Freitag, 7. Mai 2021

und die Zukunft?

Seit ihn der Bub gefragt hatte, ob sie belagert seien, geisterte dieses Wort, siege, in seinem Kopf herum. Nelson hatte es ihm erst durch anschauliche Umschreibungen erklären müssen, sodass er schliesslich die Nähe zum französischen Wort erkannte und verstand. Siège, siege. Nous sommes assiégés, we are besieged. Sie blieben noch eine längere Zeit belagert, sowohl durch schwer fassbare, selten sichtbare Gegner, oder Feinde, wie man angesichts der Bereitschaft zur Gewalt sagen musste, als auch durch die zu ihrer Sicherheit herbeigerufenen Detektive und Polzeibeamten, die in lästig aufdringlicher Weise auf ihrer Sichtbarkeit beharrten. Die beiden Rockefeller, der Vater wie der Sohn, schienen für sich selber wenig Angst zu haben. Bei der ersten grossen Demonstration in Pocantico, vor dem burgähnlichen Landhaus Kykuit, kam der Senior aus seinem Haus und schritt zum Entsetzen der Wachleute völlig unbeeindruckt zum Eingangstor des Parks, vor dem sich eine Parolen schreiende Menschenmenge angesammelt hatte. Bevor er es erreichen konnte, wurde er von zwei Polizeibeamten gepackt und sanft aber bestimmt zum Haus zurück dirigiert. Wie sich hinterher herausstellte, wäre er höchstwahrscheinlich mit Steinen beworfen worden, und eine der kontrollierten Protestierenden, eine Frau, trug eine geladene Pistole bei sich und musste verhaftet werden. Das ganze Anwesen wurde in der Folge grossräumig mit Stacheldraht abgeriegelt, was dem Junior allerdings nicht passte, weil er davon ausging, dass die Bilder einer solch demonstrativen Abwehrmassnahme über die Zeitungen verbreitet würden und den Zorn der Öffentlichkeit weiter anstacheln könnten, der sich unter anderem auf die Abschottung der Kapitalisten gegen die durch sie angerichteten Realitäten bezog.

Die Demonstrationen in Pocantico, im nahen Tarrytown, und sogar in New York, rissen nicht ab, im Gegenteil. In der Stadt kam es zu einer Grosskundgebung mit Tausenden von Menschen, die den Verkehr auf dem Broadway während mehr als einer halben Stunde zum Erliegen brachten. In Pocantico und Tarrytown gab es Sachbeschädigungen und Drohungen, sodass schliesslich ein Dutzend der Rädelsführer, darunter prominente Anarchisten, deren Namen mittlerweile sogar Jules bekannt waren, verhaftet, angeklagt und bis zur Verhandlung gegen Kaution wieder auf freien Fuss gesetzt wurden. Einen Tag bevor das Gericht in der City Hall von Tarrytown den Fall beurteilen sollte, explodierte in einem sechsstöckigen Mietshaus in New York eine gewaltige Bombe. Sie riss die Hälfte der oberen Etagen weg und verteilte Trümmer und Leichenteile übers ganze Quartier. Wie sich in den nachfolgenden Untersuchungen herausstellte, waren unter den Toten zwei Anführer der Proteste, die in Tarrytown hätten vor Gericht erscheinen müssen. Die Bombe schien bei einer Fehlmanipulation losgegangen zu sein. Ob sie für die Verhandlung in der City Hall oder gar für den Einsatz gegen eines der Häuser der Rockefeller bestimmt war, konnte nicht ermittelt werden. Jedenfalls war es für Mr. Rockefeller Junior und seine Familie das Signal, sich noch weiter von New York zu entfernen und sich früher als sonst ins Sommerhaus auf Desert Mountain Island, an die Küste von Maine, zurückzuziehen. Jules bekam den Auftrag, seinen Dienstherrn und die Familie beim Umzug dorthin zu unterstützen, danach werde er für ein paar Wochen als Kammerdiener nicht gebraucht. Wie lange genau, musste noch offen gelassen werden. Mr. Dowers, der die Stellung in New York halte, würde ihn für gewisse Arbeiten im Haus einsetzen. Er werde aber sicher auch viel freie Zeit zur Verfügung haben. Seine Bezahlung laufe normal weiter.

Die ganze Familie begab sich nochmals für zwei Tage der Vorbereitung nach New York. Jules wurde von den andern Angestellten vorgewarnt, das Haus verwandle sich in der Zeit vor dem Aufbruch nach Maine in einen wild gewordenen Bienenstock. Er war erstaunt zu hören, dass der ganze Haushalt mit der Eisenbahn und der Fähre reise. So wurden Koffer und Kisten gepackt als ginge es über den Atlantik. Die Kinder waren während der zwei Tage völlig aus dem Häuschen. Es gab viel Auseinandersetzungen darüber, wer wieviel mitnehmen dürfe, und oft musste ihnen von der Mutter gesagt werden: "Aber das hast du doch auch in Seal Harbour!" Bei anderen Dingen war sie überraschend nachgiebig. So mussten in letzter Minute Eisboxen aufgetrieben werden für die Milch der Kinder, von Walker Gordon, in Flaschen, weil eines der grösseren gesagt hatte, die Milch im Zug sei ungeniessbar, und sich sofort alle dieser Einschätzung anschlossen. Mr. Rockefeller konnte sich an den Vorbereitungen kaum beteiligen, da er durch seine Angelegenheiten rund um die Colorado Fuel & Iron Company stark in Anspruch genommen war. Jules begleitete ihn noch einmal ins Büro am Broadway, wo er eine lange Besprechung mit seinen neuen Beratern, Mr. King und Mr. Lee, abhielt. Auf der Rückfahrt nach Hause schien der Dienstherr erleichtert und entspannt wie schon lange nicht mehr. Er ging sogar so weit, den Grund für seine Genugtuung zu äussern:
"Mr. King wird uns für ein paar Tage in Seal Harbour besuchen. Das ist gut. Das ist sehr gut!"

Die Reise, vom Grand Central Terminal aus über Boston, Portland und Bangor nach Hankock in Maine, war nochmals eine ganz andere Sache als Jules Reise mit Henry, damals vor acht Jahren, als sie mit dem Schlafwagen nach Ohio gefahren und sich sehr vornehm vorgekommen waren. Der Zug hiess Bar Harbour Express, und für Jules sah es so aus, als sei er extra dafür eingerichtet worden, die ganz Reichen mit ihren Familien in die Sommerferien zu verfrachten. Die Pullman-Wagen waren luxuriös ausgestattet, mit Polstern in leuchtendem Blau und Gold, die Decken schillerten wie Perlmutt. Für den ganzen Tross der Rockefeller waren allein zwei Wagen reserviert, dazu Plätze für über dreissig Personen im Speisewagen und in den Schlafwagen. Die Angestellten nahmen das Nachtessen nach den Herrschaften ein, durften sich aber dafür vom Personal des Speisewagens bedienen lassen. Viele freuten sich wie Kinder über dieses Ereignis. Es wurde lustig und laut, wie Jules es noch nie erlebt hatte, seit er im Hause der Rockefeller arbeitete.

Obwohl die Betten recht bequem waren, schlief er schlecht und stand früh auf. Es gab ein richtiges kleines Badezimmer, in dem er sich waschen und die Zähne putzen konnte. Danach wollte er in den Speisewagen gehen, um zu fragen, ob er einen Kaffee bekommen könnte. Im Gang traf er den Dienstherrn, der, auch schon wach und angezogen, zum Fenster hinaus in die vorbeiziehende Landschaft schaute. "Guten Morgen, Chiquet", sagte er freundlich.
"Schauen Sie, schon dafür lohnt es sich, hierher zu kommen."
Sie fuhren der Küste entlang, die Sonne würde bald aufgehen. Das Meer war ruhig, seine Oberfläche spiegelte die Farben des Himmels, Graublau und Lila. Die Kalkfelsen am Ufer bildeten einen schwarzen Saum, dort wo sie von feuchten Algen bewachsen waren, darüber, die trockenen Flächen, schimmerten in Grau- und Ockertönen. Sattgrüne Wiesen, Hecken, fast schwarz die Tannen. Wie in den Freibergen, aber am Meer!, dachte Jules, und sagte:
"Ja, das ist sehr schön!"
Dann besann er sich auf seine Aufgabe und fragte:
"Brauchen Sie etwas, kann ich etwas für Sie tun, Sir?"
"Nein, im Moment nicht, danke. Aber sehen Sie bitte zu, dass Sie beim Aufstehen der Kinder zupacken. Da gibt es genug zu tun."

Die Reise dauerte fast vierundzwanzig Stunden. Gegen fünf Uhr abends trafen die Pferdewagen, einer nach dem andern, etwa ein Dutzend im Ganzen, auf dem Hügel über der Bucht von Seal Harbour ein. The Eyrie, wie das Anwesen der Rockefellers hiess, bestand aus einem breit sich hinstreckenden Ensemble von Fachwerkbauten. Das Muster des vorwiegend vertikal angeordneten Holzwerks, ochsenblutrot mit weissen Streifen von Verputz dazwischen, erinnerte Jules von Weitem an die Streifen eines Pijamas. Als er auf dem Vorplatz angekommen war und beim Abladen des Gepäcks half, sah er, dass das Haus nochmals um einiges grösser und reicher ausgestattet war als das in Pocantico. Es war umgeben von einer üppig blühenden Parkanlage, mit Büschen, Sträuchern und Bäumen, die sorgfältig ausgesucht und gemischt waren, um den Eindruck von Natürlichkeit zu erzeugen. Im Inneren sah Jules viel Fremdländisches, Exotisches, das ihm unbekannt war. Bunte Bilder, Möbel und Teppiche, seltsame Tiere und Menschengestalten aus dunklem Holz oder aus grünlichem Gestein. Als er eine Kiste hineingetragen und an zwei weibliche Angestellte weitergegeben hatte, blieb er mitten in einem der Salons stehen. Was die Fenster einrahmten, wie Bilder von Landschaften, machte ihn staunen. Die Sonne streifte gerade noch die Hügelkuppen, übergoss sie mit glühendem, rosafarbenen Licht. Die Schatten in den Senken liessen schon an die Nacht denken, farbige Schwärze wie in Güllenlöchern. Dahinter das Meer, das den Blick in die Tiefe sog bis zu der feinen Linie, wo der Himmel begann. Oder aufhörte. "Wenn Sie fertig sind mit Schauen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie nochmals mit hinauskämen, Mr. Chiquet."
Miss Davis hatte ihn aufgeschreckt. Als sie zusammen zwischen Koffern, Taschen und Kisten den Weg ins Freie suchten, sagte sie:
"Es ist ein unglaublicher Ort. Schade, dass Sie nicht bleiben können."

Als er am nächsten Mittag im Zug sass, in einem fast leeren Wagen des Bar Harbour Express, fühlte er sich seltsam erleichtert. Wie wenn es ihm gelungen wäre, einen Zauber zu durchbrechen, der ihn an ein verwunschenes Schloss gebunden hatte. Geschichten, die man ihm als Kind erzählt hatte, kamen ihm vage in den Sinn. Heute, am frühen Morgen, war ihm die Rockefeller-Familie plötzlich zuwider gewesen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich in ihrem angehäuften Reichtum bewegten, schon die kleinen Kinder. Wie sie immer und überall dutzende von Menschen um sich scharrten, die in ihrer Anwesenheit angestrengt bemüht waren, hilfreich und gleichzeitig unsichtbar zu sein, und dazu alle Zeichen von Anstrengung zu verbergen. Die Hektik, die anstrengende Arbeit, unvermeidbare Pannen und Unfälle mussten in den Gängen und Nebenräumen, in Küchen und Kellern stattfinden und dort bleiben. Alle Aufgaben, sämtliche Pflichten waren auf die Herrschaften und ihre Sprösslinge bezogen, auf sie ausgerichtet wie von unerbittlich starken Magneten. Für einen Moment hatte er es nicht fassen können, dass er diesem Bann verfallen war, diese Betätigung als Dienender gar gesucht hatte. Die Sehnsucht nach einer Arbeit, die sich selbst genügt, war einen Augenblick lang fast unerträglich gewesen. Jetzt wäre die Zeit der Heuernte! Hier, im sanft der Küste entlang schaukelnden Zug, hatte er sich wieder gefangen. Aber er nahm auch einen Gedankenfaden auf, der ihn oft beschäftigt hatte in der letzten Zeit. Überlegungen, die angestossen worden waren von Gesprächen mit anderen Auswanderern aus Cornol, auch mit Fiona. Die Frage, wie man es halte mit der Einbürgerung in die USA, welche die Amerikaner selbstbewusst als naturalisation bezeichneten. Und als einen Vorgang ansahen, der die Angehörigkeit zu einer anderen Nation selbstverständlich ausschloss und somit sofort beendete. Auf einmal war es ihm sonnenklar. Nein, er würde immer Schweizer bleiben, Cornoler! Er war gerührt über diesen Gedanken, und erleichtert über die Klarheit seines Entschlusses. Ich bin frei, dachte er. Und beschloss, in Boston auszusteigen.

Man konnte auf den Gehsteigen der Innenstadt nicht stehen bleiben, ohne einen Rückstau zu verursachen. Ruppige Rempeleien, Verwünschungen in verschiedenen Sprachen waren die Folge. Er war während mehrerer Stunden umhergewandert, und die Füsse taten ihm weh. Also bestieg er eine Strassenbahn und löste ein Ticket bis zur Endstation. Er war froh, einen freien Sitzplatz zu finden und liess sich mit einem hörbaren Seufzen in den Sitz fallen. Es war stickig im Wageninnern, also zog er sein Jackett aus, legte es sich zusammengefaltet auf den Schoss und schaute aus dem Fenster. Er hatte den älteren Herrn, der sich neben ihn setzte, nicht beachtet, bis er von ihm angesprochen wurde.
"Es ist heiss heute. Sind Sie neu in Boston?"
"Ja. Aber ich bin nur auf der Durchreise. Ich fahre heute Abend nach New York zurück."
Jules schaute wieder zum Fenster hinaus und wollte nicht gestört werden. Der Mann liess sich davon nicht abhalten.
"Sie haben einen Akzent. Lassen Sie mich raten... Franzose?"
"Nein. Schweizer. Aus dem französischsprachigen Jura."
"Ah, interessant! Der Schweiz wird es ja hoffentlich gelingen, ihre Neutralität zu wahren in dieser sich zuspitzenden Situation, die ihr da in Europa habt. Darf ich fragen, was Sie in New York machen?"
Jules überlegte einen Monent, ob er antworten sollte, "nein, das dürfen Sie nicht!", begann dann aber zu improvisieren.
"Ich werde von dort nach Ohio weiterreisen, um mir eine Stück Land zu kaufen. Ich bin Bauer."
Der andere musterte ihn unverhohlen von der Seite.
"Bauer? Aha! Waren Sie schon auf dem Quincy Market. Da gibt es eine grosse Halle mit Produkten für den landwirtschaftlichen Bedarf. Und grossartige Essbuden! Wir fahren allerdings weg vom Zentrum. Sehen Sie, da werden die Strassen breit. Das ist alles aufgeschüttetes Land, den Lagunen und Sümpfen abgetrotzt, die sich früher hier ausbreiteten. Und alles hier ist in einem Schwung gebaut worden im vergangenen Jahrhundert."
Jules hatte genug und signalisierte, dass er aufstehen wolle.
"Ich muss hier aussteigen. Danke. Und einen schönen Tag noch."
Er nahm das nächste Tram zurück und freute sich auf die Buden am Markt. Erst jetzt hatte er gemerkt, wie hungrig er war. Und er musste dringend pinkeln, danach viel trinken.

Vor einem der Essstände standen Tische und Bänke, da war ihm die Wahl nicht schwer gefallen. Es roch wunderbar nach Fischsuppe. Als die Bedienung kam, deutete er auf den Teller eines Tischnachbarn und fragte:
"Wie nennt ihr das, ich möchte auch so eine?"
"Chowder. Möchten Sie einen mit Muscheln, oder nur mit Fisch?"
Er war neugierig und nahm mit Muscheln. Frisches Brot war inbegriffen, er bestellte noch ein Bier.

Es schien niemanden zu stören, wenn man als Gast noch etwas sitzen blieb nach dem Essen. Das Bier und die Wärme führten zu einer wohligen Benommenheit, die Suppe hatte ihm sehr gut geschmeckt. Er war in bester Laune und beobachtete die Menschen, die vorbeigingen, fast alle in sommerlicher Kleidung. Viele Frauen trugen Sonnenschirme, die sich da und dort ineinander verhakten. Amüsiert verfolgte er die Komplikationen, die sich daraus ergaben. Schon vor dem Mittag waren ihm die unzähligen Buben in den Strassen aufgefallen, die alle irgendeinem Geschäft nachzugehen schienen. Er beobachtete drei abgerissene, etwa sechs bis zehn Jahre alte Rotzlöffel, die bei einem Gemüsestand schräg gegenüber Kisten und Schachteln einsammelten, die ihnen der Händler offenbar zu überlassen bereit war. Einer der Knirpse nahm mehrere Kistchen entgegen und bekundete Mühe, sie als Stapel im Gleichgewicht zu halten. Die Kapriolen, die er dabei vollführte, wirkten übertrieben, und tatsächlich sah Jules, wie er zweimal blitzschnell mit einer gerade freien Hand ins Gemüse griff und etwas davon zu Boden beförderte. Der Verkäufer merkte nichts, obwohl es unmittelbar vor seiner Nase geschah. Dann, wie wenn er vor der Widerspenstigkeit seiner Last kapitulierte, stellte der Bub den Stapel auf den Boden, sammelte seelenruhig das heruntergworfene Gemüse ein und versorgte es darin. Als sein Kopf wieder über dem Stand erschien, bedankte er sich artig bei dem Verkäufer und machte sich davon. Jules staunte. Auch er hatte als Kind manchmal geklaut, aber dieser Bub mit seinem Erwachsenengesicht hatte keine andere Wahl, das sah man. Er hatte den Diebstahl zu einem selbstverständlichen Teil seiner Arbeit gemacht, ihn auf ein schauspielerisches, wenn nicht gar artistisches Niveau gehoben, das nahe der Vollkommenheit war. Die drei zogen weiter, einer steckte sich eine Kippe an. Wahrscheinlich hatten alle etwas von dem Gemüse mitlaufen lassen. Was waren das für Menschlein? Was würde einmal aus ihnen werden? Fast nicht auszudenken, dass sie in derselben Welt lebten wie die Kinder der Rockefeller.

Schliesslich stand er doch auf und betrat die grosse Halle. Tauchte ein in diese Welt der nützlichen Dinge, befühlte Spatenstiele, wog Äxte in der Hand, fragte nach dem Zweck von Maschinen, die er nicht kannte. Fast vergass er, was er geworden war und wo er sich befand, hätte am liebsten einen patentierten Pflug der Marke 'Boss' gekauft, mit einem System auswechselbarer Schneiden aus geschmiedetem Stahl. "Der beste Pflug für ein einzelnes Pferd", wie es in der Broschüre hiess, die ihm der Verkäufer mitgab und dazu meinte, man könne das Gerät auch in der Schweiz kaufen. Erst als er im Zug sass, holte ihn die Gegenwart wieder ein. Er musste sich etwas einfallen lassen, wie er Mr. Dowers seine Verspätung erklären könnte.

Zwei Wochen später, am ersten August 1914, einem Samstag, liess er sich darauf ein, mit den New Yorker Cornolern den Nationalfeiertag zu begehen. Es lag etwas in der Luft, das er noch nicht ganz verstand. Man hatte das Gemeindehaus der Kirche St. Vincent de Paul gemietet und festlich, ganz in Rot und Weiss, geschmückt. Nach dem Nachtessen hielt einer aus dem Dorf eine patriotische Rede, mit einem Feuereifer, den Jules so in der heimatlichen Ajoie nie erlebt hatte. Als der Redner die im Saal versammelten Männer dazu aufrief, sich so bald als möglich in die Heimat zu begeben, sich der Mobilmachung zu stellen und die Armee in ihrem heiligen Auftrag zu unterstützen, sahen sich alle betroffen an. Einen Augenblick war Totenstille, dann ging ein wildes Werweissen und Nachfragen los, das sich zu einem wahren Tumult steigerte. Was? Wie? Viele lasen keine Zeitungen und hatten noch gar nicht davon erfahren, dass in Europa Krieg ausgebrochen war. Jules war im Haus darauf aufmerksam gemacht worden und hatte schliesslich widerwillig die Schlagzeilen überflogen. Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien vor drei Tagen, Beginn der ersten Gefechte vorgestern, Mobilmachung in der Schweiz gestern. Ein junger Mann, der gut informiert zu sein schien, versuchte, das Geschrei zu übertönen und bekam schliesslich das Wort.
"Es steht noch nicht in den Zeitungen, aber heute haben sich Deutschland und Russland gegenseitig den Krieg erklärt. Und die Deutschen haben ja bekanntermassen die Absicht gegen Frankreich zu ziehen. Das betrifft auch uns Schweizer!"
Wieder schwoll der Lärm so an, dass man nichts mehr von dem verstand, was er noch sagen wollte. Jules dachte an seinen Bruder Joseph, der in Basel an der Grenze stand. Ob wohl bald Soldaten die Bewachung verstärken würden? Und in Bonfol, wo die Schweiz an die beiden nun verfeindeten Länder stiess? Als sich die im Saal Versammelten langsam zu beruhigen begannen und alle sich mit ihren Fragen und Meinungen an die unmittelbare Umgebung wandten, wurde auch er gefragt, ob er nun nach Hause reisen und sich dem Dienst in der Armee stellen würde. Er wusste es nicht, aber fast alle, die er an diesem Abend darüber sprechen hörte, dachten nicht daran, dem Ruf aus der Heimat Folge zu leisten. Nur um den jungen Mann, der vorhin zu allen gesprochen hatte, versammelten sich ein paar Gesinnungsgenossen, die patriotische Parolen zu rufen begannen, bis sie wiederum von der Mehrheit im Saal zum Verstummen gebracht wurden. Man wolle nun feiern! Erst recht! Viele hatten schon etwas getrunken und sich vom Schreck über die schlechten Nachrichten erholt. Also wurde Platz gemacht für Musik und Tanz. Die Patrioten verliessen den Saal unter Protest.
Jules blieb nicht allzu lange. Als er im Bett lag, kam ihm in den Sinn, dass er in ein paar Tagen neunundzwanzig Jahre alt würde. Er hörte in seinem Kopf die Stimme der Mutter:
"Zeit, an eine Familie zu denken." Er hätte gerne mit Fiona seinen Geburtstag gefeiert, aber dass sie ihn zum Mann nehmen und mit ihm Kinder haben wollte, daran glaubte er nicht. Ob er es selber wollte? Er konnte lange nicht einschlafen.

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