie viel Angst sie gehabt haben mussten in den letzten Monaten. Aber wie war es möglich, dass sich Mr. Rockefeller nun vom meistgehassten Mann der Vereinigten Staaten in ein paar Tagen in eine bewunderte Figur verwandeln konnte, in einen star, wie man seit Neuem erfolgreiche Musiker und Schauspielerinnen nannte? Denn was die Zeitungen schrieben, die sich nun die Hausangestellten in ihren Aufenthaltsräumen aus der Hand rissen, war einfach unglaublich. Es wurde die Ausstrahlung ihres Dienstherrn gelobt. Sein jugendliches und sportliches Äusseres besprochen, als sei er ein bekannter Baseballspieler. Dass man nie denken würde, er sei schon einundvierzig, und Vater von fünf Kindern. Selbst die Kleidung war den Reportern ein Thema, seine Anzüge, die Qualität der Stoffe, die Form des Kragens. Alcide hatte die Prozedur der Kleiderwahl eher als einen Spleen angesehen, als Ritual, mit dessen Hilfe der Dienstherr sich vor seinen Auftritten zu beruhigen versuchte. Nun sah er, dass es dabei um viel mehr ging. Mr. Rockefeller arbeitete an einem Bild von sich, und dazu diente auch die so sorgfältig gewählte Sprache, die in Alcides Ohren gestelzt wirkte, überladen mit unnötigen Worten. Genau diese Sprache wurde nun aber in den Zeitungsberichten als seine Hauptwaffe verstanden. Und das erstaunlichste dabei war, dass gerade seine ärgsten Gegner und Feinde offenbar am empfänglichsten waren für die samtpfotigen Reden. Mother Jones hatte ihm während zweier Stunden zugehört und ihm zum Schluss gestanden, dass sie ihn völlig falsch eingeschätzt, ja sogar, ihm Unrecht getan habe! Und gestern lud Mr. Rockefeller, auf den schlauen Rat seiner Berater King und Lee, auch noch die obersten Gewerkschafter des Landes in sein Büro ein, die Herren Hayes, Doyle und Lawson. Auch diese, noch vor Kurzem seine ärgsten Feinde, die ihn am liebsten vor Gericht gezerrt und seine Besitztümer verstaatlicht hätten, auch sie erlagen seinem Charme. Den Bezeugungen seines guten Willens. Und wieder war dafür gesorgt, dass die Zeitungen sofort über dieses magische Geschehen berichteten.

Es war sehr kurzweilig an diesem Festtag auf dem Pocantico Hill, und es machte Freude, die Herrschaften zu bedienen, weil diese so guter Laune waren. Einzige Trübung war ein kurzer Auftritt der alten Leute. Mr. Rockefeller Juniors Mutter, Lady Spellman Rockefeller, wurde in einem Rollstuhl hergebracht. Sie war knapp genesen von einer schweren Lungenentzündung und wirkte durchsichtig gebrechlich. Und der Senior war sichtlich hin und hergerissen zwischen dem Stolz über den Erfolg des einzigen Sohnes und der rührenden Sorge um seine Frau. Sie blieben beide nicht lange. In der Küche gab es einen Höhepunkt, der nichts mit den Rockefellers zu tun hatte. Einer der Hausangestellten war am Vorabend mit Freunden an einer Veranstaltung zu Ehren des sechsundfünfzigsten Geburtstags des deutschen Kaisers gewesen. Das Fest war ausgerichtet worden vom Kapitän eines der deutschen Ozeandampfer, die im Hafen von New York sicherere Zeiten abwarteten. Der Diener erzählte, und imitierte dabei den Tonfall der deutschen Redner, wie aufgeladen die Stimmung im Saal gewesen sei. Die ausgewanderten Deutschen hätten sich bitter beklagt über die ihrer Meinung nach ungenügende Unterstützung der deutschen Sache und ihres Kaisers von Seiten der amerikanischen Regierung und Bevölkerung. Und sofort wurde es laut in der Küche. Was? Wie? Ausgerechnet die Teutonen, deren Unterseeboote begonnen hatten, auf wehrlose Handelsschiffe, und sogar Passagierschiffe, ihre Torpedos abzufeuern! Die Köchin und der Butler mussten ein Machtwort sprechen, damit die Verbindung mit dem Esssalon wieder in Gang kam, und das Dessert reibungslos serviert werden konnte.

An ein Durchkommen war nicht zu denken, als Alcide am ersten Mai seine Schwester Josephine und ihre Freundin Geneviève Girard am Pier abholen wollte. Er wusste, dass sie mit einem italienischen Schiff aus Genua ankommen würden, wegen dem Krieg, und hatte nachfragen müssen, wo die Anlegestelle der Reederei lag, der Navigatione Generale Italiana. Es war ein Fehler gewesen, dem Wasser entlang dorthin gelangen zu wollen, denn von der Mole der Cunard Line sollte heute ein grosser Dampfer ablegen, die Lusitania, was an sich schon viele Schaulustige anzog. Die Abfahrt dieses Schiffs in Richtung England war aber überdies in den Zeitungen besprochen worden, nach dem Erscheinen einer merkwürdigen Warnung der deutschen Botschaft, man reise auf eigene Gefahr in die Gewässer des Kriegsgebietes und müsse mit Angriffen deutsche Unterseeboote rechnen. Trotzdem hatten sich viele prominente Passagiere für die Reise entschieden. All dies führte dazu, dass die Menschen im Umkreis des Schiffs dicht an dicht standen und Alcide nochmals vom Wasser weg steuern musste für einen grösseren Umweg.

Josephine erschien ihm erholt und guter Dinge, als sie mit Geneviève die metallene Rampe hinunter schritt. Er wurde von beiden umarmt und die Freundin, eine fröhliche, sehr gesund aussehende junge Frau, zehn Jahre jünger als Josephine und zum ersten Mal in Amerika, begann gleich munter von der Reise zu erzählen. Alcide lud das Gepäck auf einen gemieteten Pferdewagen, auf dem auch für sie drei genügend Platz war, und der sie zum Home Jeanne d'Arc bringen sollte. Geneviève war überrascht und entzückt darüber.
"Hast du frei bekommen von Mr. McCurdy?", fragte ihn seine Schwester unterwegs. Er hatte bisher keinem seiner Familienangehörigen davon geschrieben, dass er bei den Rockefeller gelandet war.
"Ja, ich hab frei heute. Aber ich bin bei einem neuen Dienstherrn. Das erzähle ich dir dann heute Abend. Ich habe einen Tisch reserviert in einem kleinen Restaurant in Greenwich Village, wenn euch das recht ist. Dort bekommt man recht gute Spaghetti. Bei euch werden ja keine Männer hereingelassen."

Das Lokal stand an einer Strassenecke unmittelbar gegenüber der Südseite des Parks am Washington Square und nannte sich 'Grace Gordon's Garret'. Im Erdgeschoss befand sich ein kleiner Laden für Tabakwaren und Süssigkeiten, mit dem blumigen Namen 'Oasis of Washington Square'. Mehrere grosse Schilder warben für Coca Cola. Über eine steile Treppe gelangte man ins Restaurant im ersten Stock, wo es eine von dampfigen Knoblauchgerüchen erfüllte Küche gab, daneben einen einzigen Raum, in dem sich schon einige Gäste eingefunden hatten. Man führte sie zu zwei zusammengestellten runden Tischchen, die Mäntel mussten sie selber auf die Haken an einer der weiss gekalkten, mit primitiven Zeichnungen verzierten Wänden hängen. Man schenkte ihnen gleich Wasser und Rotwein ein, aber Geneviève hatte die Reklametafeln gesehen und wollte eine Cola. Die Spaghetti waren ungewohnt hart, aber die Tomatensauce ausgezeichnet. Alcide bat darum, dass man ihnen den Salat mit den auf dem Tisch stehenden Fläschchen und Streuern zubereitete, obwohl er wusste, dass man das hier eigentlich selber besorgte. Es gab von Neuigkeiten zu berichten. Josephine fragte als erstes nach seinem neuen Arbeitgeber. Nur Geneviève war einen Moment lang aus dem Häuschen.
"Was, bei Rockefeller? Beim Millionär?
Als er aber vom Dienstherrn und seiner Familie zu erzählen begann, merkte er zu seiner Erleichterung, dass es seine Schwester nicht gross zu interessieren schien und ihre Freundin sich mit ein paar anschaulichen Beispielen für den Reichtum zufrieden gab. Bald wechselten sie das Thema, und Josephine kündigte Hochzeiten in der Familie an. Baptiste hatte in Basel eine junge Bauerntochter aus dem aargauischen Wallbach kennengelernt. Sie wollten in gut drei Wochen heiraten.
"Nun müssen uns halt Julia und Mathilde vertreten bei der Hochzeit, das tut mir leid", sagte Josephine. "Aber ich hätte meine Stelle in der Manufaktur nicht mehr bekommen, wenn ich noch länger gewartet hätte."
Sie hatte eine Fotografie der Braut dabei.
"Das ist Anna, Anna Bitter. Eine gute Frau für Baptiste, glaube ich."
Anna hatte betont kräftige, hohe Wangenknochen, und doch war ihr Gesicht rundlich. Die hellen Haare trug sie sorgfältig gewellt, nach oben und hinten gesteckt. Ein enger Kragen, darum herum ein Besatz aus plissiertem und besticktem Stoff, schloss ein dunkles Kleid nach oben ab. So etwas trugen hier nur noch ältere Frauen, dachte Alcide, hütete sich aber, das zu sagen.
"Sie sieht nett aus", meinte er.
"Stell dir vor, auch Célina will noch dieses Jahr heiraten. Sie hat einen Postbeamten aus Zürich gefunden und ist sehr verliebt. Alwin Moser heisst er. Er war schon mehr als einmal bei uns in Cornol. Papa und Maman scheinen ihn gut zu mögen."
Geneviève war etwas ins Abseits geraten und brachte sich nun wieder zurück ins Gespräch, indem sie sämtliche geplanten und vor kurzem geschlossenen Verbindungen im Dorf aufzuzählen begann. Alcide war schwindlig vom Wein und dichten Tabakrauch im Lokal, in dem es nun ziemlich laut zuging. Er war froh, dass auch Josephine bald sehr müde wurde und zum Aufbruch drängte. Sie hatten noch einen halbstündigen Fussmarsch bis zum Frauenheim vor sich. Danach wollte Alcide mit der Untergrundbahn bis zur Vierundfünfzigsten heimfahren. Als er im säuerlich riechenden Wagen sass und, zwischen schlafenden Menschen eingeklemmt, nach Norden fuhr, musst er über die kommenden Veränderungen in seiner Familie nachdenken. Wer wohl zuerst Kinder bekommen würde? Die beiden durften nicht mehr lange warten. Und er?

Als er gegen Abend eines der folgenden Tage in der Eingangshalle von Broadway 26 auf Mr. Rockefeller wartete, priesen auf dem Gehsteig vor dem Eingang gleich mehrere Zeitungsjungen lauthals ihre Abendausgaben an. Sie versuchten sich gegenseitig zu übertönen, indem sie die Schlagzeilen herausschrien. Aus dem Geheul war der Namen des am Vortag gesunkenen Schiffs, LUSITANIA!, bis ins Innere des Gebäudes herauszuhören. Als der Dienstherr kam, war seine Miene finster und er sagte kein Wort, bis sie im Automobil sassen.
"Fahren Sie los!"
Sie wollten den Broadway hochfahren, aber der Chauffeur musste bald auf eine andere Route ausweichen, weil sich vor den grossen Anzeigetafeln der Zeitungen viele Leute versammelt hatten und hunderte aus allen Richtungen herbeiströmten. Manche Männer, darunter viele mit wuchtigen Schnauzbärten, hatte sich zu Viererreihen formiert und marschierten im Gleichschritt, dazu sangen, oder besser, grölten sie patriotische Lieder.
"Deutschland, Deutschland, über alles!", das kannte sogar Alcide. Sir John wirkte tief betroffen. Er schüttelte die ganze Zeit den Kopf und sprach wie zu sich selber.
"Wie kann man das als Sieg feiern? Über tausend Menschen sind gestorben, so viele Kinder! Was ist das für ein Krieg, in dem so etwas als Erfolg gilt?
Alcide wunderte sich, dass er nichts gegen die Deutschen sagte, und auch nichts zu den angeblich über hundertdreissig amerikanischen Staatsbürgern unter den Toten. Der Chauffeur getraute sich, einen Kommentar abzugeben. "Da wird heute Nacht etwas los sein in den deutschen Bierhallen am Broadway!"
Der Dienstherr antwortete nicht darauf. Erst als sie fast zuhause angekommen waren, meinte er:
"Man kann das nur verabscheuen. Und ich bin sicher, dass es die Beziehungen unserer Regierung zum Kaiser empfindlich treffen wird. Hoffen wir, dass es nicht als Grund angesehen wird, in diesen europäischen Krieg einzutreten!"

Lange Zeit war der Krieg in Europa, wie er hier genannt wurde, so wenig greifbar gewesen, dass ihn die meisten Menschen ignorieren konnten. Nun war etwas passiert, was man nicht für denkbar gehalten hatte. Amerikanische Bürger waren gestorben, darunter einige sehr bekannte, wohlhabende. Zum Beispiel Alfred Gwynne Vanderbilt, ein Cousin des Vanderbilt, den Alcide im Club kennengelernt hatte. Viele fanden, nun müssten die Vereinigten Staaten die Neutralität aufgeben und zu den Waffen greifen. So zum Beispiel kanadische Politiker, und die meisten kanadischen Zeitungen, in welchen Deutschland und der Kaiser als mad dog of Europe gebrandmarkt wurde. Der Krieg war näher gerückt, und er drückte auf die Gemüter.

Aber es gab auch weiterhin freudige Ereignisse. Begeisterte Briefe der Schwestern aus Cornol erreichten Alcide und Josephine. Es wurde berichtet über die Hochzeit des Ältesten, Fotos waren beigelegt. Das offizielle Bild, aufgenommen im Studio eines Fotografen, wirkte sehr steif. Aber es gab weitere, auf denen man die Freude der Brautleute sehen konnte, den Stolz der Eltern. Und kurz darauf gebar Lady Aldrich Rockefeller ihr sechstes Kind, den fünften Sohn, mit Namen David. Ihr Bauch hatte in den letzten Tagen der Schwangerschaft einen enormen Umfang angenommen, und von ihren einst so würdevollen Bewegungen war nicht mehr viel übrig gewesen. Die linke Hand schien an ihrem Kreuz festgewachsen zu sein und sie schwankte beim Gehen stöhnend von einem Bein aufs andere. Dabei war sie aber immer guter Dinge geblieben und hatte sich sogar über ihren Zustand lustig gemacht.
"Eine schwangere Elchkuh bin ich", konnte sie zum Beispiel lachend sagen. Ihrem Mann war das peinlich. Die Krankenzimmer im vierten Stock wurden zu einer Suite ausgebaut und mit medizinischen Geräten ausgestattet, die es laut Einschätzung der hauseigenen Krankenschwester nicht einmal in den besten Spitälern gab. Zwei Ärzte und eine Hebamme begleiteten die Geburt des kleinen Prinzen, der etwas zu spät, aber gesund und munter, und mit beachtlicher Grösse und Gewicht, zur Welt kam. Bald nach diesem Ereignis fuhr die Familie wieder mit einem grossen Tross nach Maine auf ihre geliebte Insel. Alcide durfte dieses Mal von Anfang an in New York bleiben. Es gelang ihm, eine freie Woche rund um seinen dreissigsten Geburtstag auszuhandeln.

Nicht er war auf die Idee gekommen, seinen Dreissigsten in Coney Island zu feiern. In seiner Familie hatte man Geburtstagen wenig Beachtung geschenkt. Als er aber mit Liam zusammen die Planung der gemeinsamen Augustwoche in Angriff nahm, begann er sich darauf zu freuen. Sie buchten vier Zimmer im Brighton, einem einst sehr vornehmen, aus Holz gebauten Hotel für gehobene Gäste aus New York, das vor einigen Jahren in einer spektakulären Aktion vom allzu nahen Ozean weiter ins Landesinnere verschoben worden war. Wie Liam erklärte, wurde Coney Island in jüngster Zeit immer mehr von normalen Leuten wie sie überschwemmt, sodass die Reichen es vorzogen, ihre Sommerfrische an den Küsten von Maine zu verbringen, was wiederum eine deutlich spürbare Senkung der Preise nach sich gezogen habe. Manche Hotels, wie auch das Brighton, kämpften bereits ums Überleben und versuchten mit Sonderangeboten, Gäste anzuwerben. Tatsächlich war der Preis, den man ihnen in Aussicht stellte, viel geringer als sie erwartet hatten. Sie bestellten ein Doppelzimmer für Kuiwa und Liam, und je eine einzelnes für Fiona, Margaret und Alcide, alle auf dem gleichen Stock und mit Blick aufs Meer. Das Gedränge an den Strandabschnitten, die dem Sonnenbaden und Schwimmen vorbehalten waren, beeindruckte sie. Von Weitem sahen die Badenden aus wie ein riesiger Krähenschwarm, denn fast alle trugen Schwimmanzüge in dunklen Farben. Auch sie hatte sich welche besorgt, Alcide und Liam anliegende Hosen, die bis zu den Knien reichten, darüber Leibchen mit Trägern. Sie sahen aus wie richtige Sportler, wie die Frauen fanden. Diese trugen schwarze Strumpfhosen, darüber ein hemdartiges, ärmelloses Röckchen, ebenfalls in Schwarz, das über den Knien endete. Als sie merkten, dass die fahrbaren Umkleidekabinen immer besetzt waren, kauften sie sich ein paar sackartige Überwürfe, unter denen man sich mit vielerlei Verrenkungen umziehen konnte. Es wurde viel gelacht dabei. Nur Margaret wollte sich zuerst nicht im Schwimmanzug zeigen. Erst als am zweiten Tag weitere schwarze Frauen auftauchten, konnte sie sich dazu entschliessen, sich umzuziehen und ihren Freunden ins Wasser zu folgen. Fiona hatte einen aufblasbaren Ball aus Kautschuk aufgetrieben, und weil das Wasser warm war, spielten sie stundenlang wie Kinder. Fiona und Kuiwa waren beide gute Schwimmerinnen und entfernten sich mehrmals so weit vom Ufer, dass sie von den Bademeistern mit Trillerpfeifen zurückgerufen werden mussten. Alcide dagegen schwamm wie ein Hund und konnte sich nicht lange über Wasser halten. Fiona anerbot sich, ihm die richtige Technik beizubringen, aber die Schwimmstunden endeten oft schon bald in allerlei Zärtlichkeiten, deren sichtbare Folgen in Alcides Körpermitte vor den Umstehenden verborgen werden mussten. Fiona schien sich darüber zu freuen und drängte sich an ihn, was es aber nicht leichter machte.

Über Rockefeller und die Ludlow-Geschichte sprachen sie nur einmal, als Kuiwa danach fragte, wie es Alcide in dieser Umgebung ergehe. Fiona und er hatten das Thema vermieden. Alle drei Frauen waren aber beeindruckt davon, dass Rockefeller Junior mit Mother Jones und den Gewerkschaftsführern gesprochen und sie offenbar zu überzeugen gewusst hatte. Fiona fand allerdings die Anekdote von Mother Jones' Eingeständnis, sie habe dem Millionär Unrecht getan, kitschig und bezweifelte, dass es sich genauso zugetragen habe.
"Wer kontrolliert eigentlich, was in den Zeitungen geschrieben wird? Was wahr ist, was übertrieben oder weggelassen wird?", fragte sie.
Alcide erzählte von der Besprechung seines Dienstherrn mit den neun Journalisten im Büro am Broadway, obwohl er wusste, dass er damit gegen die Hausregel verstiess.
"Also hat er die Zeitungen und Reporter ausgesucht und zu sich bestellt?", fragte Liam.
Alcide bejahte.
"Da steckt dieser Ivy Lee dahinter", meinte Margaret. "Der ist der Ansicht, Führungspersönlichkeiten, Politiker und Unternehmer, müssten ihr Bild in der Öffentlichkeit aktiv gestalten. So nennt er das."
Fiona und Kuiwa rümpften die Nase, und Alcide war froh, als sich das Gespräch einem neuen Gegenstand zuwandte.

An seinem Geburtstag wurde er von Fiona geweckt, die sich lautlos in sein Zimmer geschlichen hatte. Bevor er richtig wach wurde, hatte sie sich ausgezogen und war zu ihm ins Bett geschlüpft.

Als sie, noch immer etwas atemlos und verschwitzt, nebeneinander lagen, fragte er sie unvermittelt:
"Beichtest du das?"
Sie drehte sich auf den Bauch und sah ihn ruhig an.
"Ich habe es versucht, nach dem letzten Mal. Der Priester hat mich gefragt, ob ich es bereue, und als ich nicht geantwortet habe, meinte er, er könne mich von dieser Sünde nicht befreien. Und du?"
Alcide zögerte mit der Antwort.
"Ich war schon lange nicht mehr beichten. Vielleicht sollte ich wieder einmal. Aber bereuen werde ich niemals, was ich mit dir erlebt habe."
Wieder schwieg er eine Weile. Sagte dann:
"Meine Geschwister heiraten."
Fiona sah ihn an und bewegte langsam den Kopf hin und her.
"Schau, Alcide, ich werde nicht mit dir nach Cornol kommen und dich dort heiraten."
"Wo sind wir in fünf, in zehn Jahren?", fragte er leise.
"Ich werde nicht hierbleiben, ich bin keine Amerikanerin", antwortete sie.
Das hatte er so deutlich noch nie von ihr gehört. Er wollte jetzt nicht traurig sein und erhob sich mit einem Ruck.
"Komm, wir gehen frühstücken!"

Nur weil heute sein Geburtstag war, hätte man von ihm aus nicht in einen der Vergnügungsparks gehen müssen. Man entschied sich für den Steeplechase. Liam und Kuiwa wollte unbedingt auf die Berg- und Talbahn mit den mechanischen Pferden. Auf dem Weg dorthin kamen sie an unzähligen Essbuden vorbei, aus denen allerlei Düfte lockten. Sie kauften sich Brötchen mit eingeklemmten Grillwürsten und Senf, und amüsierten sich über deren Namen, Hot Dogs.
"Ausgerechnet bei den Deutschen haben wir eingekauft, schau!", sagte Liam und zeigte auf das Schild. Man konnte sich zu zweit auf eines der Pferde setzen, Alcide mit Fiona, Margaret mit Kuiwa. Liam wollte alleine reiten, merkte aber bald, dass er damit leichter und wesentlich langsamer war als die anderen. Zuerst wurden sie an einer Kette in schwindelerregende Höhen gezogen. Dann rollten ihre Pferdchen langsam auf eine Kante zu. Erst im letzten Moment erkannte man, wie weit und steil der erste Abgrund war, in den sie sich da hinunterstürzten. Alcide umklammerte Fiona von hinten, er hatte richtig Angst. Die Rollen der Pferde machten einen Höllenlärm auf den Schienen. Es trieb ihnen das Wasser in die Augen, und die Frisuren der Damen lösten sich auf. Nach ein paar rasanten Auf- und Abfahrten über die eisernen Wellen gewöhnte man sich daran und es gelang Fiona und Alcide sogar, das Gefährt durch Gewichtsverlagerung zu beschleunigen. Sechs Pferde waren parallel nebeneinander gestartet, sie kamen als erste ins Ziel.
"Wie sich's gehört für das Geburtstagskind", fand Fiona und küsste ihn auf die Nasenspitze.
"Du bist bleich!"

Als die Grossfamilie aus den Sommerferien in Seal Harbour zurückgekehrt war, bereitete sich Mr. Rockefeller sofort auf die mit Mr. King ausgeheckte Mission in Colorado vor. Der Junior war nun, nach zwei grossen Schenkungen seines Vaters, zum Besitzer einer entscheidenden Mehrheit der Anteile an der Colorado Fuel & Iron Company geworden. Der Plan seiner Berater war, mit einer Offensive des Wohlwollens das Vertrauen und den guten Willen der Minenarbeiter und ihrer Familien zurückzugewinnen. Dazu sollte sich der Patron an den Ort der feindseligen Auseinandersetzungen begeben und mit Vertretern aller Betroffenen in persönlichen Gesprächen herausfinden, welches ihre wichtigsten Anliegen seien. Natürlich sollte dieser ungewöhnliche Schritt ein deutliches, positives Echo in der Presse auslösen und zu einer für alle Parteien zufriedenstellenden, vor allem aber friedlichen Lösung führen, das war Mr. Rockefeller sehr wichtig. Und Mr. King hatte auch schon den Entwurf eines Vertrags ausgearbeitet, mit dem die Vertretung der Minenarbeiter bei zukünftigen Streitfällen geregelt werden sollte. Alle diese Dinge wurden Alcide in erster Linie in der Küche erklärt, von der Köchin, Miss Carlson, sowie von Ida und Augusta, die sich an diesem Ort am ehesten getrauten, ihre Kenntnisse gewerkschaftlicher Fragen zu offenbaren. Wenn der Butler oder die Haushälterin auftauchten, schafften sie es jeweils, das Thema mitten im Satz zu wechseln. Sie rümpften die Nase über den Trick des Dienstherrn und seiner oberschlauen Einflüsterer, wie sie Mr. King und Mr. Lee nannten. Ida meinte:
"Im Grunde geht es nur darum zu verhindern, dass die Arbeiter der richtigen Union beitreten, den United Mineworkers of America. Darum bieten sie ihnen jetzt eine interne Pseudo-Union an."
Die Köchin hielt dagegen:
"Immerhin ist das besser als das, was die anderen Unternehmen in Colorado anbieten. Nämlich gar nichts. Und wenn es den Arbeitern freigestellt bleibt, auch der richtigen Union beizutreten, dann kann ich darin nichts Verkehrtes sehen. So, jetzt aber genug geschwatzt. Zurück an die Arbeit!"
Alcide begleitete seinen Dienstherrn nicht auf dieser Reise in den Westen. Im Haus gab es genug zu tun. Lady Aldrich Rockefeller war oft müde, weil der kleine David sie nachts nie länger als zwei Stunden schlafen liess. Nelson musste wieder in die Schule begleitet werden nach einem verstörenden Vorfall, bei dem er stundenlang verschwunden blieb und schliesslich von einem Polizisten in einem Abwasserkanal unter der fünfundfünfzigsten Strasse gefunden wurde, zusammen mit ein paar unsäglich dreckigen Strassenjungen. Zur Strafe wurde ihm von seinem Vater für mehrere Monate das Taschengeld entzogen. Von Alcide liess er sich am liebsten zur Schule bringen und von dort wieder abholen, weil dieser ihm wohl am meisten durchgehen liess und seinen phantastischen Geschichten mit Vergnügen zuhörte. Der Untergrund der Stadt interessierte ihn noch immer brennend, auch wenn ihm strengstens verboten war, sich je wieder einem offenen Gully zu nähern. Ein Schulfreund hatte ihm erzählt, in den Abwasserkanälen der Stadt lebten wilde Tiere, die sich aus Zoologischen Gärten oder von reichen Privatbesitzern befreit hätten und nun dort unten ihr Unwesen trieben. Der Bub schien das zu glauben. Alcide fragte ihn, warum er denn hinuntergestiegen sei, wo er doch von der Gefahr Kenntnis habe. Nelson kramte daraufhin etwas aus seiner Hosentasche. Als Alcide versprochen hatte, niemandem davon zu erzählen, öffnete er seine Hand. Es war ein kleiner, runder Haarknäuel.
"Das habe ich von Doug bekommen. Wenn man das in der Hand hält, kann einem nichts passieren."
Alcide hatte den Eindruck, dem Jungen fehle sein Vater, der schon seit längerer Zeit sehr beschäftigt und selten zuhause war.

Dafür war der Dienstherr auf seltsame Weise gegenwärtig in den Zeitungen. Bilder zeigten ihn an der Seite von Mr. King, beide gekleidet in Latzhosen und Arbeitskitteln aus Denimstoff. Das wirkte auf Alcide etwas lächerlich, und er fragte sich, wie die Minenarbeiter in Colorado diesen Versuch des Millionärs, sich äusserlich mit ihnen gleichzusetzen, wohl aufnehmen würden. Eine andere Fotografie zeigte Sir John im Tanz mit einer auf einfache Weise festlich gekleideten Frau, umgeben von einem gut gelaunten Publikum, das aus Bergleuten und ihren Frauen zu bestehen schien. Der Kommentar dazu beschrieb, wie Mr. Rockefeller nach der Besichtigung eines Bergwerkstollens spontan einen kleinen Tanz mit einer der anwesenden Frauen vollführt habe. Als Folge davon seien die Frauen an der abends stattfindenden Veranstaltung Schlange gestanden, um ebenfalls mit ihm tanzen zu dürfen. Die Veröffentlichung solcher Szenen war Lady Aldrich Rockefeller peinlich. Tapfer um Humor bemüht, meinte sie dazu:
"Na ja, mindestens bei den Frauen scheint der Besuch ja Erfolg zu haben. Und ich sollte mich wohl in Zukunft nicht mehr zieren, wenn er mich zum Tanz auffordert."

Viel vom Tanzen war die Rede in Briefen von Julia und Mathilde, die von der Hochzeit Célinas mit Alwin Moser berichteten. Seit Beginn des Krieges musste sich das Dorf vollkommen verändert haben, denn die Schwestern behaupteten, es befänden sich nun mehrere Tausend Soldaten im Dorf, die beherbergt, ernährt und bei Laune gehalten werden müssten. Ob auch bei seiner Familie Soldaten im Haus untergebracht waren, schrieben sie nicht. Manche Familien hätte sich ganz in den Dienst der Armee gestellt, so zum Beispiel die Straehls mit ihrem Café la Tempérance, in dem sogar eine Lesestube für die Soldaten eingerichtet worden sei, und wo die beiden Töchter von früh bis spät die Uniformierten bedienten. Die Schwestern machten keinen Hehl daraus, dass sie die Anwesenheit so vieler schneidiger junger Männer genossen. Es sei erstaunlich, wie viel Soldaten eine Instrument spielten, das Dorf sei erfüllt von Musik und ständig werde irgendwo getanzt. Bei Mathilde war er sich sicher, dass sie sich schon verliebt hatte, denn sie erwähnte mehrmals einen gewissen Pierre, der "bei den Vierundsechzigern" Dienst tue. Und beide freuten sich sehr darauf, ihn im November wiederzusehen. Also wollte nun wirklich auch Mathilde den Sprung über den Atlantik wagen. Er musste mit Edmond Kontakt aufnehmen.

Edmond wiegte seinen schweren Kopf hin und her, als er erfuhr, es komme noch eine zweite Schwester, die auf ein Dienstverhältnis hoffe. "Ich muss schauen, ob sich da etwas machen lässt. Für die ältere, wie heisst sie? – ah ja, Julia! – sollte gesorgt sein. Die Bayne-Geschwister warten schon lange auf eine tüchtige Kraft. Ich konnte sie hinhalten bis jetzt. Sie werden sicher froh sein, von ihrer Ankunft zu erfahren. Dann habe ich noch Kontakt zu andern Herrschaften, einem Broker mit Namen George R. Leslie Junior sowie seiner Frau, Lady Cornelia Hoyt Leslie. Sie haben einen kleinen Sohn und suchen eine nurse." Er dachte eine Weile nach und murmelte dabei vor sich hin. Dann schien er eine Idee zu haben. "Vielleicht könnten wir es auch umgekehrt machen: Ihre ältere Schwester bei den Leslies als Kindermädchen unterbringen, und die unerfahrene jüngere Mathilde bei den Baynes. Ja, das ist noch besser!" Alcide war einverstanden. Da sowohl die Schwestern als auch die zukünftigen Herrschaften einander noch nicht kannten, sah er in dieser Änderung der Pläne keine Schwierigkeit.

Freitag, 7. Mai 2021

und die Zukunft?

Seit ihn der Bub gefragt hatte, ob sie belagert seien, geisterte dieses Wort, siege, in seinem Kopf herum. Nelson hatte es ihm erst durch anschauliche Umschreibungen erklären müssen, sodass er schliesslich die Nähe zum französischen Wort erkannte und verstand. Siège, siege. Nous sommes assiégés, we are besieged. Sie blieben noch eine längere Zeit belagert, sowohl durch schwer fassbare, selten sichtbare Gegner, oder Feinde, wie man angesichts der Bereitschaft zur Gewalt sagen musste, als auch durch die zu ihrer Sicherheit herbeigerufenen Detektive und Polzeibeamten, die in lästig aufdringlicher Weise auf ihrer Sichtbarkeit beharrten. Die beiden Rockefeller, der Vater wie der Sohn, schienen für sich selber wenig Angst zu haben. Bei der ersten grossen Demonstration in Pocantico, vor dem burgähnlichen Landhaus Kykuit, kam der Senior aus seinem Haus und schritt zum Entsetzen der Wachleute völlig unbeeindruckt zum Eingangstor des Parks, vor dem sich eine Parolen schreiende Menschenmenge angesammelt hatte. Bevor er es erreichen konnte, wurde er von zwei Polizeibeamten gepackt und sanft aber bestimmt zum Haus zurück dirigiert. Wie sich hinterher herausstellte, wäre er höchstwahrscheinlich mit Steinen beworfen worden, und eine der kontrollierten Protestierenden, eine Frau, trug eine geladene Pistole bei sich und musste verhaftet werden. Das ganze Anwesen wurde in der Folge grossräumig mit Stacheldraht abgeriegelt, was dem Junior allerdings nicht passte, weil er davon ausging, dass die Bilder einer solch demonstrativen Abwehrmassnahme über die Zeitungen verbreitet würden und den Zorn der Öffentlichkeit weiter anstacheln könnten, der sich unter anderem auf die Abschottung der Kapitalisten gegen die durch sie angerichteten Realitäten bezog.

Die Demonstrationen in Pocantico, im nahen Tarrytown, und sogar in New York, rissen nicht ab, im Gegenteil. In der Stadt kam es zu einer Grosskundgebung mit Tausenden von Menschen, die den Verkehr auf dem Broadway während mehr als einer halben Stunde zum Erliegen brachten. In Pocantico und Tarrytown gab es Sachbeschädigungen und Drohungen, sodass schliesslich ein Dutzend der Rädelsführer, darunter prominente Anarchisten, deren Namen mittlerweile sogar Jules bekannt waren, verhaftet, angeklagt und bis zur Verhandlung gegen Kaution wieder auf freien Fuss gesetzt wurden. Einen Tag bevor das Gericht in der City Hall von Tarrytown den Fall beurteilen sollte, explodierte in einem sechsstöckigen Mietshaus in New York eine gewaltige Bombe. Sie riss die Hälfte der oberen Etagen weg und verteilte Trümmer und Leichenteile übers ganze Quartier. Wie sich in den nachfolgenden Untersuchungen herausstellte, waren unter den Toten zwei Anführer der Proteste, die in Tarrytown hätten vor Gericht erscheinen müssen. Die Bombe schien bei einer Fehlmanipulation losgegangen zu sein. Ob sie für die Verhandlung in der City Hall oder gar für den Einsatz gegen eines der Häuser der Rockefeller bestimmt war, konnte nicht ermittelt werden. Jedenfalls war es für Mr. Rockefeller Junior und seine Familie das Signal, sich noch weiter von New York zu entfernen und sich früher als sonst ins Sommerhaus auf Desert Mountain Island, an die Küste von Maine, zurückzuziehen. Jules bekam den Auftrag, seinen Dienstherrn und die Familie beim Umzug dorthin zu unterstützen, danach werde er für ein paar Wochen als Kammerdiener nicht gebraucht. Wie lange genau, musste noch offen gelassen werden. Mr. Dowers, der die Stellung in New York halte, würde ihn für gewisse Arbeiten im Haus einsetzen. Er werde aber sicher auch viel freie Zeit zur Verfügung haben. Seine Bezahlung laufe normal weiter.

Die ganze Familie begab sich nochmals für zwei Tage der Vorbereitung nach New York. Jules wurde von den andern Angestellten vorgewarnt, das Haus verwandle sich in der Zeit vor dem Aufbruch nach Maine in einen wild gewordenen Bienenstock. Er war erstaunt zu hören, dass der ganze Haushalt mit der Eisenbahn und der Fähre reise. So wurden Koffer und Kisten gepackt als ginge es über den Atlantik. Die Kinder waren während der zwei Tage völlig aus dem Häuschen. Es gab viel Auseinandersetzungen darüber, wer wieviel mitnehmen dürfe, und oft musste ihnen von der Mutter gesagt werden: "Aber das hast du doch auch in Seal Harbour!" Bei anderen Dingen war sie überraschend nachgiebig. So mussten in letzter Minute Eisboxen aufgetrieben werden für die Milch der Kinder, von Walker Gordon, in Flaschen, weil eines der grösseren gesagt hatte, die Milch im Zug sei ungeniessbar, und sich sofort alle dieser Einschätzung anschlossen. Mr. Rockefeller konnte sich an den Vorbereitungen kaum beteiligen, da er durch seine Angelegenheiten rund um die Colorado Fuel & Iron Company stark in Anspruch genommen war. Jules begleitete ihn noch einmal ins Büro am Broadway, wo er eine lange Besprechung mit seinen neuen Beratern, Mr. King und Mr. Lee, abhielt. Auf der Rückfahrt nach Hause schien der Dienstherr erleichtert und entspannt wie schon lange nicht mehr. Er ging sogar so weit, den Grund für seine Genugtuung zu äussern:
"Mr. King wird uns für ein paar Tage in Seal Harbour besuchen. Das ist gut. Das ist sehr gut!"

Die Reise, vom Grand Central Terminal aus über Boston, Portland und Bangor nach Hankock in Maine, war nochmals eine ganz andere Sache als Jules Reise mit Henry, damals vor acht Jahren, als sie mit dem Schlafwagen nach Ohio gefahren und sich sehr vornehm vorgekommen waren. Der Zug hiess Bar Harbour Express, und für Jules sah es so aus, als sei er extra dafür eingerichtet worden, die ganz Reichen mit ihren Familien in die Sommerferien zu verfrachten. Die Pullman-Wagen waren luxuriös ausgestattet, mit Polstern in leuchtendem Blau und Gold, die Decken schillerten wie Perlmutt. Für den ganzen Tross der Rockefeller waren allein zwei Wagen reserviert, dazu Plätze für über dreissig Personen im Speisewagen und in den Schlafwagen. Die Angestellten nahmen das Nachtessen nach den Herrschaften ein, durften sich aber dafür vom Personal des Speisewagens bedienen lassen. Viele freuten sich wie Kinder über dieses Ereignis. Es wurde lustig und laut, wie Jules es noch nie erlebt hatte, seit er im Hause der Rockefeller arbeitete.

Obwohl die Betten recht bequem waren, schlief er schlecht und stand früh auf. Es gab ein richtiges kleines Badezimmer, in dem er sich waschen und die Zähne putzen konnte. Danach wollte er in den Speisewagen gehen, um zu fragen, ob er einen Kaffee bekommen könnte. Im Gang traf er den Dienstherrn, der, auch schon wach und angezogen, zum Fenster hinaus in die vorbeiziehende Landschaft schaute. "Guten Morgen, Chiquet", sagte er freundlich.
"Schauen Sie, schon dafür lohnt es sich, hierher zu kommen."
Sie fuhren der Küste entlang, die Sonne würde bald aufgehen. Das Meer war ruhig, seine Oberfläche spiegelte die Farben des Himmels, Graublau und Lila. Die Kalkfelsen am Ufer bildeten einen schwarzen Saum, dort wo sie von feuchten Algen bewachsen waren, darüber, die trockenen Flächen, schimmerten in Grau- und Ockertönen. Sattgrüne Wiesen, Hecken, fast schwarz die Tannen. Wie in den Freibergen, aber am Meer!, dachte Jules, und sagte:
"Ja, das ist sehr schön!"
Dann besann er sich auf seine Aufgabe und fragte:
"Brauchen Sie etwas, kann ich etwas für Sie tun, Sir?"
"Nein, im Moment nicht, danke. Aber sehen Sie bitte zu, dass Sie beim Aufstehen der Kinder zupacken. Da gibt es genug zu tun."

Die Reise dauerte fast vierundzwanzig Stunden. Gegen fünf Uhr abends trafen die Pferdewagen, einer nach dem andern, etwa ein Dutzend im Ganzen, auf dem Hügel über der Bucht von Seal Harbour ein. The Eyrie, wie das Anwesen der Rockefellers hiess, bestand aus einem breit sich hinstreckenden Ensemble von Fachwerkbauten. Das Muster des vorwiegend vertikal angeordneten Holzwerks, ochsenblutrot mit weissen Streifen von Verputz dazwischen, erinnerte Jules von Weitem an die Streifen eines Pijamas. Als er auf dem Vorplatz angekommen war und beim Abladen des Gepäcks half, sah er, dass das Haus nochmals um einiges grösser und reicher ausgestattet war als das in Pocantico. Es war umgeben von einer üppig blühenden Parkanlage, mit Büschen, Sträuchern und Bäumen, die sorgfältig ausgesucht und gemischt waren, um den Eindruck von Natürlichkeit zu erzeugen. Im Inneren sah Jules viel Fremdländisches, Exotisches, das ihm unbekannt war. Bunte Bilder, Möbel und Teppiche, seltsame Tiere und Menschengestalten aus dunklem Holz oder aus grünlichem Gestein. Als er eine Kiste hineingetragen und an zwei weibliche Angestellte weitergegeben hatte, blieb er mitten in einem der Salons stehen. Was die Fenster einrahmten, wie Bilder von Landschaften, machte ihn staunen. Die Sonne streifte gerade noch die Hügelkuppen, übergoss sie mit glühendem, rosafarbenen Licht. Die Schatten in den Senken liessen schon an die Nacht denken, farbige Schwärze wie in Güllenlöchern. Dahinter das Meer, das den Blick in die Tiefe sog bis zu der feinen Linie, wo der Himmel begann. Oder aufhörte. "Wenn Sie fertig sind mit Schauen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie nochmals mit hinauskämen, Mr. Chiquet."
Miss Davis hatte ihn aufgeschreckt. Als sie zusammen zwischen Koffern, Taschen und Kisten den Weg ins Freie suchten, sagte sie:
"Es ist ein unglaublicher Ort. Schade, dass Sie nicht bleiben können."

Als er am nächsten Mittag im Zug sass, in einem fast leeren Wagen des Bar Harbour Express, fühlte er sich seltsam erleichtert. Wie wenn es ihm gelungen wäre, einen Zauber zu durchbrechen, der ihn an ein verwunschenes Schloss gebunden hatte. Geschichten, die man ihm als Kind erzählt hatte, kamen ihm vage in den Sinn. Heute, am frühen Morgen, war ihm die Rockefeller-Familie plötzlich zuwider gewesen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich in ihrem angehäuften Reichtum bewegten, schon die kleinen Kinder. Wie sie immer und überall dutzende von Menschen um sich scharrten, die in ihrer Anwesenheit angestrengt bemüht waren, hilfreich und gleichzeitig unsichtbar zu sein, und dazu alle Zeichen von Anstrengung zu verbergen. Die Hektik, die anstrengende Arbeit, unvermeidbare Pannen und Unfälle mussten in den Gängen und Nebenräumen, in Küchen und Kellern stattfinden und dort bleiben. Alle Aufgaben, sämtliche Pflichten waren auf die Herrschaften und ihre Sprösslinge bezogen, auf sie ausgerichtet wie von unerbittlich starken Magneten. Für einen Moment hatte er es nicht fassen können, dass er diesem Bann verfallen war, diese Betätigung als Dienender gar gesucht hatte. Die Sehnsucht nach einer Arbeit, die sich selbst genügt, war einen Augenblick lang fast unerträglich gewesen. Jetzt wäre die Zeit der Heuernte! Hier, im sanft der Küste entlang schaukelnden Zug, hatte er sich wieder gefangen. Aber er nahm auch einen Gedankenfaden auf, der ihn oft beschäftigt hatte in der letzten Zeit. Überlegungen, die angestossen worden waren von Gesprächen mit anderen Auswanderern aus Cornol, auch mit Fiona. Die Frage, wie man es halte mit der Einbürgerung in die USA, welche die Amerikaner selbstbewusst als naturalisation bezeichneten. Und als einen Vorgang ansahen, der die Angehörigkeit zu einer anderen Nation selbstverständlich ausschloss und somit sofort beendete. Auf einmal war es ihm sonnenklar. Nein, er würde immer Schweizer bleiben, Cornoler! Er war gerührt über diesen Gedanken, und erleichtert über die Klarheit seines Entschlusses. Ich bin frei, dachte er. Und beschloss, in Boston auszusteigen.

Man konnte auf den Gehsteigen der Innenstadt nicht stehen bleiben, ohne einen Rückstau zu verursachen. Ruppige Rempeleien, Verwünschungen in verschiedenen Sprachen waren die Folge. Er war während mehrerer Stunden umhergewandert, und die Füsse taten ihm weh. Also bestieg er eine Strassenbahn und löste ein Ticket bis zur Endstation. Er war froh, einen freien Sitzplatz zu finden und liess sich mit einem hörbaren Seufzen in den Sitz fallen. Es war stickig im Wageninnern, also zog er sein Jackett aus, legte es sich zusammengefaltet auf den Schoss und schaute aus dem Fenster. Er hatte den älteren Herrn, der sich neben ihn setzte, nicht beachtet, bis er von ihm angesprochen wurde.
"Es ist heiss heute. Sind Sie neu in Boston?"
"Ja. Aber ich bin nur auf der Durchreise. Ich fahre heute Abend nach New York zurück."
Jules schaute wieder zum Fenster hinaus und wollte nicht gestört werden. Der Mann liess sich davon nicht abhalten.
"Sie haben einen Akzent. Lassen Sie mich raten... Franzose?"
"Nein. Schweizer. Aus dem französischsprachigen Jura."
"Ah, interessant! Der Schweiz wird es ja hoffentlich gelingen, ihre Neutralität zu wahren in dieser sich zuspitzenden Situation, die ihr da in Europa habt. Darf ich fragen, was Sie in New York machen?"
Jules überlegte einen Monent, ob er antworten sollte, "nein, das dürfen Sie nicht!", begann dann aber zu improvisieren.
"Ich werde von dort nach Ohio weiterreisen, um mir eine Stück Land zu kaufen. Ich bin Bauer."
Der andere musterte ihn unverhohlen von der Seite.
"Bauer? Aha! Waren Sie schon auf dem Quincy Market. Da gibt es eine grosse Halle mit Produkten für den landwirtschaftlichen Bedarf. Und grossartige Essbuden! Wir fahren allerdings weg vom Zentrum. Sehen Sie, da werden die Strassen breit. Das ist alles aufgeschüttetes Land, den Lagunen und Sümpfen abgetrotzt, die sich früher hier ausbreiteten. Und alles hier ist in einem Schwung gebaut worden im vergangenen Jahrhundert."
Jules hatte genug und signalisierte, dass er aufstehen wolle.
"Ich muss hier aussteigen. Danke. Und einen schönen Tag noch."
Er nahm das nächste Tram zurück und freute sich auf die Buden am Markt. Erst jetzt hatte er gemerkt, wie hungrig er war. Und er musste dringend pinkeln, danach viel trinken.

Vor einem der Essstände standen Tische und Bänke, da war ihm die Wahl nicht schwer gefallen. Es roch wunderbar nach Fischsuppe. Als die Bedienung kam, deutete er auf den Teller eines Tischnachbarn und fragte:
"Wie nennt ihr das, ich möchte auch so eine?"
"Chowder. Möchten Sie einen mit Muscheln, oder nur mit Fisch?"
Er war neugierig und nahm mit Muscheln. Frisches Brot war inbegriffen, er bestellte noch ein Bier.

Es schien niemanden zu stören, wenn man als Gast noch etwas sitzen blieb nach dem Essen. Das Bier und die Wärme führten zu einer wohligen Benommenheit, die Suppe hatte ihm sehr gut geschmeckt. Er war in bester Laune und beobachtete die Menschen, die vorbeigingen, fast alle in sommerlicher Kleidung. Viele Frauen trugen Sonnenschirme, die sich da und dort ineinander verhakten. Amüsiert verfolgte er die Komplikationen, die sich daraus ergaben. Schon vor dem Mittag waren ihm die unzähligen Buben in den Strassen aufgefallen, die alle irgendeinem Geschäft nachzugehen schienen. Er beobachtete drei abgerissene, etwa sechs bis zehn Jahre alte Rotzlöffel, die bei einem Gemüsestand schräg gegenüber Kisten und Schachteln einsammelten, die ihnen der Händler offenbar zu überlassen bereit war. Einer der Knirpse nahm mehrere Kistchen entgegen und bekundete Mühe, sie als Stapel im Gleichgewicht zu halten. Die Kapriolen, die er dabei vollführte, wirkten übertrieben, und tatsächlich sah Jules, wie er zweimal blitzschnell mit einer gerade freien Hand ins Gemüse griff und etwas davon zu Boden beförderte. Der Verkäufer merkte nichts, obwohl es unmittelbar vor seiner Nase geschah. Dann, wie wenn er vor der Widerspenstigkeit seiner Last kapitulierte, stellte der Bub den Stapel auf den Boden, sammelte seelenruhig das heruntergworfene Gemüse ein und versorgte es darin. Als sein Kopf wieder über dem Stand erschien, bedankte er sich artig bei dem Verkäufer und machte sich davon. Jules staunte. Auch er hatte als Kind manchmal geklaut, aber dieser Bub mit seinem Erwachsenengesicht hatte keine andere Wahl, das sah man. Er hatte den Diebstahl zu einem selbstverständlichen Teil seiner Arbeit gemacht, ihn auf ein schauspielerisches, wenn nicht gar artistisches Niveau gehoben, das nahe der Vollkommenheit war. Die drei zogen weiter, einer steckte sich eine Kippe an. Wahrscheinlich hatten alle etwas von dem Gemüse mitlaufen lassen. Was waren das für Menschlein? Was würde einmal aus ihnen werden? Fast nicht auszudenken, dass sie in derselben Welt lebten wie die Kinder der Rockefeller.

Schliesslich stand er doch auf und betrat die grosse Halle. Tauchte ein in diese Welt der nützlichen Dinge, befühlte Spatenstiele, wog Äxte in der Hand, fragte nach dem Zweck von Maschinen, die er nicht kannte. Fast vergass er, was er geworden war und wo er sich befand, hätte am liebsten einen patentierten Pflug der Marke 'Boss' gekauft, mit einem System auswechselbarer Schneiden aus geschmiedetem Stahl. "Der beste Pflug für ein einzelnes Pferd", wie es in der Broschüre hiess, die ihm der Verkäufer mitgab und dazu meinte, man könne das Gerät auch in der Schweiz kaufen. Erst als er im Zug sass, holte ihn die Gegenwart wieder ein. Er musste sich etwas einfallen lassen, wie er Mr. Dowers seine Verspätung erklären könnte.

Zwei Wochen später, am ersten August 1914, einem Samstag, liess er sich darauf ein, mit den New Yorker Cornolern den Nationalfeiertag zu begehen. Es lag etwas in der Luft, das er noch nicht ganz verstand. Man hatte das Gemeindehaus der Kirche St. Vincent de Paul gemietet und festlich, ganz in Rot und Weiss, geschmückt. Nach dem Nachtessen hielt einer aus dem Dorf eine patriotische Rede, mit einem Feuereifer, den Jules so in der heimatlichen Ajoie nie erlebt hatte. Als der Redner die im Saal versammelten Männer dazu aufrief, sich so bald als möglich in die Heimat zu begeben, sich der Mobilmachung zu stellen und die Armee in ihrem heiligen Auftrag zu unterstützen, sahen sich alle betroffen an. Einen Augenblick war Totenstille, dann ging ein wildes Werweissen und Nachfragen los, das sich zu einem wahren Tumult steigerte. Was? Wie? Viele lasen keine Zeitungen und hatten noch gar nicht davon erfahren, dass in Europa Krieg ausgebrochen war. Jules war im Haus darauf aufmerksam gemacht worden und hatte schliesslich widerwillig die Schlagzeilen überflogen. Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien vor drei Tagen, Beginn der ersten Gefechte vorgestern, Mobilmachung in der Schweiz gestern. Ein junger Mann, der gut informiert zu sein schien, versuchte, das Geschrei zu übertönen und bekam schliesslich das Wort.
"Es steht noch nicht in den Zeitungen, aber heute haben sich Deutschland und Russland gegenseitig den Krieg erklärt. Und die Deutschen haben ja bekanntermassen die Absicht gegen Frankreich zu ziehen. Das betrifft auch uns Schweizer!"
Wieder schwoll der Lärm so an, dass man nichts mehr von dem verstand, was er noch sagen wollte. Jules dachte an seinen Bruder Joseph, der in Basel an der Grenze stand. Ob wohl bald Soldaten die Bewachung verstärken würden? Und in Bonfol, wo die Schweiz an die beiden nun verfeindeten Länder stiess? Als sich die im Saal Versammelten langsam zu beruhigen begannen und alle sich mit ihren Fragen und Meinungen an die unmittelbare Umgebung wandten, wurde auch er gefragt, ob er nun nach Hause reisen und sich dem Dienst in der Armee stellen würde. Er wusste es nicht, aber fast alle, die er an diesem Abend darüber sprechen hörte, dachten nicht daran, dem Ruf aus der Heimat Folge zu leisten. Nur um den jungen Mann, der vorhin zu allen gesprochen hatte, versammelten sich ein paar Gesinnungsgenossen, die patriotische Parolen zu rufen begannen, bis sie wiederum von der Mehrheit im Saal zum Verstummen gebracht wurden. Man wolle nun feiern! Erst recht! Viele hatten schon etwas getrunken und sich vom Schreck über die schlechten Nachrichten erholt. Also wurde Platz gemacht für Musik und Tanz. Die Patrioten verliessen den Saal unter Protest.
Jules blieb nicht allzu lange. Als er im Bett lag, kam ihm in den Sinn, dass er in ein paar Tagen neunundzwanzig Jahre alt würde. Er hörte in seinem Kopf die Stimme der Mutter:
"Zeit, an eine Familie zu denken." Er hätte gerne mit Fiona seinen Geburtstag gefeiert, aber dass sie ihn zum Mann nehmen und mit ihm Kinder haben wollte, daran glaubte er nicht. Ob er es selber wollte? Er konnte lange nicht einschlafen.